Spymaster - Brad Thor - E-Book

Spymaster E-Book

Brad Thor

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein gefährlicher Geheimdienst tötet Diplomaten in ganz Europa. Man will den Feind durch Chaos und Zerstörung demoralisieren, um so den Kampf zu gewinnen, bevor er überhaupt begonnen hat. Hinter all dem lauert der Schatten Russlands, das entschlossen ist, seine Rolle als Supermacht des Terrors zurückzuerobern. Doch es gibt ein Hindernis, das sich ihnen in den Weg stellt: Der ehemalige Navy SEAL Scot Harvath. Zusammen mit seinem Team wird er alles tun, um die Vereinigten Staaten und seine NATO-Verbündeten davor zu bewahren, in einen Dritten Weltkrieg hineingezogen zu werden. Aber in der undurchsichtigen Welt der internationalen Spionage ist nicht alles, was es zu sein scheint … Brad Thor erzählt eine verblüffend realistische Geschichte über den Kampf um eine friedliche Welt. Sollten Sie noch nie einen Action-Thriller von Brad Thor gelesen haben, ist dies der richtige Anfang!  The Real Book Spy: » Aktuell, roh und so voller Action, dass es für zwei Bücher reicht.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 466

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aus dem Amerikanischen von Michael Weh

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Spymaster

erschien 2018 im Verlag Atria Books, Simon & Schuster.

Copyright © 2018 by Brad Thor

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by

Festa Verlag GmbH

Justus-von-Liebig-Straße 10

04451 Borsdorf

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Titelbild: Verena Tapper / via 99design

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-220-9

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für Sean Fontaine

Freund, Krieger, Patriot

Semper Fidelis

Zwischen zwei Menschen gibt es nur wenige Unterschiede. Doch das wenige ist sehr wichtig.

William James

Nordatlantikvertrag

Washington, D. C. – 4. April 1949

Die Parteien dieses Vertrags bekräftigen erneut ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben.

Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten. Sie sind bestrebt, die innere Festigkeit und das Wohlergehen im nordatlantischen Gebiet zu fördern.

Sie sind entschlossen, ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen. Sie vereinbaren daher diesen Nordatlantikvertrag.

(Übersetzung von NATO-Website)

1

Sør-Trøndelag, Norwegen

Mittwoch

Die Äste der hohen Kiefern bogen sich unter dem Gewicht des Eises. Wenn sie brachen, hallte das Knacken wie Gewehrschüsse durch den Wald.

Bei jedem Knacken hielt das kleine Terrorabwehr-Team des Sicherheitsdienstes der norwegischen Polizei, kurz PST, inne und verharrte regungslos.

Erst mehrere Sekunden – oder sogar Minuten – später fühlte sich das Team sicher genug, um sich erneut in Bewegung zu setzen.

Niemand hatte mit einem derart heftigen Sturm gerechnet. Die gesamte Umgebung war mit Eis überzogen. Der abschüssige Waldboden war deswegen fast unbegehbar.

Mehrere Mitglieder des Teams hatten sich dafür ausgesprochen, noch zu warten. Ihr Anführer hatte jedoch befohlen, weiter vorzurücken. Der Angriff musste heute Nacht stattfinden.

Zur Verstärkung wurden sie von einem Kontingent des norwegischen Forsvarets Spesialkommandos FSK begleitet. Sein Kommandant war ebenfalls nicht begeistert, unter diesen Bedingungen ein Ziel anzugreifen. Aber er hatte die Geheimdienstinformationen geprüft und war zum selben Schluss gelangt.

Die beiden Außenseiter, die in letzter Minute aus dem NATO-Hauptquartier geschickt und von der norwegischen Regierung in das Team beordert worden waren, durften nicht abstimmen.

Der Amerikaner sah zwar aus, als wäre er es durchaus gewohnt, mit Schwierigkeiten klarzukommen. Dennoch wusste das Team nichts über seinen Hintergrund – und auch nichts über die Frau, mit der er unterwegs war. Deswegen hatte das Paar aus dem NATO-Hauptquartier auch keine Waffen ausgehändigt bekommen. Niemand sollte den Norwegern in den Rücken schießen können.

Das Team war über verschlüsselte Funkverbindung und Knochenschall-Headsets untereinander und mit der PST-Einsatzzentrale verbunden. Es war mit den neuesten Panorama-Nachtsichtgeräten und mehreren Waffen ausgestattet, die von H&K 416ern und MP5s bis hin zur aktuellen Pistolengeneration der Glock 17 und USP Tactical reichten. Das Team war eines der am besten gerüsteten und ausgebildeten, die das Land jemals zu einer Terrorismusbekämpfungs-Operation im Inland ausgeschickt hatte.

Ihr Ziel war eine verwitterte Holzhütte in einem abgelegenen und dicht bewaldeten Gebiet. Die Hütte hatte ein hohes grasbewachsenes Dach, aus dem ein verbogenes schwarzes Ofenrohr ragte. Neben der Hütte stapelten sich genügend Holzscheite für einen ganzen Winter.

Auch wenn sich die Wetterlage nicht so stark verschlechtert hätte, wäre eine unbemannte Drohnenüberwachung sinnlos gewesen. Aufgrund der dicht zusammenstehenden Bäume und des heulenden, bitterkalten Winds war die Nanodrohne des FSK nicht einsatzfähig. Dem Team blieb nichts anderes übrig, als sich dem Ziel blind zu nähern.

Während sich das Team langsam durch den Wald kämpfte, schlugen ihm Schnee und Eis entgegen wie Glassplitter. Die letzten 500 Meter waren am schlimmsten. Die Hütte stand in einer breiten Schlucht. Beim Abstieg rutschten viele Teammitglieder aus. Ein paar von ihnen sogar mehrmals.

Wegen der Bäume konnten sich die FSK-Scharfschützen nirgendwo positionieren. Da sie keine freie Schusslinie fanden, mussten sie sich näher an die Hütte heranwagen, als es ihnen lieb war. Die Operation fühlte sich zunehmend wie eine Fehlentscheidung an.

Der PST-Leiter ignorierte die Beklemmung, die sich innerhalb des Teams breitgemacht hatte, und trieb seine Leute voran.

300 Meter von der Hütte entfernt konnten sie hinter den geschlossenen Fensterläden Licht erkennen.

Aus 200 Metern Entfernung konnten sie den Holzrauch riechen, der aus dem Ofenrohr drang.

Als sie nur noch 100 Meter zurückzulegen hatten, wurde das Signal zum Stehenbleiben gegeben. Niemand bewegte sich.

Etwas stimmte nicht. Das konnten alle spüren. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Sie hielten ihre Waffen angespannter fest.

Und dann brach die Hölle los.

2

Mehrere Explosionen erfolgten hintereinander, und Wogen umherfliegender Splitter aus spitzem Stahl bohrten sich in das Fleisch der sich anpirschenden Einsatzkräfte.

Als die in Hüfthöhe zwischen den Bäumen versteckten Antipersonenminen anfingen zu explodieren, stieß Scot Harvath seine Kollegin zu Boden und warf sich zum Schutz über sie.

»Ich kann nicht atmen!«

»Bleib unten«, befahl er.

Jetzt erwies es sich als Vorteil, dass sie die Nachhut hatten bilden müssen. Aber es war kein großer Vorteil. Ihr Leben verdankten die beiden Scot Harvaths schneller Reaktion.

Andere Teammitglieder hatten weniger Glück gehabt. Überall waren Blut und abgetrennte Körperteile zu sehen.

Als die Explosionen vorüber waren, krochen alle, die dazu in der Lage waren, in Deckung. Sie zogen ihre verletzten Mitstreiter hinter sich her. Die Toten ließen sie liegen.

Als früherer US Navy SEAL wusste Harvath, was als Nächstes kommen würde. Ihnen blieb nicht viel Zeit. Harvath rollte sich zur Seite und kontrollierte schnell, ob die Frau verletzt war. »Tut etwas weh?«

Monika Jasinski schüttelte den Kopf.

Er zog die Sig-Sauer-Pistole hervor, die er unter seinem Parka versteckt hatte, und zeigte auf einen Felsbrocken, hinter dem zwei PST-Agenten Schutz gefunden hatten. »Ich gebe dir Deckung«, sagte er ihr. »Lauf dort rüber. Jetzt!«

Jasinski sah erst die Pistole und dann ihn verwirrt an. Sie hatte eine Million Fragen. Ganz oben auf der Liste stand: Woher stammt diese Waffe, und für wen zum Teufel arbeitet dieser Kerl wirklich? Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um Fragen zu stellen. Sie richtete sich auf und lief so schnell los, wie sie konnte.

Sobald sie den Felsbrocken erreicht hatte und in Sicherheit war, rannte Harvath zu ihr in den Schutz des großen Steins.

Die beiden Norweger waren in keiner guten Verfassung. Einer von ihnen stand kurz davor, zu verbluten. Zu seinen Füßen bildete sich eine Blutlache auf dem vereisten Boden.

Harvath zog eine Aderpresse aus dem Brustgurt des Mannes und warf sie Jasinski zu. »Leg sie hier an«, wies er sie an und zeigte auf die entsprechende Stelle am verletzten Bein des Agenten.

Er hob das Gewehr des Mannes auf und wandte sich an den anderen Agenten. »Kannst du kämpfen?«, fragte er ihn.

Obwohl der linke Arm des Mannes aussah, als wäre er mit Hochgeschwindigkeit über eine Schotterpiste geschleift worden, nickte er. Die von der Verletzung verursachten Schmerzen standen ihm ins Gesicht geschrieben.

Gleich nachdem Harvath die Frage gestellt hatte, wurde aus der Hütte mit automatischen Waffen gefeuert.

Die Kugeln hämmerten in die Bäume und wirbelten den Boden um sie herum auf. Als sie gegen den Felsbrocken schlugen, brachen dicke Splitter aus dem Gestein.

Harvath hasste Feuergefechte. Damals als SEAL und auch jetzt als Geheimagent für Terrorismusbekämpfung hatte er zu viele davon miterlebt. Eine Schießerei bedeutete, das Überraschungsmoment verloren zu haben. Noch mehr hasste Harvath es, wenn es auf der eigenen Seite Verletzte gab und sich die Gegner in einer befestigten Position verkrochen hatten.

Er steckte die Sig rasch wieder unter seinen Parka, zog den Stöpsel aus seinem Ohr und ließ ihn über seine Schulter baumeln. Der Funkverkehr überschlug sich, alle sprachen Norwegisch, und das Chaos nahm dadurch nur noch zu.

Harvath kontrollierte, ob das Gewehr geladen war, und stellte es auf halbautomatisches Feuer um. Dann spähte er hinter seiner Deckung hervor.

Die Holzhütte besaß kein Obergeschoss. An der Seite befanden sich drei Fenster. Die Schützen schienen ihr Handwerk zu verstehen. Sie hatten sich in Stellung begeben, in einiger Entfernung von den Fenstern, und wahrscheinlich auf Tischen oder einem anderen erhöhten Platz positioniert. Es würde schwer sein, sie auszuschalten. Allerdings war ihr Schussfeld eingeschränkt.

Harvath konzentrierte sich auf das Fenster in seiner Nähe und feuerte eine Salve ab. Der PST-Agent mit dem verwundeten Arm tat es ihm gleich.

Ihre Schüsse wurden sofort erwidert, und sie mussten wieder hinter dem Felsen in Deckung gehen.

Nicht weit entfernt gaben weitere Norweger ebenfalls Schüsse ab, aber ihr Angriff zeigte keine besondere Wirkung. Sie waren zahlenmäßig unterlegen und saßen in der Klemme.

Als keine weiteren Schüsse in den Felsbrocken einschlugen, lehnte sich Harvath wieder dahinter hervor. Bevor er einen Schuss abgeben konnte, fiel ihm jedoch auf, dass immer mehr Rauch aus dem Ofenrohr drang. In der Kabine wurde mehr als nur Holzscheite verbrannt. Wahrscheinlich verbrannten diese Leute Beweise. Harvath zielte auf dasselbe Fenster wie zuvor und feuerte noch mehr Kugeln darauf ab.

Er leerte sein Magazin, lehnte sich zurück hinter den Felsen und bedeutete Monika, ihm ein frisches Magazin aus dem Brustgurt des PST-Agenten zuzuwerfen, den sie verarztete.

Während er die Magazine tauschte, versuchte er, sich einen Plan einfallen zu lassen. Die FSK-Mitglieder waren jedoch schneller als er.

Im Gegensatz zum PST – der Norwegens Version des FBI darstellte – gehörte das FSK zur norwegischen Armee und war wie Soldaten ausgerüstet. Dazu gehörten M320-Granatwerfer von H&K, die unter mehreren Gewehren der Männer montiert waren. Irgendjemand hatte beschlossen, dass es jetzt reichte.

Einer der FSK-Mitarbeiter wechselte seine Position und zog damit das Feuer der Gegner auf sich. Währenddessen traten zwei seiner Teamkameraden ins Freie und feuerten jeweils ein 40-Millimeter-Geschoss auf die Hütte ab.

Nur eine der Granaten hätte das Ziel treffen müssen. In diesem Fall taten es beide. Sie flogen durch die Fenster und explodierten in einem Splitterhagel.

Kurz danach brach ein Feuer aus, und dichter schwarzer Rauch quoll aus den Fenstern.

Harvath verlor keine Zeit. Er stopfte zusätzliche Magazine in die Taschen seines Parkas, nahm einem schwer verwundeten PST-Agenten ein Wärmebild-Zielfernrohr ab und eilte zur Hütte.

Hinter ihm riefen die Norweger, er solle warten, bis Verstärkung eintraf. Das kam für Harvath nicht infrage. Alle möglichen Beweise waren vielleicht schon vernichtet worden. Wenn noch irgendwelche Beweise übrig waren, wollte Harvath sie retten, bevor es zu spät war.

Er nutzte die Bäume zur Tarnung und bewegte sich schräg auf die Holzhütte zu. Als er sich der Eingangstür über den vereisten Boden näherte, hob er seine Waffe.

Er zog einen Handschuh aus und legte seine Hand kurz an die Tür. Sie war bereits viel zu heiß, um sie zu berühren.

Er schob sich das Gewehr auf den Rücken, setzte sein Nachtsichtgerät ab, streifte auch den anderen Handschuh ab und zog seine Sig. Da die Hütte in Flammen stand, benötigte er keine Nachtsicht. Das Wärmebild-Fernrohr könnte sich jedoch noch als nützlich erweisen.

Er schaltete es ein, trat einen Schritt zurück, entsicherte seine Waffe und trat die Tür ein.

Genährt von dem frisch eingesogenen Sauerstoff rasten Flammenzungen auf ihn zu. Aber Harvath war rechtzeitig ausgewichen. Egal ob Kugeln oder Feuer – er wusste, dass auf der anderen Seite der Tür nichts Gutes auf ihn wartete.

Als ihn niemand angriff, riskierte er einen Blick ins Innere mit dem Wärmebild-Fernrohr. Damit konnte er durch den Rauch hindurchsehen. Überall lagen Körper umher. Keiner davon bewegte sich.

Er nahm an, dass die meisten tot waren. Die Granaten hatten sie getötet. Tot oder lebendig würde das Feuer sie verzehren.

Harvath wollte die Hütte betreten, aber der Weg durch die Tür kam nicht infrage. Das Feuer war zu extrem. Er entschied, es von der Seite her zu versuchen.

In der Hocke warf er einen schnellen Blick um die Ecke. Falls dort jemand darauf wartete, einen Schuss auf ihn abzugeben, würde er höher zielen.

Allerdings befand sich dort niemand. Aus einem offenen Fenster waberte Rauch. Harvath hob das Wärmebild-Fernrohr vors Auge, sah auf den Boden und erkannte die Wärmesignatur der Fußspuren einer Person, die von der Hütte wegführten.

Er bewegte sich vorsichtig bis zum unteren Rand des offenen Fensters und riskierte einen Blick ins Innere. Dort stand fast alles in Flammen. Es würde unmöglich sein, dort drinnen etwas zu finden, und erst recht unmöglich, die Hütte unverletzt wieder zu verlassen. Er wollte jegliche Beweismittel zwar unbedingt an sich bringen, aber die Gefahr war es nicht wert. Stattdessen setzte er zur Verfolgung der Fußspuren an.

3

Auf dieser Seite war die Schlucht genauso schwer begehbar wie dort, wo Harvath, Jasinski und die Norweger zuvor hinuntergestiegen waren. Soweit Harvath es einschätzen konnte, hatte der von ihm Verfolgte keinen großen Vorsprung. Die Fußspuren leuchteten durch das Fernrohr noch warm.

Angesichts der Größe der Fußspuren und der Schrittlänge ging Harvath davon aus, dass es ein Mann war. Er musste ähnlich groß sein wie Harvath, etwa 1,80 Meter oder etwas mehr. Er war ziemlich flott, aber nicht besonders elegant unterwegs. Die Wärmebilder verrieten, dass er an mehreren Stellen gestolpert und hingefallen war. Aber wohin will er?

Harvath hatte seine Hausaufgaben gemacht. Er kannte die Umgebung. Er hatte sich Karten und Satellitenbilder eingeprägt. Ungefähr drei Kilometer von der Hütte entfernt führte ein alter Wirtschaftsweg durch den Wald. Gleich dahinter verlief eine aufgegebene Bahntrasse. Harvath vermutete, dass der Kerl irgendwo ein Auto geparkt hatte und sich in diese Richtung bewegte.

Es war nervig, mit dem Fernrohr seiner Spur zu folgen, aber nur so konnte er seine Wärmesignatur sehen. Harvath verlor Zeit, indem er anhielt, um sein Nachtsichtgerät zurechtzurücken. Er bemühte sich, schneller zu laufen und den Abstand zu dem von ihm verfolgten Mann zu verringern. Aber je schneller er sich bewegte, desto größer war das Risiko, dass er ausrutschte und schwer stürzte. Er hatte kein Interesse an einem verletzten Ellenbogen, Knie oder Schädel.

Aber er hatte auch kein Interesse daran, den Mann zu verlieren. Er hatte dieser Gruppe monatelang nachgespürt. In Portugal, Spanien und Griechenland. Sie waren ihm immer drei Schritte voraus geblieben. Aber heute Nacht änderte sich das.

Jetzt hatte er ihnen etwas voraus. Er war hier, bevor sie einen weiteren Anschlag verüben konnten. Das Glück war nicht ganz auf seiner Seite, aber es befand sich in der Nähe.

Das reichte ihm. Angesichts des Ernstes der Lage war er froh über jeden kleinen Vorteil.

Wieder kontrollierte er die Fußspuren mit dem Fernrohr und folgte ihnen, bis sie eine Kurve beschrieben und hinter den Bäumen verschwanden. Der Verfolgte kannte sich anscheinend aus im Wald und vermied die bekannten Pfade, um sich zwischen den Bäumen entlangzubewegen.

So weit kein Problem für Harvath. Er hatte schon schwierigere Verfolgungen hinter sich. Ungeachtet der Eisglätte beschleunigte er sein Tempo.

Ein paar Minuten später erblickte er den Mann. Er trug Jeans, Wanderstiefel und eine Jacke mit Kapuze sowie einen Rucksack.

Harvath wechselte auf sein Gewehr und versuchte, einen Schuss auf sein Ziel abzugeben, aber bevor er abdrücken konnte, war der Mann verschwunden.

Scheiße.

Er schwenkte die Waffe von links nach rechts, aber da war niemand. Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Harvath ließ das Gewehr von seiner Schulter baumeln und wechselte wieder auf seine Pistole. Er brauchte eine freie Hand für das Wärmebild-Zielfernrohr.

Er drang tiefer in den Wald ein und folgte der Wärmesignatur. Der Boden war immer noch glatt, aber jetzt mehr mit Schnee als Eis bedeckt. 50 Meter weiter wurde auf Harvath geschossen.

Er ließ sich zu Boden fallen, als die Kugel über seinen Kopf zischte. Der Mann ist bewaffnet. Wer zum Teufel ist er?

Er spähte durch das Fernrohr und sah eine Lücke zwischen den Bäumen vor sich. Und genau dort konnte er die weiß glühenden Umrisse seiner Zielperson sehen. Mit einer Waffe in der Hand bewegte diese sich auf den Waldweg zu.

Harvath hob seine Pistole, entsicherte sie und feuerte dreimal.

Sein Ziel sackte zu Boden.

Ein paar Sekunden lang wartete Harvath ab, ob sich der Mann bewegte. Als dies nicht geschah, näherte sich Harvath vorsichtig.

Als er nahe genug war, sah er eine Menge Blut. Eine der Kugeln hatte den Mann am Hals erwischt.

Er trat die Waffe des Mannes beiseite und fühlte dessen Puls. Nichts. Harvath zog ihm den Rucksack ab, öffnete ihn und warf einen Blick hinein.

Der Rucksack enthielt Briefumschläge mit Geld in verschiedenen Währungen, Führerscheine und mehrere Handys. Es sah so aus, als hätte der Mann alles Wichtige aus der Hütte mitnehmen wollen. Harvath steckte die Handys ein und ließ das Bargeld zurück. Er fotografierte rasch die Führerscheine und nahm sie anschließend ebenfalls mit.

Er tastete den Toten ab, nahm sein Handy, machte ein Foto von seinem Ausweis und untersuchte, was in seinen Taschen steckte. Er machte Fotos von allem.

Da er die Aufnahmen so schnell wie möglich in die USA schicken wollte, brach er in Richtung des Waldwegs auf. Dort würde er sicher eine Lücke zwischen den Bäumen finden, um ein Signal zu empfangen.

Als er den Weg erreichte, zog er sein Satellitentelefon hervor, schaltete es ein und verband es mit seinem Handy. Mit einer verschlüsselten und für das Militär entwickelten App namens XGate BLACK komprimierte er die Fotos und formatierte sie neu, sodass er sie schneller hochladen konnte. Je eher die Nachforschungen über die Leute aus der Holzhütte beginnen konnten, desto besser.

Während der Foto-Upload vorbereitet wurde, schrieb Harvath einen schnellen Lagebericht, den er seiner E-Mail hinzufügte.

Norseman + 1, Adler Oscar.

»Norseman« war Harvaths Rufzeichen. Jasinski war »plus eins«. »Adler Oscar« bedeutete, dass sie beide unverletzt waren.

Da ihm hier ohnehin keine weitere Ausrüstung geliefert werden konnte, verzichtete er darauf, die Anzahl seiner Munitionsvorräte oder den Zustand seiner Waffe durchzugeben. Stattdessen kam er gleich aufs Wesentliche zu sprechen.

Hinterhalt. 100 Meter von Ziel entfernt Antipersonenminen. Mindestens 4 Norweger KIA. Mehrere Verletzungen, teils kritisch. Wurden aus Ziel mit automatischen Waffen beschossen. Mindestens 3 Schützen. Norweger feuerten mit Granaten. Alle Tangos tot. Ziel zerstört. Ein Tango Fluchtversuch. Auf Flucht getötet. Schicke Fotos von gefundenem Material.

Während das Militär mittlerweile den Begriff »MAM« verwendete – »Military Age Male«, Männer im militärfähigen Alter – sowie »EKIA« für »Enemy Killed in Action«, im Einsatz getöteter Gegner, blieb Harvaths Organisation lieber bei »Tango«. Man verschwendete nicht viel Zeit mit Nabelschau.

Da die Fotos bereit zum Verschicken waren und er einen guten Empfang hatte, las Harvath seine Nachricht noch einmal durch und drückte auf Senden.

Kurz darauf vibrierte das Satellitentelefon, weil eine Antwort eingegangen war.

Nachricht erhalten. Punkt. UPDATE: O. M. geht es schlechter.

O. M. war der Code für Harvaths Chef und Mentor Reed Carlton – jemand, dem Harvath sehr nahestand. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich seit einiger Zeit. Das waren keine guten Nachrichten. Harvaths Antwort fiel kurz und sachlich aus.

Verstanden. Melde mich demnächst.

Sobald die Nachricht versendet war, schaltete er sein Satellitentelefon aus, trennte es von seinem Handy und machte sich auf den Rückweg zur Hütte.

Auf halbem Weg traf er auf Jasinski. Harvath hatte seinen Helm abgenommen. Seine Haare waren kurz und sandfarben.

»Was ist passiert?«, fragte sie. »Ich hab Schüsse gehört.«

Er antwortete nicht sofort. Immer noch dachte er an Carlton und die Zukunft. »Einer von ihnen ist weggelaufen«, sagte er schließlich.

»Lebt er noch?«

Harvath schüttelte den Kopf.

»Verdammt. Ich habe versucht, dich über Funk zu erreichen. Warum hast du nicht geantwortet?«

Er deutete auf den Ohrstöpsel, der über seine Schulter hing.

»Du hättest warten können«, meinte sie. »Und abgesehen davon: Wer hat autorisiert, dass du eine Waffe bei dir trägst?«

Harvath war nicht in der Stimmung für ein Verhör. »Nicht jetzt«, entgegnete er.

Seine Antwort machte sie nur noch wütender. Das hier war ihre Ermittlung, nicht seine. Und doch war sie aus irgendeinem unbekannten Grund gezwungen worden, ihn als »Berater« zu akzeptieren. Etwas äußerst Seltsames ging hier vor sich, und sie würde der Sache auf den Grund gehen. Egal wie.

4

Reston, Virginia

Lydia Ryan hatte das riesige Büro in der Ecke gar nicht gewollt, aber Reed Carlton – der Gründer und Namensgeber der Firma – hatte darauf bestanden. Für die neue Direktorin der Carlton Group sei es nur angemessen, dass sie das große Büro bekam. Angesichts der Verantwortung, die mit dem Job einherging, verdiene sie es, auch seine Vorzüge zu genießen.

Die Aussicht aus dem Fenster war beeindruckend, selbst bei Nacht. Die Carlton Group belegte das oberste Stockwerk eines 25-stöckigen gläsernen Bürogebäudes, das nur zehn Minuten vom Flughafen Dulles International entfernt war.

Ein eigener, privater Fahrstuhl führte von der Garage in den 25. Stock. Dies ermöglichte den Zugang zum Büro, ohne die Lobby durchqueren zu müssen. Für einen privaten Nachrichtendienst war dies eine äußerst nützliche Besonderheit – vor allem für einen Dienst, der mittlerweile mit einigen der heikelsten Aufträge der CIA betraut war.

Da die Gruppe mit vertraulichen Informationen umgehen musste, war der gesamte Bürokomplex nach strengsten TEMPEST-Vorschriften gebaut worden. TEMPEST legte die mechanischen, elektrischen und akustischen Signale fest, die von sämtlichen Geräten für den Empfang sowie die Übertragung, Verarbeitung, Analyse, Verschlüsselung und Entschlüsselung geheimer Informationen genutzt wurden. Dies sollte Schutz bieten vor »kompromittierenden Aussendungen« – auch CE genannt für »Compromising Emanations«. Alles Erdenkliche war unternommen worden, um ein aktives und passives Belauschen von außen zu verhindern.

Beim Schutz ihrer IT und ihrer gesamten Kommunikationssysteme war die Firma ebenso gründlich vorgegangen. Wenn es ihr möglich war, übertraf sie sogar die Standard-Vorschriften. Damit war die Carlton Group jeder Regierungsstelle um Jahre voraus.

Das alles hatte ein Vermögen gekostet, aber diese Investition hatte Reed Carlton nur allzu gern getätigt. Er ging mit seiner Firma einen ganz neuen Weg und setzte die neueste Technik ohne Wenn und Aber ein.

Carlton besaß die Gabe, Bedrohungen schon zu erkennen, lange bevor sie am Horizont auftauchten. Außerdem war er allen anderen in Gedanken stets mehrere Schritte voraus.

Während seiner drei Jahrzehnte bei der CIA hatte er die Welt bereist und gegen verschiedenste Feinde gekämpft, von Kommunisten bis hin zu islamistischen Terroristen. Seine größte Errungenschaft war jedoch die Gründung des nunmehr berühmten Zentrums für Terrorismusbekämpfung der CIA. Einige der gewagtesten Operationen des Zentrums hatte er ersonnen und durchgeführt.

Als es Zeit wurde, in den Ruhestand zu gehen, versuchte er, sich damit abzufinden – aber der Ruhestand passte nicht zu ihm. Er vermisste das »große Spiel«. Tief in seinem Inneren störte es ihn, dass das Spiel ohne ihn weiterlief. Zudem waren die Bedrohungen, denen Amerika gegenüberstand, nicht geringer geworden. Sie nahmen vielmehr zu. Gleichzeitig veränderte sich seine geliebte CIA, allerdings nicht zum Guten.

Die CIA wurde von Bürokraten überflutet und unterwandert. Operationen wurden zurückgefahren oder ganz beendet. Das Management war besessen davon, die Verluste zu minimieren. Ein berüchtigtes Motto, das an der Bürowand einer Führungskraft hing, lautete: »Große Operationen, große Probleme. Kleine Operationen, kleine Probleme. Keine Operationen, keine Probleme.«

Die Bürokratie hatte sich wie eine bösartige Kletterpflanze um den Hals der CIA gewickelt und erwürgte sie. Die CIA war keine lebhafte und dynamische Behörde mehr, die sich um die gefährlichsten und wichtigsten Angelegenheiten der Nation kümmerte. Sie war so gut wie zum Stillstand gekommen.

Die Verkrustung der Agency hatte Carlton große Sorgen bereitet. Ohne einen effektiven Geheimdienst hatten die Vereinigten Staaten ein großes Problem. Also hatte Carlton das getan, was er für die einzige Möglichkeit hielt. Er war aus dem Ruhestand zurückgekehrt und hatte seinen eigenen privaten Nachrichtendienst gegründet.

Im Gegensatz zu Firmen im Militärbereich hatte die Carlton Group mehr zu bieten als nur Kanonen, die man mieten konnte. Die Dienste der Gruppe beinhalteten das weltweite Erfassen von Informationen und deren Analyse. Für bestimmte Kunden bot sie noch mehr – umfassende Geheimoperationen.

Im Grunde stellte die Carlton Group eine kleinere und schnellere Version der CIA dar. Schon bald wurde die Regierung der Vereinigten Staaten zu einem ihrer größten Kunden.

Carlton hatte seine neue Firma dem OSS von »Wild Bill« Donovan nachempfunden, der CIA-Vorgängerorganisation. Dafür wollte er mutige, hocheffiziente Macher mit Eigeninitiative, für die nur der Erfolg infrage kam. Dafür suchte er die besten Leute aus der Welt der Armee und der Geheimdienste. Leute, die sich bewährt hatten. Die mit kaum zu erfüllenden Aufgaben in die dunkelsten Winkel der Welt geschickt worden und erfolgreich zurückgekehrt waren. Carlton hatte ein außergewöhnlich gutes Auge für talentierte Menschen.

Gegenüber dem Büro von Lydia Ryan befand sich das von Scot Harvath. Es war kleiner als ihres, aber er hatte es so gewollt. Er hatte die ihm angebotene Stelle des Direktors abgelehnt.

Carlton war enttäuscht gewesen. Sein größtes Kapital, die Grundlage, auf der seine Firma beruhte, waren seine Weisheit, seine durch harte Arbeit gewonnene Erfahrung und sein weltweites Netzwerk aus Geheimdienstkontakten.

Er hatte Harvath seine über 30-jährige Spionageerfahrung eingedrillt, bis dieser sie perfekt übernommen hatte. Carlton hatte aus Harvath eine der raffiniertesten Waffen geschmiedet, die den Vereinigten Staaten zur Verfügung standen.

Er hatte ihm beigebracht, wie man Führung übernimmt und eine Organisation leitet – speziell die Carlton Group. Aber jedes Mal wenn das Thema zur Sprache kam, Chef der Gruppe zu werden, hatte Harvath klargestellt, dass er nicht interessiert war. Er bevorzugte die Feldarbeit. Darin war er gut.

Als bei Carlton Alzheimer diagnostiziert wurde, versuchte er alles, um Harvath doch noch zu überzeugen. Harvath war zu wertvoll, um ständig im Feld eingesetzt zu werden. Er war Carltons Protegé, und Carlton wollte ihn als Nachfolger. Und so wie jeder gute Geheimdienstler war Carlton bereit, alles einzusetzen, um sein Ziel zu erreichen. Selbst eine persönliche Tragödie.

Er spielte mit Harvaths Gefühlen, vor allem mit dessen Pflichtgefühl. Er setzte Schuldgefühle ein, indem er ihre Vater-Sohn-ähnliche Beziehung betonte. Er machte Harvath sogar Vorwürfe, indem er behauptete, zugunsten seines neu gewonnenen Familienlebens müsse Harvath zu Hause bleiben und dürfe nicht mehr so viel im Ausland unterwegs sein.

Letzteres war ein besonders dreister Versuch, Harvath zu überreden. Harvath war mit einer Frau zusammen, die er sehr liebte und die einen kleinen Jungen hatte. Es war die perfekte, sozusagen schon vorgefertigte Familie, vor allem für einen Mann, der den Großteil seines erwachsenen Lebens damit verbracht hatte, Türen einzutreten und Bösewichtern in den Kopf zu schießen.

Dass Carlton sogar Harvaths Familiensituation in die Diskussion hineinzog, zeigte, wie verzweifelt und obendrein besorgt er hinsichtlich der Zukunft war. Und das bezog sich nicht nur auf die Zukunft seines Unternehmens, sondern auch auf die des Landes.

Aus Zuneigung für Carlton – den »Alten Mann«, wie er ihn liebevoll nannte – ließ sich Harvath auf einen Kompromiss ein. Er würde mit einem Fuß weiterhin im Feld stehen und mit dem anderen im Büro. Damit dies möglich war, bestand er jedoch darauf, dass Carlton einen Vollzeit-Direktor einstellte.

Nach einem langen Treffen mit dem Präsidenten und dem Director of Central Intelligence im Oval Office wurde die Ernennung von Lydia Ryan vereinbart.

Zuvor war sie stellvertretende Direktorin der CIA gewesen. Der Präsident hatte sie und ihren Chef persönlich ausgewählt, damit sie die Agency aufräumten, verschlankten und wieder in Topform brachten.

Es war eine Herkulesaufgabe, so wie das Ausmisten der Ställe des Augias. Schon bald mussten sie feststellen, dass sie dafür viel länger benötigen würden, als sie anfangs gedacht hatten. Eine tief verwurzelte Bürokratie musste komplett entfernt werden.

Das Schwierige dabei war, dass sich diese mit Händen und Füßen dagegen wehrte.

Während der Direktor versuchte, die CIA zu retten, wurde Ryan mit der Leitung der Carlton Group betreut. Die Gruppe sollte als eine Art Rettungsboot dienen. Sie würde stillschweigend bis zur Wiederinstandsetzung der Agency die kritischen Operationen durchführen, die Langley nicht übernehmen konnte.

Carlton war ein gut aussehender Neuengländer mit markantem Kinn und silbernen Haaren. Er war eine Legende im Spionagegeschäft. Er war der oberste Meisterspion. Er war genial. Dass ihm ausgerechnet der Verstand geraubt wurde, war eine bittere Entwicklung.

Der Nation wurde dadurch einer ihrer größten Schätze genommen. Er wusste buchstäblich, wo alle Leichen vergraben waren. Er kannte die Namen, Daten, Konten, Passwörter, Orte, Zeiten, er wusste, wer wen reingelegt hatte, wer wem etwas schuldete … Er war ein wandelndes Lexikon globaler Spionagekenntnisse. All dies entglitt ihm nun, und zwar schnell.

Harvath und Ryan fanden sich in einem Rennen gegen die Zeit wieder, um noch so viel wie möglich von ihm zu lernen. Sie besuchten ihn abwechselnd und wussten dabei nie, ob er genügend Energie oder Klarheit aufbringen konnte.

Manche Tage waren besser als andere. Carlton baute geistig ab und blieb dann eine Zeit lang auf diesem Niveau, bevor er weiter abbaute. Es zerriss Harvath und Ryan das Herz. Vor allem Harvath.

Dann kam es eines Tages zu einem gefährlichen Aussetzer.

5

Ryan war zu Carltons Haus gefahren, um mit ihm zusammenzusitzen und etwas Zeit mit ihm zu verbringen. Für den Fall, dass er zum Reden aufgelegt war, war sie stets vorbereitet, um sich dabei Notizen zu machen.

Bei ihrem Eintreffen war er gerade in ein angeregtes Gespräch mit einer seiner Pflegerinnen verwickelt, die sich 24 Stunden am Tag um ihn kümmerten. Es war zwar schön, ihn so gesprächig zu erleben, allerdings vertraute er seiner Pflegerin dabei höchst geheime Informationen über Amerikas Verhältnis zu den Saudis an. Das ist nicht gut.

Sie zog ihr Handy hervor und rief zunächst Harvath an. Er war im Büro und sagte ihr, er werde so schnell wie möglich kommen.

Danach rief sie ihren früheren Chef bei der CIA an und schlug vor, das Büro des General Counsel solle dafür sorgen, dass die Pflegerinnen eine Verschwiegenheitserklärung zum Schutz der nationalen Sicherheit unterschrieben. Das war eine Übergangslösung, eine Notlösung. Aber sie musste durchgeführt werden – sofort. Carlton hatte womöglich schon die geheimsten Dinge ausgeplaudert.

Lydia kam zurück in das Zimmer und bot an, Carlton zu beschäftigen, damit die Pflegerin sein Mittagessen zubereiten konnte. Der Alte Mann versicherte ihr umgehend, wie schön sie sei.

Das war sie auch wirklich. Ryan war groß, mit langen schwarzen Haaren, grünen Augen, vollen Lippen und hohen Wangenknochen – das Produkt einer griechischen Mutter und eines irischen Vaters. Carlton machte ihr jedoch kein flüchtiges, nett gemeintes Kompliment. Seine inneren Bremsen ließen nach. Er sagte die Art von Dingen, die wir vielleicht denken, aber lieber nicht aussprechen sollten.

Die Ärzte hatten davor gewarnt, dass es so weit kommen könnte. Aber niemand hatte so früh damit gerechnet.

Ryan versuchte, die Situation auszunutzen, indem sie bei Themen nachhakte, zu denen sie Informationen benötigte. Es waren tiefer gelegene Bereiche seines Verstands, die sich zu schnell verdunkelt hatten.

Als Harvath eintraf, hatte sie mehrere Seiten mit Notizen vollgeschrieben. Wie zuverlässig die Informationen waren, konnte sie nicht sagen. Alles würde überprüft werden müssen. Dennoch war ihr Besuch in gewisser Weise produktiv gewesen.

»Wie geht es ihm?«, fragte Harvath.

»Ihm geht es gut«, erwiderte Carlton, für sich selber sprechend. Es gab Momente, in denen er sich halbwegs seiner selbst bewusst zu sein schien. Doch wenn er dann nach Einzelheiten gefragt wurde, entglitten sie ihm. Seine hohe Intelligenz erlaubte es ihm jedoch, sich durch viele Gespräche zu bluffen.

Die Pflegerin steckte – wie auf ein Stichwort hin – ihren Kopf ins Zimmer, um nach ihrem Patienten zu sehen. Harvath reichte ihr das Tablett mit den Resten des Mittagessens. Das Gemüse hatte Carlton nicht angerührt. Harvath dankte der Frau und bat sie höflich darum, den Raum zu verlassen. Er begleitete sie zur Tür, schloss diese hinter ihr und ging zurück zu Ryan, die ihm alles erklärte, was seit ihrer Ankunft geschehen war.

Harvath lächelte Carlton zu. »Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll. Aber du bist völlig unberechenbar. Du kennst diese ganzen Geheimnisse, und wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht in die falschen Hände geraten.«

Der Alte Mann machte eine herablassende Geste mit der Hand. »Sei nicht so melodramatisch. Mit mir ist alles in Ordnung.«

Nichts war mit ihm in Ordnung. Er war zu einem Sicherheitsrisiko geworden.

Harvath war so schlau gewesen, keine Zeit zu verlieren. Er hatte bereits einen Plan B.

Inmitten eines wunderschönen Sees in New Hampshire befand sich eine kleine Insel mit einer Ferienhaussiedlung. Eines der Häuser hatte Carltons Großvater gebaut. Carlton selber hatte dort als kleiner Junge mehrere Sommer verbracht. Da Carltons früheste Erinnerungen seine deutlichsten waren, hielt Harvath es für eine gute Idee, ihn an diesem gemütlichen und vertrauten Ort unterzubringen.

Er hatte einen dauerhaften Mietvertrag mit den aktuellen Besitzern abgeschlossen und mit Genehmigung des Verteidigungsministeriums ein Kontingent Marinesoldaten eingestellt, um sich um den Alten Mann und dessen Sicherheit zu kümmern. Niemand wollte, dass der unberechenbare Carlton eine Katastrophe herbeiführte. Sollte er den falschen Leuten in die Hände fallen, könnten sie wer weiß welche Informationen aus ihm herausquetschen. Ihn an einem sicheren Ort zu verstecken, wo er niemandem auffiel, war jeden Penny und jede Anstrengung wert.

Im Schutz der Dunkelheit wurde er verlegt. Harvath war mitgekommen, um ihn zu beruhigen, und war ein paar Tage in dem Haus geblieben, um sich zu vergewissern, dass alles gut lief.

Carlton war überglücklich, in dem Haus zu sein, das er aus seiner Jugend wiedererkannte. Ihm gefiel nicht, dass die Einrichtung verändert worden war. Er gab seiner Großmutter die Schuld, die ständig etwas verändern musste, um glücklich zu sein.

Er verstand nicht, wer die Navy-Angehörigen waren und warum sie hier sein mussten. Harvath gab irgendwann den Versuch auf, es ihm zu erklären.

Sein Eindruck war, dass alles gut lief. Obwohl er es sich nicht leisten konnte, blieb er eine weitere Nacht. Sie grillten Steaks, rauchten Zigarren und tranken mehr Bourbon, als für sie beide gut gewesen wäre.

Da Harvath nicht wusste, wie lange ihn sein nächster Auftrag ins Ausland verschlagen würde, wollte er jeden guten Moment seines Besuchs voll auskosten.

Am nächsten Morgen, als die Zeit zum Aufbruch gekommen war, umarmte er seinen Mentor länger als je zuvor. Der Alte Mann schien zu wissen, dass etwas Schwerwiegendes in der Luft lag und dass sie einander womöglich nicht wiedersehen würden. Er erwiderte die Umarmung ebenso lange.

Als sie die Umarmung lösten, legte Carlton Harvath die Hände auf die Schulter, sah ihm in die Augen und sagte: »Du bist ein guter Sohn.«

Dann drehte sich der Alte Mann um und ging zurück in das Cottage. Wenn nicht einer der Navy-Männer in der Nähe gestanden und alles mitbekommen hätte, dann hätte Ryan wohl nie von dieser Episode erfahren. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Harvath so etwas erzählt hätte.

Harvath hatte das College zugunsten einer Karriere als Freestyle-Ski-Profi aufgegeben und seitdem kaum mit seinem echten Vater gesprochen. Ohne seine Mutter hätten sie gar nicht mehr miteinander kommuniziert. Als sein Vater, ein Navy-SEAL-Ausbilder, starb, brach für Harvath die Welt zusammen.

Soweit Ryan es durch andere Leute mitbekommen hatte, die Harvath nahestanden, war etwas in ihm in diesem Moment eingerastet – oder ausgerastet.

Er verlor das Interesse am Profisport und verließ das US-Ski-Team. Er ging aufs College und folgte dann den Fußspuren seines Vaters, indem er der Navy beitrat und ein noch fähigerer SEAL wurde als sein Vater.

Seit der Umarmung vor dem Cottage in New Hampshire waren fast zwei Monate vergangen, und in der Zwischenzeit war viel passiert. Die Leute stellten Fragen. Carltons Name wurde immer häufiger erwähnt. Er war nicht mehr in Sicherheit. Also entschied Ryan, die nächste Phase von Harvaths Plan umzusetzen.

6

Militärflugplatz Værnes

Stjørdal, Norwegen

Selbst wenn sie in der Lage gewesen wären, einen Löschtrupp in den Wald und zu der Hütte zu bewegen, hätten sie es nicht rechtzeitig geschafft. Das forensische Team konnte bloß noch die Asche durchsuchen. Die Hoffnung, noch irgendetwas zu finden, war gering.

Harvath und Jasinski gingen zurück zu den verletzten Norwegern und halfen ihnen so gut wie möglich.

Als die Verstärkung eintraf, entfernte sich Harvath unauffällig. Er musste sich vor seiner Abreise noch um mehrere Dinge kümmern.

Ein Auto wartete direkt hinter den Fahrzeugen der Ersthelfer auf ihn.

Erst eine halbe Stunde später fiel Jasinski auf, dass Harvath verschwunden war. Es dauerte weitere 45 Minuten, bevor sie selber nach Værnes zurückgefahren wurde.

Der Militärflugplatz Værnes gehörte der Royal Norwegian Air Force. Vor allem wurde er jedoch vom United States Marine Corps genutzt.

Als Teil des Preposition Programs der Marines wurden enorme Mengen an amerikanischer Militärausrüstung über Værnes nach Norwegen gebracht. Anschließend wurde sie in streng geheimen Höhlen in der gesamten Region für die Eventualität gelagert, dass ein NATO-Mitgliedsstaat angegriffen wurde und die Organisation den Bündnisfall ausrief. Bei der Razzia der Hütte heute Abend war es darum gegangen, einen Angriff auf diese Höhlen zu verhindern. Die in ihnen verwahrte Ausrüstung war von hoher strategischer Bedeutung. Wenn sie zerstört worden wäre, hätte dies einen schweren Schlag gegen ein Bündnis bedeutet, das weit gekommen und äußerst erfolgreich war.

Die Organisation des Nordatlantikvertrags wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet und umfasste ursprünglich Belgien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Island, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten.

Später kamen Griechenland, die Türkei, Deutschland, Spanien, die Tschechische Republik, Ungarn, Polen, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei, Albanien, Slowenien, Kroatien und Montenegro dazu.

Die NATO war zur gemeinsamen Verteidigung in der Hoffnung gegründet worden, jeden weiteren Angriffskrieg zu entmutigen. Artikel 5 des Vertrags legte fest, dass ein Angriff auf einen der Mitgliedsstaaten einen Angriff auf alle Mitgliedsstaaten darstellte. Egal wer der Angreifer war: Die restlichen NATO-Mitglieder waren verpflichtet, ihren Bündnispartnern beizustehen.

Artikel 5 wurde nur ein Mal in der Geschichte der NATO ausgerufen. Nach dem 11. September hatten die NATO-Staaten gemeinsam einen Krieg in Afghanistan begonnen.

Der 11. September hatte die asymmetrische Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus verdeutlicht. Aber eine weitere Bedrohung, die zudem viel größer war, zeichnete sich am Horizont ab.

Russland plante, sein gesamtes früheres Territorium zurückzugewinnen, und hatte mit der Eroberung der Krim bereits einen ersten Schritt getan. Als Nächstes würden die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland anstehen. Nur eines stand Russland im Weg, und zwar die Organisation des Nordatlantikvertrags. Doch Moskau ging stets taktisch vor und hatte bereits einen Plan entwickelt, um die NATO zu beschädigen.

Harvath hatte allerdings ebenfalls einen Plan. Die Vereinigten Staaten hatten keinesfalls vor, in einen weiteren Weltkrieg in Europa hineingezogen zu werden. Sie hatten auch nicht vor, zuzulassen, dass das wichtigste Militärbündnis der Geschichte aufgelöst wurde. Egal was es kostete – Harvath konnte nicht riskieren, dass die Russen Erfolg hatten.

Er hatte einen Raum im Offiziersquartier auf der nördlichen Seite des Flugplatzes Værnes zugewiesen bekommen. In dem Raum roch es nach altem Teppich, und die Einrichtung sah aus, als wären dafür im örtlichen IKEA 100 Dollar investiert worden.

Harvath konnte hören, wie sich Monika Jasinski durch den Flur näherte. Er steckte sein Handy in die Hosentasche und ging zur Tür, um sie zu öffnen.

Sie stellte ihn sofort zur Rede. »Die Norweger suchen nach dir. Sie wollen sich über den Toten unterhalten. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee gewesen, sich bei jemandem abzumelden, bevor du verschwindest.«

Bevor er etwas entgegnen konnte, fuhr sie fort. »Würde es dir etwas ausmachen, zu erklären, was da draußen passiert ist? Uns wurde deutlich gesagt, dass wir keine Waffen dabeihaben dürfen. Wie kommt es, dass du eine Pistole hattest?«

»Gern geschehen.«

Seine Bemerkung überrumpelte sie. »Was meinst du denn damit?«

Er steckte einen Finger in den Riss in ihrem Parka, wo ein Granatsplitter ihren Hals nur knapp verfehlt hatte. »Ich habe dir schließlich das Leben gerettet.«

Ihre Wangen röteten sich. Harvath war sich nicht sicher, ob sie verlegen oder wütend war.

Sie wandte den Kopf ab und murmelte: »Danke.«

Er trat zurück, damit sie den Raum betreten konnte.

An einem Tisch saß ein grauhaariger Mann mit einem dünnen Schnurrbart. Er trug einen dunklen Rollkragenpullover und graue Hosen. Von der Zigarette im Aschenbecher vor ihm stieg eine blaue Rauchwolke auf.

Jasinski sah den Mann an. »Wer ist das?«

Mit dem Absatz seines Stiefels stieß Harvath die Tür zu und stellte Jasinski vor.

»Monika Jasinski, das ist Carl Pedersen. Carl gehört zum NIS. Norwegian Intelligence Service.«

»Ich weiß, was der NIS ist«, entgegnete Jasinski. Sie fragte sich, weshalb der Mann wohl hier war.

Pedersen stand auf und gab ihr die Hand. »Scot hat mir gesagt, dass Sie für den polnischen Militärgeheimdienst arbeiten und momentan der NATO zugewiesen sind?«

Jasinski nickte. »Der Abteilung für Terrorismusbekämpfung. Aber ich verstehe nicht. Was hat das alles mit Norwegens Auslandsgeheimdienst zu tun?«

»Carl ist unsere Verbindungsperson.«

»Nein, ist er nicht. Wir haben es hier mit einer NATO-Ermittlung zu tun. Wir arbeiten mit unseren Kollegen vor Ort zusammen.«

»Ihr Englisch ist hervorragend«, warf Pedersen ein und wechselte das Thema. »Fast akzentfrei.«

»Ich stamme aus Polen, bin aber in Chicago aufgewachsen. Wir sind nach Krakau zurückgezogen, als ich zwölf war.« Sie bemerkte die Handys, die auf dem Schreibtisch aufgestapelt waren, und fragte: »Wo kommen die her? Bitte sagt mir nicht, dass sie von dem Toten stammen, der aus der Hütte geflüchtet ist.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass sie schlau ist«, sagte Harvath, während er an den Tisch trat und sich eine Flasche Aquavit und ein Schnapsglas für Jasinski schnappte.

»Ich habe keinen Durst«, meinte sie.

»Trinken Sie einen Schluck«, empfahl Pedersen. »Danach fühlen Sie sich besser.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr NIS, aber Sie haben keine Ahnung, wie …«

Harvath reichte ihr das Glas, zog den Stopfen aus der Flasche und schenkte ein. »Es war nicht unsere Schuld«, erklärte er. »Die norwegische Polizei hatte den Zugriff bereits beschlossen. Alle Mitglieder der Zelle befanden sich am selben Ort. Unsere Anwesenheit hatte keinerlei Auswirkung auf ihre Entscheidung.«

Jasinski lehnte sich gegen die Wand, schloss die Augen und atmete aus. »Die Männer wurden abgeschlachtet. Es war wie in einem Kriegsgebiet. Die Norweger hätten gewarnt werden sollen.«

»Das wurden wir«, gab Pedersen zu.

Sie glaubte ihm nicht. »Von wem?«

»Von mir«, sagte Harvath.

»Von dir? Das verstehe ich nicht. Mir wurde gesagt, dass wir die anderen Anschläge nicht besprechen dürften. Was hat das zu bedeuten?«

Harvath stellte die Flasche zurück auf den Tisch, zog einen Stuhl hervor und bedeutete ihr mit einer Geste, sich zu setzen.

7

Es gab vieles, was Harvath ihr gern erzählt hätte – etwa für wen er wirklich arbeitete, warum er hierhergeschickt worden war und warum er sie für diesen Auftrag ausgewählt hatte –, aber er konnte es nicht. Noch nicht.

Er hatte ihre Akte gründlich studiert. Sie war ihm in höchsten Tönen empfohlen worden, und er wusste so gut wie alles über sie.

Monika Amelia Jasinski. 31 Jahre alt. Größe 1,73 Meter. Blond, große nussbraune Augen, fast wie die eines Rehs. Ihr Vater hatte für die Polish Trade Commission in Chicago gearbeitet. Nach dem Gymnasium in Krakau hatte sie an der polnischen Akademie für Nationale Verteidigung studiert. Anschließend war sie der polnischen Armee beigetreten und hatte sich im Militärgeheimdienst bei mehreren Aufenthalten im Irak und in Afghanistan hervorgetan.

Als die NATO ihre neue Joint Intelligence and Security Division im Supreme Headquarters Allied Powers Europe einrichtete – auch einfach SHAPE genannt –, wurde Jasinski als führende Ermittlerin in der Abteilung für Terrorismusbekämpfung vorgeschlagen. Sie hatte ihren Wert mehr als unter Beweis gestellt.

»Worum geht es bei der ganzen Sache?«, fragte sie, während Harvath sich und Pedersen nachschenkte.

»Du hattest recht«, antwortete er.

»Womit?«

»Mit allem. Drei Anschläge. Drei tote Diplomaten. Ein Scharfschütze in Portugal, eine Autobombe in Spanien, ein Schütze auf einem Motorrad in Griechenland. Sie sind allesamt Teil einer größeren Verschwörung. Dazu gehört jetzt auch Norwegen.«

Jasinski nahm einen Schluck des starken Aquavits. Es war befriedigend, zu hören, dass sie die richtigen Zusammenhänge zwischen den Ereignissen erkannt hatte. Jedoch hatte sie immer noch keine Ahnung, für wen Harvath wirklich arbeitete.

Sie hatten sich vor weniger als zwölf Stunden zum ersten Mal getroffen, auf einer Rollbahn. Angeblich hatte ihn das NATO-Kommando in den Vereinigten Staaten geschickt. Der Supreme Allied Commander Transformation – kurz SACT – saß in Norfolk, Virginia. Seine Aufgabe bestand darin, neue, revolutionäre Konzepte zu entwickeln, mit deren Hilfe die NATO auf dem modernsten Stand blieb.

Jasinski hielt den Allied Command Transformation – ACT – einfach für einen überbewerteten Thinktank. Und als sie Harvath ansah, der in Jeans und T-Shirt dasaß, kam er ihr nicht wie jemand vor, der in einem Thinktank arbeitete. Er sah allgemein nicht aus wie jemand, der den ganzen Tag hinter einem Schreibtisch verbrachte. Er war viel zu fit.

Er sah aus wie jemand, der es gewohnt war, sich physischen Herausforderungen stellen zu müssen. Er hatte etwas Stählernes, Ernsthaftes an sich. Er war jemand, der schlimme Dinge gesehen und wahrscheinlich selber einige davon angerichtet hatte.

Er sah auch ein bisschen zu gut aus. Er hatte starke, maskuline Züge. Vor allem aber faszinierte sie die Intensität seiner tiefblauen Augen.

Obwohl sie zugab, dass ihre Einschätzung oberflächlich war, hielt sie ihn nicht für einen Typen, der in einem Laden wie ACT seine Zeit vertrödelte. Darauf hätte sie ihre Karriere verwettet.

Außerdem irritierte sie der Umstand, dass er in der kurzen Zeit, seit sie sich kennengelernt hatten, eine Waffe in ein fremdes Land eingeschmuggelt, gegen die Befehlskette verstoßen, eine Zielperson des Einsatzes getötet und Beweise gestohlen hatte. Und er enthielt ihr etwas vor. Da gab es etwas, das er ihr verschwieg. Daran bestand für sie kein Zweifel.

Ihr Gesichtsausdruck musste ihre Gedanken verraten haben, denn Harvath sah sie an und fragte: »Stimmt etwas nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du bist nicht hier, weil ich recht hatte, hinter den Anschlägen eine größere Sache zu vermuten.«

»Ach nein?«

»Nein. Du bist hier, weil die Vorgänge mittlerweile auch die Vereinigten Staaten betreffen. Die anderen Anschläge hatten keinen Bezug zu euch. Aber sobald diese Terrorgruppe ganze Höhlen voller amerikanischer Armeeausrüstung in die Luft jagen will, taucht ihr plötzlich auf, und jetzt sitzt du hier.«

Ihr Instinkt gefiel Harvath. Sie hatte völlig recht. Trotzdem gab es viel, das sie noch nicht wusste. »Glaub mir«, versicherte er, »wir sind beide auf derselben Seite.«

»Ach ja? Und was für eine Seite ist das?«

»Wir wollen beide, dass diese Gruppe aufgehalten wird.«

Jasinski deute auf den Stapel Handys. »Ich glaube, dass du und ich sehr unterschiedliche Auffassungen darüber haben, wie wir das bewerkstelligen sollen.«

»Momentan vielleicht. Aber lass mich dir eine Frage stellen. Willst du gewinnen?«

»Wie bitte?«

»Du hast mich schon verstanden. Willst du gewinnen? Die Frage ist ganz einfach.«

Was für ein seltsamer Typ! »Natürlich will ich das«, antwortete sie. »Ich bin nicht hierhergekommen, um zu verlieren.«

»Gut. Wenn wir gewinnen wollen, müssen wir gemeinsam kreativ vorgehen.«

»Wir? Ich weiß ja nicht einmal, für wen du arbeitest oder warum ich mich mit dir abgeben soll.«

»Ich bin derjenige, der dir dabei helfen wird, zu gewinnen.«

Sie sah ihn an. »Und wie wirst du mir helfen? Indem du Beweise stiehlst und Verdächtige umbringst?«

»Monika, unser Feind befolgt keine Regeln. Wenn wir gewinnen wollen, müssen wir dasselbe tun.«

»Ich habe den Verdacht, dass die Norweger anderer Auffassung sein könnten.«

Harvath warf Pedersen einen Blick zu. »Werde ich irgendwelche Probleme mit Norwegen bekommen?«

Pedersen streckte eine Hand aus und machte eine Kreuzbewegung in der Luft. »Deine Sünden sind dir vergeben.«

Jasinski starrte die beiden an. »So langsam brauche ich wirklich eine Erklärung, worum es hier geht.«

»Es geht darum, den anderen einen Schritt voraus zu sein.«

»Wem einen Schritt voraus zu sein? Alle aus der Holzhütte sind tot.«

Harvath stellte sein Glas ab. »Die meine ich nicht. Ich meine die Leute, die hinter diesen Typen stecken. Diejenigen, die für die Anschläge auf jeweils einen NATO-Diplomaten in Portugal, Spanien und Griechenland verantwortlich sind.«

»Meinst du eine Art Führungsebene?«

Harvath nickte langsam.

»Weißt du, wer diese Leute sind?«, fragte sie. »Oder auch wo sie sich aufhalten?«

»Wir arbeiten dran.«

»Und wie lautet der Plan? Klauen und ballern wir uns quer durch Europa, bis wir sie gefunden haben?«

»Wäre das ein Problem?«

»Es wäre zunächst einmal illegal!«

»Überlass die Frage der Legalität einfach mir.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was ist?«

»Ich weiß nicht mal, für wen du wirklich arbeitest«, erwiderte sie.

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich ein Berater …«, fing er an, seine Tarngeschichte zu wiederholen.

»… der auf geheimnisvolle Weise vom strategischen Kommando der NATO in den Vereinigten Staaten geschickt worden ist. Selbst wenn ich das glauben würde, gibt es noch ein Problem.«

»Nämlich?«

»Ich mag keine Geheimnisse.«

Er sah sie an. »Nur um eins klarzustellen: Du bist freiwillig mitgekommen.«

Jasinski lachte auf.

»Wenn dich der Supreme Allied Commander persönlich in sein Büro ruft und dir einen Auftrag anbietet, sagst du zu. Egal wie der Auftrag lautet.«

»Ich kann ihn bitten, mir jemand anderen zu suchen.«

»Jemand, der so auf Draht ist wie ich? Viel Glück. Du würdest wieder bei null anfangen. Ich habe mehr für diesen Auftrag zu bieten als alle anderen beim SHAPE.«

Sie hatte recht – mehr noch, als ihr bewusst war.

»Dann machst du also mit?«

Ein paar Sekunden verstrichen. Er durchschaute ihren Bluff.

»Ich mache mit«, meinte sie schließlich. »Aber eins will ich betonen: Das Einzige, was ich noch weniger mag als Geheimnisse, sind Überraschungen.«

Harvath lächelte. Er mochte ebenfalls keine Überraschungen.

Aber leider warteten zahlreiche weitere Überraschungen auf die beiden.

8

Vor den Toren Warschaus, Polen

Die Diebe gingen rasch, aber sorgfältig vor. Indem sie Baseball Caps und dunkle Kleidung trugen, verbargen sie ihre Gesichter gekonnt vor den Überwachungskameras.

Sobald sie die von ihnen gestohlenen Waren vom Truck in ihren Van verladen hatten, verließen sie den Parkplatz und flüchteten.

Soweit sie es beurteilen konnten, hatte sie niemand gesehen. Nicht einmal die amerikanischen Soldaten, die sie gerade bestohlen hatten. Dennoch würde ein einziger Anruf bei der Polizei reichen, und alles würde schiefgehen. Sie mussten besonders vorsichtig sein.

Um der Aufmerksamkeit der Gesetzeshüter zu entgehen, vermieden die Diebe die Autobahn und fuhren über die Landstraßen. Das dauerte länger, war aber sicherer. Falls sie erwischt wurden, würde das zu einem schwerwiegenden internationalen Zwischenfall führen.

Der Diebstahl militärischer Ausrüstung auf polnischem Boden wäre äußerst peinlich für Polen, vor allem da es nicht das erste Mal wäre. Vor einer gemeinsamen Bereitschaftsübung im Herbst waren Nachtsichtgeräte und mehrere andere Ausrüstungsteile im Wert von mehr als 50.000 US-Dollar aus einem Warencontainer im Hafen von Danzig geklaut worden.

Dieses Mal waren die gestohlenen Gegenstände hochwertiger und die Implikationen für die Region viel weitreichender. Eine bloße Erwähnung dessen, was die US-Soldaten hier angeblich transportierten, hatte das Potenzial, die gesamte Region zu destabilisieren. Womöglich konnte es sogar die gesamte geopolitische Ordnung auf den Kopf stellen.

Das Team, das für den Diebstahl engagiert worden war, konnte sich jedoch nicht mit den größeren Zusammenhängen beschäftigen. Nicht jetzt. Es musste sich darauf konzentrieren, die Waren zu einem vereinbarten Ort zu bringen, ohne dabei der Polizei oder der Armee über den Weg zu laufen. Das war leichter gesagt als getan, vor allem in Polen. Polizei und Armee hatten dort die Angewohnheit, an den ungewöhnlichsten Orten zum ungünstigsten Zeitpunkt aufzutauchen und dabei ein starkes Interesse an den angetroffenen Personen zu zeigen. Egal wie harmlos sie wirken mochten.

Dies lag zum Teil sicher am gesunden Misstrauen aller Vollzugsbehörden, aber auch an dem Umstand, dass es sich um Polen handelte. Nur 30 Jahre zuvor hatte sich das Land noch unter dem Joch der sowjetischen Staatspolizei befunden. Die damaligen Streifenbeamten waren heute Ausbilder an der Polizeiakademie oder Kommandanten der Behörden. Die Echos der alten Tage waren noch im ganzen Land zu vernehmen.

Da die Diebe keine Spur aus digitalen Brotkrumen hinterlassen wollten, während sie sich von Funkturm zu Funkturm fortbewegten, hatten sie ihre Handys auseinandergebaut und in signalblockierenden Taschen verstaut. Zudem hatten sie sich für ein älteres Fahrzeug entschieden und benutzten kein GPS-Gerät, das ihnen bei der Navigation half. Sie verzichteten auf jegliche technischen Hilfsmittel. Während der Fahrer am Steuer saß, orientierte sich der Beifahrer mithilfe eines detaillierten Kartenausdrucks, auf den er mit einer Taschenlampe mit rotem Lichtstrahl blickte.

Mit beim Militär gewonnener Erfahrung kündigte der Beifahrer die nächsten Kurven und Abzweigungen an. Zur Sicherheit wiederholte er jede seiner Angaben. Der Fahrer bestätigte alle Anweisungen.

Sie fuhren mehrere Stunden, bis sie ihr Ziel erreichten. Dort angekommen, zog der Beifahrer eine halbautomatische WIST-94-Pistole hervor, kontrollierte, ob sie geladen war, und stieg aus dem Van.

Die Nachtluft war kalt, der Himmel klar und voller Sterne. Sie befanden sich in einer ländlichen Gegend. Eine kühle Brise brachte den Geruch von Vieh mit sich.

Nachdem er sich rasch umgesehen hatte, kehrte der Beifahrer zurück und öffnete das Tor zu einer alten, heruntergekommenen Scheune. Der Fahrer bewegte den Van in das Gebäude. Dort wartete ein silberner Škoda Kodiaq SUV.

Fahrer und Beifahrer wischten den Van ab, um Fingerabdrücke zu entfernen, und luden die Kisten aus, die sie den amerikanischen Soldaten gestohlen hatten.

Der Škoda war bereit zum Einladen. Die Sitze waren schon heruntergeklappt. Die Männer öffneten und leerten die Kisten, die sie anschließend achtlos liegen ließen.

Sobald der SUV vollständig beladen war, verbargen sie das Diebesgut unter Decken. Der Fahrer steuerte den SUV aus der Scheune. Der Beifahrer schloss die große hölzerne Scheunentür hinter ihnen und stieg in den Wagen.

»Kann’s losgehen?«, fragte der Fahrer.

Der andere Mann nickte und schaltete das eingebaute GPS-Navi ein, um die Strecke nach Belarus zu berechnen.

9

Kaliningrad

Oleg Tretjakows Handy weckte ihn aus seinem tiefen Schlaf. Selbst im Dunkeln wusste er, welches der Handys es war. Der Klingelton verriet es ihm.

Nur eine Handvoll Leute kannte diese Nummer. Aber in jedem Fall würde der Anrufer schlechte Nachrichten haben. Einen anderen Grund, diese Nummer um diese Uhrzeit anzurufen, gab es nicht. Er griff nach dem Telefon und drückte auf die Power-Taste, um den Anruf abzulehnen. Sofort hörte das Klingeln auf.

Er nahm seine Uhr und sah nach der Zeit. Es kam ihm vor, als wäre er gerade erst ins Bett gegangen.

Er warf die Decke zurück und stand auf. Die Wohnung war kalt. Er zog seinen Morgenmantel an und ging mit seinem Laptop in die Küche.

Der Timer seiner Kaffeemaschine war auf fünf Uhr morgens eingestellt. Er schaltete die Maschine vorzeitig an. Ihm war klar, dass er nicht wieder einschlafen würde. Und für das Problem, wegen dem er mitten in der Nacht aufstehen musste, wollte er möglichst aufgeweckt sein.

Während die Kaffeemaschine gurgelnd ihre Arbeit begann, zog er einen Stuhl hervor und öffnete seinen Laptop.

Russland hatte die größte Zahl an Internetnutzern in Europa und die sechstgrößte der Welt. Angesichts von 109 Millionen Nutzern war es so gut wie unmöglich, deren Aktivitäten im Einzelnen zu überwachen. Um Dissidenten aufzuspüren und mögliche Probleme rechtzeitig zu entdecken, setzte die russische Regierung höchst ausgeklügelte Algorithmen zur Beobachtung ihrer Bürger ein. Die Algorithmen suchten nach Tausenden von Stichwörtern und Ausdrücken. Doch trotz aller Fortschrittlichkeit wurden eine Menge Daten identifiziert, die keinerlei Bedrohung für den russischen Staat darstellten.

Als Oberst des viel gepriesenen russischen Militärnachrichtendienstes, der GRU, wusste er, wie er seine Internetnutzung zu tarnen hatte. Er hatte vor seiner eigenen Regierung nichts zu verbergen, aber in seinem Geschäft war die operative Sicherheit von höchster Priorität. Innerhalb des russischen Sicherheitsapparats konnte es immer auch Spione geben. Auch Hackerangriffe aus dem feindlich gesonnenen Ausland waren stets eine Möglichkeit.

Über ein anonymes Portal, das von seinem Hauptquartier in der Nähe von Moskau betrieben wurde, loggte er sich in eines seiner Attrappen-Konten in den sozialen Medien ein. Dann sprang er zum Profil eines harmlosen Fotografen, scrollte durch eine bestimmte Anzahl von Posts und klickte bei einem bedeutungslosen Foto auf »Gefällt mir«. Dadurch würde seine Kontaktperson wissen, dass er den Anruf erhalten hatte und online war.

Tretjakow strich sich durch den gepflegten Bart, der sein schmales Gesicht bedeckte. Er hatte markante Wangenknochen, dunkles Haar über einer hohen Stirn und dunkelbraune, fast schwarze Augen. Merkmale, die er von seinen Vorfahren geerbt hatte, die aus Kalmückien eingewandert waren.

Obwohl er über 1,80 Meter groß war, wurde manchmal von ihm behauptet, er ähnele dem sehr viel kleineren Wladimir Lenin – der ebenfalls kalmückischer Abstammung war.

Lenin war mit 53 Jahren gestorben. Tretjakow war jetzt 52 und hatte nicht die Absicht, es dem großen Revolutionär und Gründer der Sowjetunion gleichzutun und vorzeitig abzuleben. Er hatte seinem Land noch viele Jahre zu dienen.

In seiner Laufbahn hatte er geschickt Spione angeheuert und eingesetzt. Doch vor allem hatte er sich in den Bereichen Unterwanderung, Sabotage und Sonderoperationen hervorgetan.

Der Sohn eines kultivierten Vaters, der an der Staatlichen Universität Moskau Angewandte Mathematik unterrichtet hatte, und einer Mutter, die am Moskauer Konservatorium Klavier unterrichtete, war ein Wunderkind gewesen. Er war sowohl mathematisch als auch musikalisch begabt. Doch hatte ihn keiner dieser beiden Wege gereizt.

Als ihn ein Universitätsprofessor »entdeckt« hatte, der dafür bezahlt wurde, potenzielle GRU-Rekruten zu finden, hatte er die Chance ergriffen. Ihm gefiel die Vorstellung, sich für das mächtige russische Militär als nützlich zu erweisen. Von dessen berühmtem Nachrichtendienst rekrutiert zu werden, überstieg seine kühnsten Träume.

Er hatte Visionen von schnellen Autos, schönen Frauen und Aufträgen im James-Bond-Stil. Die Realität sah jedoch ganz anders aus.

Die Ausbildung war brutal gewesen. Sie war nicht nur physisch anstrengend, sondern auch psychisch gnadenlos. Die Ausbilder waren Sadisten, denen es Freude bereitete, die Kadetten zu misshandeln. Einer der Kadetten erhängte sich im Duschraum der Kaserne. Tretjakow war derjenige, der ihn fand.