BLUFF! - Dr. Manfred Lütz - E-Book

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Dr. Manfred Lütz

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Beschreibung

Wann hatten SIE zum letzten Mal das Gefühl, im falschen Film zu sein? Meistens sind es nur kurze irritierende Momente, die schnell vorbeigehen. Was aber, wenn sich herausstellen sollte, dass wir alle tatsächlich in einer gefälschten Welt leben? Und dadurch Gefahr laufen, unser eigentliches Leben zu verpassen? Aus Versehen. Der Psychiater und Psychotherapeut Manfred Lütz kennt sich aus mit der verheerenden psychologischen Wirkung der Plastikwelten, die uns täglich umgeben. In Bluff! Die Fälschung der Welt entlarvt er ein unheimliches Phänomen, das immer mehr um sich greift und uns alle betrifft. Zum Beispiel die Welt der Wissenschaft, die einigen wie die eigentliche Welt vorkommt. Doch selbst der Physik-Nobelpreisträger hat die Liebe zu seiner Frau nicht physikalisch gemessen und ist dennoch der Überzeugung, dass diese Liebe das eigentlich Wichtige, das existentiell Bedeutsame in seinem Leben ist. Die Psychowelt gibt vor, in allen Lebenslagen Rat zu wissen. Aber selbst wenn man alle therapeutisch interessanten, psychologischen Mechanismen kennt, führt das nicht zu einem erfüllten Leben oder gar zu wahrer Lebensweisheit. Die Medien sind eine faszinierende Kunstwelt. Gefährlich wird es aber dann, wenn Menschen sich in dieser Welt verlieren und ihre phantastischen Kulissen mit der Wirklichkeit verwechseln. Die Finanzwelt hat auf viele Menschen eine magische Anziehungskraft. Das konnte jeder in den vergangenen Jahren beobachten. Und auch wer die Gesundheit zu seiner Religion erklärt, lebt in einer Scheinwelt. Denn sie verführt dazu, nur noch vorbeugend zu leben, um dann gesund zu sterben. Doch auch wer gesund stirbt, ist leider definitiv tot. Diese Welten gibt es. Wir leben mit ihnen und in ihnen. Manfred Lütz beschreibt in Bluff! Die Fälschung der Welt unterhaltsam und treffend wie man erfolgreich vermeidet, von ihnen total in Besitz genommen zu werden: Damit Sie am Ende Ihres Lebens nicht erschreckt feststellen, dass Sie gar nicht wirklich geliebt, nicht wirklich verantwortlich gehandelt und sich nie wirklich gefragt haben, was das alles soll. Bluff! zeigt überraschende Auswege aus der Sackgasse. Ein launiges, nachdenkliches und nützliches Buch für jeden, damit nicht auf Ihrem Grabstein steht: "Er lebte still und unscheinbar, er starb, weil es so üblich war."

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Manfred Lütz

BLUFF!

Die Fälschung der Welt

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

VorbemerkungVorwortEinführung – Eine unheimliche FrageI. Auftakt1. Anti-Aging im Mittelalter – Ein Mönch irrt2. Frösteln im falschen Film – Das Abenteuer des Truman Burbank3. Kulissen – Über röhrende Hirsche und erotische MissverständnisseII. Das Welttheater1. Propagandisten der Täuschung – Die Weisheit der Wissenschaft und die Tricks ihrer Fälschera) Jäger, Sammler und der Brotpreis in der Eifelb) Der Irrtum des Richard Dawkinsc) Wo Papst und Teufel einer Meinung sind2. Psycho-Fälscher – Die Auflösung der Wahrheit in Psychologie und wie ich ein Burnout-Burnout bekama) Die Ermordung einer schönen Theorie durch eine hässliche Tatsacheb) Ein phantastischer Opernbesuchc) Coachen, bis der Arzt kommt3. Agenturen des Irrtums – Glanz und Elend der Medien oder ein Hauch von Welta) Die Kiste, die die Welt bedeutetb) Der eingebildete Kranke stirbtc) Leben im Netz4. Profiteure der Lüge – Die Reichen und die Schönen oder Leben wie Gott in Frankreicha) Der Weihnachtsmann verkauft sein Festb) Die Finanzwelt ruft zum Hammelsprungc) Die Castinggesellschaft spielt Jüngstes Gericht5. Produzenten des Scheins – Spirituelle Prothesen oder Religionen aus dem Baumarkta) Wie man den Tod vermeidetb) Das Runde muss ins Eckigec) Esoterische PlastikreligionenIII. Finale1. Die Vergewaltigung der Geschichte – Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?2. Entdeckungen – Das wirkliche Leben und die wahre Welt3. Wie geht es hier raus?
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In diesem Buch ist aus rein pragmatischen Gründen der Lesbarkeit in der Regel die männliche Sprachform gewählt worden, wofür ich Leserinnen um Verständnis bitte. Der Paartherapeut Jürg Willi konstruierte den Satz: »Wenn man/​frau mit seiner/​ihrer Partner/​in zusammenleben will, so wird er/​sie zu ihr/​ihm in ihre/​seine oder sie/​er in seine/​ihre Wohnung ziehen«, um deutlich zu machen, dass eine befriedigende Lösung des Sprachproblems nicht möglich ist. »Ich ziehe die einfache Sprache der zwar korrekten, aber unübersichtlicheren vor.« Diese Auffassung teile ich.

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Vorwort

Fälschungen sind immer spektakulär. Geldfälscher und Kunstfälscher sind schillernde Gestalten, die die Phantasie anregen. Meist geht es um Millionen, und diese spannenden Kriminalgeschichten sind gewöhnlich filmreif. Doch Geldscheine und Gemälde sind ja im Grunde lächerlich kleine Gegenstände im Verhältnis zur großen weiten Welt. Was aber, wenn die ganze Welt eine Fälschung wäre? Wenn alles, was uns umgibt, absichtlich oder unabsichtlich eine einzige gigantische Täuschung wäre? Wenn wir in einer künstlichen Plastikwelt lebten, hinter der die eigentliche Wahrheit verborgen bleibt?

Keine Sorge, der Autor ist nicht verrückt, im Gegenteil, er ist Psychiater. Aber er sieht deutliche Hinweise darauf, dass die Welt nicht stimmt, in der Sie leben, und dass die unheimliche Vermutung zutrifft, dass ein Schwindel im Gange ist, der schwindelerregend ist. Und dieser Schwindel betrifft uns mehr oder weniger alle. Ihn aufzuklären ist die Absicht dieses Buches, damit der Leser am Ende klarer sieht und sich selbst befreien kann aus den Fallstricken des Irrtums, aus den Trugbildern des Scheins, aus den aufgedrängten Lügengeschichten, die ihn daran hindern, er selbst zu sein. Es geht um Aufklärung, aber auch um Auswege aus einem gefälschten Leben und um Einsichten, die die Grundlagen unserer Existenz betreffen und die jedem möglich sind, wenn er nur will.

Bei meinem Buch »Gott – Eine kleine Geschichte des Größten« blieb am Ende die Frage offen, wie eine Welt ohne Gott erklärbar wäre, und bei »Irre! Wir behandeln die Falschen« blieb unklar, wohin uns die Tyrannei der Normalität treibt. Auch darum wird es hier gehen. Aber um es gleich zu Anfang deutlich zu sagen: Ich glaube nicht, dass die Fälschung der Welt, von der hier die Rede ist, ein psychiatrisches Phänomen ist. Ich glaube also nicht, dass alle Menschen, ohne es zu merken, eine Welt halluzinieren, die es gar nicht gibt. Und ich glaube auch nicht, dass es sich um Visionen und Ekstasen handelt, über die vielleicht der Theologe Auskunft geben könnte. Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass wir alle unter machtvollen Einflüssen stehen, die uns daran hindern, die Welt so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit ist, und dass diese Täuschung inzwischen gefährliche Ausmaße annimmt.

Ich glaube also, wenn Sie mir dieses klare Wort gestatten, Sie irren, verehrte Leserinnen und Leser. Zugegeben, das ist eine kühne These, und sie klingt vielleicht etwas reißerisch, aber wenn sie tatsächlich zutrifft, dann kann das niemanden kaltlassen, denn dann läuft jeder Gefahr, während der vergleichsweise kurzen unwiederholbaren Zeit zwischen Geburt und Tod einem Bluff aufzusitzen, bloß ein gleichgültiges Spiel zu spielen und am Ende sein eigentliches einmaliges Leben aus Versehen zu verpassen.

Ich wünsche Ihnen also eine beunruhigende Lektüre mit einem erhellenden Ergebnis.

 

Manfred Lütz

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Einführung – Eine unheimliche Frage

Der erfolgreiche Manager bekommt einen Anruf: »Ich hätte da eine interessante Position für Sie.«

»Danke, ich bin mit meinem Job zufrieden.«

»Entschuldigung, wissen Sie denn nicht, dass man Ihnen gekündigt hat?« – »Nein, ich weiß von gar nichts.« Doch der Anrufer hat recht.

Der Manager ist wie vom Donner gerührt. Für einen Moment denkt er, das, was er da gerade gehört hat, müsse eine Einbildung sein, das könne nicht wirklich wahr sein. Erst langsam dämmert ihm, dass ihm tatsächlich gerade eben der Teppich unter den Füßen weggezogen wurde.

 

Nicht immer geht es so dramatisch zu, doch jeder Mensch hatte schon einmal das Gefühl, im falschen Film zu sein. Es sind meist vorübergehende irritierende Momente. Wenn plötzlich der Lehrer, der Professor, der Chef in einer entscheidenden Situation etwas fragt, womit man überhaupt nicht gerechnet hatte. Obwohl man sich doch auf alles, auf wirklich alles, gründlich vorbereitet hatte. Eine Frage wie von einem anderen Stern. Und man hat nicht den blassesten Schimmer, auf was der Mann da hinauswill. Dennoch spürt man genau, dass das nicht irgendeine Frage ist. Alles scheint von der Antwort abzuhängen. Das Herz schlägt einem bis zum Hals, das Adrenalin meldet eine Notfallreaktion, mit einem Mal erscheint die ganze Umgebung unwirklich grell. Man möchte auf der Stelle in den Boden versinken, möchte aus dem Alptraum aufwachen, man möchte, dass es einem wie Schuppen von den Augen fällt. Aber nichts tut sich: Die Welt des Fragestellers scheint Lichtjahre von der eigenen Welt entfernt zu sein. Wie immer man es wendet: Die Wirklichkeit, nach der soeben gefragt wurde, kommt in der eigenen Wirklichkeit einfach nicht vor. Und für einen ganz kurzen Moment kann die Frage aufblitzen: Könnte es sein, dass dieser Zustand nie mehr aufhört, dass plötzlich klarwird, dass man sich in einer Welt verlaufen hat, die gar nicht die wirkliche Welt ist? Und wenn es nur eine einzige wahre Welt geben kann, lebt man dann vielleicht selbst seit langem schon, ohne es zu bemerken – in einer grandiosen Fälschung? Ist die Welt, ist das Leben, ist mein Bewusstsein, zu existieren, ein einziger großer Bluff?

 

Solche erschütternden Augenblicke maßlosen Entsetzens verstören für kurze Zeit unser Zutrauen zu der Welt, in der wir leben. Und weil das kein Mensch lange aushält, beeilen wir uns, das Ganze herunterzuspielen. Wir reden uns selbst beruhigend zu, wie Kindern, denen man mit eindringlicher Stimme erklärt, dass es den bösen Wolf in Wirklichkeit gar nicht gibt. Was bekanntlich weder wirklich noch metaphorisch die Wahrheit ist, aber dem Kind den Schlaf und uns das ruhige Gewissen zurückgibt, das Kind nicht unnötig geängstigt zu haben. Das Valium, mit dem wir unser Erschrecken in solchen Momenten der Irritation wegschaffen, um schleunigst unser inneres Gleichgewicht wiederherzustellen, ist entweder Arroganz oder Bescheidenheit. Entweder wir erklären den Fragesteller für irgendwie verrückt, oder wir geben zu, dass wir die richtige Antwort gewusst hätten, wenn wir uns nur besser vorbereitet hätten. Und damit scheint die Kuh fürs Erste vom Eis. Unsere Welt ist wieder in Ordnung, eine Welt, in der es unumstößliche Wahrheiten gibt, die alle kennen und über die alle also selbstverständlich miteinander reden können. Oder etwa nicht?

Doch wer tiefer nachdenkt, den beginnt es bei dem Gedanken zu frösteln, dass es auch ganz anders sein könnte, dass nämlich das erschreckende Gefühl, in einem völlig anderen Film zu leben, die Wahrheit sein könnte. Es beschleicht ihn die Furcht, dass die Welt, in der er und nur er lebt, möglicherweise gar nicht die wahre Welt ist. Und dass es irgendwann einmal eine Frage, ein Erlebnis oder einfach einen Knall geben könnte, der den ganzen Schwindel entlarvt und klarmacht, dass die Welt ein gigantisches Theaterspiel ist, eine aufwendige Inszenierung, die einem die tröstende Illusion vermittelt, von anderen verstanden zu werden und selber andere zu verstehen, obwohl in Wahrheit niemand, absolut niemand, so denkt und so fühlt wie man selbst. Also noch einmal die Frage: Könnte es nicht sein, dass die Welt, in der wir zu leben meinen, nichts anderes ist als eine einzige spektakuläre Fälschung?

Nichts spricht dafür, werden Sie vielleicht sagen. Bisher sind Sie ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Sie aus Erfahrung im Großen und Ganzen wissen, was und wie die Welt wirklich ist, und Sie haben diese Erfahrung ganz problemlos an andere weitergegeben. Doch auch da gibt es einen beunruhigenden Gedanken. Kein Mensch hat schon einmal im nächsten Jahr gelebt, im nächsten Monat, am nächsten Tag, ja noch nicht einmal in der nächsten Minute. Daher kann auch niemand mit Sicherheit sagen, dass nicht in der nächsten Minute etwas ganz Außerordentliches, nie Dagewesenes passieren wird, das alles in Frage stellen wird, von dem wir bisher ausgegangen sind. Und wenn bis jetzt der Eindruck von der Welt, die uns umgibt, völlig unproblematisch war und es keine Hinweise auf eine Fälschung gab, so kann das in der nächsten Minute, so kann das schon beim Umblättern dieser Seite, nach Lektüre dieses Buches oder wenn Sie jetzt gleich das Zimmer verlassen, völlig anders sein. Dass es immer so weitergehen wird, weil es bisher immer so weitergegangen ist, ist nichts anderes als ein beruhigender Irrtum.

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I.Auftakt

   

1.Anti-Aging im Mittelalter – Ein Mönch irrt

Eine alte, unheimliche Geschichte, erzählt vom Mönch von Heisterbach. Es war im Mittelalter. Trutzig ragten die Burgen am Rhein empor, die Ritterkultur stand in voller Blüte, und die spannendsten geistlichen Abenteuer hatte der Zisterzienserorden zu bieten. Zu Tausenden hatten sich die Söhne der edelsten Familien, aber auch einfache Leute von den Predigten des Bernhard von Clairvaux begeistern lassen und waren in diesen Orden eingetreten, der doch nichts anderes sein wollte als eine Erneuerung des Benediktinerordens. Strenger sollte es zugehen bei den Zisterziensern, so wie es Benedikt von Nursia wirklich gemeint hatte, ohne Pracht und Reichtum, wohl aber mit viel Arbeit, vor allem Feldarbeit. Hunderte Zisterzienserklöster entstanden in ganz Europa. Nicht oben hoch auf Bergen wie viele Benediktinerabteien, sondern in fruchtbaren Tälern und Auen lagen die Zisterzen. Und so hatten Mönche aus Himmerod in der Eifel auch im idyllischen Heisterbach, nahe beim Rhein, im Siebengebirge, ein Kloster gegründet.

Wie überall bei den Zisterziensern, so war auch hier der ganze Tag durch die Gebetszeiten gegliedert. Schon um vier Uhr morgens standen die Mönche im Chor der Klosterkirche vor Gott und sangen die uralten Gebete der Kirche, die Psalmen. Die Zeit war für sie die Zeit Gottes, und die Mönche heiligten sie durch das Gebet. Allgegenwärtig war solchen Menschen die Zeit und die Ewigkeit. Jahrelang also hatte der Mönch von Heisterbach mit seinen Mitbrüdern tagein, tagaus im Chor der schönen Klosterkirche gestanden und Gott gepriesen, Gott, das Alpha und das Omega, den Anfang und das Ende, Gott, den Herrn der Zeit. Für kaum jemanden werden also die Zeit und die Welt so real gewesen sein wie für einen solchen Mönch. Und da passiert das Unglaubliche. Eines Tages geht der Mönch, vom wundervollen Zwitschern eines Vogels verführt, hinaus in den Wald. Der fromme Mann ist in Gedanken und verläuft sich. Schließlich schläft er, auf einem Baumstumpf sitzend, ein. Das Läuten der Klosterglocke weckt ihn, und dem Klang der Glocke folgend, kehrt er in sein Heimatkloster zurück. Er klopft an die Pforte – und es öffnet ihm ein Mönch, den er nie im Leben gesehen hat. Verblüfft schauen beide sich an. Was er denn wolle, fragt der Pförtner. Er wolle zurück in sein Kloster, habe sich ein wenig verlaufen. Er kenne ihn nicht, entgegnet der wackere Pförtner, es fehle auch kein Mönch im Kloster. Das könne nicht sein, sagt der Mönch von Heisterbach, er habe sich doch nur ein wenig verspätet. Und als er in die Kirche tritt, in der gerade die Mönche zum Gebet versammelt sind, erkennt er keinen einzigen von ihnen. Der Abt aber lässt in der Chronik des Klosters nachlesen, und da findet sich aus unvordenklichen Zeiten ein Eintrag, dass eines Tages ein Mönch dieses Namens in den Wald gegangen sei und nie mehr zurückkehrte …

 

Immer schon scheinen Menschen von dem Gefühl geplagt gewesen zu sein, dass die Welt, so wie sie ihnen vertraut war, sich plötzlich als Bluff erweisen könnte. Immer schon scheinen Menschen Angst davor gehabt zu haben, dass alle Selbstverständlichkeiten mit einem Mal nicht mehr selbstverständlich sind, dass ein Spiel mit ihnen getrieben wird, das sie nicht durchschauen. Da gab es natürlich auch harmlose Varianten, wie den sprichwörtlichen Fürsten Potemkin, der seiner Zarin, der machtvollen Katharina der Großen, auf ihrer Reise zur Krim prachtvolle Dörfer als Kulissen vorgespiegelt haben soll. Doch wenn schon eine großmächtige Herrscherin zum Narren gehalten werden kann, wie noch viel eher dann unsereins durch wen auch immer, wann auch immer, warum auch immer.

Ahnungen eines solchen Gefühls gibt es schon aus schlichten biologischen Gründen. Jeder, der mal längere Zeit nachts durchgearbeitet hat, kennt dieses Gefühl der leichten Enthemmung und den diffusen Eindruck, dass die Welt irgendwie merkwürdig erscheint, überhell, überplastisch. Die Welt wirkt fremd. Derealisation nennt das die Wissenschaft, und ein solches Erleben ist noch ganz normal und kann jedem zustoßen. Als ich im Studium mal wieder die Nacht zum Tag gemacht hatte, um eine Hausarbeit auf den letzten Metern fertigzubekommen, passierte es mir, dass ich am anderen Tag plötzlich dem Professor gut gelaunt über den Mund fuhr, das aber glücklicherweise gerade noch merkte und im letzten Moment mit ein paar entschuldigenden Bemerkungen die Kurve kriegte. Ich weiß noch, wie ich dachte: Irgendetwas stimmt hier nicht.

Nicht nur akute Schlaflosigkeit, sondern auch dauernde Machtausübung kann offensichtlich den Sinn für die Realität trüben. Unvergesslich bleibt das namenlose Entsetzen im Gesicht des rumänischen Diktators Nicolae Ceausescu, als er auf den Balkon vor die auf dem Platz versammelten Volksmassen trat und plötzlich von einem Moment auf den anderen gewahr wurde, dass sie ihm nicht wohlorganisiert zujubelten wie sonst immer, sondern wütend protestierten. Ungläubig stierte der Diktator auf sein Volk wie auf eine Erscheinung.

Auch Hitler, als er im Führerbunker seinen eigenen Untergang erlebte, muss sich gefühlt haben wie im falschen Film. Er glaubte an Phantasiedivisionen, die es gar nicht mehr gab, und hielt so lange wie eben möglich die Fiktion seiner Welt aufrecht, die mit der wirklichen Welt schon längst nichts mehr zu tun hatte.

Ebenso erging es Erich Honecker und seiner Frau, Saddam Hussein, Muammar al Gaddafi. Am Schluss schien ein völliger Realitätsverlust zu bestehen. Und wer erinnert sich nicht an die ratlosen Worte des Massenmörders Erich Mielke, der die Welt nicht mehr verstand und den von ihm Bespitzelten und Verfolgten in der DDR-Volkskammer der Wendezeit zurief: »Ich liebe doch alle Menschen.«

Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass gerade diejenigen, die reale Macht ausüben, in besonderer Gefahr zu sein scheinen, irgendwann der Realität zu entrücken. Auch in demokratischen Verhältnissen gelingt es kaum einem wichtigen Politiker, den eigenen dringend fälligen Abgang von der Macht würdevoll selbst zu wählen. Die kunstvolle Machtwelt, die sie sich da so lange Zeit selbst eingerichtet haben, erscheint ihnen so real, als könne daneben nichts anderes behaupten, die eigentliche Welt zu sein. Man denke nur an den spektakulären Realitätsverlust von Gerhard Schröder, der im Jahre 2005 nach klar verlorener Wahl im Fernsehen so auftrat, als könne ihm nichts und niemand seine Macht nehmen. Die Geschichte kennt ja tatsächlich kaum zurückgetretene Herrscher wie Kaiser Diocletian und Kaiser Karl V., aber so manchen machtvollen Greis, der, eingesponnen in eine längst vergangene, irreale, nostalgische Welt, verhängnisvolle Entscheidungen fällte, wie Hindenburg, als er Hitler die Tür zur Katastrophe öffnete. Wer nicht merkt, dass er im falschen Film lebt, kann gefährlich werden.

 

Als Psychiater erlebe ich aber auch die weniger gefährlichen kranken Varianten des Realitätsverlusts: Den Schizophrenen, der im akuten Schub seiner Störung in einer eigenen schillernden Welt aus halluzinierten Phänomenen und wahnhaften Gewissheiten lebt, die außer ihm niemand wirklich nachvollziehen kann, und der nach seiner Gesundung darüber rätselt, wie er in diese fremde Welt, von der er so überzeugt war wie von nichts anderem in seinem Leben, hineingeraten und ihr dann wieder glücklich entronnen ist. Den verzweifelt Depressiven, der in einer düsteren Welt ohne Farbe, ohne Lebendigkeit und ohne Ausweg lebt, dem die Zeit erstarrt scheint, bleiern und schwer und der sich, gesundet, im Nachhinein selbst nicht mehr versteht, wenn er wieder auftaucht aus diesem unheimlichen Reich der Schatten. Da sind die vielen anderen psychisch Kranken, die für eine gewisse Zeit ihres Lebens die Welt ganz anders, leidvoller und jedenfalls so erleben, dass niemand sie wirklich versteht. Wer sagt eigentlich, dass die Welt der Krankheit falsch und unsere gesunde Welt richtig ist? Gilt hier auch einfach das demokratische Mehrheitsprinzip, dass Wahrheit ist, was die Mehrheit denkt, oder hält man es mit dem Autoritätsprinzip: Was die wahre Welt ist, bestimmt der Chefarzt?

Drogenabhängige suchen absichtlich diesen Kitzel der künstlichen Welten. Sie suchen halluzinierte Gefühle, vielgestaltige farbige Wirklichkeiten, die sie bei Bedarf herstellen wollen und nach denen sie je länger, je mehr unersättlich werden. Auch sie wollen freilich nicht im Horrortrip überrascht werden von befremdlichen anderen Welten, wollen die Theaterdirektoren bleiben im ewigen Karneval künstlicher Gefühle, auf der Suche nach dem herstellbaren Glück, und sinken doch schließlich herab zum ewig suchenden süchtigen Sklaven ihrer einstmals eigenen Inszenierung. Jede Sucht ist auch ein Ausstieg aus der Welt, in der wir alle leben, und manchmal ein Ausstieg für immer, ein Selbstmord auf Raten. Der Film, in dem der Süchtige am Ende lebt, hat mit dem, was unsereins für die Realität hält, nichts mehr zu tun. Ist also seine Welt falsch und unsere richtig?

Ganz anders als bei psychisch Kranken ist es bei Kindern, deren Geist ja bekanntlich weniger domestiziert ist als der älterer Menschen und die sich daher in ihrer Phantasie ohne weiteres in ganz vielen Welten gleichzeitig heimisch fühlen können. Manchmal stellen sie sich vor, sie wären in Wirklichkeit ein Königskind oder ein anderer bedeutender Mensch, was ihnen aber wegen einer geheimen Absprache niemand verraten dürfe. Für Kinder ist es auch nicht so wichtig, ob die Welt, in die sie sich gerade hineinphantasiert haben, die wirkliche Welt ist. Kinder schließen keine Verträge, Kinder verdienen kein Geld, Kinder fällen keine Lebensentscheidungen. Für Kinder ist die Welt noch ein großes Spiel. Erst für Erwachsene kann es von ausschlaggebender Bedeutung sein, ob etwas wahr oder falsch ist, und erst für Erwachsene ist es nicht mehr spaßig, sondern unheimlich, wenn man nicht mehr weiß, ob die Welt, in der man lebt, gefälscht ist oder nicht.

 

Doch es gibt für uns Erwachsene auch die lebenssatte Variante des absichtlichen Ausstiegs aus der oft so tyrannischen öden Alltagswelt, die sich uns allen Tag für Tag als die einzig wahre aufdrängt. Wenn auch wir noch einmal, gesellschaftlich akzeptiert, mit vielen phantastischen Welten spielen wollen, fast so, wie Kinder das noch können, dann geht das am erfreulichsten über Kunst und Musik. Nicht nur Kindern, sondern auch Künstlern stehen Welten offen, die alle Fesseln sprengen, die uns ein nützlicher Realismus anlegt, und zugleich können sie vielleicht ganz unbefangen die Aufmerksamkeit auf den Kern des Ganzen richten, auf die eigentliche Wirklichkeit, die uns im grauen Alltag mit seinen routinierten Richtigkeiten und in all den bunten künstlichen Welten mit ihren phantastischen Möglichkeiten leicht aus dem Blick gerät.

In einem Roman kann der Autor eine ganze Welt aus Himmel und Hölle, Liebe und Hass, Güte und Schäbigkeit entstehen lassen, und allein er bestimmt, was in dieser Welt wahr und falsch ist. Und der Leser kann in diese kunstvolle Welt eintauchen, kann in ihr leben, denken und fühlen, obwohl es sie in Wirklichkeit ja eigentlich gar nicht gibt. In der Science-Fiction-Literatur wird eine Welt geschaffen, die Zeit und Raum völlig sprengt und in der wir uns dennoch lesend aufhalten können. Nichts von dem, was da beschrieben wird, kann es tatsächlich geben, aber dennoch können wir uns ganz widerstandslos hineinfühlen in diese »Welt«.

Auch das Theater und der Film erfinden Welten, in denen die Regeln unserer scheinbar einzig wahren Welt einfach außer Kraft gesetzt werden können, und sie ziehen uns hinein in diese Welt und ihre phantasierten Wirklichkeiten. Wie wäre es aber, wenn unsere angeblich so wahre Welt auch nur eine andere Erzählung wäre, aus der wir genauso aussteigen könnten, als würden wir ein Buch weglegen, das uns langweilt? Der bildende Künstler kann dreidimensionale Gestalten schaffen, die in einer reibungslos funktionierenden Welt völlig sinnlos sind, die aber Anstoß erregen und so durch ihren Eigensinn den Betrachter aus der Bahn seiner üblichen Gedanken und Empfindungen hinaustragen. Ein Kunstwerk kann uns aussteigen lassen aus der alltäglichen Welt in eine flirrende künstliche Realität. Und der Maler schafft in nur zwei Dimensionen auf der hauchdünnen Wirklichkeit eines Blattes eine Welt aus Farben und Formen, die zu nichts zu gebrauchen ist und doch über Zeit und Raum hinweg die Menschheit in Bewunderung zu einen vermag. Die Musik schließlich ist die flüchtigste aller Künste und dennoch ist sie da, wirkt ein auf uns und andere, im Grunde Schallwellen nur, doch zweifellos für manche ein Universum, das ihnen mehr bedeutet als die handfeste Realität eines Bügels im Schrank.

Aber während wir uns auf die Reise in all diese phantasierten Welten begeben, trägt uns das Gefühl, jederzeit in die Heimat unserer wahren Welt zurückkehren zu können, in eine Welt, die wir von Kindheit an zu kennen meinen und in der klar zu sein scheint, was wahr und falsch, echt und unecht, real und irreal ist.

2.Frösteln im falschen Film – Das Abenteuer des Truman Burbank

Doch was wäre, wenn unsere Beunruhigung berechtigt und auch diese Welt nur eine konstruierte Wirklichkeit wäre, wenn unser ganzes Leben ein Auftritt auf einer gigantischen Bühne wäre und wir, wie der griechische Philosoph Platon annahm, um uns herum nur ganz unvollkommene Abbilder sähen, hinter denen eine geheimnisvolle eigentliche Wirklichkeit für immer verborgen wäre?

Platon erzählt in der »Politeia« sein berühmtes Höhlengleichnis: Die Menschen sitzen in einer Höhle und sie gewahren an der Wand, auf die sie alle schauen, bewegte Szenen. Da sie festgebunden sind und sich niemals umdrehen, halten sie das, was sie da sehen, für die einzig wahre Welt, und es entgeht ihnen, dass das in Wirklichkeit nur Schattenbilder sind, die die wahre Welt nur höchst unzureichend ahnen lassen. Das sei das tragische Geschick des Menschengeschlechts.

Seit Platons erschreckender Vermutung ist die Philosophie bis heute keinen Schritt weitergekommen. Auch der Philosoph Immanuel Kant stellte bedrückt fest, dass wir immer bloß Erscheinungen wahrnehmen können, für die wir und unsere Sinnesorgane gebaut sind, und dass wir über die Dinge, so wie sie an sich selbst sind, rein gar nichts sagen können. Tatsächlich fehlen uns Sinnesorgane, um Radiowellen, Röntgenstrahlen und was es da vielleicht noch alles geben mag, überhaupt direkt mitbekommen zu können. Uns ist es also ohnehin nur gegeben, einen winzigen Ausschnitt aus der riesigen, uns umgebenden Welt wahrzunehmen. Möglicherweise haben wir deshalb ein völlig falsches Bild von der Welt, weil wir, verwirrt von unseren zufälligen Eindrücken, das Wesentliche übersehen, das unseren stumpfsinnigen Augen entgeht. Ist also die Welt, die uns umgibt, letztlich nichts anderes als eine bloße Konstruktion, eine weitere dieser künstlichen Welten, die wir uns selbst schaffen, um ohne allzu viel Beunruhigung leben und sterben zu können?

 

»Wie wirklich ist die Wirklichkeit?«, hatte schon vor mehr als dreißig Jahren der große Psychotherapeut Paul Watzlawick gefragt. Und auch er war zu dem Schluss gekommen, dass die Wirklichkeit aus unseren eigenen Konstruktionen besteht, die wir bei auftretendem psychischen Leiden ein wenig ändern sollten. Es ging nicht mehr darum, ob eine bestimmte Auffassung von der Wirklichkeit wahr oder falsch sei, sondern ob sie mit Blick auf ein bestimmtes psychisches Leiden mehr oder weniger nützlich sei.

Die Frage nach der Wahrheit stellte sich bei Watzlawick überhaupt nicht mehr. Im Gegenteil, je mehr ein Patient die Depression, unter der er litt, als Wahrheit betrachtete, desto schwerer musste es fallen, diesen handfesten »Gegenstand« therapeutisch in nichts aufzulösen. Zumal dann, wenn der Patient auch noch von »seinen« Depressionen sprach, einem Besitz also, dessen diebische Entwendung gar nicht in Frage kommen konnte. Ist dagegen die Depression bloß eine unter vielen Sichtweisen, unter denen man das Verhalten eines bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation zeitweilig beschreiben kann, dann ist ein Perspektivwechsel möglich. Und aus dieser anderen Perspektive kann er seine Situation dann mit einem anderen Wort beschreiben. Wahrheiten sind, so gesehen, in der Therapie wenig nützlich.

 

Soll das nun heißen, dass es gar keine wahre Welt gibt und also auch keine Fälschung, weil letztlich alles, wirklich alles im Leben bloß Ansichtssache ist? Ist das Gefühl, im falschen Film zu sein, einfach falsch, weil es unterstellt, dass es so etwas wie eine wahre Welt gibt?

Ist das ganze Leben ein Traum, aus dem wir erwachen, aber dann doch bloß in einen anderen Traum geraten sind, der irgendwann platzt wie eine bunt schillernde Seifenblase? Ist das Leben jedes einzelnen Menschen ein Roman, der bloß noch nicht geschrieben ist und der nicht mehr Realität hat als die Geschichten von Pippi Langstrumpf oder des angeblich so venezianischen Commissario Brunetti in den frei erfundenen Kriminalstücken von Donna Leon?

Sind die erschreckenden oder beglückenden Momente, in denen wir uns im falschen Film wähnen, bloß Augenblicke der Offenbarung der eigentlichen Wahrheit, dass es Wahrheit gar nicht gibt, dass alles fließt, nichts Bestand hat, und ein privilegierter Traum, der behaupten könnte, die eigentliche Wirklichkeit zu sein, nichts anderes ist als eine Illusion von Menschen, die wahrscheinlich zu wenig oder zu viel nachgedacht haben? Und ist es dann nicht Lebenskunst, sich am besten dem lockenden Strom dieses nicht greifbaren, ewig dahingleitenden Lebens bereitwillig zu ergeben, um nicht durch unsinnige Widerständigkeit gegen das Unerbittliche alptraumhaft in wirren Strudeln für immer zu vergehen?

Papperlapapp wird da der Metzger antworten, ein Stück Wurst ist ein Stück Wurst, der Zimmermann wird die Realität seiner Balken nicht bestreiten, diese unbezweifelte Realität hemmungslos abrechnen, und der Kunde wird das genauso sehen und anstandslos bezahlen. Philosophen gelten als lebensunpraktische Leute, Therapeuten nicht weniger, und auch Künstler und Kinder hält man von handfesten Geschäften, die mit den harten Realitäten des Lebens zu tun haben und bei denen man am besten sehr ausgeschlafen ist, in der Regel fern. Das ganze Gerede vom falschen Film, ein einziger komplizierter Unfug?

 

Doch auch Metzger verlieben sich, auch Zimmerleute fragen an entscheidenden Punkten ihres Lebens nach dem Sinn des Ganzen, und auch biederen Kunden ist es nicht gleichgültig, ob sie übers Ohr gehauen werden, also ob jemand wirklich gut oder wirklich böse handelt.