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6 spannende, fantasievolle Horrorgeschichten, die in noch keinem anderen Buch Thema waren. Frische Ideen aus dem Herzen der Hölle, die nicht nur zu Gänsehaut und Panik führen, sondern auch das Herz erstarren lassen. Wünschen auch Sie sich eine faltenfreie Haut? Lieber nicht, denn eine Gruppe von Pensionisten hat diesen Wunsch bitter bereut. Sie haben sich damit ihr eigenes Gefängnis geschaffen. Ein Mann entscheidet sich für eine Pille gegen seine tödliche Krankheit und wird dann selbst zur tödlichen Gefahr für jeden, der ihm näher als einen halben Meter kommt. Eine Jugendbande plündert, zerstört und vergewaltigt, doch immer dann, wenn die Polizei eintrifft, verschmelzen sie mit den Wänden, dem Boden und anderen Gegenständen…
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Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Karin Szivatz
Blutige Buchstaben
Horrorkurzgeschichten
Egolibera.at
Impressum
Copyright by EgoLiberaVerlag 2025
Einbandgestaltung Walt H. Johnson
Foto: Walt H. Johnson
Jede Vervielfältigung des Textes sowie einzelner Textpas-sagen sind nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Geneh-migung des Verlags zulässig.
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 10/2025
Egolibera.at
Inhaltsangabe
Blutige Buchstaben …………… 7
Perfect Life ……………………. 34
Der Fluch ……………………… 65
Toxisch ………………………… 96
Belebtes Wasser ………………. 135
Die Jugendbande ……………… 149
Blutige Buchstaben
Langsam füllte sich das Waschbecken mit Wasser, während Logan im Spiegel nach den ersten Falten und grauen Haaren suchte, die er bei seinem Freund Harry vor wenigen Stunden entdeckt hatte. Immerhin war er um fast ein Jahr jünger als sein Freund, also musste er auch schon von beidem ein paar haben. Doch er fand selbst nach längerem Suchen keine. Die Zufriedenheit im Lächeln, das er im Spiegel sah, gefiel ihm. Ja, genau so konnte es die nächsten sechs Jahrzehnte weitergehen, dachte er erfreut und tauchte den Rasierpinsel ins Wasser. Aber sobald die Haare die Wasseroberfläche berührt hatten, riss er ihn sofort wieder zurück. Und zwar so heftig, dass er ihm aus der Hand glitt, und wie aus einem großen Katapult geschleudert über die rechte Schulter flog. Zuerst krachte er gegen den Badezimmerkasten, dann fiel er scheppernd auf die Fliesen.
Logan starrte fassungslos auf das Wasser, auf dem sich gerade in furchterregenden, blutroten Buchsta-ben das Wort ‚Manors Castle‘ gebildet hatte. Die sanften Schwingungen des Wassers ließen die Schrift etwas krakelig erscheinen. Leichte Panik stieg in ihm auf. Er trat einen großen Schritt zurück und sah in den Spiegel. Ja, das war sein Gesicht, kein Zweifel. Er machte den Realitätscheck. Ja, er war in der realen Welt und nicht in einem Albtraum. Doch auch der zweite Blick ins Wasser zeigte ihm exakt dasselbe Bild wie schon zuvor: ‚Manors Castle‘. Logan entfernte sich so weit vom Waschbecken als möglich und spähte vorsichtig über den Rand; die blutigen Buchstaben waren nach wie vor zu sehen. Langsam kroch echte Panik in ihm hoch und er über-legte, ob er nicht die Polizei rufen sollte. Doch er hatte Angst, dass die Beamten ihn für verrückt erklären und in die psychiatrische Klinik für Geisteskranke bringen würden. Da vertraute er Harry doch um einiges mehr. Er sollte ihm helfen.
Rasch zückte er sein Handy, fotografierte das Bild des Grauens in seinem Waschbecken und schickte es sofort auf die Reise zu seinem Freund. Sein Blick schweifte zwischen dem Handy und dem Wasser hin und her und er hoffte, dass Harry sich sofort melden würde. Und schon nach nicht ganz einer Minute hatte er eine Antwort in seiner Mailbox. ‚hey, bist du besoffen? was soll ich mit deiner waschmuschel? der ausschnitt von einer feschen schnitte wär‘ mir lieber gewesen‘
Logan warf den Kopf in den Nacken. Harry schaffte es einfach nicht, zumindest hin und wieder ernst zu sein und keine blöden Sprüche zu klopfen. Dennoch musste er ihm helfen.
Logan versuchte es mit einer Erklärung und hoffte damit, seinen Freund von der Ernsthaftigkeit seiner Nachricht überzeugen zu können.
‚das sind buchstaben aus blut, die einfach so im wasser aufgetaucht sind. was soll jetzt ich tun? mich gruselts richtig‘. Logan probierte es gleich ein weiteres Mal und wurde bereits eine halbe Minute später enttäuscht. ‚sorry, aber wo sollen da blutige buchstaben sein? im ernst jetzt, ich seh‘ nur wasser. ist mit dir alles ok?‘ Logan setzte sich auf den Toilettendeckel und glotzte das Foto auf dem Handy an. Die blutroten Buchstaben waren gut zu erkennen und auch die beiden Worte gut leserlich. Es war unmöglich, dass Harry sie nicht sehen konnte, aber er unterließ einen weiteren Ver-such, ihn um Hilfe zu bitten. Das führte zu nichts. Er erhob sich langsam, ging Schritt für Schritt auf das Waschbecken zu und zog dann ganz schnell die Hebegarnitur hoch. Sofort bildete sich ein kleiner Strudel im Wasser und war innerhalb weniger Sekun-den im Abfluss verschwunden. Zurück blieb nur nasse Keramik. Ohne Blutspuren, ohne Buchstaben. Den-noch war er fest davon überzeugt, dass beides real gewesen war.
Da ihm die Lust aufs Rasieren vergangen war und er sich auch nicht mehr mit diesem grässlichen Phäno-men beschäftigen wollte, setzte er sich in seinen Massagesessel, drehte den Fernseher auf und ließ sich von einer feinen Massage zur gerade aktuellen Serie verwöhnen. Anfangs dachte er noch über die bereits halb verfallene, gespenstische Ruine namens ‚Manor Castle‘ nach, die inmitten von Feldern seit vielen Jahren in seine Einzelteile zerfiel. Niemand kümmerte sich um das kleine Schloss aus dem achtzehnten Jahrhundert. Als Kind war er mit seinen Freunden oft dort gewesen, um Ritter zu spielen oder um nach total gruseligen Skeletten von Königen und verborgenen Schätzen zu suchen. Doch er verband eigentlich nur angenehme Erinnerungen daran und somit waren seine Gedanken innerhalb von wenigen Minuten nicht mehr bei dem grausigen Vorfall, sondern nur noch bei seinen Kindheitserinnerungen. Langsam ließ jetzt auch die Anspannung nach und er konnte die schönen Erinnerungen auch genießen.
Am nächsten Morgen dachte er beim Zähneputzen wieder an die blutigen Worte im Wasser und ver-zichtete weiterhin auf eine Rasur. Er sah auch mit einem Dreitagebart umwerfend aus, aber trotzdem rannten ihm die Frauen nicht gerade die Tür ein. Mit einem resignierten Seufzer verließ er schulter-zuckend das Badezimmer und die Wohnung, um pünktlich in der Arbeit zu erscheinen. Abends, kurz nach zwanzig Uhr schleppte er sich nur noch in seine Wohnung; er war völlig ausgepowert. Der Job hatte ihm in den zwölf Stunden wieder alles abverlangt. An manchen Tagen fühlte er sich wie in einer Tretmühle. Jetzt brauchte er ganz dringend ein entspannendes Schaumbad und ein kaltes Glas Weißwein; dann würde es ihm wieder besser gehen. Er streifte die Schuhe ab, drehte den Wasserhahn auf und holte sich Wein aus dem Kühlschrank. Seine Kleidung ließ er achtlos auf den Fliesenboden fallen, denn die würde er ohnehin in die Waschmaschine stopfen müssen. Sie waren vom langen Tag im Büro schon voll Falten und rochen alles andere als frisch. Aber darum würde er sich erst am nächsten Morgen kümmern. Im Moment war ihm der Haufen Wäsche am Boden völlig gleichgültig.
Er stellte das Weinglas auf den Wannenrand und ließ sich vorsichtig in das heiße Wasser gleiten. Anfangs brannte es, doch als er bis zum Hals darin lag, tat es unheimlich gut. Der Schaum türmte sich bis über seinen Kopf und er schloss die Augen. Das ist purer Luxus, den ich mir redlich verdient habe, dachte er und tauchte vollständig unter. Dann trank er einen Schluck Wein, der sich angenehm kühl in seiner Kehle anfühlte.
Als das Wasser kühl wurde und der Schaum sich bereits zersetzt hatte, setzte er sich langsam auf, trank das Glas aus und wollte gerade aufstehen, als er erneut die blutigen Buchstaben auf der Wasseroberfläche sah: ‚Spinning Island‘.
Mit einem lauten Schrei schoss er aus dem Wasser und flüchtete ins Wohnzimmer, als hätte sich ein Hai in seine Badewanne verirrt.
Triefend nass stand er an die gegenüberliegende Wand gepresst und starrte ins Badezimmer. Sein Brustkorb hob und senkte sich, als hätte er den Wettkampf mit dem Badewannenhai gewonnen. Er keuchte schwer und fühlte sein Herz im Brustkorb heftig wummern. Der hellblaue Teppich färbte sich rund um seinen tropfenden Körper bereits dunkelblau, doch das regis-trierte er nicht. Er ließ das Wasser einfach an sich hinunterlaufen, das war jetzt nicht wichtig. Nach einigen Minuten war er wieder imstande, einen klaren Gedanken zu fassen und dachte erneut daran, Harry ein Foto zu schicken, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort. Das war absolut sinnlos. Er würde sich wahrscheinlich ohnehin wieder nur lustig über ihn machen oder vielleicht sogar einen Klapsendoktor von seinen Wahnvorstellungen in Kenntnis setzen. Gut, Harry fällt aus, abgehakt. Wer kommt noch infrage, wer könnte mir noch helfen?, fragte er sich stumm und ging die Karteikarten seiner Freunde und guten Bekannten in seinem Kopf durch. Da kam dann eigentlich nur noch eine infrage, seine Nachbarin. All die anderen Leute wohnten zu weit weg, um sich diesen Wahnsinn selbst anzusehen. Via Foto dürften die Worte nicht zu sehen sein, dachte er und schlüpfte rasch in seine alten Jeans und in das T-Shirt vom Wochenende. Beide waren eigentlich nicht mehr salonfähig und hätten längst gewaschen gehört, doch das war jetzt auch nicht wichtig. Wichtig war nur, dass Ally ihm bestätigte, nicht verrückt zu sein. Mehr verlangte er gar nicht.
Nach einem Kontrollblick in die Badewanne, von der er sich sofort abwandte, sprintete er beinahe zu Ally und läutete. Kaum war der Klingelton des Big Ben zu Ende, drückte er erneut und dann noch ein drittes Mal. Dass Ally in der Wohnung wegen der Ungeduld des Besuchers bereits schimpfte, hörte er wegen des Glockenläutens nicht.
Als sie die Tür aufriss und ihm die Meinung sagen wollte, packte er sie wortlos am Arm und zog sie im Eiltempo mit in seine Wohnung. Dort bugsierte er sie mit leichtem Druck auf den Rücken bis zum Bade-zimmer. Dann nahm er sie an den Schultern, atmete tief durch und schob sie direkt vor die Badewanne. Mit geschlossenen Augen wartete er auf ihren Schrei, doch der blieb zu seiner Überraschung aus. Komisch, dachte er. Ally war doch sonst keine Heldin. Wieso nahm sie die blutigen Buchstaben am Wasser einfach so hin?
Nur einen kleinen Spalt breit öffnete er seine Augen und sah, dass sie ihn anstarrte. Dann warf er einen Blick in die Badewanne und schloss sofort wieder seine Augen.
„Was soll ich hier?“, fragte sie erstaunt und drehte sich zu ihm um. Langsam hob sie den Kopf und sah dem großen Mann ratlos in die Augen.
„Mir sagen, was du in der Badewanne siehst und wie man das verdammt noch einmal erklären kann!“, forderte er sie nun mit etwas gereiztem Nachdruck auf und las erneut stumm die Worte ‚Spinning Island‘ auf dem Wasser.
Ally sah angestrengt in die Badewanne und schüttelte den Kopf. „Da ist Wasser, ein bisschen Schaum und das leere Weinglas … sag, was ist denn mit dir los? Wie viele Gläser hattest du bis jetzt?“ Logan griff sich mit beiden Händen an den Kopf und zog ihn mit verzerrtem Gesicht nach unten. Dann stemmte er die Hände in die Hüften, sah zur Decke und atmete zweimal tief durch.
„Du willst mir jetzt ernsthaft sagen, dass du auf der Wasseroberfläche keine Worte lesen kannst? Du sagst, dass da nur Schaum und Wasser in der Wanne sind? Sieh bitte genau hin.“ Die letzten Worte hörten sich beinahe flehend an.
Ally beugte sich direkt über das Wasser und suchte es ab. Als sie fertig war, begann sie erneut, nach Worten zu suchen, doch sie musste bedauernd den Kopf schütteln, als sie sich wieder aufrichtete. „Es tut mir echt leid, Log, aber da ist wirklich nichts. Welche Worte meinst du denn gesehen zu haben?“ In ihrem sanften Gesicht stand wahres Bedauern und sie streichelte beruhigend seine Schulter. Jetzt war Logan völlig verwirrt und musste sich setzen. „Ich denke, ich bin nur völlig überarbeitet“, sagte er ziemlich rasch, doch wenig überzeugend. „Die Augen sind wohl überlastet. Du weißt ja, der PC ist ein Augenkiller, wenn man länger als zehn Stunden am Tag hineinstarrt. Danke jedenfalls fürs Kommen.“ Ally drückte ihm die Schulter und ging. Doch als sie in der Tür stand, wiederholte sie ihre Frage nach den Worten, die sie hätte sehen sollen. „Spinning Island“
Ally kniff die Augen zusammen. „Das ist doch die kleine Insel im Moor oben. Was soll denn dort sein?“ Logan zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Wie gesagt, spielen mir meine Sinne einen Streich. Ich sollte weniger arbeiten, sonst sehe ich bald weiße Mäuse und rosa Elefanten.“ Die Nachbarin lachte laut auf, schloss grußlos die Tür hinter sich und ließ den jungen Mann mit seinen Sinnestäuschungen allein.
Logan legte sich ins Bett und mied das Badezimmer. Das Badewasser würde er am nächsten Morgen in die Kanalisation schicken, denn mittlerweile hatte er vor diesen Worten direkt Angst und er wollte sie nicht noch einmal sehen.
Mit offenen Augen lag er im Bett und starrte an die Decke. Die Müdigkeit hatte sich nämlich nicht mit dem Zubettgehen eingestellt. Gut eine halbe Stunde lang wälzte er sich hellwach im Bett herum. Er hasste es regelrecht, nicht einschlafen zu können und er dachte daran, dass er Harry anrufen könnte. Sein Freund fand niemals vor zwei Uhr morgens den Weg ins Bett, dafür konnte man aber erst gegen zehn Uhr morgens etwas von ihm haben. Davor war er eine wandelnde Leiche, dessen Gehirn bereits von den Würmern verspeist worden war.
Das Telefon läutete viermal, ehe Harry das Gespräch annahm. „Hey, Alter! Hast du schon wieder blutrote Buchstaben gesehen? Oder waren es diesmal gelbe?“ Logan fand das weniger witzig und war schon kurz davor, das Gespräch zu beenden. Doch dann keifte er wutentbrannt ins Telefon: „Gestern waren tatsächlich blutige Worte im Waschbecken und vorhin in der Badewanne auch wieder. Aber du bist scheinbar zu dumm und zu herzlos, um einem Freund beizustehen. Du Idiot kannst nur blöde Sprüche klopfen, aber für sonst bist du zu nichts zu gebrauchen. Du bist wie ein stinkender Furz auf dieser Welt. Jeder will, dass du dich schnellstens verziehst! Dich braucht echt nie-mand!“
Wutentbrannt tippte er auf den roten Punkt auf seinem Display und die Verbindung wurde sofort unter-brochen. Er keuchte, als hätte er gerade einen Sprint zurückgelegt. Sein Herz galoppierte ihm fast davon und das Adrenalin schoss durch seine Adern wie auf einer Hochschaubahn. Dieser Typ regte ihn nur noch auf! Das war keine Freundschaft mehr, das war nur noch eine Farce.
Enttäuscht warf er das Handy aufs Bett und drehte den Fernseher auf. Kurz darauf fielen ihm die Augen zu und er träumte von Manors Castle, das auf Spinning Island stand. Er fand dort seinen Hund wieder, der ihm zwei Wochen zuvor entwischt war. Und er fand dort auch seine große Liebe, nach der er schon so lange suchte. Im Traum war es Liebe auf den ersten Blick, die bis in alle Ewigkeit währte.
Selbst als der gnadenlose Wecker ihn brutal ins reale Leben zurückholte, spürte er noch immer die innige Liebe in sich pochen. Umso schwerer fiel es ihm, sich aufzurappeln, um zur Arbeit zu gehen. Dennoch quälte er sich aus dem Bett und wankte gähnend ins Wohnzimmer.
Doch als er vor dem Badezimmer stand, hielt er inne. Er hatte die Worte scheinbar missverstanden. Sie stellten anscheinend keine Bedrohung dar, sondern einen Wegweiser ins Glück. Gut gelaunt griff er ins kalte Badewasser vom Vortag und öffnete den Abfluss. Das Wasser lief ab, ohne dass sich die roten Buchstaben erneut zeigten. Bevor er sich die Zähne putzte, sah er in den Spiegel und schüttelte leicht den Kopf. Wie konnte er sich nur vor diesen Buchstuben fürchten, ja gar in Panik ausbrechen? Während der gesamten Arbeitszeit schweiften seine Gedanken immer wieder zu den vier Worten. Ob sie wirklich etwas zu bedeuten hatten? Ob sie tatsächlich mit seinem sehr realistischen Traum zu tun hatten? Da er ohnehin nach der Arbeit nichts weiter vor und zu tun hatte, machte er sich auf den direkten Weg nach Spinning Island. Er kannte die kleine Insel mit der alten Ruine, doch er war seit sehr vielen Jahren nicht mehr auf ihr gewesen. Sicherheitshalber ließ er sich vom Navi führen.
Die Dunkelheit senkte sich bereits übers Land, doch der Mond war beinahe voll, sodass er ziemlich gut sehen konnte. Hin und wieder schlich sich eine Wolke an ihm vorbei, doch das war nicht weiter tragisch. Die leistungsstarke Taschenlampe aus seinem Wagen leistete ihm dennoch gute Dienste. Er fühlte sich durch den Lichtkegel sicherer, denn man konnte nie wissen, ob man nicht in ein größeres Erdloch trat oder über einen großen Stein stolperte.
Die alte Brücke auf die Insel sah schon ziemlich ramponiert und mitgenommen aus. Der Zahn der Zeit hatte ganz offensichtliche Spuren hinterlassen. Logan war sich nicht sicher, ob sie sein ohnehin nicht sehr hohes Gewicht überhaupt noch tragen würde. Aber nach kurzem Zögern rannte er mit großen Schritten darüber hinweg. Die Balken ächzten und knackten, aber die Brücke hielt stand.
Als er vor der halb verfallen Ruine stand im fahlen Mondlicht stand, lief ein kalter Schauer über seinen Rücken und die Unterarme. Sie sah nun doch etwas gespenstisch aus. Logan kombinierte sie in seinen Gedanken mit den roten Worten auf der Wasserober-fläche und wunderte sich letztendlich doch nicht, dass es ihn gruselte. Aber eigentlich sollte er hier die Liebe seines Lebens und seinen Hund finden, worauf er sich jetzt fokussierte. Er musste herausfinden, was dieser Traum sowie die beiden Sinnestäuschungen auf dem Wasser zu bedeuten hatten.
Er ließ den Kegel seiner Taschenlampe über die halb verfallenen Wände gleiten, über das Gras im Inneren der Ruine und über den Wassergraben ringsum. Hier war niemand zu sehen und auch auf der Wiese vor der alten Brücke hatte kein einziges Fahrzeug geparkt. Eigentlich logisch, dachte er. Es waren Hirngespinste und nur ein unbedeutender Traum, nichts weiter. Mit einem Kopfschütteln drehte er sich um und marschierte in Richtung Ausgang, als das Licht eine längliche Erhebung in einer Ecke erfasste. Neugierig hielt er darauf zu und versuchte, etwas zu erkennen. Der Strahl der Taschenlampe gab mit jedem Schritt, den Logan vor den anderen setzte, mehr Informati-onen zu dem Objekt frei. Es sah wie ein sehr großes Bündel Äste oder vielleicht auch Lumpen aus. Ob Jugendliche diese Ruine für gelegentliche Lagerfeuer nutzten? Gut möglich, so weit ab von den Eltern, der Polizei und all den anderen ständig mahnenden und bevormundenden Leuten.
Er lächelte und dachte kurz an seine Jugend, richtete jedoch seine Konzentration rasch wieder auf dieses Bündel, das irgendwie ein wenig grotesk aussah. Doch als er rund drei Meter davon entfernt war, sah es ganz und gar nicht mehr grotesk aus. Das Bündel Lumpen entpuppte sich nämlich als eine menschliche Gestalt, die, das Gesicht der Mauer zugewandt, vor ihm lag. Logan blieb abrupt stehen und wich instinktiv noch sogar ein paar Schritte zurück. Schläft hier jemand? Ist er gefährlich? Braucht er Hilfe? Wer ist das? Diese Gedanken durchzuckten sein Gehirn wie grelle Blitz-einschläge und sofort tauchten wieder die blutroten Worte vor seinem geistigen Auge auf. „Hallo?“, fragte er unsicher in die Dunkelheit hinein und bückte sich ein wenig. Seine Stimme war kaum zu hören; brüchig und leise. Die Gestalt vor ihm regte sich nicht.
„Hallo?“ Ein weiterer kläglicher Versuch, der erneut scheiterte. Der Mann, er ging seiner Größe wegen davon aus, dass es ein Mann war, drehte sich nicht zu ihm um. Logan hielt den Atem an, sammelte all seinen Mut, den er in den letzten Winkeln seiner Seele finden konnte zusammen, und trat ein paar Schritte nach vor. „Hallo, Sie! Hören Sie mich? Ist alles in Ordnung?“ Der Körper bewegte sich nicht. Nun kroch langsam Panik in ihm hoch. Er musste den Mann angreifen, ihn umdrehen, ihn wecken oder zumindest nachsehen, ob er Hilfe brauchte. Er konnte ihn nicht so einfach da liegen lassen und wegfahren.
Mit klopfendem Herzen kniete er sich neben die Gestalt und rüttelte sie sanft an der Schulter. Nichts. Dann ein zweites und noch ein drittes Mal, aber er bewegte sich nicht und er sprach auch nicht. Nun war Logan alles egal. Er packte den Mann an der Schulter und zog ihn kräftig daran nach hinten. Ohne jegliche Spannung plumpste der Körper auf den Rücken; sein Arm blieb quer über der Brust liegen. Logan richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf ihn und blickte in ein blutiges Gesicht; in das rote Gesicht seines besten Freundes Harry.
Entsetzt sprang er auf und torkelte mit einem spitzen, schmerzerfüllten Schrei zurück. Die Taschenlampe glitt ihm dabei aus der Hand, krachte zu Boden und erlosch augenblicklich.
„Harry, o Gott, Harry!“ Seine Worte klangen beinahe wie das Heulen eines verletzten Wolfes. Schluchzend krümmte er sich und presste die Unterarme gegen den Bauch. Der Schmerz in seinem Inneren war beinahe unerträglich. Dennoch musste er sich beruhigen und nachsehen, ob er noch lebte und ob er noch etwas für ihn tun könnte. Zögerlich trocknete er seine Tränen und ging langsam auf seinen Freund zu. Er sah tot aus, so richtig tot, aber im Dunklen sieht alles dramatischer aus als es häufig war.
Wie schon zuvor kniete er sich neben Harry auf den Boden und tastete am Hals nach seinem Puls. Die Haut war warm, aber die Halsschlagader lag still darunter. Kein Puls, kein Kreislauf, kein Leben. Tot. Harry war tot.
Logan richtete sich auf, drehte sich zur Seite und übergab sich lautstark in die nächste Ecke. Seine Hände zitterten jetzt ebenso wie seine Knie und er tastete nach der kleinen Mauer, um sich kurz zu setzen und durchzuatmen.
Mit dem starren Blick auf die Silhouette seines besten Freundes gerichtet versuchte er, in dem Knäuel an Gedanken, einen Faden zu finden. Er war völlig konfus, wusste nicht, was er tun oder nicht tun sollte. Etwas sagte ihm eindringlich, er solle weglaufen, anderes wiederum beschwor ihn, die Polizei zu rufen, dann wieder meinte ein Gedanke, er solle es noch mit einer Herzmassage versuchen und einen Notarzt an-fordern und wieder ein anderer Gedanke riet ihm, Harry anzurufen.
Bei diesem Gedanken stutzte er. Harry anrufen? Wozu denn? Er lag doch vermutlich tot vor ihm, keine zwei Schritte von ihm entfernt. Doch schon im nächsten Augenblick verstand er diesen Gedanken. Er wollte sichergehen, dass das da vor ihm wirklich Harry und nicht wieder eine Illusion war, eine seiner berühmten Wahrnehmungsstörung wie die blutigen Worte waren. Umständlich fischte er sein Handy aus der vorderen Tasche seiner Jeans und rief mit zitterndem Finger das Telefonverzeichnis und Harrys Nummer auf. Er schloss die Augen, atmete ein paar Mal tief ein und hielt dann die Luft an. Er drückte, es klingelte. Beinahe zeitgleich leuchtete auf dem Körper vor ihm ein rechteckiger Lichtschein unter dem Hemd auf. Logan ließ das Handy sinken, trennte aber die Ver-bindung nicht. Er befand sich in der realen Welt! Kein Traum, keine verzerrte Wahrnehmung. Alles echt. Vor ihm lag ohne Zweifel sein bester und langjähriger Freund Harry. Tot.
Er stand auf, kniete sich neben den leblosen Körper und legte seine Hände zur Reanimation übereinander. Doch noch ehe er sie auf Harrys Brust senkte, setzte er sich auf die Fersen. Die Zeitspanne, die er bereits ohne Herzschlag vor ihm lag, war eindeutig zu groß als dass er noch leben könnte. Eine Reanimation wäre völlig sinnlos, dachte er und legte die Hände auf seine eigenen Oberschenkel. Es ist auch sinnlos, die Polizei zu holen. Sie könnte Harry auch nicht mehr helfen und er selbst würde lediglich unter Verdacht geraten. Die beste Lösung wäre… doch diesen Gedanken dachte er nicht zu Ende, denn er lief bereits mit großen Schritten aus Manors Castle hinaus in Richtung seines Wagens. Ohne auf Bodenlöcher, Hasenbauten, Stolpersteine oder grobe Unebenheiten zu achten, stürzte er über die Wiese, flog beinahe über die altersschwache, bei jedem Schritt knarrende Brücke und warf sich auf den Fahrersitz. Ohne die Scheinwerfer aufzudrehen raste er über das Stück Moor hinaus auf die Straße und hinterließ dort deutliche Reifenspuren, die im Laufe der Nacht trocknen würden. Er drehte seinen Kopf nicht mehr zur Seite, denn er wollte das Castle mit der Insel nicht mehr sehen. Er wollte nur noch weg von hier, wobei das aber in Wahrheit heißen sollte, dass er weg von diesem Problem und seinem unerträglichen Schmerz wollte.
Zu Hause angekommen rollte er sich auf dem Bett zusammen und heulte wie ein kleines Kind. Was nur war da draußen geschehen? Weshalb musste Harry sterben und – war es wirklich sein bester Freund, der dort tot in den alten Gemäuern lag? Wer zum Teufel hatte ihn ermordet und mich dorthin beordert? War der Mörder vielleicht noch in der Ruine gewesen? War er von ihm beobachtet worden?
Im Moment war ihm absolut nicht klar, wie er die Realität von Fantasien oder Sinnestäuschungen oder gar Wahnvorstellungen auseinanderhalten konnte. In dieser Sache hatte er auch nicht genug Vertrauen, jemandem davon zu erzählen und darüber zu reden. Harry wäre jetzt der einzige Mensch, dem er so etwas anvertrauen konnte, aber Harry war immerhin der Hauptakteur in dieser Geschichte.
