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Lilagrüne Sterne leuchten neonfarben aus dem zitronenblauen Himmel. Eine Frau beißt ihrem Geliebten beinahe die Männlichkeit ab. Schwarzer Kohl macht sich auf den Feldern breit und bislang sanfte Hunde werden zu bissigen Monstern. 'Das Phänomen' hat Einzug in ein kleines Dorf gehalten und nimmt den Bewohnern nicht nur das Vertrauen ins Leben und in ihre Sicherheit, sondern lässt sie auch in völliger Dunkelheit, die kein Scheinwerfer zu durchdringen vermag, schmoren. Selbst laute Schreie sind zeitweise nicht hörbar und der Asphalt verschlingt Menschen wie Treibsand. Ein mutiges Trio macht sich auf die gefährliche Suche nach den Hintergründen und Ursachen; und sie werden fündig. Eine alte Frau aus dem fahrenden Volk ist ihre einzige Rettung, doch sie stellt hohe Anforderungen. Stephen King würde dieses Buch wohl lieben!
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Seitenzahl: 534
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Karin Szivatz
Das Phänomen
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
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Epilog
Impressum neobooks
„Das ist nur rechtens! Wohlan, dies seiet eure Bestrafung, ihr greisen Muhmen, Metzen und Frohwen. Disputieret nichts ab, ihr nichtsnutzige Recken und Gesellen! Ihr sollt um Gunst heischen, sie nicht inkorporieren, in Aeternitas! Brandschatzen steht unter wackerer Arbet!“
Kühler Regen prasselte nun schon seit den frühen Abendstunden unablässig auf das Flachdach des geräumigen Hauses, als wollte er eine selbst komponierte Melodie spielen. Er änderte den Rhythmus des Liedes in unregelmäßigen Abständen und pochte zwischendurch dermaßen auf das Dach, als wollte er sich mit einer nachgeahmten Gewehrsalve gewaltsam Zutritt von oben in die liebliche Idylle des Hauses verschaffen. Dann wieder sandte er nur feine Tröpfchen herab, als würde er von einer leichten Sommerbrise erzählen, die sinnlich durch samtweiche, sattgrüne Grashalme gleitet.
In dieser Nacht regnete es nur von oben herab. Der Wind hatte in dieser Nacht beschlossen, nicht mit dem Regen um die Häuser zu ziehen und somit blieben die Fenster weitgehend trocken.
Der weitläufige Bungalow wurde vor wenigen Jahren nur wenige Meter weit weg vom feinen Sandstand errichtet. Gerade weit genug weg, dass die Zungen der Flut nicht an der Veranda aus hellem Kiefernholz lecken konnten, aber nahe genug am Wasser um den salzigen Geruch des Meeres noch im Wohnzimmer inhalieren zu können.
Rosalie lag bereits seit einer guten Stunde wach; sie wurde vom leisen Schnarchen Taylors und den arrhythmischen Klängen des Regens vom Schlafen abgehalten. Noch dazu hatte sie keinen wirklich guten Vertrag mit dem Sandmännchen abgeschlossen und auf Nachverhandlungen ließ er sich scheinbar nicht ein. Sie hasste es, Taylors Schnarchen hören zu müssen; diese Momente stellten ihre Liebe zu ihm auf eine sehr harte Probe. Mitunter fragte sie sich, ob nicht eine Affäre weitaus einfacher zu verzeihen war als das Röcheln und Zischen, das aus seinem leicht offen stehenden Mund kam. Sie hasste es und manchmal, wenn sie partout nicht mehr einschlafen konnte, hasste sie auch ihn. Und im Moment war sie gerade drauf und dran, ihn zu hassen. Obwohl sie vom Vortag noch ziemlich ausgelaugt war beschloss sie, aus dem Zimmer zu gehen. Weg von Taylor, weg von der miesen Atmosphäre, die das Ehebett dank ihrer mordlüsternen Gedanken umgab. Es hatte keinen Sinn mehr, auf den erlösenden Schlaf zu warten. Er hatte bereits seine Sachen gepackt und war abgereist. Morgen würde er hoffentlich wieder kommen, heute aber vermutlich nicht mehr.
Schwerfällig schlug sie die Decke zurück und hievte sich aus dem warmen Bett. Ihre nackte Gestalt zeigte sich nur schemenhaft im Spiegel des dunklen Zimmers. Kritisch betrachtete sie ihre Hüften, die Taille, die Oberschenkel. Dann breitete sie die Arme aus und ließ ihren Blick über die Oberarme streifen. Ein Spiegel lügt nicht, niemals, dachte sie und schlich barfuß aus dem Schlafzimmer; sie wollte Taylor nicht wecken, denn sie wollte keine Erklärungen abgeben, weshalb sie um halb zwei Uhr morgens nachts nackt im Haus herumlief.
Die Küche zeigte sich durch den Mond in fahles Licht getaucht. Die Möbel schienen einen Standaufnahme aus einem schwarz-weiß-Film aus den Neunzehnhundertzwanzigerjahren zu stammen. Ein Stummfilm aus längst vergangnen Tagen, der es geschafft hatte, sich heimlich, still und leise ins dritte Jahrtausend zu schmuggeln.
Rosalie sah sich aufmerksam in der etwas befremdlichen Küche um, drehte sich langsam im Kreis und versuchte zu eruieren, was hier nicht stimmte. Der Raum war derselbe wie seit Jahren, alles befand sich an einem Platz und dennoch schien etwas unerklärlich anders zu sein. Noch während sie sich auf die Einrichtung der Küche konzentrierte, packte sie plötzlich eine eiskalte Faust, die ihr ohnehin schon dumpfer und rascher schlagendes Herz zusammenquetschte und ein beklemmendes Gefühl in ihr auslöste. Sie schlug die Hand an die Brust, stützte sich mit der anderen am Esstisch ab und beugte sich vorn über. Sie japste nach Luft, keuchte und würgte. Todesangst kroch wie eine Eidechse an ihr hoch und zog eine heiße Welle hinter sich, die sie zu verbrennen drohte. Rosalies erster Gedanke galt einem Herzinfarkt, doch so rasch die Symptome aufgetreten waren, so rasch waren sie auch wieder abgeklungen. Die Ursache des darauf folgenden Schauers hatte nichts mit der Umgebungstemperatur zu tun. Die Hitze des Sommers hatte sich seit Tagen über der gesamten Ostküste ausgebreitet; gar so, als wollte sie zwei Wochen am Strand liegen und einfach nur da sein. Der heiß ersehnte Regen, der nach wie vor unablässig vom Himmel fiel, war deshalb eine willkommene Abkühlung für jedermann.
Rosalie lauschte noch immer ihrem Herzen, doch es schlug wieder gleichmäßig, langsam und kräftig. Ganz so, wie sie es gewohnt war. Etwas beruhigt richtete sie sich auf, atmete ein paar Mal tief durch und versprach sich selbst, gleich am Morgen ein EKG schreiben und einen Bluttest machen zu lassen. Das würde sie jedem anderen Menschen auf alle Fälle dringend nahelegen. Mit einem Herzinfarkt war schließlich nicht zu spaßen!
Während Rosalie ihren leichten Bademantel aus dem Badezimmer holte und noch immer auf ihren Herzschlag hörte, lief ganz leichter Kaffee durch die Maschine in ihren Lieblingsbecher. Obwohl er schon mehrere hundert, wenn nicht sogar tausende Wäschen in der Spülmaschine hinter sich hatte, liebte sie ihn abgöttisch. Er war das erste Geschenk, das sie von Taylor bekommen hatte. Sie waren auf dem nächtlichen Jahrmarkt gewesen und völlig verliebt. Eng umschlugen schlenderten sie zwischen den bunt beleuchteten Attraktionen durch, ließen sich von der Hexe in die Geisterbahn locken, von der Gefahr der Hochschaubahn anziehen und von der Köstlichkeit einer mit Schokolade überzogenen Riesenschaumrolle überzeugen.
Und dann war da noch der Schießstand, dessen Schausteller nur noch einen Arm hatte. Er rief unablässig ‚Schießen Sie Ihrer Liebsten doch ein weißes Einhorn!’ in die Menge und zog mit diesen einfachen Worten Scharen an jungen Männern an, die ihren Angebeteten imponieren wollten.
„Willst du das Einhorn?“, fragte Taylor so unsicher, dass Rosalie sofort darauf bestand, eines zu bekommen. Taylors Gesicht wurde schlaff. Sie sah ihm an, dass er auf gar keinen Fall das Einhorn von der Decke schießen würde, aber sie fand es echt süß, dass er es versuchte. Für sie versuchte!
Taylor kramte in der Tasche seiner Jeans und förderte einen Zehner zutage. „Ich will’s versuchen“, flüsterte er dem Schausteller zu und hoffte vermutlich insgeheim, nicht gehört zu werden. Doch der schmale Mann hinter der Theke hatte den Zehner blitzschnell gesehen und auch schon in seiner Tasche verschwinden lassen. Mit einem ziemlich linkischen Lächeln reichte er das geladene Gewehr über den Tresen und Taylor stellte sich breitbeinig in Position. Doch anstatt an die Decke zu zielen um das Einhorn zu bekommen richtete er den Lauf auf die unterste Reihe und landete gleich mit dem ersten Schuss einen Treffer. Den absoluten Glückstreffer.
Der Schausteller sah ihn aus listigen, zusammengekniffenen Augen an. Taylor erwiderte den Blick und ließ ihn lächelnd wissen, dass er ihm noch das Wechselgeld schulde. Und natürlich den Kaffeebecher, den er gerade gewonnen hatte. Taylor überreichte ihr den eigentlich ziemlich hässlichen Becher mit einer tiefen Verbeugung. „Madame, dies soll ab sofort der Kaffeebecher Ihres Lebens sein!“
Rosalie übernahm ihn mit einem höfischen Knicks und fiel ihm anschließend in die Arme. In diesem Augenblick verbanden sich ihre Herzen miteinander und ihr gemeinsames Leben war damit besiegelt worden.
Noch heute dachte sie gerne und mit einer gewissen Wärme im Herzen an diesen Augenblick zurück. Sie drückte den warmen Becher an ihre Brust und sah vom Wohnzimmerfenster auf das offene Meer hinaus. Sie hatte auch hier das Gefühl, als wäre irgendetwas anders als sonst, aber sie konnte es vom Haus aus nicht ausnehmen. Während sie den Gürtel um ihre Taille schlang, öffnete sie leise die Haustür, trat hinaus auf die Veranda, und blickte über den feinen Sandstrand in Richtung Meer. Der Regen fiel währenddessen vom dunklen Himmel und schränkte ihre Sicht ein. Sie erkannte auch noch etwas weiter draußen die Wellen, doch sie sahen nicht wie sonst auch immer aus. Sie waren anders, doch auch jetzt konnte sie nicht genau definieren, weshalb.
Irgendwie fühlte es sich anders an, aber das war auch nicht der richtige Ausdruck dafür. Vielleicht war es auch nur ihre Müdigkeit, die sich in diesem Augenblick bemerkbar machte. Immerhin waren es nur noch ein paar wenige Stunden, bis sie wieder die Tür ihrer Praxis aufschließen und sich all die Klagen der Dorfbewohner anhören musste. Sie liebte ihren Job über alles, übte ihn mit Inbrunst und Leidenschaft aus, aber im Moment konnte sie all zu viel an Leiden und Gejammere nicht ertragen. Doch dieses Gefühl kannte sie nach sieben Jahren im Dienste der Menschheit mittlerweile. Während des Medizinstudiums war sie voll Enthusiasmus und auch während der Praktikumsjahre danach ging sie förmlich darin auf, Anderen zu helfen, sie zu heilen und sie mitunter wieder ins Leben zurück zu holen. Doch als Landärztin beschränkte sich ihr Wirkungsbereich auf die Behandlung von Erkältungen, Rückenschmerzen und auf die Überweisungen zu Fachärzten. An manchen Tagen überlegte sie, ob sie nicht mit Taylor in eine Stadt ziehen und selbst eine Facharztausbildung beginnen sollte. Hier, am Strand von Nirgendwo würde sie ja doch nur versauern und ihr Talent verschwenden. So sehr ihr die wenigen Bewohner des Städtchens am Herzen lagen, so wenig konnten sie ihr als Gegenleistung bieten. Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie bereits ziemlich gelangweilt und sehnte sich nach einem aufregenden Leben, nach Adrenalin, nach Abenteuer, nach Gefahr und Herzklopfen. Hier fand sie nur Ruhe sowie niedrige Ansprüche an ihre Persönlichkeit, an ihren herausragenden Intellekt und an ihr berufliches Können. Das reichte ganz einfach nicht mehr aus. Dieses Leben war etwas für die Zeit nach vielen aufregenden Jahren oder nach der Pensionierung aber im Moment bot es ihr einfach viel zu wenig an Impulsen.
Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie konzentriert auf das Meer, das recht bald am Horizont den Himmel küsste. Eigentlich sah es nicht wie ein Kuss aus, sondern viel mehr wie ein panisches Anklammern, als wollte sich das Meer am Himmel emporziehen, ganz rasch weg von der Erde. Sie öffnete ihre Augen wieder ganz, atmete schwer aus und konzentrierte sich nun auf die weiße Gischt, die auf den Kämmen der Wellen tanzte. Sie schien grau zu sein und ganz ohne Leben. Ein lustloser Tanz, der eher mühsam statt lustvoll aussah. Doch noch ehe sie darüber nachdenken konnte, wie sie überhaupt darauf kam, dass Gischt Leben in sich tragen und fröhlich oder traurig sein konnte, fühlte sie eine andere Person in ihrer Nähe. Eine Ahnung, dass sie nicht allein war, überkam sie und sie drehte ihren Kopf nach rechts.
Marisha, ihre direkte Nachbarin, stand vor ihrem nun doch schon etwas in die Jahre gekommenen Haus und starrte ebenfalls auf das Meer hinaus. Die grauen, ausgedünnten Haare hingen wie viel zu lang gekochte Spaghetti von ihrem Kopf und legten stellenweise die bleiche Kopfhaut frei. Die Haarspitzen, die auf ihren Schulterblättern klebten, zeichneten eine Linie, die an ein zerklüftetes Küstengebiet erinnerte. Sie mussten dringend geschnitten und wieder in eine gerade Linie gebracht werden. Doch Marisha kümmerte sich nicht mehr um ihr Äußeres. Vielleicht nahm sie es auch nicht mehr wahr, denn sie lebte zeitweise in völlig anderen Sphären. Und diese Zeiten dehnten sich immer mehr aus. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis sie einander die Hände reichten und die alte Frau völlig mit sich trugen. Manchmal fragte sich Rosalie allerdings, ob es nicht eine glücklichere Welt als die reale war, in der ihre Nachbarin seit Jahren lebte.
Rosalie nahm einen Schirm aus dem Ständer, spannte ihn auf und hielt ihn über ihrem Kopf, während sie auf die zerbrechliche Gestalt zusteuerte. Je näher sie der alten Dame kam desto deutlicher war ihre bereits völlig durchnässte Kleidung erkennbar. Wie lange sie wohl schon hier im strömenden Regen gestanden haben mochte?
Rosalie machte sich nicht die Mühe, sie danach zu fragen, denn sie würde keine Antwort erhalten, mit der sie auch etwas anfangen konnte. Vermutlich würde ihre Frage noch nicht einmal gehört werden. Sie stellte sich dicht hinter Marisha und drückte sich gegen ihren Rücken, damit sie beide im trockenen Kreis unter dem Schirm Platz fanden. Die alte Frau war beinahe einen ganzen Kopf kleiner, weshalb Rosalie mühelos über sie hinweg auf das Meer sehen konnte.
Viele lange Sekunden standen die beiden Frauen reglos da, lauschten dem Regen, den wispern der Wellen und bemerkten das Fehlen des Vogelgesangs; doch keine von beiden sprach es aus. Sie wussten, dass es die jeweils andere ohnehin wusste.
„Hörst du die Stimme des Meeres?“, fragte Marisha, sah aber nicht über ihre Schulter in Rosalies Augen. Sie wippte nur ganz sanft mit ihrem Körper nach vor und wieder zurück. Nach vor und wieder zurück. Unentwegt, aber für Rosalie nicht störend.
„Nein, Marisha, ich höre sie nicht. Was sagt denn die Stimme?“
Die kleine Frau blieb eine Weile stumm und wippte auch nicht weiter. Dann aber flüsterte sie kaum hörbar: „Sie sagt ‚Sie kommen! Lasst sie nicht herein, schickt sie weg!’“ Sie begann wieder zu wippen; sanft und nicht störend.
„Wen meint die Stimme damit? Wer kommt und wen sollen wir wegschicken?“
Marisha erschauderte. „Ich weiß es nicht.“
Rosalie beugte sich nach vor und sah sie von der Seite an. „Komm, wir gehen ins Haus, sonst holst du dir noch den Tod. Dir läuft schon der Schauer über den Rücken.“
Sie nahm die zerbrechliche Frau an der Schulter und drehte sie sanft zum Eingang ihres Hauses hin, doch sie drehte ihren Kopf in Richtung Meer und flüsterte erneut: „Sie kommen! Lasst sie nicht herein, schickt sie weg!“
Dann ließ sie sich ins Haus führen und ihrer Kleider entledigen. Während Rosalie ihr das Nachthemd überstreifte richtete Marisha ihren Blick auf den Küchenkasten. „Ist der Kaffeebecher da für mich?“
Rosalie drehte sich um und sah ihren Lieblingsbecher an. „Ja, du kannst ihn haben, wenn er leer ist.“
„Wirklich? Du schenkst ihn mir?“
„Ja, ich schenke ihn dir.“
Die alte Frau bedankte sich mit einem beinahe zahnlosen Lächeln, das so ehrlich wie das eines Kindes war. Rosalie strich ihr übers Haar, schob ihren linken Arm unter die knochigen Knie und hob die müden Beine ins Bett. Dann deckte sie die alte Frau zu und sah sie in dem riesig wirkenden Bett an. Marisha schien darin so verloren zu sein wie in ihrem Geiste.
„Liest du mir eine Geschichte vor?“, fragte sie und blickte erwartungsvoll zu Rosalie auf.
„Wenn du mir versprichst, die Augen dabei nicht aufzumachen, gern“, forderte Rosalie und holte das Buch aus der Nachttischlade.
„Versprochen!“, rief die kleine Gestalt aus und presste die Lider ganz fest aufeinander. Die Hände krallten sich vor Erregung in die dünne Decke und ihr faltiger Mund kräuselte sich in Vorfreude.
Rosalie setzte sich auf den Stuhl neben das knarrende Landhausbett, das bestimmt schon enorm vieles gesehen und hört hatte, und begann laut zu lesen. Schon nach wenigen Sekunden löste sich die Verkrampfung in Marishas Lidern und ihre Fäuste öffneten sich. Auch ihr Mund entspannte sich zusehends und bald hatte Rosalie den Eindruck, als würde sie ihre Worte nicht mehr hören. Mit einem milden Lächeln schlug sie das Buch zu, legte es leise in die Nachttischlade zurück und schloss sie. Als sie völlig geräuschlos auf die Tür zuging verzerrte sich Marishas Gesicht plötzlich zu einer hässlichen Fratze, die nur aus den Tiefen der Hölle stammen konnte. Und sie flüsterte etwas in den Raum hinein. „Sie kommen! Lasst sie nicht herein, schickt sie weg!“ Dann drehte sie sich zur Seite und war wieder die alte, schwache Frau von nebenan, die an Demenz litt.
Rosalie lief ein eiskalter Schauer über den Körper, der sich in ihren Haarwurzeln sammelte. Instinktiv zog sie ihren Bademantel enger um die Taille und rieb sich mit den Händen die Oberarme. Doch die Kälte kam nicht von außen.
Ohne ein weiteres Mal auf die schlafende Gestalt in dem riesigen Bett zu blicken nahm sie ihren Kaffeebecher und zog die Tür leise hinter sich zu. Die Nachbarin hatte längst vergessen, dass sie ihn haben wollte und dass er ihr bereits unzählige Male geschenkt wurde. Sie mochte den Gedanken, etwas geschenkt zu bekommen. Rosalie nahm an, dass es ihre Person aufwertete. Zumindest für den Moment, denn im nächsten war er schon wieder vergessen.
Als sie auf die kleine Veranda des Nachbarhauses trat wagte sie nicht, auf das düstere Meer hinaus zu blicken, denn sie hatte Angst, dieses Flüstern auch von dort draußen zu hören. Sie wollte nur noch in den Schutz ihres Hauses und in die erlösenden Arme des Schlafes sinken. Doch letzterer blieb, wie bereits erahnt, aus.
Sie war hellwach, dennoch todmüde und ausgelaugt. In ihr Bett zu gehen wäre völlig sinnlos, denn die Mischung aus Taylors Schnarchen und dem Regen wären noch eine zusätzliche Reizung ihrer ohnehin schon recht sensiblen Sinne.
Obwohl sie eine gewisse Schwere in sich fühlte, setzte sie sich an ihre Staffelei und drückte einen Klecks Farbe aus der Tube. Dunkles, sattes Rot glänzte auf der Spitze ihres Pinsels, der an Blut erinnerte. Eigentlich hatte sie für diese Farbe gar keine Verwendung in dem Bild und sie fragte sich, weshalb sie gerade diese gewählt hatte. Sie passte ganz und gar nicht in das pastellfarbene Bild. Damit würde sie den Gleichklang, die Weichheit und die Sanftheit der anderen Farben stören, wenn nicht sogar zerstören.
Etwas irritiert nahm sie die Farbe mit einem alten Tuch vom Pinsel und tauchte ihn anschließend in einen Becher Wasser. Sie liebte es zuzusehen, wie sich die wenigen Farbreste von den Pinselhaaren im Wasser auflösten und einen kleinen, hellbunten Ring darum bildeten. Und auch jetzt zeigte sich ein kleiner, roter Ring. Er schmiegte sich hellrot an die Pinselspitze und verharrte dort. Doch eine Sekunde später, weitete er sich aus, wurde größer und größer, bis er den Rand des Bechers erreicht hatte. Rosalies Stirn legte sich in Falten und sie beugte sich direkt über den Becher um die Farbausdehnung besser beobachten zu können. Die gesamte Oberfläche schimmerte in einem hellen rot, gewann jedoch mit jedem Augenblick an Intensität und zeigte sich recht bald in einem dunklen, intensiven Farbton, der beinahe schon in aubergine überwechselte.
Rosalie hob den Becher auf und betrachtete ihn von der Seite. Das ganze Wasser darin hatte diesen rot-schwarzen Farbton angenommen, der sie an eine Mischung aus frischem und getrocknetem Blut erinnerte. Wie normale Acrylfarbe sah diese Flüssigkeit nicht mehr aus. Außerdem waren in den Pinselhaaren nur noch Spuren von Farbe, die maximal einen kleinen Punkt auf die Oberfläche hätte zeichnen können. Sie starrte kurz ganz tief in das merkwürdige Rot, dann zuckte sie zusammen, als würde tödlicher Strom aus dem Becher fließen. Blitzschnell stellte sie ihn wieder auf seinen Platz und sprang von ihrem Stuhl auf. Das Ganze war ihr mehr als unheimlich und der Schauer von vorhin kroch wieder über ihren Körper und biss sich erneut in ihren Haarwurzeln fest.
Sie rieb ein weiteres Mal an ihren Oberarmen um sich zu wärmen, doch die eisige Kälte blieb tief in ihren Knochen stecken.
Um sich durch die rote Blutflüssigkeit nicht mehr irritieren lassen zu müssen schnappte sie das alte Farbtuch, fasste damit den Becher und kippte ihn rasch im Waschbecken aus. Dann ließ sie einige Minuten lang kaltes Wasser nachlaufen und warf den Becher mitsamt dem Tuch rasch in die Mülltonne vor der Haustür. Sie wollte beides nicht mehr im Haus haben.
Nach einer kurzen Sekunde des Überlegens lief sie zurück zur Staffelei, nahm den Pinsel in die Hand und verließ wieder das Zimmer. Zur Sicherheit versperrte sie es, indem sie den Schlüssel zwei Mal umdrehte. Um sich davon zu überzeugen, dass die Tür auch wirklich versperrt war, rüttelte sie daran. Dann trat sie erneut vor die Tür und warf auch den soeben benutzten Pinsel in die Mülltonne. Den Deckel der Tonne beschwerte sie mit einem umgedrehten Stuhl.
Dann schloss sie die Haustür hinter sich und versperrte auch diese sorgfältig. Als sie aus dem Fenster auf die Veranda sah, konnte sie die dunklen Bäume, die vereinzelt am Strand standen, durch den Regenvorhang nur verschwommen sehen. Allerdings formten sich ihre Äste nicht zu überdimensionalen Armen, die nach ihr greifen und in die Hölle ziehen wollten.
Jetzt musste Rosalie lachen und griff sich an die Stirn. Was war denn vorhin bloß mit ihr los gewesen? Wieso hatte sie wegen des bisschen Farbe so überreagiert? Sie fragte sich auch, ob denn das Wasser im Malbecher wirklich blutrot gewesen war; so ganz sicher war sie sich nicht mehr.
Dennoch warf sie einen Blick auf die Mülltonne, die, noch immer mit dem Sessel beschwert, regungslos auf den Holzdielen stand. Nichts in ihr versuchte, sich gegen den Deckel zu stemmen um Unheil über sie und ihre Lieben zu bringen. Alles war in bester Ordnung. Offensichtlich hatte sie sich von Marisha und ihrer verqueren Welt ein wenig beeinflussen lassen. Die Demenz schritt bei ihr zwar langsam, aber dennoch kontinuierlich voran und zeigte sich immer deutlicher. In absehbarer Zeit würde sie die alte Dame in ein Pflegeheim einweisen müssen. Sie würde nicht mehr allzu lang auf sich achten können. Schon jetzt vernachlässigte sie die Körperpflege sowie den Haushalt. Das Hungergefühl war nicht mehr ausreichend vorhanden und die Gefahr, dass sie etwas am heißen Herd stehen ließ, stieg mit jedem Tag. Vom medizinischen Standpunkt her hätte sie längst eine Einweisung ausstellen müssen, aber sie mochte die alte Dame und sie gab auch ein wenig auf sie Acht. Auf eine gewisse Weise liebte sie die kleine Frau sogar ein wenig und ihr wurde warm ums Herz, wenn sie an ihr Lachen dachte.
Von diesen tröstlichen Gedanken beruhigt legte sie sich im Wohnzimmer auf die Couch, deckte sich mit der orangefarbenen Tagesdecke zu und schlief nach nur wenigen Sekunden ein.
Der Tag erwachte und mit ihm die Sonne. Rosalie streckte sich ausgiebig in den warmen Strahlen und warf einen neugierigen Blick auf den Strand. Der Sand war bereits wieder hell und verriet damit, dass er wieder trocken war. Wahrscheinlich hatte es zu regnen aufgehört, als sie eingeschlafen war; oder zumindest nur eine kurze Zeitspanne danach. Nun lag auch das Meer mit seiner glatten Oberfläche wieder ruhig vor ihr und sah überhaupt nicht mehr bedrohlich aus; kein Vergleich zur vergangenen Nacht. Noch etwas müde aber doch schon voll Tatendrang stand sie auf und sah auf die Uhr. In einer Stunde würde sie in der Praxis sein müssen, also hatte sie noch ausreichend Zeit um zu duschen und in aller Ruhe einen Kaffee zu trinken.
Während sie versuchte, in ihre Hausschuhe zu schlüpfen und sich gleichzeitig den Bademantel anzuziehen, schüttelte sie leicht den Kopf. Die Mülltonne mit dem Stuhl auf dem Deckel war in ihr Blickfeld gewandert und sie musste lachen, weil sie noch vor ein paar Stunden so töricht war zu glauben, dass etwas abgrundtief Böses ihrer roten Malfarbe entwichen war. Sie war sicher, dass sie die Angst, die Marisha verspürt hatte, ungefiltert übernommen hatte. Das war alles. Es gab nichts Böses und niemanden, den man wegjagen musste oder sollte. Sich von einer dementen, alten Frau, die zeitweise in einer ganz anderen Welt lebte, ins Bockshorn jagen zu lassen, war mehr als töricht. Deshalb beschloss sie, niemandem von dem Vorfall zu erzählen; auch nicht Taylor, der stets ein offenes Ohr für sie hatte und es niemals wagen würde, sie auszulachen oder gar zu verspotten. Sie schämte sich vor sich selbst und wollte mit ihrer Gruselgeschichte niemandem einen Schrecken einjagen.
Kurz vor acht Uhr stellte sie ihren Wagen vor der Praxis ab und konnte bereits elf Patienten im Warteraum begrüßen. Sie war froh, viel zu tun zu haben, um von ihrer Blutgeschichte abgelenkt zu sein aber gleichzeitig war sie auch ein wenig demotiviert, weil sie schon vorab wusste, von welchen Beschwerden die Patienten erzählen würden. Es waren immer dieselben und im Prinzip hätte sie bei rund der Hälfte der Leute die Diagnose ‚Einsamkeit’ stellen müssen. Sie nahm sich vor, einen Umzug in die Stadt mit Taylor am Wochenende ausführlich zu diskutieren.
Mit einem Lächeln empfing sie jeden einzelnen Patienten und versuchte, zumeist auf psychologischem Weg, zu helfen. Während sie sich mit Mrs. Blackwood über ihren schlimmen Rücken unterhielt, riss die Sprechstundenhilfe die Tür auf und schnatterte so aufgeregt, dass sich ihre Stimme überschlug: „Benny ist in den Graben gefahren, Benny Alister, sie wissen schon, der Junge von Fred Alister. Die Rettung ist schon verständigt, aber sie braucht noch eine Weile. Sie müssen ihm helfen! Schnell!“
Rosalie entschuldigte sich rasch bei Mrs. Blackwood, die mit grimmigen Gesichtszügen ziemlich ungehalten auf die Unterbrechung ihrer Leidensgeschichte reagierte, packte ihre Notfalltasche und ließ sich noch rasch den Weg zur Unglücksstelle beschreiben. Zwei Sekunden später parkte sie verkehrswidrig aus und jagte die Straße entlang in Richtung Fluss, wo Benny hoffentlich nicht allzu schwer verletzt auf ihre Hilfe wartete.
Noch während sie mit Bleifuß in Richtung Unfallstelle jagte, konnte sie schon von weitem eine dünne, dunkelgraue Rauchsäule, die in den Himmel steigen sehen. Wie ein überdimensionaler Finger zeigte er ihr den Weg zur Unfallstelle punktgenau an. Die Szene wirkte direkt grotesk und Rosalie schüttelte entschlossen den Kopf. Sie musste hier weg, sonst würde sie über kurz oder lang den Verstand verlieren.
Als sie Sichtkontakt zu ihm aufnehmen konnte sah sie Benny am Straßenrand sitzen und ein weißes Taschentuch auf eine Rissquetschwunde an seiner Stirn drücken. Rosalie kniete sich neben ihn und sah sich die Wunde an. Sie war zwar lang, aber nicht besonders tief. Sie würde eine Narbe abgeben, aber mehr nicht. Der rechte Unterarm war eindeutig gebrochen und beide Lippen aufgeplatzt. Er war offensichtlich direkt mit dem Gesicht auf das Lenkrad gekracht. Rosalie fragte sich stumm, weshalb sich der Airbag nicht entfaltet hatte, aber das zu eruieren war sicher nicht ihre Aufgabe. Noch dazu war diese Frage im Moment völlig nebensächlich. Benny musste ins Krankenhaus und vorher wollte sie noch rasch seine offenen Wunden reinigen, desinfizieren und verbinden. Den gebrochenen Unterarm fixierte sie in einer harten Schiene und diese an seinem Oberkörper. Dann rief sie die Rettungsstelle an und musste erfahren, dass der Krankenwagen noch rund eine Stunde brauchen würde, um Benny abzuholen.
„Danke, stornieren Sie den Transport, ich bringe ihn selbst ins Krankenhaus.“ Mit diesen Worten legte sie auf, half Benny auf die Beine und hievte ihn vorsichtig in ihren nicht allzu großen Wagen. Der junge Mann stöhnte und sah die Ärztin etwas vorwurfsvoll an. „Wenn du bequem reisen willst, kann ich nur Don anrufen, der dich mit dem Traktor ins Krankenhaus bringen kann. Er hat auf seinem großen Anhänger Stroh geladen, dort hast du es bequemer als hier.“
Sie sah ihn lächelnd an und ihr Patient prustete los, verzog aber sofort das Gesicht; die aufgeplatzten Lippen ließen ein Lachen nicht zu. Instinktiv griff er sich an die Lippe und zuckte sofort zurück. Er sollte besser die Ärztin arbeiten lassen und selbst nichts tun.
Die Ersthelfer hatte Rosalie sofort dankend weggeschickt, weil sie deren geistreiche Kommentare nicht gebrauchen konnte. Sie wusste durchaus, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Nicht wenige Menschen glauben, Notfallmediziner zu sein, wenn sie einen sechsstündigen Kurs in Erste Hilfe absolviert hatten.
Nachdem sie ihren Patienten im Auto hatte, drehte sie um und fuhr ins Dorf zurück. Sie überlegte, ob sie ihn überhaupt ins Krankenhaus fahren müsste. Mit dem Röntgen des ansässigen Tierarztes würde sie sich die Fraktur des Unterarmknochens ansehen können und die Wunde an der Stirn würde sie ganz einfach selbst nähen. Nein, dafür musste er nicht extra ins Krankenhaus fahren, beschloss sie kurzerhand. Benny war außerdem ein bodenständiger junger Mann, dem man eine solche Behandlung durchaus zumuten konnte. Sie kannte ihre Patienten seit vielen Jahren und wusste, wie sie mit ihnen umgehen musste oder konnte. Als er sich neben ihr regte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein im Wagen saß. Sie war völlig in Gedanken versunken gewesen und hatte auch nicht sonderlich auf den Verkehr geachtet. Mit dem Anflug eines Schuldgefühls achtete sie sofort wieder auf die Straße und schenkte auch ihrem Patienten Beachtung.
„Wie ist denn das ganze passiert?“, fragte Rosalie ihren Beifahrer und sah ihn kurz von der Seite an.
Benny atmete lange aus und wand sich ein wenig, eher zu sprechen begann: „Ich bin ganz normal gefahren, so wie immer. Es war auch nicht viel Verkehr und ich habe den Lastwagen gesehen und da wurde mir plötzlich ganz komisch. Als ob jemand ein riesiges Loch in meinen Bauch geschossen hätte. Ich fühlte mich von einem Moment auf den anderen total leer und hatte ….“ Seine Stimme war immer zittriger geworden und versagte an dieser Stelle völlig ihren Dienst. Dicke Tränen rannen über sein mit Blut verkrustetes Gesicht; klarer Schleim kroch langsam aus seinem rechten Nasenloch und bahnte sich seinen Weg über die aufgerissenen Lippen nach unten.
Rosalie tastete nach einem Taschentuch, ohne die Augen von der Straße zu nehmen und reichte es dem Jungen. Er putzte sich vorsichtig die Nase und startete erneut einen Versuch, seine Geschichte zu erzählen. Doch seine Stimme versagte an der exakt selben Stelle wie schon zuvor.
„Hast du schon jemanden wegen deines Wagens angerufen? Holt ihn Harry gleich in seine Werkstatt?“, versuchte Rosalie die Situation zu entschärfen und ihm Zeit zu geben. So wichtig war der Unfallhergang nun auch wieder nicht. Sie war froh, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war.
Als sie vor der Tierarztpraxis ankamen, saß Mike, der Tierarzt, vor der Tür und ließ sich eine Zigarette schmecken.
„Hey Mike!“, begrüßte Rosalie den älteren Mann und ging zur Beifahrertür. „Kann ich kurz dein Röntgengerät benutzen? Benny hat sich den Arm gebrochen und ich möchte ihn nicht unbedingt ins Krankenhaus schicken.“
Mike Golding schirmte seine Augen vor der Sonne ab, inhalierte den Rauch und nickte wortlos. Dann schloss er die Augen und lehnte sich wieder an die warme Mauer. Rosalie kannte sich in seiner Praxis aus und sie würde ihm das Geld für das Röntgenbild auf seinem Schreibtisch hinterlassen. Er vertraute ihr blind und ließ sich deshalb nicht von seiner Mittagspause abhalten; sie war ihm sogar noch heiliger als sein Sonntagsschlaf, über den er nichts kommen ließ.
Rosalie erklärte Benny, was er zu tun hatte, schoss zwei Bilder und sah sie sich gleich am Computer an. Ihre Diagnose am Unfallort war genau richtig gewesen; die Elle sowie die Speiche waren gebrochen, aber sie waren noch in der anatomisch korrekten Position. Nicht der kleinste Splitter befand sich in den Weichteilen. „Du hast Glück gehabt, Benny. So weit ist alles in Ordnung. Ich lege dir einen Gipsverband für sechs Wochen an, danach bist du wieder wie neu.“
Sie lächelte und nahm zwei Gipsbinden aus einer Schachtel. Benny hingegen starrte ins Leere und sie hatte das Gefühl, als hätten ihn ihre Worte nicht erreicht.
„Benny? Was ist los? Hast du mich verstanden?“, fragte sie und befürchtete, dass er eine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Doch er reagierte sofort.
„Ja, klar. Der Arm ist gebrochen, Gips für sechs Wochen.“
„Du bist ja ein richtiger Poet!“, rief sie aus, zog sich einen Hocker unters Gesäß und legte ihm die erste Gipsbinde auf den Unterarm. „Aber jetzt sag mir doch, was mit dir los ist. Was ist bei dem Unfall passiert? Oder vor dem Unfall.“
Benny sah betreten zu Boden. „Ich wollte… na ja, eigentlich wollte ich nicht, irgendwie musste ich… jedenfalls war da dieses Loch, diese plötzliche Leere in meinem Bauch und da wollte ich gegen den Lastwagen fahren. Eigentlich nicht absichtlich, aber dann doch wieder. Ich weiß auch nicht.“ Er sank in sich zusammen und ließ kraftlos den Kopf auf die Brust fallen.
Die Ärztin hielt inmitten ihrer Arbeit inne und sah ihren Patienten irritiert an.
„Du wolltest Selbstmord begehen, indem du mit deinem Wagen in einen LKW rast?“
Benny liefen die Tränen über die Wangen. „Es war ja nicht so, dass ich es geplant habe und ich will auch gar nicht sterben! Das Leben ist schön und ich weiß nicht, was da draußen los war. Halten Sie mich jetzt bitte nicht für verrückt, aber am besten kann ich es beschreiben: die plötzlich auftretende Leere in mir hat mich dazu veranlasst, das Lenkrad nach links zu ziehen. Doch ganz knapp vor dem Zusammenstoß hatte ich mich wieder unter Kontrolle und bin noch mehr nach links gefahren, weil der Lastwagen auf meine, also die rechte Fahrspur ausweichen wollte. So haben wir gemeinsam den Unfall verhindert. Meinen Sie, ich bin psychisch krank? Falle ich vielleicht gar schon unter die Rubrik ‚Reif für die Psychiatrie’?“
Rosalie wünschte, sie könnte ihm mit einem Lachen bestätigen, dass er völlig falsch lag, doch ihr keimte der Verdacht, dass mit seiner Psyche tatsächlich etwas nicht in Ordnung ist. Dennoch wollte sie ihn nicht beunruhigen.
„Ist so etwas schön öfter vorgekommen? Ich meine eine solche Leere oder Suizidgedanken? Fühlst du dich manchmal traurig oder so schwer, dass du morgens nicht aufstehen willst?“ Sie formulierte ihre Fragen bewusst weitläufig, denn ihr ist an ihm noch nie etwas aufgefallen, das sie als pathologisch eingestuft hätte.
„Nein, so gesehen nicht. Natürlich war ich traurig, als mein Vogel gestorben ist und wer steht morgens schon gerne auf? Aber nein, das ist so wie bei all den anderen Jungs in meinem Alter auch. Oder auch bei fast allen anderen Menschen, nehme ich an.“
Rosalie nahm ihre Arbeit am Gipsverband wieder auf und strich ihn nachdenklich glatt. Sie hatte nicht den Eindruck, als wäre er wirklich psychisch krank und sie wollte ihn auch nicht beunruhigen. Dennoch nahm sie sich vor, ihn ein bisschen im Auge zu behalten.
„Ich nähe noch rasch deine Platzwunde an der Stirn und dann bringe ich dich nach Hause. Du ruhst dich zwei Tage aus und dann kommst du zu mir zur Kontrolle. Ich würde diese Leere nicht überbewerten, aber sei achtsam. Wenn du sie wieder verspüren solltest, wenn du mit dem Wagen unterwegs bist, bleib sofort stehen und zieh den Zündschlüssel ab. Wenn du auf der Straße gehst, setz dich sofort auf den Boden und klammere dich an einer Dachrinne oder an einem Fahrradständer fest. Du weißt, was ich meine?“
Benny nickte erleichtert. „Danke, das werde ich. Und ich werde dann sofort zu Ihnen kommen, damit wir darüber reden können.“
Rosalie lächelte. Diese Landeier, die ihr blind vertrauten, werden ihr in der anonymen Stadt fehlen; ganz bestimmt.
„Aber auf den Jahrmarkt darf ich morgen am Abend schon gehen, oder? Sie bauen schon auf der großen Festwiese die Zelte und die Karusselle auf. Ich habe meinem Mädchen nämlich versprochen, sie morgen groß auszuführen.“
„Ach so? Ein Jahrmarkt? Aber natürlich, da spricht nichts dagegen. Wie lange bleiben denn die Schausteller im Ort? Ich habe gar keine Plakate gesehen.“
„Sie haben scheinbar keine aufgehängt, sie waren heute am Morgen einfach da. Aber sie haben ein großes Transparent aufgestellt, auf dem steht ‚pro Fahrt nur dreißig Cent! Bei allen anderen Jahrmärkten in der Umgebung zahlt man das Siebenfache und mehr. Um dreißig Cent darf man bei den anderen Jahrmärkten nicht mal bei den Fahrten zusehen. Und ich bin mir sicher, dass sie das ganze Wochenende über hierbleiben. All die Karusselle und Buden aufzubauen rentiert sich für einen Tag und eine halbe Nacht ganz bestimmt nicht. “
Rosalie lachte und legte ihm die Hand auf den unverletzten Unterarm. „Da hast du allerdings Recht. Die Fahrten sind heutzutage überall schweineteuer, das muss man ausnutzen. Ich werde auch hingehen, aber fühle dich nicht von mir kontrolliert, hörst du? Aber jetzt muss ich deine Wunde nähen, sonst heilt sie vielleicht noch von selbst zusammen und ich kann dir kein Honorar dafür ausstellen“, scherzte sie und holte die Vereisungsspritze, eine chirurgische Pinzette und den Nadelhalter mit der goldenen Spitze.
Nachdem sie die den Verband auf die Wunde geklebt, sich bei Mike bedankt und Benny nach Hause gebracht hatte, fuhr sie wieder in ihre Praxis und hielt noch tapfer weitere zwei Stunden mit ihren Stammpatienten durch. Dann fuhr sie nach Hause, legte ihre Kleidung inklusive BH und Slip ab, schlüpfte in ein leichtes Sommerkleid und ging barfuß am Strand spazieren. Ihr Kopf war überlastet und sie fühlte sich etwas erschöpft. Dagegen half nichts besser als ein kurzer Spaziergang am Stand. Schon die Wärme des Sandes unter auf ihren Füßen empfand sie als entspannend; von den sanften Tönen des leisen Merresrauschens ganz zu schweigen.
Doch an diesem Tag wollte sich die Entspannung nicht so recht einstellen. In ihrem Magen hatte sich eine schwer zu definierende Nervosität eingenistet, die sich nicht vertreiben ließ. Sie blieb stehen und ließ mit der Erinnerung an die überaus eigenartige Stimmung der letzten Nacht ihren Blick über das Meer schweifen und konzentrierte sich dabei nur auf ihre Gefühle. Sie lauschte in ihr Inneres, ob sich da beim Anblick des Wassers oder der Bäume noch etwas anderes in ihr regte, doch da war nichts. Sie fröstelte nicht und sie hatte auch nicht den Eindruck, als wäre die See irgendwie anders als sonst. Nichts fühlte sich eigenartig, mystisch oder abartig an. Dennoch war das eigenartige Gefühl der letzten Nacht noch deutlich in ihr spürbar. Sie fühlte sich nicht ganz wohl, wollte aber wieder unbelastet sein. Deshalb blickte sie sich rasch um, ob jemand in der Nähe war. Wie bereits vermutet war sie auf dem weitläufigen Sandstrand allein. Hierher verirrte sich so gut wie niemand. Wie schon so oft streifte sie ihr leichtes Kleid über den Kopf und legte sich nackt ins seichte Wasser. Die wenigen Wellen, die rhythmisch ans Ufer schwappten, benetzten ihren Körper hinauf bis an die weichen Brüste. Sie liebte diese zarten Berührungen des Wassers, denn sie waren sinnlich, erotisch und naturbelassen zugleich. Das leicht kühlende Element schwappte rhythmisch über ihre Haut und hinterließ ein leichtes Kribbeln; gar so, als würde es sich jedes Mal verabschieden, wenn es sich wieder zurückzog. Rosalie schloss die Augen und ließ ihre Gedanken los. Sie hörte nur noch das leise Wispern der salzigen Meerestropfen und den leisen Wind, der eine beruhigende Melodie in ihr Ohr sang.
Sie blieb lange liegen, obwohl sie sich immer wieder halbherzig zum Gehen ermahnte. Viel zu sehr genoss sie das Zusammenspiel von Wasser und Sonne; die warmen Strahlen heizten ihre Haut ein wenig auf und die sanften Wellen kühlten sie wieder ab.
Sie erlaubte ihren Gedanken, sich in die letzte Windung ihres Gehirns zurück zu ziehen und schaltete den Verstand ab. Sie ließ sich nur noch von den Elementen tragen und vergaß dabei die Zeit und alles, das sie umgab.
Als jedoch ein Schatten die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht raubte, öffnete sie die Augen und sah Taylor neben sich stehen. Ohne sich aufzurichten schirmte sie ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und lächelte. Doch noch ehe auch nur ein einziges Wort zwischen ihren Lippen hervorkam, hatte er sich auf sie gelegt und leidenschaftlich geküsst. Aus ihren Küssen entbrannte lodernde Leidenschaften, die sie ohne jede Scham in den kühlenden Wellen des Meeres genossen.
Nachdem sie sich den Sand vom Körper und aus den Haaren geduscht hatten, saßen sie bei einem frühen Abendessen auf der Veranda. Taylor hatte unbewusst seiner Frau die Schreckgespenster der Nacht durch seine Leidenschaft vertrieben und sie fühlte sich wieder frei und gestärkt. Während sie die Paella aufteilte, fragte sie ihn mehr beiläufig als direkt, wie denn sein Tag an der Uni gelaufen war.
„Im Moment sind meine Studenten ganz in Ordnung. Sie sind noch wissbegierig, aufmerksam, pünktlich und interessiert. Frag mich in zwei Monaten wieder, dann werde ich ganz anders von der Rasselbande berichten!“
Rosalie lächelte, denn sie wusste, wie sehr er seine Studenten und das Unterrichten liebte. Er forderte die Studenten, gab ihnen aber niemals das Gefühl, dämlich zu sein; und das wussten sie zu schätzen. Zumindest der Großteil. Für ihn hatte es niemals einen anderen Berufswunsch gegeben, als Geschichte an einer Universität zu unterrichten. Selbst wenn er sich hin und wieder über seine Studenten und deren Unfähigkeit lauthals beschwerte, liebte er seinen Job über alles. Besonders hatte es ihm das mystische Mittelalter, in dem Hexen verbrannt und Minnesänger umschwärmt wurden, angetan. Als Ritter für ein gar feines Burgfräulein die Schwerter zogen und die Lehnsherren den Untertanen das letzte Hemd auszogen, wenn die Ernte nicht genug für die Steuern abwarf. Darin konnte er sich stundenlang verlieren und dementsprechend kompetent war er auch. Während der letzten drei Jahre wurde er sogar immer wieder von anderen Universitäten eingeladen, an deren wissenschaftlichen Forschungen teilzunehmen und seine Expertenmeinung wurde vielerorts geschätzt und gewürdigt. Nicht selten wurde er auch zu feierlichen Anlässen in altehrwürdige Universitäten eingeladen und genoss dort stets die Aufmerksamkeit, die man ihm seitens des Professorenkollegiums schenkte; auch wenn er vergleichsweise noch sehr jung war.
Rosalie schätzte sich glücklich, einen so gebildeten und beliebten Mann an ihrer Seite zu haben. Sie liebte ihn während jeder einzelnen Sekunde ihres Lebens.
„Heute bin ich übrigens bei Don Henlins Feld vorbeigefahren“, platzte er plötzlich heraus und zerrte damit Rosalie aus ihren Gedanken.
„Den Geruch, der durchs Autofenster ins Innere gedrungen war, kann man nur mehr als widerlich, echt atemberaubend bezeichnen. Es hat bestialisch nach verfaultem Grünzeug gestunken und Don stand am Rand des Ackers und starrte in Richtung Wald, aber irgendwie ganz eigenartig. Also bin ich ausgestiegen und habe zuerst den verfaulten Kohl gesehen. Alle Köpfe waren völlig schwarz und lösten sich bereits zu einer dickflüssigen Masse auf.
Als ich Don angesprochen habe, reagierte er gar nicht. Erst als ich ihn an den Schultern gepackt und angeschrieen habe, kam er in unsere Welt zurück. Ich hatte den Eindruck, als wäre er völlig abwesend gewesen. Als er dann Worte fand erzählte er mir, dass noch gestern die Pflanzen hellgrün waren, der Boden saftig und die Blätter knackten noch so richtig gesund und voll Leben. Und am nächsten Tag lagen sie tot und zermatscht am Boden und stanken vor sich hin. Ich habe ebenso wenig Ahnung, was mit den Kohlköpfen passiert ist wie er, aber es ist schon sehr eigenartig.“
Rosalie ließ ihre Gabel mit der Paella in der Luft schweben. „War es vielleicht der heftige Regen von letzter Nacht?“
Taylor schüttelte den Kopf. „Das war auch mein erster Gedanke, aber Don meinte, das wäre keinesfalls möglich. Dafür war der Regen nicht intensiv und lang andauernd genug. Es würde zumindest eine Woche durchgehend regnen müssen, um die Pflanzen derart zu zerstören. Seine komplette Ernte ist hinüber – und somit auch seine Existenz.“
Rosalie schluckte schwer. Sie stellte sich vor, dass sie und Taylor vor dem Nichts standen und fühlte sich dabei schlagartig elend. „Dann sollten wir ihn unterstützen, damit er das Jahr bis zur nächsten Ernte übersteht.“
Taylor nickte und lächelte. Sie sah ihm an, dass er in seinem Kopf bereits ein Aktionsplan schmiedete, der dann auch realisierbar und vor allem brauchbar war. „Du bist die Beste!“, hauchte er und küsste sie auf ihr noch feuchtes Haar.
„Ich hatte heute auch ein eigenartiges Erlebnis“, unterbrach sie seinen Gedankenstrom, ohne es zu merken. Sie erzählte ihm von Benny und seinen Suizidabsichten, die er eigentlich gar gehabt hatte.
„Die beiden Vorfälle hören sich wirklich sehr eigenartig an. Noch dazu haben sie sich am gleichen Tag ereignet. Das Schicksal schlägt doch zeitweise richtige Kapriolen.“
Um diesem doch ziemlich deprimierenden Thema zu entkommen erzählte Rosalie vom Jahrmarkt, bei dem eine Fahrt angeblich nur dreißig Cent kosten sollte.
„Da gehen wir auf alle Fälle hin! Gleich morgen am Abend. Auf eine Fahrt mit der Geisterbahn warte ich ohnehin schon viel zu lange! Dich mit deiner weißen Peelingmaske zu sehen reicht auf Dauer nicht aus“, witzelte er und hob sofort die Unterarme in Abwehrstellung vor sein Gesicht. Rosalie sprang gespielt wütend auf und schlug mit ihrem Sitzpolster auf ihren Ehemann ein, der sie allerdings an der Taille packte, über seine Knie legte und ihr mit leichten Schlägen den Hintern versohlte. Sie lachten, rangen, küssten einander und gaben sich erneut der Leidenschaft hin, bis es vom Meer her zu dunkeln begann.
Schon am frühen Morgen, kurz bevor die Zeiger sich auf dreiviertel sechs Uhr, ausstreckten, als würden sie den Tag mit einer komplizierten Yoga-Übung begrüßen, läutete Rosalies Handy. Schlaftrunken tastete sie danach und stieß das Wasserglas auf dem Nachttisch um, das zu ihrem Glück, leer war. Die tote Fliege, die am Boden des Glases gelegen hatte, lag nun auf dem weichen Holzboden neben den blauen Pantoffeln.
Als Rosalie das läutende Ungetüm gefunden hatte, war sie zumindest so weit wach, dass sie den Anruf entgegennehmen und nicht nur die leuchtenden Ziffern anstarren konnte.
„Frau Doktor, hier ist Frieda Elms. Meine Mutter atmet nicht mehr und sie ist ganz grau und kalt und…. Bitte kommen Sie schnell!“
Rosalie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hoffte, damit auch den Schlaf mitzunehmen. „Frieda“, sagte sie in beruhigendem Ton. „Ihre Mutter hat vermutlich ihr Leiden hinter sich gebracht und ist nun an einem besseren Ort. Wir haben gestern darüber gesprochen, dass es nicht mehr lange dauern wird. Wir können
Dankbar sein, dass sie nicht mehr lange leiden musste. Sie hat ihr Leben gelebt und etwas ganz Wunderbares hinterlassen: Sie, ihre Tochter und zwei hinreißende Enkelkinder. Ich denke, sie ist in Frieden mit sich und der Welt gegangen.“
Eine Weile hörte es sich so an, als wäre nicht nur Friedas Mutter tot, sondern auch die Telefonleitung. Doch noch ehe Rosalie nachfragen konnte, ob da noch jemand sei, seufzte Frieda. „Sie haben recht, vielen Dank. Ich muss in Liebe loslassen.“
„Das ist gut. Bedanken Sie sich noch bei ihr und geben ihr ihren Seelenfrieden mit auf den Weg. Ich komme in einer Stunde vorbei um mich von ihr zu verabschieden und um die Formalitäten zu erledigen. Sie ruht jetzt in Frieden; lassen Sie sie gehen.“
Damit legte sie auf und warf einen Blick auf Taylor, der sie, auf seinen rechten Ellenbogen gestützt, liebevoll ansah.
„Womit habe ich nur eine so warmherzige Frau, die um sechs Uhr morgens diese mitfühlenden Worte findet, nur verdient?“
Rosalie lächelte. „Das hast du altes Ekel gar nicht, aber mich hat der Weihnachtsmann zu dir gebracht und deshalb bin ich verdammt, auf ewig bei dir zu bleiben!“
Taylor warf sich auf sie, doch sie wich geschickt aus und war auch schon aus dem Bett. „So gern ich jetzt mit dir raufen würde, aber ich kann nicht“, beteuerte sie. „Mach mir lieber einen starken Tee mit viel Milch und Liebe!“, flötete sie und ließ ihm als Dank einen Blick auf ihr nacktes Hinterteil gewähren.
Bei den Elms herrschte tiefe Trauer, die schon am renovierungsbedürftigen Gartenzaun deutlich zu fühlen war. Als wäre das ganze Haus in eine dicke, schwarze Wolke aus Trauer, Tränen und Abschied gehüllt, die ihren Inhalt in voller Intensität auf die Bewohner vergoss. Das Innere des Hauses empfand Rosalie als so düster und beklemmend, als würde sie der Verstorbenen einen Besuch in ihrem Grab abstatten. Man kann auch übertreiben, dachte sie und überlegte, ob die alte Dame vierundneunzig oder sechsundneunzig Jahre alt geworden war. Doch noch ehe sie zu einem Ergebnis kam, hing Frieda an ihr und weinte ihre verbitterten Tränen auf die Schulter. „Hätte sie nicht noch ein weiteres Weihnachtsfest mit uns feiern können?“, fragte sie verzweifelt und schluchzte laut auf.
„Es ist immer viel zu früh, wenn die Eltern von uns gehen; egal, wie alt sie geworden sind. Es tut mir sehr leid, Frieda, sie war ein richtig guter Mensch. Wir alle werden sie sehr vermissen. Sie hinterlässt aber nicht nur eine Lücke, sondern auch ihr Licht, das sie zu Lebzeiten verbreitet hat. Erfreuen wir uns daran und denken wir oft in Liebe an sie.“
Mit diesen Worten löste sie sich von der Trauernden und bahnte sich ihren Weg durch die restlichen Familienmitglieder. Jedem von ihnen schenkte sie ihre stille Anteilnahme.
Die alte Dame lag friedlich auf dem Rücken und war eindeutig tot. Dennoch überprüfte sie die Pupillenreaktion und schrieb ein EKG, das natürlich nur eine stabile Nulllinie zeigte. Die Totenstarre hatte auch schon eingesetzt und die Totenflecken waren eindeutig am Rücken und Gesäß sichtbar. Jetzt war sie nur noch ein Fall für den Bestatter, ihre Arbeit war nach dem Ausfüllen des Totenscheins erledigt. Sie dachte an die wartenden Patienten, die sich in ihrer Praxis vermutlich schon türmten und verabschiedete sich relativ rasch von den Trauernden, die immer mehr zu werden schienen. Sie hatte das Gefühl, als würde das Haus aus allen Nähten platzen, würde sie noch eine halbe Stunde länger bleiben. Offensichtlich hatte Frieda die ganze Gemeinde von dem tragischen Vorfall informiert oder informieren lassen und sie gleichzeitig eingeladen, von ihrer Mutter Abschied zu nehmen. Ganz gleichgültig, ob sie die Frau näher gekannt hatten oder nicht. Nach alter Sitte beließen sie die Verstorbene drei ganze Tage in ihrem Bett, damit jeder die Möglichkeit fand, sich von ihr zu verabschieden. Selbst für jene, die von sehr weit wegkommen wollten, bot diese Frist genügend Zeit. Rosalie bezweifelte allerdings, dass sie noch Freunde hatte, denn in ihrem Alter waren die meisten Freunde vermutlich bereits verstorben. Aber das war nun mal der Lauf der Welt. Einer kommt und einer geht. Am Anfang ist Freude, am Ende ist Trauer. Wir sollten uns langsam daran gewöhnt haben, dachte sie und ergatterte gerade noch den letzten Parkplatz vor ihrer Ordination.
Am Nachmittag brachte sie noch rasch zwei Hausbesuche im Dorf hinter sich und fiel dann erschöpft von der Arbeitswoche auf die Couch. Taylor kam zwei Stunden später von der Universität nach Hause und hatte frischen Fisch mitgebracht, den sie gleich würzten und in die Pfanne legten. Rosalie hatte zwar Appetit auf etwas Deftigeres, aber sie begnügte sich mit dem Kartoffelsalat aus dem großen Plastikbecher, den sie vor einigen Tagen aus dem Supermarkt mitgebracht hatte. Am Jahrmarkt würde sie sich ein heißes, fettiges Langos mit viel frischem Knoblauch gönnen und ihren Hunger auf Deftiges stillen. Darauf freute sie sich und ließ sich den Fisch trotzdem schmecken.
Und wieder war es kurz vor sechs Uhr morgens als das Handy der Ärztin läutete. Noch dazu an einem dunklen Samstag, an dem sie nur zu gerne ausgeschlafen hätte. Doch ihr Pflichtbewusstsein ließ sie nach dem Krachmacher auf ihrem Nachttisch greifen. „Baxter“, meldete sich knapp, denn sie war noch mehr im Land der Träume als in der Realität.
„Frau Doktor!“, kreischte eine beinahe hysterisch klingende Stimme ins Telefon. „Sie müssen sofort kommen! Meine Mutter…. Sie verlangt ihr Frühstück! O mein Gott, Sie haben sie für tot erklärt, dabei hat sie mächtig Hunger und sieht fitter als mit achtzig aus. Was haben Sie nur mit ihr gemacht? Kommen Sie schnell, ich muss Ihnen danken! Sie haben mir meine geliebte Mum zurückgebracht!“
Rosalie erkannte Frieda Elms Stimme und schüttelte energisch den Kopf, um klare Gedanken fassen zu können.
Taylor war wach und sah seine Frau fragend an. „Was ist denn mit der hysterischen Elms los? Ihre Mutter lebt?“
Rosalie zuckte mit den Achseln. „Blödsinn! Ich habe sie gestern untersucht, sie war eindeutig tot. Eine Nulllinie am EKG, die Pupillenreflexe waren weg und die Totenflecken sowie die Totenstarre waren eindeutig sichtbar. Sie lag mit offenem Mund in ihrem Bett als wartete sie darauf, dass man ihr eine Münze auf die ausgetrocknete Zunge legt, um den Fährmann auf dem Fluss Styx zu bezahlen.“
Taylor schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten wir der alten Dame rasch gemeinsam einen Besuch abstatten. Und auf dem Rückweg plündern wir die Bäckerei. Ich habe Lust auf Süßes, und wenn die Zimtschnecke nicht ausreicht, muss ich dich danach auch noch vernaschen“, witzelte er und schwang die Beine aus dem Bett.
Normalerweise nahm sie ihn nicht zu ihren Patienten mit, aber diese Situation war eine Ausnahme. Diese Frau war mit Sicherheit tot gewesen, als sie sie untersucht hatte, daran gab es keinerlei Zweifel. Was nun geschehen war, konnte sie sich nicht erklären. Deshalb war sie auch froh, dass von Taylor dieser Vorschlag gekommen war. Er gab ihr Halt und Selbstvertrauen, das sie jetzt ganz dringend brauchte. Denn obwohl sie sich sicher war, dass die alte Dame tatsächlich tot war, so krochen dennoch Zweifel an ihrer Kompetenz in ihr hoch, gegen die sie sich nicht wehren konnte.
Rosalie lenkte ihren Wagen langsam durch die Straßen, denn sie hatte es nicht allzu eilig, die lebende Frau, die sie für tot erklärt hatte, zu sehen. Allerdings konnte sie es noch immer nicht glauben und brauchte die Bestätigung, indem sie sie ansah und mit ihre redete.
Sie betrat auch ganz vorsichtig das etwas muffig riechende Zimmer und fand die alte Dame tatsächlich fröhlich kauend und mit rosa Bäckchen in ihrem Bett vor. Rosalie verschlug es die Sprache und sie musste sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer setzen. Er ächzte und neigte sich ein wenig zur Seite, sodass sie Angst hatte, er würde unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. „Wie geht es Ihnen?“, fragte sie beinahe tonlos, doch die Frau verstand sie sehr gut. Aus munteren Augen sah sie ihren Besuch an und lächelte. „Danke! Ich fühle mich wie neu geboren, aber Sie! Sie sehen ziemlich mitgenommen aus. Vielleicht sollten Sie ein paar Tage ausspannen.“ Dann biss sie herzhaft von ihrem Schinken-Käse-Bagel mit reichlich Mayonnaise ab, kaute ihn kräftig, schluckte, trank Tee nach und rülpste herzhaft, ohne sich dafür zu entschuldigen oder schämen.
Rosalie stand mit zittrigen Knien auf, rang sich ein Lächeln ab und ließ sich von Taylor zum Wagen führen; auf das Messen ihres Pulses verzichtete sie irritiert. Er bugsierte sie gleich auf den Beifahrersitz, denn er wusste, dass sie im Moment nicht fahrtüchtig war.
In dem Haus hatte eine widerlich fröhliche Stimmung geherrscht, die angesichts der Wiederauferstehung der Mutter, Großmutter und Urgroßmutter nicht nachvollziehbar war. Wie konnte das sein? War sie scheintot gewesen? Oder waren da dunkle Mächte am Werk gewesen? Jedenfalls vertraute er dem Urteil seiner Frau. Die alte Dame war mit Sicherheit tot gewesen.
Tief in Gedanken versunken fuhr er an der Dorfbäckerei vorbei, denn er verspürte nun keinen Hunger mehr. Der Appetit auf Zimtschnecken war ihm gerade gehörig vergangen. Und auch auf seine Frau, was noch viel seltener vorkam. Gedankenversunken fuhr er nun ebenso langsam wie Rosalie auf dem Weg zu den Elms und musste den Rest seiner geringen Konzentration auf die Straße lenken, was ihm allerdings nur sehr schwer gelang. Ein sehr flaues Gefühl hatte sich wie ein Eispickel in seinem Inneren festgesetzt und ließ sich nicht mehr herausziehen. Im Wagen herrschte eine Art von Schockzustand; keiner von beiden sprach auch nur ein einziges Wort und die Luft war dick wie Gelee.
Zu Hause löste sich ihre Starre und sie diskutierten mehr als eine Stunde über das plötzliche Wiederkehren der Lebensgeister in der alten Dame. Doch es gab keine wissenschaftliche Erklärung dafür und an Wunder glaubten sie beide nicht.
„Auch wenn das jetzt verrückt klingt, aber ich habe langsam den Eindruck, als würden sich hier im Dorf seltsame Dinge abspielen, denen man auf den Grund gehen sollte. Denk doch nur an Don Henlins verfaultes Kohlfeld und an Benny, der sich umbringen wollte, aber es doch nicht wollte. Und dann die Tote, die nach vierundzwanzig Stunden wieder bei bester Gesundheit im Bett sitzt und rülpst, als wäre sie ein Holzfäller nach der Mittagspause. Das ist doch alles nicht mehr normal!“
Rosalie nippte an ihrem inzwischen lauwarm gewordenen Schwarztee und nickte stumm. „Wenn man es in Summe betrachtet, hast du absolut Recht. Es könnte aber auch reiner Zufall sein. Und wer glaubt schon an dunkle Mächte? Es muss eine rationale Erklärung für diese drei Vorfälle geben. Ein Mensch wird nicht mehr lebendig, nachdem sich Totenflecken auf seinem Rücken gesammelt und die Totenstarre eingesetzt hatte. Sie war tot! Sie war ganz eindeutig tot! Ich bin doch nicht verrückt.“
Taylor konnte ihre Verzweiflung regelrecht spüren und sprang auf, um sie in die Arme zu nehmen. Beinahe im gleichen Augenblick begann sie heftig zu schluchzen und zu weinen.
In diesem Moment wurde Taylors Neugierde endgültig geweckt. Er verspürte dieses altbekannte Verlangen in sich, wenn er bei Ausgrabungen auf weitreichende Erklärungen, die die Artefakte ihm stumm mitteilten, wartete. In seinem Inneren flammte ein Feuer auf, das sich in kürzester Zeit zu einer Feuersbrunst entwickeln und in einen Flächenbrand übergehen würde. Nun hatte ihn die Leidenschaft, bislang Unerklärliches und Unentdecktes zu erforschen, zu benennen und die Rätsel zu lösen mit eisernen Klauen gepackt. Von diesem Punkt weg gab es kein Zurück mehr, die Würfel waren gefallen.
Er ließ sie los, setzte sich wieder ihr gegenüber an den Tisch und faltete die Hände vor der Nase. „Fassen wir zusammen: Benny wird von irgendetwas getrieben, seinen Wagen gegen einen LKW zu steuern um sich selbst zu töten. Don Henlins Kohlfeld verfault von einem Tag auf den anderen und eine tote Frau wird nach genau vierundzwanzig Stunden wieder lebendig. Drei verschiedene Begebenheiten, die nichts miteinander zu tun haben außer, dass sie für unseren Verstand unerklärlich sind. Also muss es einen gemeinsamen Nenner geben, den wir suchen müssen.“
Rosalie sah ihn fragend an. „Müssen? Wir? Wieso wir? Eigentlich betrifft uns das ganze doch gar nicht, wir sind doch nur Randfiguren, die zufällig in die drei Geschehen involviert wurden. Wieso siehst du es als unsere Aufgabe an, das Mysterium dahinter zu erkunden?“ Taylor sah sie streng an. „Da geht etwas bombastisch Unerklärliches, ja direkt schon Mystisches vor sich und du willst dir die Gelegenheit entgehen lassen, es am Schwanz zu packen und in die Hölle zurück zu befördern? Ist das wirklich dein Ernst?“
Rosalie versuchte mit all ihrer Kraft, ein Lachen zu unterdrücken, doch schon nach nur wenigen Sekunden prustete sie laut und verlor sich in einem Lachkrampf. Ihr Mann war einfach genial! Er schaffte es immer wieder, sie in kürzester Zeit aus einem emotionalen Tief zu holen.
„Lass uns doch heute am Abend mal den Jahrmarkt genießen; ich mag nicht mehr über lebende Tote und verfaulte Kohlköpfe nachdenken. Ich will mich wieder einmal so richtig amüsieren. Und bei den Preisen, die sie angeblich verlangen, können wir völlig ungehemmt die Sau rauslassen.“
Am folgenden Abend war das ganze Dorf auf den Beinen. Sie alle wollten das mehr als großzügige Angebot des Jahrmarktes nutzen um sich hemmungslos zu amüsieren, ohne dabei an die Kosten denken zu müssen. Kaum ein Haus zeigte sich beleuchtet; nur die Schwachen und Kranken blieben zu Hause und malten sich vielleicht aus, wie sich eine Fahrt auf dem großen Kettenkarussell oder durch die Geisterbahn anfühlen mochte. Erinnerungen aus Jugendtagen stiegen in ihnen auf und ließen so manchen von ihnen wehmütig seufzen. Wohin ist nur die Zeit gekommen, fragte sich so mancher und schwelgte weiter in alten Erinnerungen während sich seine Einlage in der Hose langsam füllte und die dritten Zähne vor Erregung leise klapperten.
So mancher hatte das Glück und konnte den einen oder anderen Blick aus dem Fenster werfen und war von all den blinkenden Lichtern auf den Buden und Ständen fasziniert. Schon von weitem konnte man die bunten Lichter sehen, die die abendliche Dunkelheit in lebendiges Treiben verwandelte. Sie konnten mitunter das Knallen der Gewehre an den Schießbuden hören, an denen junge Männer ihre Mädchen beeindrucken wollten. Doch nur selten bekam eine von ihnen den großen Preis, der verlockend im Rampenlicht der Bude hing um kräftig zahlende Kundschaft anzulocken. Die Taktik der Schausteller änderte sich offenbar nie.
Rosalie und Taylor durchschritten eng umschlugen den hell beleuchteten Torbogen am Eingang und fühlten sich sofort von der Magie des Jahrmarkts in Besitz genommen. Alte Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend perlten wie die feinen Bläschen in einem Glas Champagner in ihnen auf und durchfluteten sie mit wohligen Empfindungen an ihre Kindheit und Jugend, nicht aber mit konkreten Erinnerungen an einen solchen Jahrmarktbesuch. Es war ein heimeliges Gefühl, das nach Sorglosigkeit und Heiterkeit schmeckte.
Rosalie hakte sich gut gelaunt bei Taylor unter und zerrte ihn zum Autodrom, den Anziehungspunkt für die jugendlichen Besucher. Gerade als sie ankamen, ertönte das typische Signal und die ersten Funken stoben eisblau aus den Antennen. Dann setzten sich die Autos in Bewegung und es wurde gelacht, gekreischt, gegeneinander gefahren, Lenkräder wurden hektisch gedreht und Gaspedale bis zum Anschlag durchgetreten. Die beinahe ohrenbetäubende Musik trug dazu bei, den Alltag zu vergessen und sich nur dem Amusement hinzugeben. Dass jede Fahrt pro Person wirklich nur dreißig Cent kostete, verleitete dazu, sich einem noch längeren und intensiveren Vergnügen hinzugeben. Geld spielte bei diesem Preis keine Rolle; für keinen einzigen von den zahlreichen Besuchern.
Doch Rosalie wollte sich vorerst alle Buden und Attraktionen des Jahrmarkts ansehen, ehe sie sich in eine Gondel, auf ein Karussellpferd oder in einen Wagen setzte. Doch Taylor zog sie einfach mit sich zur Geisterbahn, löste beinahe im Vorbeigehen zwei Tickets und bugsierte sie in den letzten Waggon des Zugs, der gerade durch ein mit scharfen Zähnen bewehrtes Maul in die Finsternis dahinter verschwand.
