Todesvoting - Karin Szivatz - E-Book

Todesvoting E-Book

Karin Szivatz

0,0

Beschreibung

Bell und Mike werden auf offener Straße in einen Lieferwagen gezerrt und entführt. Kurz darauf taucht ein livestream im Internet auf, in dem ein Mann sie beschuldigt, Verbrechen begangen zu haben, ohne dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen wurden. Er fordert deshalb die Internetuser auf, für ihre Freilassung, für ihre Folter oder für ihre Tötung zu voten. Kommissar Rodrigo Gonzales muss den Entführer schnellstens schnappen, doch selbst die besten Internetspezialisten seines Teams finden nicht die geringste Spur. Es wird ein emotionaler Wettlauf mit der Zeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Karin Szivatz

Todesvoting

Du entscheidest, ob sie freikommen, leiden oder sterben

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

Impressum neobooks

1

Todesvoting

Du entscheidest, ob sie freikommen, leiden oder sterben

Psychothriller

Impressum:

Copyright by EgoLiberaVerlag 2021

Einbandgestaltung Walt H. Johnson

Foto: privat

Jede Vervielfältigung des Textes sowie einzelner Textpassagen ist nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags zulässig.

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 11/2021

Egolibera.at

„Hi Bell, wo bleibst du denn schon wieder? Du machst mich noch wahnsinnig!“ Sie unternahm nicht einmal den Versuch, ihre Ungeduld zu verbergen. Sie war genervt und fand keinen Grund, es für sich zu behalten.

„Ich bin in zwei Minuten bei dir, schau mal aus dem Fenster und sei nicht immer so pingelig! Du hast aber manchmal schon einen Stock im Hintern, das ist total unlustig und nervig. Ich bin doch erst zwei Minuten zu spät“, raunzte Bell gehetzt und beschleunigte ihre Schritte noch ein wenig mehr.

Alexa lehnte sich mit ihrem Handy am Ohr zum Fenster hinaus und sah ihre Freundin auf den Wohnkomplex zuhasten. „Bis du hier oben bei mir bist sind es insgesamt gut und gern sechs Minuten und das sind um genau... Bell? Bell! O mein Gott, Bell!“

Sie starrte auf den Lieferwagen, der direkt neben ihrer Freundin gehalten hatten. Die seitliche Tür wurde nach hinten stoßen und jemand hatte sie brutal ins Innere gezogen. Zwei Sekunden später hatte sich der Wagen wieder in den Fließverkehr eingefädelt und hielt mit unauffälliger Geschwindigkeit auf die Autobahn zu.

Alexa entglitt das Telefon und beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren und wäre aus dem Fenster im dritten Stock gestürzt. Sie hatte sich zu weit nach vorn gebeugt um dem Lieferwagen nachzusehen. Wie von Sinnen schrie sie immer wieder den Namen ihrer Freundin und zwischendurch nach der Polizei. Ohnmächtig trommelte sie mit den Fäusten aufs Fensterbrett und stieß dabei einen Chilitopf um, der wie eine kleine Bombe auf dem Gehsteig unter ihr explodierte.

Als der Lieferwagen an der Ampel rechts abbog, schnappte sie ihr Handy, hastete in Hausschuhen die Treppen hinunter; immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Mit einem kräftigen Schwung war sie in ihrem Auto und schoss aus der Parklücke. Dass sie dabei einen hellroten Porsche rechts hinten touchierte, bemerkte sie nicht. Und selbst wenn sie es bemerkt hätte, wäre es nicht von Belang gewesen. Sie musste den Lieferwagen, in dem ihre Freundin wie ein Fisch in einer Dose gefangen gehalten wurde, erwischen. Während sie die Straße entlang jagte, versuchte sie, den Polizeinotruf zu wählen. Sie schielte immer wieder auf die Tastatur ihres Handys, dann sofort wieder auf die Straße, die sich ihr viel schmäler als üblich präsentierte. Sie tippte drei Zahlen ein, verwählte sich, legte auf, fluchte lautstark, trat noch mehr aufs Gas, hupte, beschimpfte wahllos die anderen Autofahrer und drückte erneut die drei Ziffern auf der Tastatur. Endlich hatte sie die richtige Nummer gewählt. Jetzt fehlte nur noch die Sprechtaste für die Verbindung.

„Polizeinotruf, was kann ich für Sie tun?“

„Meine Freundin Bell…. Sie wurde … entführt. In einem weißen Lieferwagen. Schicken Sie ein paar Hubschrauber, sie sind auf die Autobahn gefahren!“ Alexas Stimme überschlug sich, kreischte und wurde ziemlich schrill.

„Wo sind Sie jetzt? Welche Autobahn meinen Sie?“, fragte die Polizeibeamtin viel zu ruhig für Alexas Geschmack.

„Du blödes Arschloch!“, schrie sie, meinte damit aber einen Autofahrer, der viel zu langsam fuhr. Sie überholte ihn, fuhr mit quietschenden Reifen bei rot über die Ampel und handelte sich ein Hupkonzert ein, das sie aber nur in ihrer Stimmung unterstützte. „Ich verfolge den Wagen auf die A2 in Richtung Norden. So schicken Sie verdammt noch mal die Kavallerie, einen Hubschrauber, das Militär, was weiß ich, nur tun sie etwas!“

„Sie wissen, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie…“

„Jetzt halten Sie die Klappe und hören Sie mir zu! Meine Freundin wird entführt und sie haben die verdammte Pflicht, ihr zu helfen!“

Nach dieser Ansage breitete sich im Hörer Stille wie in den Tiefen des Ozeans aus. Eine Sekunde, eine zweite. Alexa war gerade dabei, eine hässliche Schimpftirade in den Hörer zu keifen, als sich die Beamtin wieder meldete. „Wie sieht das Fahrzeug aus? Konnten Sie sich das Kennzeichen merken? Hat der Wagen besondere Merkmale?“

Alexa holte knapp 180 Stundenkilometer aus ihrem nicht mehr ganz neuen Wagen heraus, hupte die furchtbar langsamen Schnecken vor ihr an, die sie in ihrer rasanten Fahrt behinderten und schimpfte nebenbei wie ein alter Seebär. „Es ist ein weißer Lieferwagen, Marke Stern mit einer seitlichen Schiebetür. Und dort drin ist meine Freundin! Herrgottnochmal, jetzt reden Sie nicht so viel, tun Sie etwas!“ Sie brüllte ins Handy als ob die Polizistin am anderen Ende der Leitung völlig schwerhörig wäre.

„Beruhigen Sie sich doch, es sind bereits drei Streifenwagen unterwegs und der Helikopter startet in einer Minute. Wenn Sie sich aber einen Scherz…“

Alexa warf das Handy erbost auf den Beifahrersitz. „Ach, leck mich doch!“ Für solchen Schwachsinn hatte sie jetzt aber wirklich keine Zeit. Sie musste den Lieferwagen finden und so lange verfolgen, bis die Polizei ihn stoppte. Die Häuser neben der Autobahn rasten im Eiltempo vorbei, hinterließen in ihren Augen jedoch nur noch verschiedene Farbstreifen. Als hätte Gott mit überbreiten Pinseln Streifen neben die Fahrbahn gemalt um die Fahrer zu unterhalten. Sie raste an unzähligen Autos in den verschiedensten Farben vorbei, hupte, fluchte und schüttete dabei so viele Stresshormone aus, dass ihr der Schweiß in Strömen von der Stirn lief. Doch das alles war nicht wichtig. Nur Bell war wichtig. Sie hatte den weißen Lieferwagen nicht mehr zu Gesicht bekommen und jetzt kam die erste Ausfahrt. Alexa verringerte ihr Tempo ein wenig und überlegte panisch, ob sie abfahren oder auf der A2 bleiben sollte. In ihrem Kopf fochten tausend Gedanken ein Turnier aus, doch keiner von ihnen konnte den Sieg für sich verbuchen.

Letztendlich setzte sie den Blinker und überquerte die beiden Spuren bis zum Pannenstreifen. Dort brachte sie ihren Wagen mit einem kurzen Schlingern zum Stehen, legte erschöpft die Stirn auf das Lenkrad und heulte verzweifelt los.

2

Alexa saß in der Ecke des nüchtern eingerichteten Wachzimmers und zitterte, obwohl es recht warm im Raum war. Ihr Adrenalinspiegel machte sich bemerkbar und ein Beamter legte ihr fürsorglich eine Decke über die Schultern. Ihre Atmung kam unbeabsichtigt stoßweise aus ihrem Mund und sie fühlte sich elend. Als ob sie gerade gegen Vitali Klitschko im Ring gestanden und den Kampf natürlich verloren hätte. Sie versuchte, einen Becher Kaffee an ihre Lippen zu führen, doch sobald der bittere Geruch in ihre Nase stieg, kam gleichzeitig Ekel in ihr auf. Sie liebte Kaffee in allen Varianten, doch jetzt löste er beinahe Brechreiz aus. Sie stellte den Becher auf den Schreibtisch neben ihr und starrte weiterhin die Wand gegenüber an. Das Plakat, das vor Taschendieben warnte, prangte in deren Mitte wie ein Blutfleck auf einem weißen T-Shirt, doch sie sah es nicht. Mittlerweile kauerte sie auch schon nur noch auf dem Stuhl, denn zum Sitzen fehlte ihr die Kraft.

Sie, die Frau, die immer energiegeladen durch den Tag tanzte, die stets anpackte und nichts liegen ließ und die schlagfertig auf jede Aussage reagierte, wenn es nötig war. Alexa sprühte normalerweise vor Herzensgüte und sie lebte nach dem Motto ‚immer nur her mit den Problemen, ich mache ihnen den Garaus’. Doch im Moment würde sie niemand erkennen, nicht einmal ihre Mutter. Alexa hing mehr am Stuhl als sie saß, denn ihrem Körper fehlte es an jeglicher Spannung. Selbst ihre sonst so fröhlichen, von der Natur gelockten Haare hingen kraftlos auf ihre Schultern hinab.

„Ja“, hauchte sie mit geschlossenen Augen. Der junge Beamte tippte etwas in seinen Computer. „Haben Sie den Mann erkannt?“

„Nein.“ Sie flüstere nur noch und gab dabei aber schon ihr Bestes. „Lassen Sie mich zwei Stunden in einer Ausnüchterungszelle schlafen, dann geht’s wieder“, flehte sie und kippte beinahe vom Stuhl. Die beiden Beamten griffen rasch zu und hielten sie an den Schultern fest. Dann nickten sie einander zu und der Jüngere fuhr sie mit dem Drehstuhl in eine der beiden freien Zellen am Revier. Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und sah Rodrigo Gonzales, den Ermittler der Sondereinheit für Entführung, fragend an.

„Sie kann uns ohnehin nicht helfen. Und wenn sie doch etwas weiß, wird diese Information gerade von ihrem Gehirn blockiert. Sie ist vom Adrenalin total zugedröhnt, aber das ist völlig normal. Unsere Leute haben jedenfalls vierundzwanzig Fahrzeuge im abgesteckten Abschnitt überprüft. Ohne Ergebnis. Aber ich glaube ihr. Was haben die Anrufe aus der Umgebung bis jetzt ergeben? Die Entführung, so sie tatsächlich stattgefunden hat, muss doch auch noch von anderen Personen beobachtet worden sein.“

Der Polizist tippte ein paar Befehle in seinen Computer und wartete, bis ein Menü auf dem Bildschirm erschien. Dort klickte er ein paar Punkte an und wartete wieder.

Die Beamtin des Notrufs hatte sofort alle diesbezüglich eingegangen Anrufe an die zuständige Dienststelle weitergeleitet. Er sah angestrengt auf den Bildschirm. „Es sind lediglich vier Anrufe eingegangen. Drei wegen der Entführung und eine, weil Frau Alexa Miller Radau gemacht und einen Blumentopf aus dem Fenster auf den Gehsteig geworfen hatte.“

Der Beamte sah Gonzales ungläubig an, verdrehte dann die Augen und schüttelte den Kopf. Der Ermittler lachte. „Das war wahrscheinlich wieder mal so eine alte Schachtel, der nur ihr eigenes Wohlergehen wichtig ist. Das kenne ich zur Genüge.“

Dann drehte der Polizist den Bildschirm zu Gonzales.

„Das sind alle diesbezüglich eingegangenen Anrufe“, erklärte er und grenzte sie mit dem Finger ab. Respektvoll ließ er Rodrigo Zeit um sie zu überfliegen. Insgesamt waren wirklich nur vier Anrufe verzeichnet und drei davon sagten im Prinzip das gleiche aus. Die Geschichte der Lady in der Zelle stimmte also vermutlich.

Rodrigo lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wollte um die Weiterleitung der Gesprächsprotokolle bitten, doch der Beamte kam ihm zuvor. „Ich leite alles Nötige weiter an Ihre Dienststelle. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

Rodrigo dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. Dann stand er auf, bedankte sich für die reibungslose Zusammenarbeit, nahm die Akte vom Tisch und machte sich auf den Weg ins Dezernat um eine fähige Gruppe zur Auffindung von Natalie Isabell, ‚Bell’ Springer zusammen zu stellen. Die Zeit drängte, denn das Opfer war womöglich in Lebensgefahr. Im Moment zählte nicht nur jede Stunde, sondern jede Minute. Je frischer die Spur war, desto größer war die Chance, das Opfer zu finden. Rodrigo holte sich die Liste der Mitarbeiter und überprüfte, wer von ihnen an keinem anderen Fall arbeitete. Sorgfältig studierte er jeden einzelnen Namen, notierte immer wieder einen davon und filterte somit all jene heraus, die gut zusammenarbeiten konnten und sich auch so richtig engagierten.

Bereits zwei Stunden später stürmte die vierzehnköpfige Truppe aus dem Besprechungsraum und verteilte sich in drei Gruppen in alle Himmelsrichtungen und dazwischen. Team Alpha sollte mögliche Zeugen der Entführung finden. Sie mussten sich Wohnung für Wohnung vorarbeiten, an jede einzelne Tür klopfen um mit den Bewohnern zu sprechen. Das waren geschätzte neunhundert Befragungen, wenn man für jeden Haushalt drei Personen rechnete. „Guten Tag, Lisa Willinger mein Name, wir untersuchen eine vermeintliche Entführung, die heute um dreizehn Uhr drei vor Ihrem Haus stattgefunden hat. Haben Sie etwas gesehen oder…. Bla bla bla.“ So uninteressant konnten Ermittlungsarbeiten sein, aber sie waren nötig. Lisa Willinger und ihre Kollegen ließen sich davon jedoch nicht entmutigen. Ihnen war durchaus bewusst, dass sie durch diesen zähen Anfang hindurch mussten um irgendwann direkt an den wirklich interessanten Ermittlungen teilnehmen zu dürfen. Aber sie alle waren noch jung und neu in der Abteilung. Somit fiel ihnen die langweilige Knochenarbeit ohne Lohn, Ruhm und Ehre zu.

Team Beta sprach mit Passanten und den Verkäuferinnen der umliegenden Geschäfte. Sie kümmerten sich auch darum, Kassetten von Überwachungskameras mitzunehmen, beziehungsweise digital gespeicherte Aufzeichnungen ans Dezernat zu übermitteln. Team Gamma war bereits in der nächsten Liga und durfte sich mit dem Ehemann, den Eltern, den Freunden, Verwandten und Arbeitskollegen des Opfers über mögliche Motive der Entführung unterhalten. Auch die Vermögensverhältnisse der Entführten wurden dabei im Groben überprüft. Dieses Team wurde vom Kriminalpsychologen Dr. Hans Gruber geleitet. Bei Freunden und Verwandten von Entführungsopfern musste man mitunter sehr vorsichtig und sensibel vorgehen und sehr viel psychologisches Wissen sowie Einfühlungsvermögen besitzen.

Ein internes Team übernahm die Auswertung der Überwachungsbänder, ein anderes machte sich im Register für KFZ-Anmeldungen auf die Suche nach allen weißen Lieferwagen. Aber ohne auch nur einen Teil des Kennzeichens zu kennen, führte diese Spur praktisch ins Nichts. Es war völlig aussichtslos, aber dennoch mussten sie ihr nachgehen.

Kurz vor zwanzig Uhr versammelte sich das gesamte Team im Besprechungsraum. Auf dem Flipchart stand in roten Lettern ‚Natalie ‚Bell’ Springer’, darunter ‚32 Jahre’, ‚verheiratet mit Toby Springer’.

Hans Gruber, der Psychologe, meldete sich als Erster mit den Ergebnissen seiner Befragung. „Im Großen und Ganzen hat sie bis jetzt ein normales Leben geführt. Sie hat einen Ehemann, einen normalen Job, keine besonderen Hobbys, etliche Freunde. Aber in einem Punkt war oder ist sie alles andere als gesellschaftsangepasst.“

Er legte eine kurze Pause ein, um sich der Aufmerksamkeit des gesamten Teams sicher sein zu können. „Sie hatte in den letzten vier Jahren ein reges Sexualleben – und zwar außerhalb ihrer Ehe!“

Erneut arbeitete er mit dem Stilmittel einer Pause. Er genoss es, im Mittelpunkt zu stehen und von allen angesehen zu werden. Dabei verspürte er ein Ziehen und Kribbeln in seinem Schritt, auf das er unheimlich stand. Es war keine Erektion, aber so etwas Ähnliches und er konnte davon nicht genug bekommen. Manchmal war dieser Erfolgsorgasmus für ihn weitaus erfüllender als ein sexueller Orgasmus. Er schloss kurz die Augen, genoss das Ziehen, atmete schwer aus und fuhr dann fort.

„Diese sehr vertrauliche und äußerst delikate Information kommt von ihrer besten Freundin Alexa Miller. Toby Springer, ihr Ehemann, wusste von einem Liebhaber, vielleicht auch noch von einem zweiten. Laut Aussage von Frau Miller hatte Natalie im Lauf der Zeit jedoch sechs Liebhaber, einer davon war ein katholischer Priester. Mit letzterem hatte Bell zwar keinen Geschlechtsverkehr, aber sie umgarnte den Ordensmann und versuchte, ihn auf die Abwege der Sünde zu locken. Vermutlich ging es ihr hierbei um den Sieg über Gott und den Glauben und weniger um das Ausleben ihrer Sexualität.“

Er setzte erneut eine Pause ein und hoffte, es würden gleich mehrere Beamte eine bestimmte Frage stellen. „Wieso ein Sieg über Gott?“, fragte Lisa Willinger und noch drei ihrer Kollegen. Da war er, der Weg zum Erfolgsorgasmus! Sie hatten ihn ihm nicht verwehrt. Ganze drei Sekunden lang genoss er diese Frage, dann fühlte er sich bemüßigt, die Lösung zu präsentieren.

„Der Priester hat sein Leben Gott gewidmet und dafür strenge Auflagen erhalten. Wenn sie, das Menschenkind, nun fähig war, den Priester zum Sex zu verführen, würde er seine Ehe mit Gott brechen und sie an die erste Stelle seines Lebens setzen. Somit hätte sie einen Sieg über Gott errungen.“

Die meisten nickten zustimmend und bewundernd. Sein Innerstes entflammte und der Psychologe genoss seine kleine Perversion in vollen Zügen, deren er sich vollends bewusst war.

Rodrigo Gonzales sah ihn nachdenklich an. „Und? Hat sie es geschafft, ihn zu verführen? Hätte er deshalb ein Motiv, sie zu entführen? Wenn er schon Sex hatte, so kann er doch auch jemanden entführen… wenn mal eine Sünde begangen ist, dann kann man doch gleich weitermachen, oder?“

Philipp aus der letzten Reihe rieb sich schmunzelnd die Hände. „Er hat sie entführt und hält sie jetzt in einem Keller als seine Sexsklavin gefangen. Er ist auf den Geschmack gekommen und holt nun alles nach, was er sich jahrelang verboten und vorenthalten hat. Im Keller feiert er jetzt Sexorgien, bis er wundgescheuert ist!“ Das gesamte Team drehte sich zu ihm um und lachte.

„Willst du dich dem ehrenwerten Pater vielleicht anschließen? Gegen einen flotten Dreier hast du doch nichts einzuwenden, oder?“, warf Henrik ein und zog damit die Aufmerksamkeit des Teams auf sich.

Gonzales lächelte und freute sich, dass das Team einander vertraute und guter Dinge war. Die Gruppendynamik funktionierte hervorragend.

Der Psychologe ließ das Team noch eine Weile herumalbern, erhob aber dann doch wieder seine Stimme und fuhr fort. „Wir wissen nur, dass er Pater Pius heißt und dem Konvent der Franziskaner im hiesigen Kloster angehört. Während er ihr die Beichte abgenommen hatte, haben sie sich kennen gelernt. Mehr weiß ich im Moment auch nicht. Aber dieser Pater ist auf alle Fälle einen näheren Blick wert. Und ich werde mich noch eingehender mit dem Ehemann beschäftigen. Ich denke zwar nicht, dass er wegen ihrer Untreue etwas damit zu tun hat, aber man kann nie wissen. Eine Entführung passt da aber so gar nicht ins Spiel. Das war’s von meiner Seite her. vielen Dank.“

Dr. Gruber blieb noch kurz stehen, sonnte sich im Mittelpunkt und setzte sich dann wieder. Sein Auftritt für den heutigen Tag war vorbei; und er hatte sich gelohnt.

Nun ergänzten die anderen Teams noch ihre Auswertungen, aber es kam nicht viel dabei heraus. Sie war weder vermögend noch hatte sie einen so wichtigen Job, als dass man sie aufgrund von Geheimnissen oder Kennzahlen entführen hätte können. Sie trieb sich nicht mit finsteren Gestalten herum und sie konsumierte oder verkaufte vermutlich auch keine Drogen. Somit war kein echtes Motiv ersichtlich und das mit den Seitensprüngen war nun doch ziemlich dünn.

Dieser Fall würde sicher zu den schwierigsten zählen, aber Rodrigo Gonzales liebte gerade diese. Es waren Herausforderungen, die er jedes Mal gerne wieder von neuem annahm. Er hatte seine Heimat Mexiko vor sieben Jahren der Liebe wegen verlassen und wurde schon nach zwei Jahren wieder von dieser Liebe verlassen. Seither stürzte er sich mehr oder minder in seine Arbeit, denn für eine neue Beziehung war er noch nicht bereit.

Rasch fasste er alles noch einmal stumm zusammen, dann verteilte er die weiteren Aufgaben an sein Team. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, täglich neu zu überprüfen, ob seine Leute auch ihren Fähigkeiten nach effektiv genug eingesetzt waren. Fixe Partnerschaften lehnte er ab, obwohl es sich meist ergab, dass immer wieder die gleichen zusammenarbeiteten; Talente änderten sich eben nicht. Aber er wollte, dass sich jedes Zweier- und auch Dreierteam gegenseitig ergänzte.

Nach der Einteilung entließ er seine Leute und wünschte ihnen eine gute Nacht. Sie würden sich am nächsten Tag wieder mit vollem Elan auf die Suche nach Bell machen. Kurz nach der Einteilung betrachtete er noch eine Weile das Foto von Bell und dann verließ auch er das Dezernat, nahm sich jedoch die Akte mit nach Hause. Vielleicht hatte er in den eigenen vier Wänden den einen oder anderen Geistesblitz, wie sie die entführte Person finden und befreien konnten.

Während sich das Team rund um Rodrigo ausruhte, kontrollierten Streifenpolizisten weiterhin weiße Lieferwagen, hielten nach Natalie Springer Ausschau und sahen wieder und wieder die Überwachungsfilme an. Vielleicht hatte der Kollege vom Tagdienst ja doch die eine oder andere Kleinigkeit übersehen, die weiterhelfen konnte.

Rodrigo ging langsam die Treppe hinab, setzte sich in seinen Wagen und starrte in die schwarze Nacht hinein. Er war von Menschen umgeben, von denen er nicht wusste, welche kriminellen Gedanken sie gerade hegten oder welche dunklen Pläne sie schmiedeten, die ihrem Nächsten irgendwann schaden könnten. Und auch ihm selbst. Eigentlich war jeder dem anderen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. So, wie Natalie heute. Sie geht am helllichten Tag nichts ahnend zu ihrer Freundin und wird entführt. Der nächste fängt eine verirrte Pistolenkugel ab, der andere wird vor die U-Bahn gestoßen und an irgendeiner Ecke wird jemand ausgeraubt. Wir denken immer, unser Leben im Griff zu haben, fast alles kontrollieren zu können, aber das ist völliger Schwachsinn. In Wahrheit sind wir den anderen Menschen ausgeliefert, nur verdrängen wir diese Tatsache allzu gern. Wir sind ohnmächtig dem gegenüber, was der andere macht. Und Gesetze schützen uns davor nicht, sonst würde niemand verschleppt, ausgeraubt, vergewaltigt, gefoltert oder ermordet.

An diesem Punkt riss er sich aus seinem inneren Monolog und kehrte in die Realität zurück. Er wusste, dass er eine zu negative Einstellung seinen Mitmenschen gegenüber hatte und er nahm sich gelegentlich vor, diese zu ändern. Nicht alle Menschen waren schlecht, nur einige. Und er nahm sich vor, sich in seiner Freizeit wieder mit Menschen zu umgeben. Die Einsamkeit wirkte sich nicht gerade positiv auf ihn aus. Allerdings würde er sich nach positiven Menschen umsehen müssen, was sich doch als sehr schwierig gestalten konnte. Aber im Moment hatte er andere Sorgen; er musste sich auf das Wesentliche seiner Arbeit konzentrieren.

Mit vollem Kopf startete er den Motor und fuhr los. Doch anstatt nach Hause zu fahren zog es ihn zurück zum Tatort. Er wollte sich dort noch etwas umsehen, obwohl er ahnte, dass er nichts finden würde. Dennoch setzte er den Blinker nach links und bog ab.

3

Als Tatort war die Stelle der Entführung nicht mehr zu erkennen. Die Absperrbänder waren entfernt worden, die Polizisten abgezogen. Es war wieder eine normale Straße vor normalen Wohnblöcken und normalen Geschäftslokalen. Die Menschen verrichteten ihren Alltag und wussten zum Teil sicher nicht einmal, welche Tragödie sich hier vor nur wenigen Stunden abgespielt hatte.

Der Ermittler stand an genau jenem Punkt, an dem Bell entführt wurde. Er sah in den Himmel, ließ seinen Blick über die mittlerweile hell erleuchteten Fenster streifen und fragte sich, ob es hier nicht doch jemanden gab, der mit seinem Handy den weißen Lieferwagen oder zumindest einen Teil davon fotografiert hatte. Bei Selfies fand sich immer etwas im Hintergrund, das nicht aufs Foto gehörte. Das Problem war nur, dass sich jene Menschen, die täglich unzählige Selfies schossen, nur sich selbst auf den Fotos betrachteten und den Hintergrund ausblendeten. Somit meldete sich niemand bei der Polizei um ihnen weiter zu helfen.

Mit einem Seufzen ging er in Richtung seines Wagens, doch ihm graute davor, in seine ständig leere Wohnung zu fahren. Die Härchen an seinen Unterarmen stellten sich auf, als er daran dachte, wieder alleine in der Wohnung zu sitzen, nur den Fernseher oder seine Akten als Gesprächspartner und Zuhörer zu haben. Seine Bleibe war tot und er fühlte sich zeitweise in ihr wie in einem engen, dunklen Sarg. Der Gedanke daran ließ ihn erneut erschaudern. Nein, er konnte jetzt nicht nach Hause gehen, noch nicht. Deshalb suchte er die beiden Straßen nach einem Lokal ab und wurde auch sofort fündig. Keine zehn Meter vom Ort der Entführung hießen ihn warmes Licht und die Silhouetten von Menschen willkommen. Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat er das Lokal und fand noch einen freien Platz an den Tresen. „Einen Screwdriver ohne Wodka“, bestellte er fast nebenbei und beachtete den Barmann absichtlich kaum.

Der Mann hinter dem Tresen sah ihn entgeistert an. „Dann bleibt doch nur Orangensaft mit Eis.“

„Exactamente“, lachte Rodrigo und nickte. „Und genau den möchte ich haben. Kalt und leicht säuerlich.“ Dann setzte er noch ein höfliches „por favor“ hintan.

Der Barkeeper schenkte ihm ein warmes Lächeln und den Orangensaft in ein Glas mit vier Eiswürfel ein. „Jetzt hätten Sie mich aber beinahe drangekriegt“, flüsterte er und stellte das Glas vor seinem Gast ab.

„Das war auch meine Absicht“, flüsterte Rodrigo zurück und prostete ihm zum.

„Woher sind sie denn? Exactamente heißt so viel wie richtig, richtig? Ich tippe auf das heiße, sowie temperamentvolle Mexiko. Olè!“

Rodrigo streckte beide Daumen nach oben und strich sich die naturschwarzen Haare aus dem Gesicht. „Zollfrei importiert“, sagte er und lächelte wieder. Auch wenn es sich nur um oberflächliches Gerede handelte, genoss er es. Ein freundliches Gesicht versüßte ihm den Abend und brachte Licht in sein müdes Inneres. Er würde davon bis zum nächsten Morgen zehren.

Der Barkeeper zwinkerte ihm kurz zu und wandte sich drei neuen Gästen zu, die eine Bestellung aufgaben. Rodrigo beobachtete ihn und überlegte, ob das vielleicht auch ein Job für ihn sein könnte. Doch er verwarf den Gedanken sofort. Die geistige Herausforderung, die er dringend brauchte, konnte das Jonglieren mit bunten Flaschen und Mixbechern nicht gewährleisten. Sobald er die Zubereitung aller Drinks kannte, würde es ihn wieder weg von der Bar treiben. Er brauchte eine Arbeit, die ihm alles abverlangte. Und manchmal auch noch darüber hinaus.

Rodrigo starrte gedankenverloren in seinen Orangensaft und dachte wieder an Bell. Er stellte sich vor, wie sie von den Füßen und in den Kleinbus gerissen wurde. Wie sie panisch wurde, als sie bemerkt hatte, dass sie entführt wurde. Oder hat sie ihr Entführer betäubt und sie schläft noch? Wohin hat er sie gebracht und weshalb hat er sie entführt? Was hat er mit ihr vor? Will er Lösegeld erpressen? War es ein vielleicht politischer Akt? Will er gegen etwas, das ihm nicht passt, protestieren und sie war ein zufälliges Opfer, das zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war?

„Na, wo sind denn deine Gedanken?“, fragte der Barkeeper und lehnte sich lässig an den Kühlschrank. „In anderen Sphären, wie es aussieht. Ich bin übrigens Benjamin. Aber ich werde von meinen Freunden Jam genannt.“

Rodrigo streckte seine Hand aus und reichte sie Benjamin. „Freut mich, ich bin Rodrigo, von meinen Kollegen auch Rodrigo genannt. Ein nettes Lokal ist das hier. Mal etwas anderes als die üblichen Bars, in denen es laut und stickig ist. Bist du täglich hier?“

„Fast. Ich arbeite fünf Tage die Woche, zwei habe ich frei. Das ist ein rollierendes System. Aber etwas anderes: in knapp zwei Stunden ist meine Schicht zu Ende. Wie sieht’s aus? Unternehmen wir noch etwas miteinander? Du bist genau mein Typ!“

Rodrigo war irritiert. Was meinte Benjamin damit? Eine harmlose Männerfreundschaft oder doch eine Schwulenbeziehung? Um nicht gleich antworten zu müssen, trank er von seinem Screwdriver ohne Wodka mit Eis. Doch die Zeit reichte nicht aus um einen klaren Gedanken zu fassen. „Ich bin gleich wieder hier. Pass inzwischen auf meinen Drink auf. Nicht, dass mir noch jemand reinpinkelt!“, rief er dem Barkeeper zu und machte sich eilends auf den Weg zur Toilette.

An die kalten Fliesen gelehnt forschte er in den Tiefen seiner Gefühlswelt herum. Irgendwie fühlte er sich von dem jungen Mann angezogen, war sich aber gleichzeitig nicht sicher, ob das nicht einfach nur ein fieser ein Trick seiner Einsamkeit war. Er war nie schwul gewesen, stand immer nur auf Mädels und echte Frauen, aber hin und wieder hatte ihm schon seit seiner Jugend der eine oder andere Mann gefallen. Allerdings hatte er sich nichts dabei gedacht.

Seine Gedanken überschlugen sich und gesellten sich zum Entführungsfall. In seinem Kopf tobte ein Gedankengewitter, das ihn völlig verwirrte. Er konnte jetzt keinesfalls Entscheidungen treffen, also musste er sie aufschieben, auch wenn es Benjamin gegenüber unfair war. Immerhin hatte er ein Lächeln, das Eisberge schmelzen ließ. Und genau das irritierte ihn. Weshalb sprach ihn dieser Mann irgendwie sexuell an, obwohl er sich mit ihm Sex keinesfalls vorstellen konnte. Oder etwa doch?

Um nicht vollständig von seinen Gedanken irre gemacht zu werden verließ er die Toilette und setzte sich wieder an den alten Tresen. „Du, dein Angebot ehrt mich, aber ich bin total erledigt. Der Job, du weißt schon. Heute ist es mir echt schon zu spät. Aber gib mir deine Handynummer und ich rufe dich in den nächsten Tagen an. Was hältst du davon?“

Benjamin nickte, schrieb seine Nummer auf ein Blatt Papier und übergab ihn seinem Gast. Rodrigo griff zu aber Benjamin ließ ihn nicht los, sondern sah ihm nur tief in die Augen. „Ich mag deinen mexikanischen Akzent; sehr sogar. Also melde dich, okay?“, sagte er breit lächelnd und zwinkerte ziemlich langsam mit einem Auge. Damit ließ er das Papier los und bediente einen anderen Gast. Rodrigo leerte sein Glas, zwinkerte Benjamin ebenfalls, aber absichtlich unverbindlich, zu und verließ noch immer etwas nachdenklich die Bar. Als er sich in seinen Wagen setzte, fühlte er sich plötzlich gar nicht mehr so einsam und verloren.

Auf dem Weg zu seiner Wohnung war er sogar gut drauf und versuchte, den Leadsänger von Rammstein zu übertönen. Er öffnete das Fenster und sang lautstark ‚du hast’ mit und powerte sich damit noch mehr auf. Er fühlte sich so energiegeladen wie schon seit längerem nicht mehr und das tat ihm verdammt gut.

Doch mit seiner Laune ging es steil bergab, als er vor seiner Wohnung keinen Parkplatz finden konnte. Er drehte das Radio ab, denn die Musik machte ihn nun nervös. Langsam fuhr er die Straße entlang, bog links ab, dann wieder links und ein drittes Mal links. Jetzt stand er wieder vor dem Eingang und hatte keinen Parkplatz gefunden. Und er hatte überhaupt keine Lust darauf, mitten in der Nacht mehr als einen Kilometer zu Fuß zu gehen. Also fuhr er langsam wieder an und machte sich auf den Weg zur zweiten Runde. Wieder nichts. „Verdammt!“, rief er mit gedämpfter Stimme und versetzte dem Lenkrad einen Hieb mit beiden Fäusten. Dann fuhr er weiter.

Nach der dritten Runde um den Block sah er am Ende der Straße einen Wagen vom Randstein wegfahren. „Ja!“, stieß er erfreut aus und trat aufs Gas. Endlich hatte seine nervenaufreibende Suche ein Ende und er konnte sich in wenigen Minuten in der Badewanne entspannen. Er freute sich auf das Blubbern der eingebauten Düsen, auf das warme Licht des Led-Wechslers, das sein Badezimmer abwechselnd in rotes, blaues, grünes und gelbes Licht tauchte. Dazu würde er sich die weichen Klänge Vivaldis über die Deckenlautsprecher anhören und seine angespannten Nerven beruhigen. Genau das hatte er sich verdient; richtig verdient.

Doch kurz bevor er an der freien Parklücke angekommen war, bog ein Wagen am Ende der Straße ein, setzte den Blinker und stand zwei Sekunden später auf seinem Parkplatz.

„Maldito cabròn, du verdammter Drecksack!“, fluchte er lauthals und schlug erneut mit beiden Fäusten auf das Lenkrad. Er trat hart auf die Bremse und wurde kurz nach vorn geschleudert. Er stieß hart die Luft aus, nahm er den Gang heraus, zog die Handbremse an, schloss die Augen und legte den Kopf ein wenig nach hinten an die Nackenstütze. Nach dem dritten tiefen Atemzug hatte er sich so weit im Griff, dass er an dem gemeinen Parkplatzdieb vorbeifahren konnte ohne ihm auf der Stelle eine Kugel durchs Knie zu jagen. Dennoch war er versucht, stehen zu bleiben, auszusteigen und ihm zumindest deutlich seine Meinung zu sagen. Aber er beließ es bei einer kurzen Bremsung und einem tiefen Einatmen. Dann kreiste er weiter um seinen Block und fand nach der sechsten Umrundung doch endlich eine Parklücke. Sie war zwar viel zu klein, doch er stellte den Wagen einfach ein wenig quer, sodass der hintere Teil auf die Straße hinausragte. Sollte ihn doch ein Streifenpolizist anzeigen; er würde diesen Strafzettel ganz einfach aus dem Computer verschwinden lassen. Offiziell natürlich, nicht etwa auf illegalem Weg. Das kam bei der Polizei so gut wie nie vor. Bei diesem absurden Gedanken musste er lächeln. Aber klar doch!

Als er um die Ecke bog, stieß er beinahe mit einem Mädchen zusammen. Klein und zierlich stand sie da in ihren viel zu hohen High Heels und sah etwas verängstigt die dunkle Straße hinunter. Sie wartete ganz offensichtlich auf Kundschaft. Sofort waren die mühsame Parkplatzsuche sowie der drohende Strafzettel vergessen. Er blieb stehen und musterte sie von oben bis unten. Dann nahm er eine Haarsträhne und legte sie langsam über ihre Schulter. „Bist du für diesen miesen Job nicht ein bisschen zu jung?“, fragte er sanft und leise, um sie nicht zu erschrecken. Sie zuckte dennoch zusammen. „Ich… ich bin achtzehn“, stammelte sie so leise, dass Rodrigo sie beinahe nicht verstehen konnte. Er lächelte. „Du kannst maximal sechzehn sein. Wer hat dich auf die Straße geschickt? War es dein Vater? Dein Bruder? Bist du drogensüchtig?“ Der Kommissar sah sie nun etwas strenger an, während sie versuchte, mit der alten Backsteinmauer zu verschmelzen um darin zu verschwinden.

„Hey!“, rief eine Stimme aus der Dunkelheit. „Die Kleine macht’s dir nicht umsonst. Entweder du zahlst ordentlich oder haust sofort ab!“

Rodrigo wirbelte herum, hob blitzschnell seinen Ellbogen an und ließ ihn mit halber Kraft auf den Kiefer des Mannes krachen, der ihn von hinten attackieren wollte. Der Angreifer verlor sofort das Gleichgewicht, taumelte noch zwei unsichere Schritte nach hinten und krachte im nächsten Moment auf den Asphalt des Gehwegs.

Rodrigo sah in das Gesicht des Mannes, beugte sich vornüber und zog ihn an den Haaren hoch. Dann schleuderte er ihn gegen die Wand, wo gerade noch das Mädchen gestanden hatte. Sie hatte bereits die Flucht ergriffen und war nicht mehr zu sehen. „Joker, du elender Drecksack! Du schickst jetzt schon Minderjährige auf den Strich?“ Rodrigo verpasste ihm einen weiteren Hieb mit dem Ellenbogen ins Gesicht, dann drückte er den Zuhälter am Hals mit dem Unterarm an die Mauer und hielt ihm seinen drohenden Zeigefinger vor die Nase. „Ich sage es dir jetzt zum zweiten und allerletzten Mal: lass deine dreckigen Finger von der Zuhälterei, du Wixer! Das Mädel wirst du ab sofort in Ruhe lassen und falls du noch andere Damen hast, auch sie. Ich behalte dich ab sofort im Auge und wenn ich dich noch ein einziges Mal dabei erwische, kommst du nicht mehr so glimpflich wie jetzt davon. Hast du mich verstanden?“, zischte er leise, aber sehr bedrohlich in das Ohr des jungen Mannes.

Joker nickte. „Ja, verstanden.“

Rodrigo sah ihm in die Augen, nahm seinen Unterarm vom Hals des Zuhälters und verpasste ihm einen Fausthieb zum Abschied. Das Nasenbein brach laut knackend und zwei seiner Zähne landeten mit einem grausigen Klickgeräusch auf dem Boden. Joker stöhnte laut auf und sackte an der Wand in sich zusammen. Der Kommissar wollte ihm noch einen Tritt verpassen, verzichtete jedoch darauf. Bevor er ging, drehte er den blutenden Mann zur Seite und seinen Kopf nach unten, sodass er nicht an seinem eigenen Blut erstickte. Dann rief er einen Krankenwagen und machte sich auf die Suche nach dem Mädchen.

Zwei Blocks weiter saß die kleine Gestalt, die nun noch viel winziger als zuvor wirkte, auf der Lehne einer Parkbank und hatte das stark geschminkte Gesicht zwischen ihren Knien verborgen. Der Kommissar setzte sich neben sie und hielt sofort ihr Handgelenk fest. Wie erwartet, wollte sie sich sofort aus dem Staub machen, doch sie wurde durch seinen eisernen Griff daran gehindert.

„Lass mich los, du Scheißkerl, ich rufe die Polizei“, quietschte sie unsicher und schlug mit der freien Hand auf ihn ein. Die Panik war in ihr Gesicht gemeißelt.

„Spar dir die Mühe, ich bin von der Polizei. Und glaub nicht, dass ich dir etwas Böses antun will. Im Gegenteil. Ich will, dass du eine Zukunft hast, ein Leben. Mit diesem Dreckskerl Joker machst du dir alles kaputt und zwar in Windeseile. Du kannst nicht mal bis drei zählen und schon pumpst du dich mit Drogen voll, weil du den Sex mit den alten, ungewaschenen, stinkenden Drecksäcken, deren Tochter oder Enkeltochter du sein könntest, nicht erträgst. Und für diese Drogen gehst du dann anschaffen. Dir bleibt nichts zum Leben und deine Zukunft besteht nur noch aus ekelerregendem Sex und der Gier nach dem nächsten Schuss. Ist es das, was du willst? Ist es das wirklich?“

Sie sah ihn mit großen Augen verwundert an, dann starrte sie auf ihre Schuhe. „Joker meinte, ich könnte das große Geld machen, weil ich so jung bin. Ich müsste nur ein paar Monate arbeiten und hätte dann für den Rest meines Lebens ausgesorgt. Die Männer stehen sich’s nun mal auf junge Mädchen.“

Rodrigo ließ ihr Handgelenk los und starrte in die Ferne. Er hatte ihr Vertrauen erlangt und machte sich keine Sorgen, dass sie weglief. „Weißt du, es wird immer Drecksäcke wie Joker geben, die auf Kosten der anderen leben. Es sind Verlierer, die andere in die Hölle schicken um selbst ein feines Leben ohne Arbeit zu führen. Es ist wichtig, dass du das weißt. Sobald sich etwas viel zu gut um wahr zu sein anhört, dann ist es auch nicht wahr. Merk dir das. Wisch dir den Kleister aus dem Gesicht und geh zur Schule. Schließ‘ eine Ausbildung ab, dann spuckst du nur noch auf Typen wie Joker. Und zwar mit Recht. Alles klar?“

Das Mädchen nickte und versuchte, ihre Tränen zurück zu halten. Rodrigo stand auf, legte ihr freundschaftlich die Hand auf die Schulter, drehte sich um und ging langsam weg. Nach zwei Schritten hörte er noch ein ehrlich klingendes „Danke“. Nun fühlte er sich wieder gut. In ihm hatte sich soeben ein kleines Flämmchen entzündet, das ihn wärmte.