Blutlinie - Petra E. Jörns - E-Book

Blutlinie E-Book

Petra E. Jörns

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Beschreibung

Als ein Fremder Annabelle den Hof macht, erlebt sie mit ihm erotische Träume, die zunehmend düsterer werden und ihre Gesundheit ruinieren. Die Mutter scheint mehr zu wissen, als sie preisgibt, denn sie verbietet Annabelle den Umgang mit dem Verehrer. Doch Annabelle kann von dem mysteriösen Fremden nicht lassen, bis der Tod in einer Sturmesnacht an die Tür klopft und ein Opfer fordert.

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Petra E. Jörns

 

 

Blutlinie

 

Edition Media Noctis 2

Roman

In der Reihe „Edition Media Noctis“ bereits erschienen:

 

Odem des Todes, Hrsg. Alisha Bionda, Anthologie

Blutlinie, Petra E. Jörns, Roman

 

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erste Auflage im Juli 2022

 

 

 

Copyright © 2022 dieser Ausgabe by Ashera Verlag

Hauptstr. 9

55592 Desloch

[email protected]

www.asheraverlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.

Covergrafik: iStock

Innengrafiken: iStock, AdobeStock

Szenentrenner: AdobeStock

Coverlayout: Atelier Bonzai

Redaktion: Alisha Bionda

Lektorat & Satz: TTT

Vermittelt über die Agentur Ashera

(www.agenturashera.net)

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Kapitel 1 – Ausritt mit Folgen

Kapitel 2 – Vorbereitungen

Kapitel 3 – Geschenke und Omen

Kapitel 4 – Der Flegel

Kapitel 5 – Der Fremde

Kapitel 6 ­– Der Retter

Teil 2

Kapitel 7 – Nachwehen

Kapitel 8 – Weiße Rosen

Kapitel 9 – Der Schal

Kapitel 10 – Der Affront

Kapitel 11 – Die Revanche

Kapitel 12 – Rote Rosen

Teil 3

Kapitel 13 – Begierde

Kapitel 14 – Die Niederlage

Kapitel 15 – Fieber

Kapitel 16 – Das Opfer

Kapitel 17 – Genesung

Kapitel 18 – Das Vermächtnis

Epilog – Alfred

DIE AUTORIN

Teil 1

 

 

 

Der Ball

Kapitel 1 – Ausritt mit Folgen

 

Die Frühlingssonne schien Annabelle warm ins Gesicht und ein lauer Wind wehte die Strähnen schwarzen Haares aus ihren Augen, die sich durch den Ritt gelöst hatten und unter dem kecken Hut herausquollen. Die braune Stute unter ihr bewegte sich mit geschmeidigem und elegantem Schritt. Beidseits des Weges, den sie entlang ritt, breiteten sich saftig grüne Wiesen wie ein Teppich auf den sanften Hügeln aus. Dunkle Bänder von Gehölzen durchbrachen sie und ihr grünes Kleid war verziert mit bunten Blumen.

Annabelle atmete tief die klare Luft ein. Wie schön Somerset doch war! Aber gleichgültig, wie sehr sie ihre Heimat liebte, sie sehnte sich danach, fremde Länder kennenzulernen – das tiefe Blau des Meeres, weiße Strände unter Palmen, die steilen Berge des Himalaya, die dampfenden Dschungel Indiens und Afrikas mit wilden Tieren und Pflanzen, fremde Städte voller exotischer Gerüche, das Stimmengewirr der Einheimischen noch nie gehörter Sprachen. Wie aufregend das sein musste! Was würde sie nicht darum geben, all das kennenzulernen und mit eigenen Sinnen zu erfahren. Ob es je dazu kommen würde?

Doch jetzt war sie hier, in Somerset auf dem Landsitz ihrer Eltern. Auch hier konnte sie nach Abenteuer suchen und sei es nur auf dem Rücken ihrer braven Stute Chocolate abseits der Wege.

Mit einem knappen Zug am Zügel wies sie die Stute an, ihren Schritt zu beschleunigen, und setzte beherzt über das niedrige Mäuerchen, das den Weg von der Wiese trennte. Annabelle genoss den kurzen Moment, in dem sie leicht wie ein Vogel über dem Mäuerchen schwebte, bis die Hufe der Stute den Wiesenboden trafen und sich der Ruck durch ihren Körper fortpflanzte. Am Ende der Wiese wartete ein weiteres Mäuerchen. Mit einem Schnalzen ließ Annabelle die Stute galoppieren.

Die Kühe, die braun und weiß gefleckt auf der Weide standen, wichen muhend zur Seite. Es klang fast ein wenig vorwurfsvoll, weil sie sie in ihrer Ruhe störte. Wie würde Mutter erst schimpfen, wenn sie sie so sehen könnte. Aber die Mutter war so ängstlich um ihr Wohlergehen besorgt, dass sie ihr wie eine riesige Glucke vorkam, die schützend ihre Flügel ausbreitete und ihr so die Sicht nahm auf all die schmückenden Details und die Schrecken, die das Leben barg. Dabei wollte sie sie doch sehen, die Blumen am Wegesrand ebenso wie die Abgründe. Denn waren es nicht diese Gegensätze, die den Reiz des Lebens ausmachten?

Sie genoss den Wind, der über ihr Gesicht strich, während sie über die Weide galoppierte. Vage dachte sie an die Warnungen ihrer Mutter, die sie an Maulwurfslöcher und Sumpfstellen erinnerte, die Chocolate aus dem Tritt bringen könnten. Das nächste Mäuerchen flog förmlich auf sie zu, ehe die Stute mit einem weiten Satz darüber sprang.

Ein fremdes Pferd schnaubte. Aus den Augenwinkeln erhaschte Annabelle einen weiteren Reiter, der sein Tier zügelte und mit ruhiger Stimme einige Worte murmelte.

Atemlos brachte Annabelle ihre Stute zum Halt und ließ sie auf der Hinterhand kehrtmachen. Vor ihr saß ein junger Mann mit zerzaustem blondem Haar auf einem roten Pferd, das nervös auf dem Fleck tänzelte. Als bemerke er die Unart seines Reittiers nicht, lupfte er mit einem freundlichen Lächeln seine Kappe. „Ihr ergebenster Diener, Mademoiselle! Sollte ich Euch erschreckt haben, so entschuldigt mich bitte!“

Annabelle erkannte ihn nun. Sein Name war Alfred Swan, er war der Sohn eines Landadeligen und ebenso mittellos wie langweilig, wie ihre Zofe Harriett zu sagen pflegte.

Mit einem Nicken in Richtung des tänzelnden Reittiers lachte Annabelle kurz auf. „Mir scheint, dass ich eher Euch erschreckt habe oder besser Euer Pferd.“

„Mabon ist in der Tat ein wenig schreckhaft“, erwiderte er und klopfte auf den Hals des roten Pferds, das immer noch mit den Augen rollte, obwohl es endlich stillstand.

„Mabon … ich habe den Namen noch nie gehört. Woher kommt er?“

„Mabon ist eine walisische Sagengestalt. Es heißt, dass er ein Gefolgsmann von Uther Pendragon war und in Gloucester gefangen gehalten wurde.“

„Ach? Ihr interessiert Euch für alte Sagen und Legenden?“

„Ich interessiere mich für viel Dinge, Mademoiselle.“ Bei den Worten neigte er leicht den Kopf, als wolle er eine Verbeugung andeuten, aber der Blick seiner viel zu blauen Augen hing dabei unverwandt an ihrem Gesicht.

„Ist das so?“, fragte Annabelle mit einem koketten Lächeln.

Alfreds Wangen färbten sich sofort rot bis an die Ohren, die unter seiner braunen, speckigen Mütze hervorschauten. „Mademoiselle, es lag mir fern …“

Annabelle lachte leise. Wie leicht sich dieser Alfred aufs Glatteis führen ließ! Ob er wirklich so unbedarft war, wie er schien? Nun, sie würde es herausfinden. „Ach, seid Ihr etwa auch an mir interessiert?“

Die Röte seiner Wangen wurde noch um eine Spur tiefer. Sein Pferd machte einen Schritt zur Seite. Alfred reagierte zu spät, weil er die Mütze von seinem blonden Schopf riss und an seine Brust drückte. „Mademoiselle, es tut mir leid, wenn …“

„Kommt Ihr zum Ball anlässlich meines achtzehnten Geburtstages?“

Sie wusste genau, dass er eine Einladung erhalten hatte. Ihre Mutter hatte keinen heiratsfähigen Mann von Stand ausgelassen. Auch wenn Alfred sicherlich sehr weit hinten auf ihrer Liste potenzieller Ehemänner rangierte.

„Ich …“ Mabon schüttelte den Kopf, weshalb Alfred gezwungen war, ihn zu zügeln. Als Alfred wieder aufsah, leuchteten seine blauen Augen. „Wenn ich auf einen Tanz mit Mademoiselle hoffen dürfte ...“

Herrje, dieser Trottel war hoffnungslos verliebt in sie!

„Vielleicht. Aber ist es nicht so, dass der Held in alten Legenden immer zuerst eine Aufgabe erfüllen muss, ehe er seinen Preis erhält?“

„Und was ist Eure Aufgabe, Mylady?“

„Kennt Ihr die alte Eiche?“

Er nickte.

Lachend wendete Annabelle ihre Stute. „Wenn Ihr mich einholt, ehe ich sie erreicht habe, gehört ein Tanz Euch.“ Bei ihren letzten Worten trieb sie bereits ihr Reittier an und galoppierte den Weg entlang, der in Richtung der alten Eiche führte. Sie würde es ihm nicht so einfach machen! Sonst war der Preis ja nichts wert.

Die grüne Wiese flog nur so an Annabelle vorbei. Sie lachte, als sie sich nach Alfred umsah, der eine halbe Pferdelänge hinter ihr zurückgefallen war. Fast ein wenig steif saß er auf dem galoppierenden Pferd. Niemals würde er sie noch einholen. Die alte Eiche kam schon in Sicht. Dahinter konnte Annabelle die Gehölze ausmachen, die den Hohlweg säumten, der dort durch die Wiesen schnitt. Den konnte sie nicht überqueren, dafür war er zu breit. Chocolate würde sich die Läufe brechen und sie sich den Hals, wenn sie es versuchten.

In diesem Moment flog ein Rebhuhn direkt vor der Stute auf. Chocolate wieherte schrill und brach nach links aus. Ein heißer Schreck durchfuhr Annabelle, aber sie schaffte es, sich im Sattel zu halten. Doch dabei ließ sie die Zügel fahren, die nun unerreichbar für sie über den Boden schleiften. Verzweifelt klammerte sich Annabelle an das Sattelhorn. Die Eiche war vergessen. Der Wind, der eben noch so angenehm ihr Gesicht gekühlt hatte, wirkte auf einmal eiskalt. Trotzdem schwitzte sie, denn das Gehölzband des Hohlwegs kam unaufhaltsam auf sie zu.

„Mademoiselle“, riss eine Stimme sie aus ihrer Lähmung.

Als erwache sie aus tiefem Schlaf, richtete Annabelle den Blick auf Alfred, der zu ihrer Rechten auf seinem roten Hengst neben ihr dahinjagte. Von der Steifheit, mit der er eben noch geritten war, war nichts mehr zu entdecken. Er stand in den Steigbügeln, tief über den Hals seines Reittieres gebeugt, hielt die Zügel nur mit einer Hand und streckte den freien Arm nach Chocolates Zügeln aus.

Mühelos holte er auf. Voraus kam aber auch das Gehölzband des Hohlweges immer näher. Annabelles Herz klopfte ihr bis zum Hals. Halbherzig versuchte sie, nach den Zügeln zu fassen. Brach das Unternehmen bereits nach einem Herzschlag ab und umklammerte stattdessen lieber wieder das Sattelhorn.

Neben ihr trieb Alfred seinen Hengst mit einem Schnalzen weiter an. Wie ein Kunstreiter beugte er sich weit aus dem Sattel, den freien Arm ausgestreckt, den Blick nach vorn auf den näherkommenden Hohlweg gerichtet. Und tatsächlich bekamen seine Finger die Zügel zu fassen.

„Sch“, machte er, „sch!“ Seine Stimme war tief und weich.

Chocolate rollte mit den Augen. Aber Annabelle spürte, wie die Anspannung aus dem Tierkörper unter ihr ein wenig wich.

Alfred nutzte die Gelegenheit und fasste die Zügel enger. Immer näher drängte er seinen roten Hengst an Chocolate heran. Der Gehölzsaum, der den Hohlweg markierte, war schon ganz nah. Da merkte Annabelle, wie der rote Hengst ihre Stute in einen sanften Bogen lenkte, der parallel zu den Gehölzen auslief.

„Sch“, machte Alfred noch einmal.

Seine Hand bekam den Hals der Stute zu fassen. Er klopfte ihn sacht und wie durch Zauberhand wurde Chocolate langsamer. Übergangslos fiel sie in Trab.

Der Wechsel kam so unvermittelt, dass Annabelle das Gleichgewicht verlor. Sie merkte, wie sie nach hinten aus dem Sattel rutschte – zwischen die beiden Pferde. Im nächsten Moment fühlte sie sich von zwei starken Armen gepackt. Einen Lidschlag hing sie in der Luft, dann fiel sie. Zusammen mit Alfred, der versucht hatte, sie festzuhalten.

Hart kam sie auf. Die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst. Alles wirkte entrückt, als wäre sie in Watte gepackt. Ihre Sicht verschwamm. Sie sah nur noch grüne und blaue Schlieren und eine dunkle Gestalt, die sich über sie beugte. Irgendwo weit entfernt rief jemand etwas, das sie nicht verstand. Kühles Wasser benetzte ihre Lippen. Eine Brise kühlte ihr erhitztes Gesicht und eine sanfte Hand strich die Strähnen loser Haare aus ihren Augen.

„Mademoiselle“, sagte Alfred.

Sein Gesicht war nur eine Handbreit von dem ihren entfernt. Annabelle konnte die blonden Stoppeln auf seinen Wangen erkennen und die kleinen Sommersprossen, die seine Nase zierten. Seine Augen waren so blau wie der Frühlingshimmel über ihnen, seine Lippen halb geöffnet, als wolle er sie küssen.

„Was erlaubt Ihr Euch“, keuchte Annabelle und holte aus. Ihre Hand klatschte in sein Gesicht und hinterließ eine rote Spur auf seiner Wange.

Mit einem Ruck setzte er sich auf. Ein endloser Augenblick verstrich, in dem Alfred sie nur anstarrte, während der rote Abdruck auf seiner Wange dunkler zu werden schien. Fast tat er ihr ein bisschen leid.

„Darf ich Mademoiselle beim Aufstehen behilflich sein?“, fragte er endlich.

Das war nicht die Reaktion, mit der sie gerechnet hatte. Wortlos reichte sie ihm die Hand und ließ sich von ihm aufhelfen. Ebenso wortlos bückte er sich, um ihr Hütchen und ihre Reitgerte aufzuheben, und reichte ihr beides. Danach kehrte er ihr den Rücken zu und schritt steifbeinig auf die beiden Pferde zu, die unweit von ihnen am Rande eines Gebüschs grasten.

Erst in diesem Augenblick wurde Annabelle klar, wie nah sie dem Hohlweg waren. Alfred hatte ihr unzweifelhaft das Leben gerettet und sie hatte nichts Besseres zu tun, als ihn zu ohrfeigen, weil er sich voller Sorge über sie gebeugt hatte.

„Den Tanz konntet ihr Euch leider nicht erringen“, sagte sie leichthin, während sie ihr Hütchen wieder aufsetzte. „Ihr habt mich erst hinter der Eiche eingeholt.“ Sicherlich würde er nun darauf bestehen, den Tanz trotzdem zu erhalten, da er sie gerettet hatte.

Aber Alfred löste nur die Zügel der Stute, die er an einen Zweig gebunden hatte, und führte diese zu ihr. Die Zügel in der Hand bot er Annabelle die verschränkten Finger als Aufstiegshilfe an.

Verwirrt stieg sie in seine Hände und ließ sich von ihm in den Sattel heben. „Habt Ihr verstanden, was ich gesagt habe?“, fragte sie.

Die Zügel noch in den Händen sah er zu ihr auf. „Ich habe Euch sehr gut verstanden, Mademoiselle.“

Nichts hatte er verstanden. Rein gar nichts.

„Ihr seid ein Dummkopf!“, fauchte sie.

„Mademoiselle, dann sagt mir, was Ihr von mir wollt!“ Aus großen himmelblauen Augen blickte er zu ihr auf.

Herrgott, war der Kerl naiv! Begriff er denn gar nichts? Sie wollte erobert werden, nicht angehimmelt.

Zornig schlug sie ihm mit der Reitgerte auf die Finger, so dass er die Zügel losließ. „Ich will Abenteuer“, erwiderte sie. „Du naiver Trottel“, lag ihr auf der Zunge, doch den Zusatz verkniff sie sich. Stattdessen fasste sie die Zügel und gab der Stute die Sporen, in der Hoffnung, dass er ihr folgen würde.

Erst mehrere hundert Schritte entfernt wagte sie, einen Blick über ihre Schulter zu werfen. Aber Alfred stand immer noch verloren an der Stelle, wo sie ihn verlassen hatte.

 

 

Es dämmerte bereits, als sie durch das Tor auf den Weg einbog, der zum elterlichen Landsitz führte. Das zweistöckige Gebäude leuchtete rotgolden in der Abendsonne vor dem Wald, der dahinter den Hügel schmückte. Frühe Blumen sonnten sich in den Rabatten entlang des Weges. Die Rosen trugen schon erste Knospen.

Auf der breiten Veranda, zu der die breite zweischenkelige Treppe führte, stand schon ihre Mutter, ein dickes Dreieckstuch um die Schultern geschlungen. Ihre roten Haare leuchteten wie Feuer in den Strahlen der Abendsonne. Sicherlich hatte sie schon ein Klagelied eingeübt, weil ihre Tochter so lange ausgeritten war.

Ian, der irische Pferdeknecht, stand ebenfalls bereit und nahm Chocolates Zügel, als Annabelle die Stute vor der Treppe halten ließ. Geübt führte er das Pferd zu der kleinen Treppe, damit Annabelle absteigen konnte.

„Reib sie gut ab“, sagte sie, während sie dem Burschen die Reitgerte reichte. „Wir sind heute ausgiebig galoppiert.“

„Jawohl, Mylady“, erwiderte Ian eifrig, ehe er das Pferd wegführte.

Annabelle tätschelte noch kurz Chocolates Hals, ehe sie sich der Treppe zuwandte, an deren oberen Ende bereits die Mutter wartete.

„Wo warst du nur so lange“, begann diese, noch während Annabelle die Stufen hinaufschritt. „Die Sonne geht schon unter. Du wirst dich noch erkälten. Und wie willst du dann deinen Geburtstag feiern? Denkst du denn kein bisschen an meine Nerven?“

„Ach, Mutter! Ich denke andauernd an deine Nerven und an meinen Geburtstag. Aber muss ich deswegen aufs Reiten verzichten?“

Missbilligend schüttelte die Mutter den Kopf, als Annabelle die Veranda erreichte. „Herrgott! Schau dich nur an! Du siehst aus wie ein Wildfang. Deine Haare sind völlig aufgelöst und dein Rock sieht aus, als wärst du durch das Unterholz gekrochen. Wo hast du dich nur herumgetrieben?“

„Ich habe Alfred getroffen. Alfred Swan. Den Sohn des Baronets.“

„Alfred Swan? Was willst du denn mit dem armseligen Wicht? Ich hoffe doch, du hast ihm keine Avancen gemacht!“

Die Worte reizten Annabelle dazu, die Mutter zu provozieren. „Nun, der armselige Wicht hat mich gerettet, als Chocolate durchgegangen ist.“

„Dein Pferd ist durchgegangen? Bist du etwa gestürzt? Kind …“ Die grünen Augen der Mutter weiteten sich.

„Es ist nichts passiert. Alfred hat mich aufgefangen. Er ist ein Held. Er sollte an meinem Geburtstag direkt zu meiner Rechten sitzen.“ Sicher würde die Mutter jetzt protestieren, um ihr irgendeinen anderen Mann anzudienen, und darüber den Sturz vergessen.

Aber gegen Annabelles Erwartung ging die Mutter nicht auf ihre Implikationen zu Alfred ein. „Bist du verletzt? Tut dir etwas weh?“ Besorgt fasste die Mutter nach Annabelles Arm.

Unwillig versuchte diese, sie abzuschütteln. „Es geht mir gut. Ich …“

Die Mutter strich über ihre Wange. „Kind, Kind! Du hättest tot sein können. Warum tust du so etwas? Bist du dir sicher, dass dir nichts wehtut? Sollen wir nicht lieber den Arzt kommen lassen? Du könntest eine gebrochene Rippe haben, die sich in deine Lunge bohrt. Oder einen angebrochenen Wirbel. Eine gerissene Milz oder …“

„Rosalind, es ist genug! Du siehst doch, dass sie putzmunter ist.“ Die tiefe Stimme des Vaters unterbrach die Mutter, ehe diese richtig in Fahrt kommen konnte.

Dankbar über das Eingreifen des Vaters wandte sich Annabelle ihm zu und hakte sich bei ihm unter. Sie hakte sich gern bei ihrem gutaussehenden, blonden Vater ein – zum einen, weil sie ihn liebte und zum anderen, weil es ihr Spaß machte, ein bisschen mit ihm anzugeben. „Und? Bist du nicht auch der Meinung, dass der gute Alfred Swan es verdient hätte, neben mir zu sitzen?“

„Mein liebes Mädchen, hör auf, den Männern den Kopf zu verdrehen!“

„Aber das tue ich doch gar nicht. Jedenfalls nicht mit Absicht.“

Der Vater schüttelte den Kopf. „So wie ich den armen Alfred kenne, ist er dir bereits hoffnungslos verfallen.“

„Was kümmert uns dieser Swan“, mischte sich die Mutter ein. „Sag ihr lieber, dass sie künftig besser auf sich aufpassen soll, ehe sie sich noch den Hals bricht.“

„Rosalind, nun komm zu dir! Es ist doch nichts passiert.“

„Ich finde, wir sollten lieber den Arzt …“

„Rosalind, es ist nichts passiert. Was ist nur in dich gefahren? Du benimmst dich immer seltsamer in der letzten Zeit.“

Die Mutter zog das Dreieckstuch enger um ihre Schultern und wandte sich der Haustür zu. „Wenn sich jemand seltsam benimmt, dann ist es deine Tochter. Ich bin nur nervös wegen der anstehenden Feierlichkeiten. Es würde deiner Tochter gut zu Gesicht stehen, wenn sie ein wenig von meiner Sorge übernehmen würde.“

Annabelle stieß einen genervten Laut aus, was ihrem Vater ein leichtes Kopfschütteln entlockte. „Nun, das wird sie sicher noch. Nicht wahr, Annabelle“, sagte er laut.

„Ja“, erwiderte Annabelle und legte den Kopf an seine Schulter.

Vor der Haustür blieb die Mutter stehen und wandte sich ihnen zu. „Zudem hat Sir Latimers Sohn ihr eine Nachricht geschickt. Der sollte sie sich lieber widmen.“

„Richard Latimer?“, fragte Annabelle aufgeregt. Der Streit war vergessen. Denn Richard Latimer war der einzige Sohn eines Barons, der zudem Geld wie Heu hatte. „Wo ist sie?“

„Drinnen. Auf dem Tisch im Salon“, antwortete die Mutter und machte Annabelle Platz, als diese an ihr vorbei ins Haus stürmte.

Ohne auf den Butler zu achten, der ihr die Tür öffnete, eilte Annabelle schnurstracks in den Salon, wo eine kleine Karte auf einem Silbertablett lag, das auf dem runden Tisch neben dem Sofa stand. Ungeduldig riss sie das Kuvert auf, das ihren Namen trug und überflog die wenigen Zeilen. Da stand nur in unpersönlichen Worten, dass Richard Latimer gedachte, die Einladung zu ihren Geburtstagsfeierlichkeiten anzunehmen. Mehr nicht.

Enttäuscht ließ Annabelle die Karte sinken und sah noch einmal in das Kuvert, ob sie auch nichts übersehen hatte.

„Und, was schreibt er?“, wollte die Mutter wissen, als sie am Arm des Vaters den Salon betrat.

„Er kommt“, verkündete Annabelle und wedelte triumphierend mit der Karte. „Vielleicht sollten wir doch lieber ihn neben mir platzieren. Was meinst du, Mutter?“

„Das wäre auf jeden Fall eine bessere Wahl als Alfred Swan“, erwiderte diese kühl.

„Ach, Mutter! Du tust Alfred Unrecht. Er ist ein durch und durch anständiger Kerl.“

„Nun, Anständigkeit hat noch niemanden satt gemacht. Im Gegenteil.“

„Da muss ich deiner Mutter ausnahmsweise Recht geben“, mischte sich der Vater schmunzelnd ein, während er sich einen Brandy einschenkte. „Andererseits sind anständige Männer beständiger.“

Er lächelte dabei. Aber in den Augen der Mutter blitzte es, als habe sie sich erschrocken.

 

Kapitel 2 – Vorbereitungen

 

Ein Rebhuhn flog vor der Stute auf, während Annabelle wie der Wind über die grüne Wiese galoppierte. Der Schreck pulsierte heiß durch Annabelles Adern. Die Stute wieherte wie ein Echo ihres Schreckens auf. Gleich würde sie nach links ausbrechen. Und so geschah es auch, direkt auf das Gehölzband zu, das den tiefen, breiten Hohlweg markierte.

Bilder des Schreckens von Pferden mit zerschmetterten Gliedmaßen und blutüberströmten Reitern wechselten einander ab. Bis Annabelle begriff, dass sie immer noch auf Chocolates Rücken saß. Der Wind schnitt kalt und scharf in ihr Gesicht. Sie sah die Zügel, die durch die grünen Grashalme schleiften und ihre Hände, die eiskalt das Sattelhorn umklammerten.

Loslassen, mahnte sie sich. Sie musste das Sattelhorn loslassen, um nach den Zügeln zu greifen. Sonst würde sie mit gebrochenem Genick am Grunde des Hohlweges enden. Sie sah ihr eigenes Gesicht mit leblosen braunen Augen im Staub liegen, bis eine Stimme sie zurückriss ins Hier und Jetzt.

„Mademoiselle!“

Wie in Trance folgte Annabelles Blick der Stimme und entdeckte Alfred, der wie ein Husar auf seinem roten Hengst neben ihr herjagte. Er hielt die Zügel in einer Hand, mit der er sich auch am Sattel festhielt, und beugte sich weit zu ihr hinüber. Mit traumwandlerischer Sicherheit griff er nach den im Gras schleifenden Zügeln von Annabelles Stute.

„Sch“, machte er und die tiefe, weiche Stimme jagte einen wohligen Schauer über Annabelles Rücken.

Der Stute unter ihr schien es genauso zu ergehen, denn ihre Schritte wurden langsamer. Aus dem Galopp wurde ein Trab, ohne dass Annabelle es bemerkte. Plötzlich standen sie. Der plötzliche Wechsel ließ sie das Gleichgewicht verlieren. Sie fiel, fiel in einen endlosen, dunklen Brunnenschacht, an dessen Ende sie weich in grünem Gras landete.

Die Luft flirrte. Ihr war heiß, denn Alfred beugte sich über sie.

„Mademoiselle“, flüsterte er rau.

Sein Atem streifte ihre Wange, so nah war er. Annabelle studierte die blonden Stoppeln auf seinen Wangen und die kleinen Sommersprossen, die seine Nase zierten. Seine Augen waren so blau wie der Frühlingshimmel, der sich über sie spannte, seine Lippen halb geöffnet, als wolle er sie küssen.

Neugierig schloss Annabelle die Augen und wartete auf die Berührung seiner Lippen. Ihr Atem flog. Jetzt. Gleich. Da endlich fühlte sie die warme Berührung seines Mundes auf dem ihren. Wie Schmetterlingsflügel so zart. Ein Schauer durchrieselte sie und ließ sie atemlos zurück.

Im gleichen Moment wusste sie, dass sie träumte. Denn Alfred würde niemals eine derartige Situation ausnutzen, um sie zu küssen.

Mit einem Seufzen erwachte sie, spürte die weichen Daunen ihres Bettes, die sie einhüllten. Graues Zwielicht sickerte durch ihre Lider. Doch auf ihren Lippen glaubte sie immer noch den Abdruck von Alfreds Mund zu spüren. Sie schmeckte ihm nach, versuchte, ihn lebendig zu halten. Aber mit jedem Augenblick, der verstrich, verblasste er, bis er zu einer vagen Ahnung wurde.

Endlich schlug Annabelle die Augen auf. Durch die Vorhänge der Tür, die auf den Balkon führten, fiel graues Morgenlicht. Sie hatte wieder einmal die Vorhänge ihres Himmelbetts nicht zugezogen, weil sie beim Einschlafen die Sterne beobachtet hatte. Also war es ihre eigene Schuld, dass sie zu früh erwacht war, um den Traum in voller Länge auskosten zu können.

Alfred. Zugegeben, er hatte ein hübsches Gesicht, aber neben dem dunkelhaarigen Richard Latimer wirkte er wie ein Jüngelchen. Ganz zu schweigen von seiner Herkunft. Alfred war der wievielte Sohn des Baronets? Landadel wie sie selbst und noch dazu so gut wie mittellos, da er nichts erben würde. Richard dagegen war der einzige Sohn eines Barons und gehörte somit dem Hochadel an. Neben dem Geld würde er auch den Titel erben. Und langweilig war Alfred zu allem Überfluss auch noch.

Annabelle konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Szene mit Richard ausgegangen wäre. Er hätte sie ausgelacht und auf seinem Tanz bestanden. Ach, was! Er hätte seine Lippen auf die ihren gepresst, ehe sie ihn ohrfeigen konnte, und hätte sich so alle Tänze gesichert, ohne sich nur im Geringsten um den Anstand zu scheren. Nicht so wie der verschüchterte, dumme Alfred!

Wieso in aller Welt träumte sie dann von diesem blassen Langweiler? Die Mutter würde den Kopf schütteln, wenn sie es wüsste. Und Harriett erst! Ihre Zofe würde sich vor Lachen ausschütten, wenn sie es ihr erzählte.

Ob er kam? Alfred hatte bisher keine Karte geschickt. Am Ende hatte die Mutter ihm doch keine Einladung zukommen lassen.

Mit einem Ruck setzte sich Annabelle auf. Dumpfer Schmerz machte sich dabei in ihrem Rücken bemerkbar. Vielleicht hatte die Mutter doch Recht und sie hätten besser gestern den Arzt gerufen. Ach was! Ein paar blaue Flecken würde sie davongetragen haben, mehr nicht. Ein paar harmlose blaue Flecken, die sie in den nächsten Tagen an ihr Abenteuer mit Alfred erinnern würden.

Warum nur hatte der Trottel sie nicht geküsst? War er wirklich zu anständig, um die Situation auszunutzen? Oder war er schlicht zu dumm? Schwer zu sagen, was davon langweiliger war. Wieso nur ging ihr Alfred nicht aus dem Sinn, wenn sie doch das Abenteuer suchte? Denn Abenteuer konnte sie sich an seiner Seite schwerlich vorstellen. Alles, was er verströmt hatte, war das Gefühl von Sicherheit gewesen. Andererseits, war es nicht das, was man bei einem Abenteuer am nötigsten brauchte?

Genug von diesen lästigen Grübeleien. Entschlossen fasste Annabelle nach dem Klingelzug neben ihrem Bett, um ihre Zofe herbeizurufen.

 

 

Harriett schien kein Ende finden zu wollen, als sie Annabelles Haare kämmte. Wieder und wieder fuhr sie mit der Bürste durch die langen, schwarzen Haare, bis sie schimmerten und so weich waren wie Spinnweben. Eigentlich hatte Annabelle genug davon, still zu sitzen. Aber jedes Mal, wenn sie in den Spiegel blickte, glaubte sie, Alfreds Gesicht zu sehen. Zudem würde die Mutter ohnehin nur mit ihr zanken, wenn sie sich unten blicken ließ.

„Stimmt etwas nicht, Mademoiselle“, fragte Harriett, als sie die Bürste beiseitelegte und begann, Harrietts Haare hochzustecken. „Ihr seid so wortkarg heute Morgen. Habt ihr Euch gestern etwa doch verletzt?“

Unwillig schüttelte Annabelle den Kopf, bereute es aber augenblicklich, da erneut ein dumpfer Schmerz durch ihren Rücken fuhr. „Nur ein paar blaue Flecken. Nicht der Rede wert. Ich habe nur über die Gästeliste nachgedacht. Ob wir auch niemanden vergessen haben.“

„Oh, Ihre Frau Mutter hat sicherlich keinen heiratsfähigen Mann von Adel vergessen. Da könnt Ihr beruhigt sein. Und dass Richard Latimer kommt, wissen wir ja schon. Das ist doch die Hauptsache.“

Wahrscheinlich hätte sie gestern noch ähnlich gedacht. „Da hast du Recht“, erwiderte Annabelle. Es war besser, wenn sie dem Klatschmaul von Zofe keine frische Nahrung gab.

„Fertig“, verkündete Harriett und trat einen Schritt zurück, als wollte sie ihr Werk begutachten.

Annabelle gönnte ihr einen kurzen Moment, ehe sie aufstand. „Du kannst jetzt gehen“, sagte sie, während sie die Hand auf die Türklinke legte. „Ich brauche dich vorerst nicht mehr.“

Erst draußen auf dem Flur, der zur Empore führte, erlaubte sie sich durchzuatmen. Wie sie befürchtet hatte, schoss ein Stich durch ihren Brustkorb. Nur gut, dass niemand sehen konnte, wie sie dabei das Gesicht verzog. Sie wartete einen Moment, bis der Schmerz verklang, ehe sie sich der Treppe zuwandte, die nach unten in den Vorraum führte.

Ihre Schritte waren leiser und langsamer als sonst, da sie sich vor neuerlichem Schmerz fürchtete. So hörte sie die Stimmen ihrer Eltern, ehe sie die Tür zum Salon öffnete.

„Was ist los mit dir, Rosalind“, hörte sie den Vater sagen.

Neugierig blieb Annabelle stehen und lauschte. Die Mutter benahm sich in letzter Zeit in der Tat ein wenig merkwürdig.

„Wovon sprichst du?“, erwiderte die Mutter.

„Von deinem gestrigen Verhalten. Du hast völlig überreagiert und Annabelle Angst eingejagt. Wenn sie tatsächlich Beschwerden hat, musst du dich nicht wundern, wenn sie nun nicht mit uns darüber sprechen will.“

„Dann werde ich sicherheitshalber doch den Arzt kommen lassen, damit er sie sich ansieht.“

„Herrgott, Rosalind! Hörst du dir eigentlich zu? Normalerweise sollte Annabelle es uns einfach sagen, wenn ihr etwas wehtut. Vertraust du ihr denn so wenig?“

„Was hat das denn mit Vertrauen zu tun? Annabelle ist widerspenstig und tut immer genau das Gegenteil von dem, was wir von ihr wollen.“

„Was du vielleicht von ihr willst. Ich komme gut mit ihr zurecht.“

„Dann frag du sie, ob sie sich gestern verletzt hat oder nicht. Wenn du so gut mit ihr zurechtkommst“, fauchte die Mutter.

„Das werde ich. Aber ich frage dich, weshalb du dich benimmst, als hätte dir eine Wahrsagerin geweissagt, dass Annabelle ihren achtzehnten Geburtstag nicht erlebt.“

Im Salon war es auf einmal totenstill. Unwillkürlich hielt Annabelle den Atem an. Der Vater hatte den Nagel auf den Kopf getroffen und die Mutter schwieg, als hätte er Recht. Annabelles Handflächen wurden feucht.

„Du redest Unsinn, Robert. Und das weißt du auch. Ich bitte dich darum, solch makabres Gerede zu unterlassen, ehe die Dienstboten es noch mitbekommen. Du weißt, wie schnell Gerüchte die Runde machen.“

Ein Räuspern hinter Annabelle ließ sie zusammenzucken, was sofort mit einem scharfen Stich belohnt wurde. Mr Lewis stand hinter ihr und sah sie missbilligend an. Annabelle glaubte, beim Anblick des Butlers zu schrumpfen.

„Was treibt Ihr da“, fragte er.

„Nichts“, erwiderte Annabelle. „Mir schien nur, ich hätte die Klingel gehört. Aber ich muss mich wohl getäuscht haben.“

„So ist es“, antwortete der Butler und öffnete ihr die Tür zum Salon.

„Annabelle, Kind“, sagte der Vater, als er sie bemerkte. „Du bist heute aber früh auf den Beinen. Setz dich zu uns! Möchtest du einen Tee, bis das Frühstück bereit ist?“

„Nein, ich hätte lieber eine Tasse heiße Schokolade, aber bitte mit etwas Zimt und Kardamom“, erwiderte Annabelle, während sie sich zum Vater auf das Sofa setzte.

„Sehr wohl, Mademoiselle.“ Mit einer Verbeugung nahm Mr Lewis Annabelles Wunsch entgegen und verließ daraufhin geräuschlos den Salon.

„Was treibt dich so früh zu uns“, fragte der Vater.

Annabelle zuckte mit den Schultern. „Die blauen Flecken und meine Dummheit. Weil ich die Vorhänge an meinem Bett offenstehen ließ, um die Sterne sehen zu können.“

Der Vater schmunzelte. „Gegen Herzschmerz habe ich kein Rezept. Aber gegen die blauen Flecke hilft Arnikasalbe. Damit kenne ich mich aus.“

„Vielleicht sollte doch besser ein Arzt …“, begann die Mutter.

Aber der Vater unterbrach sie. „Verlange nach Arnikasalbe, Rosalind!“ Zu Annabelle gewandt setzte er hinzu: „Harriett kann dir beim Einreiben helfen. Und nun erzähl mir, weshalb du so gern die Sterne betrachtest. Sag bloß, der harmlose Alfred Swan hat dich um den Schlaf gebracht.“

Wider Willen musste Annabelle lachen. Vater war einfach der Beste!

„Ein wenig“, gab sie zu. „Denn ich habe die halbe Nacht überlegt, ob er eine Einladung erhalten hat oder nicht. Es wäre ziemlich brüskierend, hätte er keine bekommen. Zumal ich ihn gestern gefragt habe, ob er kommen wird.“ Und er hatte ihr keine Antwort darauf gegeben, fiel ihr in diesem Augenblick auf. Fragend sah Annabelle die Mutter an.

„Selbstverständlich hat er eine Einladung erhalten. Wie du schon sagst, käme es einem Affront gleich, hätte ich seine Familie vergessen. Wenn ich ihn auch nicht wirklich als Heiratskandidaten in Betracht ziehe.“

„Ach, Mutter!“ Annabelle schnaubte. „Das ist meine Geburtstagsfeier, keine Brautschau!“

„Du verkennst den Sachverhalt, Annabelle. Der achtzehnte Geburtstag einer jungen Frau ist von immenser Bedeutung. Mag ja sein, dass es dir gleichgültig ist, wer neben dir zu Tisch sitzen wird oder wer mit dir tanzt. Aber der Rest der Gesellschaft wird sehr wohl ein Zeichen darin sehen. Also solltest du darauf achten, wem du an diesem Abend den Vorzug gibst. Eine voreilige Bevorzugung einer Person kann sehr schnell missdeutet werden und dich einem Mann verpflichten, den du nicht willst. Hast du das verstanden?“

„Ja, Mutter.“ Annabelle seufzte. Wie oft hatte die Mutter ihr schon diesen Vortrag gehalten? Sie sollte ihn mittlerweile auswendig können.

Der Butler kam herein und stellte mit einem „Ihre Schokolade“ die Tasse auf den Beistelltisch neben dem Sofa. Nach einem Räuspern fügte er hinzu: „Das Frühstück wird in einer Viertelstunde angerichtet sein.“ Nach diesen Worten verließ er den Salon ebenso leise, wie er ihn betreten hatte.

Vorsichtig nippte Annabelle an dem heißen Getränk und genoss die sanfte Schärfe des Kardamoms in Verbindung mit der Süße des Kakaos und der Würze des Zimts.

„Das bedeutet, dass ich selbstverständlich Richard Latimer neben dich platzieren werde und ich hoffe, dass du ihm wenigstens zwei Tänze in deinem Tanzbüchlein schenkst“, fuhr die Mutter währenddessen fort.

Annabelle sah sie über den Tassenrand hinweg an.

---ENDE DER LESEPROBE---