Blutmain - Franziska Franz - E-Book

Blutmain E-Book

Franziska Franz

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Die junge Melinda erwacht verletzt auf einer Motorjacht mitten auf dem Frankfurter Main. Sie ist orientierungslos und ohne Erinnerung an die letzten Stunden. Tage später wird die Leiche einer brutal ermordeten Frau an der Offenbacher Schleuse gefunden. Hat Melinda mit ihrem Tod zu tun, oder will ihr jemand den Mord anhängen? Denn die Jacht, auf der Melinda sich befand, gehörte dem Mordopfer. Ein Fall für Kommissar Kai Herbracht und die Privatermittlerin Karla Senkrecht, die sich mit besonderer Vorliebe in die Polizeiarbeit einmischt.

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Seitenzahl: 339

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Franziska Franz

Blutmain

Kriminalroman

Zum Buch

Dunkles Wasser Melinda erwacht verletzt auf einer Motorjacht mitten auf dem Main. Zunächst hat sie keine Ahnung, wie sie hierhergekommen ist. Doch bald erinnert sie sich an Francesco. Sie wollte mit ihm das Wochenende verbringen. Aber wieso ist er nicht bei ihr? Es gelingt ihr, das Boot anzulegen und zu Francesco nach Hause zu gehen. Dort steht seine Wohnungstür offen, von ihm keine Spur. Hat ihr Ex-Freund Mike mit seinem Verschwinden zu tun? Er hat sie stets eifersüchtig bewacht. Auf der Straße wird sie von der Polizei aufgegriffen. Plötzlich gilt sie als Hauptverdächtige in einem Mordfall, da die Besitzerin der Jacht, auf der sie aufgewacht ist, vermisst und später ermordet aus dem Main geborgen wird. Hat Melinda etwa etwas mit ihrem Tod zu tun? Woher stammen ihre Verletzungen aus jener Nacht? Sie weiß nicht, wem sie trauen und was sie glauben soll und bittet ihre Nachbarin, Rechtsanwältin Beate Pauli, um Hilfe. Natürlich mischt sich auch deren Lebensgefährtin Karla Senkrecht in den Fall ein, sehr zum Leidwesen von Kriminalkommissar Kai Herbracht.

Franziska Franz, geboren in Detmold, lebt in Frankfurt am Main. Dank ihrer Schauspielausbildung und Fernseherfahrung hält sie lebendige Lesungen und hat keinerlei Scheu, auf einer Bühne zu stehen. Sie ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Töchter. Ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte sie mit Abenteuergeschichten für Kinder im didaktischen Bereich. Später veröffentlichte sie Kurzkrimis in Anthologien und parallel dazu Thriller und Kriminalromane. Seitdem fühlt sie sich im Krimi-Genre beheimatet. Sie ist Mitglied im Syndikat und bei den Mörderischen Schwestern und bietet Lesecoachings für Autoren an.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Tim Fraats / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6588-8

 

 

1

4. August 2018, Frankfurt

Blubb, blubb, blubb. Melinda riss die Augen auf – dieses Geräusch, klatschend, schmatzend. Ihr war schwindlig und übel. Sie musste sich übergeben. Sie hustete, keuchte und immer wiederkehrende Krämpfe brachten sie zum Würgen. Sie stöhnte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Körper zitterte, alles um sie herum schwankte, und sie fror. Ihr Kopf hämmerte, und sie presste beide Hände an die Schläfen, ertastete eine dicke verkrustete Beule und erschrak. War sie gestürzt, und wo war sie überhaupt? Hatte sie eine Gehirnerschütterung? Trotz der rasenden Kopfschmerzen zwang sie sich nachzudenken.

Blubb, blubb, blubb. Hörte sich an wie Wasser, das gegen Wände spritzt. Vorsichtig hob sie den schmerzenden Schädel. Vor sich sah sie das verwaiste Lenkrad eines Motors, besser gesagt eines Motorbootes. Sie lag auf schwankendem Boden und starrte in die sternenklare Nacht. Was machte sie hier? Sie konnte kein Motorboot bedienen, würde nie eines freiwillig betreten. Die Erinnerung an die letzten Momente fehlte, oder waren es Stunden? Sie wusste es nicht. Ihr Handy. Sie tastete danach, tastete um sich herum. Da war nichts als Bootsboden.

»Hallo, ist jemand hier?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Hallo?« Nichts. Nichts als das Blubbern des Wassers, das an die Bootswand klatschte.

Niemals hätte sie allein ein Motorboot gechartert. Und auf welchem Gewässer befand sie sich überhaupt? Ihrer Übelkeit trotzend, erhob sie sich. In der Ferne sah sie das Ufer. Und das, was sie sah, das erkannte sie zum Glück. Rechts standen die Häuser, die an den Main grenzten, und auf der anderen Uferseite konnte sie das Gelände der Universitätsklinik ausmachen. Sie war nicht weit vom Ufer entfernt und sah die Mole, die zu den Bootsanlegern der Häuserzeile am Wasser führte. Sollte sie über Bord springen und zur Mole schwimmen?

Das Wasser, die Dunkelheit, das Boot und vor allem die Einsamkeit machten ihr Angst. Sicher gab es auf dem Main Strömungen. Wieder legte sie eine Hand vorsichtig auf die riesige Beule an der Schläfe. Der Kruste nach zu urteilen, musste sie kräftig geblutet haben.

Weshalb nur war sie auf einem Boot, was sie nie zuvor gesehen hatte, und noch dazu verletzt?

Irgendwo hier drin mussten doch Paddel liegen, so viel sie wusste, hatte ein jedes Boot Paddel für den Notfall. Oder traute sie sich zu, den Motor zu starten? Sie rutschte näher zum Steuer, zog sich am Lenkrad hoch: Das Zündschloss war leer, kein Schlüssel. Sie drehte sich um und entdeckte den Zugang zum Unterdeck. Dies war kein Boot, sondern eine Jacht; selbst wenn ein Schlüssel vorhanden wäre, sie würde sie niemals steuern können. Es half alles nichts, sie musste runter. Vielleicht befanden sich unten brauchbare Dinge. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie keine Schuhe trug. Sie blickte an sich herab. Ihre Jeans-Shorts waren eingerissen und ihr T-Shirt war an mehreren Stellen versteift, wahrscheinlich vom Blut aus ihrer Kopfwunde. So vorsichtig und zaghaft wie das auf einem schwankenden Boot möglich war, schlich sie zu der Treppe, die zum Unterdeck führte. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Doch in diesem Moment entdeckte sie das Paddel an der Seitenwand. So geräuschlos wie möglich nahm sie es auf. Sollte dort unten jemand auf sie warten, dann würde sie ihm das Paddel überziehen. Es fühlte sich an, als habe sie die Situation selbst schon durchlebt. Mit zitternden Knien schlich sie die Treppe hinunter. Das Paddel war lang und sperrig und schlug ein paar Mal hart gegen die Wände. Sie blieb stehen, lauschte angestrengt, doch bis auf das Plätschern des Wassers war nichts zu hören. Die Kabine lag im Dunkeln, natürlich, es war Nacht. »Hallo?«, flüsterte sie. Mit zittrigen Fingern suchte sie nach einem Lichtschalter und fand ihn schließlich. Es ängstigte sie, als würde sie eine Bombe zünden. Die Kabine war leer. Niemand schien hier unten gewesen zu sein, kein Blut, keine Kampfspuren. Es hatte sich oben an Deck abgespielt, was auch immer es gewesen sein mochte. Ängstlich stieg sie die Stufen hinauf.

An der rechten Bordwand fand sie schließlich ein zweites Paddel. Sie zog es aus seiner Verankerung, lehnte sich gegen die Bootswand und ließ ein Paddel ins Wasser gleiten. Das Boot war zu breit um richtig zu paddeln, doch immerhin machte es eine Wende. Schnell stürzte sie zur anderen Bordwand. Sie musste gegensteuern, um nicht die Zufahrt zu verfehlen. Wegen der Schmerzen stöhnte sie laut auf bei der Anstrengung, doch nach einiger Zeit glitt das Boot in die Mole, um krachend an den ersten Anleger zu prallen, der zum Glück nicht belegt war. Doch trotz des Schlages ging kein Licht an in den Fenstern der an den Steg grenzenden Häuser. Das Boot schwankte, doch konnte sie mit Mühe den Anleger erreichen. Sie griff das Seil, schwang es um den Pfosten und kletterte kraftlos auf den Bootsrand und von dort mit einem großen Schritt auf den Steg.

Plötzlich hatte sie einen Geistesblitz – Francesco, mit ihm war sie gestern hier gewesen. Es war seine Wohnanlage, in der sie sich befand. Aber natürlich! Aber wo war Francesco überhaupt? Sie hatte ihn erst kürzlich auf einer ihrer Modenschauen kennengelernt. Es war im »Hessischen Hof« gewesen, er hatte in der ersten Reihe gesessen. Sie hatte sich sofort unsterblich in ihn verliebt. Er war ein so unglaublich attraktiver südländischer Typ, dunkle Augen, athletisch und unglaublich sexy.

Mike hatte das sehr missfallen. Mike Seiler war Model wie sie. Sie wurden für Modenschauen oft gemeinsam gebucht. Irgendwann hatte sich dann eine kleine Affäre zwischen ihnen entwickelt. Für mehr war sie damals noch nicht bereit gewesen. Mike hatte darunter gelitten, als sie Schluss machte, hatte bis heute keine neue Freundin. Immer wieder hatte er gefragt, ob sie es nicht nochmal probieren wollten. Er hatte sie an dem Abend vor Francesco gewarnt. Hatte ihn einen halbseidenen Typen genannt. Sie hatte ihn nie zuvor so aufgebracht gesehen. Konnte es möglich sein, dass er mit Francescos Verschwinden zu tun hatte? Wusste er, dass Francesco sie über das Wochenende zu sich eingeladen hatte?

Sie hatte das nie zuvor getan, einen fremden Mann besucht. Doch bei Francesco war einfach alles anders gewesen. Hatte Mike das gespürt? Aber auch Francesco war seinerseits auf Mike aufmerksam geworden. »Wer ist dieser Kerl mit dem irren Blick, der dich permanent anstarrt, ein Stalker? Wie heißt der Typ, den nehm ich mir vor, wenn er dich belästigt«, sagte er. War Mike ein Stalker?

Sie hatte sich am Wochenende heimlich davongestohlen, ohne ihren beiden Nachbarinnen Bescheid zu sagen, die sich immer so liebevoll um sie kümmerten. Sie waren so etwas wie ihre Familie, die beiden Frauen. Doch von Berufs wegen waren sie fremden Menschen gegenüber skeptisch, deswegen hätte sie auch nie etwas über Mike erzählt. Sie hätten ihn vermutlich sofort überprüft. Gehörte zu ihrem Beruf. Die eine war Privatermittlerin, die andere Rechtsanwältin. Doch Melinda war mit ihren 29 Jahren alt genug, selbst über ihr Leben zu entscheiden. Jedenfalls war sie erst gestern mit der Straßenbahn hergefahren, zwar fuhr sie nur einen Smart, doch hatte er gesagt, es könne problematisch werden mit den Parkplätzen, deshalb habe er selbst einen Tiefgaragenplatz. Oder sagte er das vorgestern? Sie wusste es nicht. Wieder ging ihr Mike durch den Kopf. Hatte er sie am Ende verfolgt? Nein, Unsinn. Er würde sie doch nicht verletzen, das musste sie sich aus dem Kopf schlagen.

In Francescos Wohnung hatte sie sich jedenfalls gleich wohlgefühlt, ein echter Traum. Man hätte denken können, dass man sich in Südfrankreich befände. Er war nicht nur attraktiv, sondern auch reich. Und er war in sie verliebt. Sie hatten für einige Minuten auf der Terrasse gestanden und schauten links direkt aufs »Gerippte«, das runde Hochhaus, welches diesen Namen trägt, da es einem Apfelweinglas ähnelt, mit seinem rautenförmigen Rippenmuster. Sie war dort mal im achten Stock gewesen, hatte sich eine Vernissage angeschaut, jedoch mehr Augen für diese Luxusimmobilien gehabt, die man von oben bestaunen konnte.

»Komm, lass uns nach Sachsenhausen laufen, ich hab Lust auf Apfelwein, du auch?«, hatte er sie gefragt und sie in den Nacken geküsst. Er hatte sein Hemd ausgezogen, ihr den Rücken gekehrt und sich ein T-Shirt über den muskulösen Oberkörper gezogen. Dabei hatte sie sein Tattoo gesehen. Dieses auffallend rote Herz, welches ein schwarzer Pfeil durchbohrte. Es sah an seinem Körper einfach sexy aus.

»Damit bist du schon von Weitem unverwechselbar«, hatte sie anerkennend gesagt.

Er hatte sich zu ihr umgedreht, sie nah zu sich gezogen und ihr eine Nacht versprochen, die sie nie mehr vergessen würde.

Nun brachen sich wieder all die düsteren Gedanken Bahn. Was war in dieser unsäglichen Nacht geschehen?

Sie rappelte sich auf. Erst einmal runter hier, runter von diesem Steg, weg vom Wasser.

Ihr T-Shirt war feucht und kühlte ihren Körper aus, sie fror und schlang die Arme um sich. Was, wenn Francesco etwas zugestoßen war?

Ein hässlicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Was, wenn er versucht hatte, sie zu vergewaltigen? Sie hatte sich gewehrt, nachdem er sie verletzt hatte, ihn vielleicht mit einem Gegenstand getroffen, er war gestürzt und über Bord gefallen.

Sie musste unbedingt zurück in sein Apartment, dort stand ihr Übernachtungsgepäck. Außerdem hätte sie nicht gewusst, wohin sie sonst hätte gehen sollen, wenngleich sie keine Ahnung hatte, wie sie da ohne Schlüssel reingelangen konnte. Doch vielleicht war ja alles ganz anders, sie hatten sich verloren und er wartete bereits dort oben auf sie. Sie wollte auf ihre Armbanduhr schauen, doch auch ihre Uhr war verschwunden. Es war wie in einem Albtraum, aus dem man nicht erwacht. Wie lange mochte sie auf dem Boot gelegen haben? Ihr fiel ein, dass sie gestern in diesem T-Shirt und den Shorts hier angekommen war. Sie hatte sich umziehen wollen, doch war er so hungrig gewesen, dass er sagte, sie sei hübsch genug für ihn. Karpfenweg hieß die Straße, oder besser der Weg, auf dem die Wohnanlage stand. Er wohnte vorne im Eckhaus, in der vierten Etage, direkt neben der Brücke, die über die Mole führte, das wusste sie noch. Sie schaute angestrengt nach oben, die Fenster waren unbeleuchtet. Hätte er sie erwartet, dann hätte er doch gewiss Licht angelassen, auf sie gewartet oder wäre gar unten herumgelaufen, hätte die Feuerwehr oder die Polizei alarmiert. Zu ihrer großen Überraschung war die Tür des Apartmenthauses bloß angelehnt, ein Stückchen Holz hatte verhindert, dass sie ins Schloss fiel. Eigentümlich bei einer solch teuren Immobilie. Da hatten die Leute doch sicher Angst vor Einbrechern. Sie traute sich nicht, den Fahrstuhl zu benutzen, um keine Geräusche zu machen, also schlich sie barfuß die Treppe hoch. Zwischendurch blieb sie stehen, um sich am Geländer festzuhalten, so stark hämmerte ihr Kopf. Endlich oben angekommen, traute sie ihren Augen kaum. Die Tür des Apartments war ebenfalls nur angelehnt. Sie sah auf das Türschild. Es stand kein Name darauf, das hatte sie schon gestern bemerkt.

Behutsam schob sie die Tür weiter auf. Vielleicht war Francesco entführt worden, schließlich war er reich. Und nun lag er gefesselt und geknebelt in einem Raum, unfähig, sich zu befreien. Möglicherweise waren es mehrere Entführer gewesen, einer war noch hier und wartete nur darauf, sie, Melinda, ebenfalls in seine Gewalt zu bringen. Sie sollte die Polizei rufen, doch hatte sie kein Handy, und aus einer fremden Wohnung heraus, in der der Besitzer fehlt, vom Festnetz telefonieren? Keine gute Idee. Ihre Eltern anrufen? Seit Monaten hatte sie keinen Kontakt zu ihnen gehabt. Sie hatten kein Verständnis für ihre Berufswahl gehabt und unterstützten sie nicht, hatten den Kontakt zu ihr mehr oder weniger abgebrochen. Sie solle erst etwas Anständiges lernen.

»Wo steckst du nur, Francesco?«, flüsterte sie.

Mit zitternden Fingern tastete sie nach dem Lichtschalter. Als das Licht den Eingangsbereich beleuchtete, sah sie den Schlüsselbund. Der lag auf einem kleinen Tischchen neben einem riesigen Spiegel. Sie erschrak, als sie einen Blick auf ihr Spiegelbild warf. Die Platzwunde war groß und verlief quer über der rechten Schläfe. Ob das nicht genäht werden musste? Zumindest musste die Wunde desinfiziert werden. Ihre Kleidung war über und über mit Blut besudelt. Wenn das nur ihr Blut war, dann hatte sie viel verloren.

Sie betrat den offenen Wohnraum und fand den Schalter. Die indirekte Beleuchtung an den bodentiefen Fenstern erhellte den Raum.

»Francesco?«, fragte sie leise. Die offene Küche, die sie noch gestern bewundert hatte, schien unbenutzt. Hier war weder gekocht noch gegessen worden. Alles war unberührt, wie sie es vom Abend in Erinnerung hatte. Blieb nur noch das Schlafzimmer, dort hatte sie ihre Tasche abgestellt. Ob er dort war? Ihr Herz klopfte, doch sie musste sich vergewissern. Vorsichtig öffnete sie die Tür, lauschte, ertastete auch dort den Lichtschalter und bediente ihn. Nichts. Auf dem Bett lag Francescos Lederjacke, von ihm keine Spur. Er hatte sie gestern bei sich gehabt, er musste folglich noch einmal hier gewesen sein. Vor dem riesigen Doppelbett hatte sie bei ihrer Ankunft ihre Reisetasche abgestellt, sie fehlte. Merkwürdig, warum sollte er sich mit ihren Sachen davongemacht haben? Es waren nur ein paar Kleidungsstücke darin. Ihre Handtasche hatte sie mitgenommen, doch auch sie war nun fort. Nichts war ihr geblieben, nicht einmal ihre Kleider.

Sie nahm seine Jacke, durchsuchte die Innentaschen und war verblüfft. In der linken Brusttasche befand sich seine Geldbörse. Sie nahm sie raus, öffnete sie. Und als sie den Inhalt genauer betrachtete, da war sie sich beinah sicher, es war etwas Schlimmes geschehen. In den Seitenfächern fanden sich sein Ausweis und etwas Bargeld. Er würde wohl kaum das Haus verlassen, ohne beides mitzunehmen. Sie legte die Geldbörse aufs Bett und dachte nach.

Das Badezimmer, die letzte Möglichkeit. Auch diese Tür war nur angelehnt. Mit einem Ruck stieß sie sie auf. Auch dieser Raum war unbenutzt. Keine Wassertropfen an den Wänden der Dampfdusche, die darauf hätten schließen lassen, dass hier kürzlich jemand gewesen war. Sie ging zurück in die Diele.

Warum nur waren sowohl Haustür als auch Apartmenttür unverschlossen gewesen? Würde er jeden Moment wiederkommen, hatte nur kurz die Wohnung verlassen, um nach ihr zu suchen? Die Stille war beängstigend. Die Wohnungstür, sie stand noch immer offen. Eilig schloss sie die Tür. Sie nahm den Schlüssel auf dem Tisch neben dem Spiegel in die Hand. Hing am Bund vielleicht auch der Wohnungsschlüssel? Nein, nur der Porscheschlüssel und eine Fernbedienung, vermutlich für die Tiefgarage. Sie betrachtete den Bund. Kein Hausschlüssel dran. Merkwürdig, an ihrem Schlüsselbund befanden sich alle Schlüssel, die sie besaß. Trug er den Hausschlüssel bei sich? Er hatte den Bund gestern dort abgelegt. Sie hatte ihn aber nicht weiter beachtet.

Was sollte sie tun? Von hier verschwinden, mitten in der Nacht? Sie ging ins Schlafzimmer und sah sich um. An der einen Seite befand sich eine kaum sichtbare Tür, vermutlich zu einem begehbaren Kleiderschrank. Sie öffnete die Tür und sah sich um. Mit dem, was sie dort vorfand, hatte sie nicht gerechnet. Damenbekleidung. Röcke, Blusen, merkwürdig. Sagte er ihr nicht, dass es sein Apartment ist?

Die Garderobe der Frau, der diese Sachen gehörten, war hochwertig. Seide, Kaschmir, auf den Etiketten Markennamen, damit kannte sich Melinda als Model aus. Konservative Garderobe. Nichts, was Frauen wie Melinda tragen würden. Sie zog die Schublade einer Kommode auf, die unter einem großen Wandspiegel stand. Damenwäsche, viel Spitze, Mieder, hausbacken. Sie hätte schwören können, dass die Frau, der die Garderobe gehörte, deutlich älter war als sie. Sie suchte nach Francescos Wäsche. Nicht eine einzige Boxershorts. In einer weiteren Schublade sorgfältig zusammengelegte Blusen und ein paar wenige T-Shirts. Gott sei Dank, ein frisches T-Shirt konnte sie brauchen. Sie zog ein paar helle Teile heraus. Nichts als bedruckte Shirts mit Herzen, Goldapplikationen, Strasssteinen. Egal, Hauptsache etwas Frisches. Sie nahm ein T-Shirt und warf es aufs Bett. In der letzten ungeöffneten Schublade lagen nach Farben geordnete Kaschmirpullover, auch diese mit auffälligen Motiven. Schließlich fand sie eine Strickjacke, in Leopardenlook. Egal, sie würde sie brauchen können. Eine passende Jeans fand sich leider nicht, eigentlich überhaupt keine Hosen. Die Frau, deren Sachen hier lagen, schien nur Kleider und Röcke zu tragen.

Ob sie das Risiko eingehen konnte, sich zu duschen und vor allem ihre Kopfwunde zu reinigen? Jederzeit konnte er hier auftauchen oder sie? Oder jemand! Dennoch, sie musste es wagen, wenn sie so von hier verschwände, würde man sie direkt aufgreifen. Die Nähe zum Rotlichtviertel. Man würde sie vermutlich für eine Prostituierte halten. Sie zog den Plexiglastisch von der Wand und schob ihn vor die Tür. Den Porscheschlüssel legte sie zu den frischen Sachen. Erst jetzt spürte sie ihren Durst. Sie ging ins Bad, öffnete den Wasserhahn am Waschtisch und trank in großen Schlucken.

Nachdem sie sich ausgezogen hatte, entdeckte sie weitere blaue Flecken an den Armen. Unterhalb des Waschtisches befanden sich große Schubladen, die sie öffnete. Schminkutensilien, Anti-Aging-Produkte, Masken. Sie öffnete ein weiteres Fach und fand Brauchbares. Neben Zahnpasta, Zahnseide, Pinzette und Wimpernzange befanden sich Hühneraugenpflaster und normale Pflaster. Sogar einige größere. Daneben stand Desinfektionsmittel. Gott sei Dank. Vorsichtig säuberte sie die Wunde mit Wasser, ein etwa drei Zentimeter großer Riss kam zum Vorschein. Sie reinigte ihn mit Desinfektionsmittel und klebte das größte wasserdichte Pflaster, das sie finden konnte, darauf.

Zwei unbenutzte Handtücher hingen gleich neben der Duschkabine.

Die Dampfdusche war groß genug, um eine ganze Familie gleichzeitig darin unterzubringen. Sie genoss das Wasser, das ihr durch einen Regenwasser-Duschkopf sanft über Kopf und Körper lief und sie wärmte. Sie ließ sich wenig Zeit, drehte den Wasserregler bald ab, nahm sich ein Handtuch und trocknete ihren Körper.

Sie fühlte sich besser, halbwegs sauber und aufgewärmt. Für die Strickjacke war sie dennoch dankbar. Nun erst spürte sie, dass sie lange nichts zu sich genommen hatte. Ob sich etwas Essbares in der Küche befand? Sie öffnete den Kühlschrank. Das Angebot war übersichtlich. Außer einem in Klarsichtfolie eingepackten Stück Käse und ein paar Flaschen Wein befanden sich keine Überraschungen in dem riesigen amerikanischen Kühlschrank. Kein Wunder, dass Francesco Essen gehen wollte. Sie wickelte den Käse aus, sah halbwegs frisch aus. Nachdem sie ein paar Bissen gegessen hatte, legte sie den Rest zurück in den Kühlschrank. Sie war sehr matt und würde einen Moment entspannen müssen.

Sie ging zum Schlafzimmer, nahm jedoch vorher die Schlüssel aus der Diele an sich. Zögerlich legte sie sich auf das fremde Bett, das ihr ebenso fremd war wie Francesco. Mit offenen Augen starrte sie unter die Zimmerdecke und dachte an den gestrigen Abend. Sie hatten draußen gesessen, vorm »Wagner«. Alle Tische waren um diese Zeit besetzt gewesen, und sie hatten sich zu einer angetrunkenen, aber witzigen Männerrunde gesellt.

»Dürfe mer eusch uff en Ebbelwoi einlade?«, hatte einer der Typen gesagt, der Bedienung ein Zeichen gemacht, drei zusätzliche Gläser und einen Bembel bestellt.

»Bist du en Ittaker?«, hatte er Francesco gefragt.

Melinda hatte die Luft angehalten, denn eigentlich hätte man das als Schimpfwort auffassen können. Doch Francesco hatte lauthals darüber gelacht.

Der Apfelwein war ihr recht schnell zu Kopf gestiegen, denn sie hatte bis dahin wenig gegessen, der Handkäs hatte vermutlich nicht ausgereicht. Bis dahin war es dennoch ein unbeschwerter Abend gewesen. Die Männer hatten sich längst verabschiedet, doch sie waren sitzen geblieben. Irgendwann hatte sie vorgeschlagen zu gehen. »Ich schätze, sonst hast du heute nicht mehr viel von mir.«

»Bis wir zu Hause sind, bist du wieder nüchtern. Der Ebbelwoi hat nicht so viel Alkohol. Einen bestell ich uns noch.«

»Dann muss ich aber mal schnell aufs Klo.« Das war tatsächlich der letzte Satz, an den sie sich erinnerte.

Wahrscheinlich hatte sie einfach einen Filmriss wegen des Alkohols gehabt. Wenn sie einen Schwips hatte, dann tat sie manchmal die verrücktesten Dinge. Vielleicht war sie ihm weggelaufen. Ihm war es zu mühsam, sie zu suchen. Das erklärte die offenen Türen. Er wusste, dass sie keinen Schlüssel hatte. Hatte er sie zu einer nächtlichen Tour überredet? Vielleicht war beim Ablegen jemand an Bord gekommen, hatte ihn überwältigt und entführt, jemand, der ihn aus dem Weg räumen wollte, Mike? Nein, ganz anders – die Frau, die hier wohnte, hatte die Polizei verständigt, denn er war zu Unrecht in die Wohnung eingedrungen. Natürlich, deswegen hatte er sich nicht bei ihr gemeldet. Er war verhaftet worden. Sie hielt in ihren Überlegungen inne. Nein, das machte keinen Sinn. Wo war dann die Frau? Und Francesco war natürlich kein Verbrecher, nie und nimmer.

Lautes Vogelgezwitscher weckte Melinda. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war, und erschrak. Sie schnellte hoch, sah sich um, und die Erinnerung kehrte zurück. Sie musste eingeschlafen sein, es war heller Tag. Sie setzte sich auf. Der Wecker neben dem Bett stand auf 10.17 Uhr. Ach du Schreck. Sie sprang auf, öffnete die Tür und starrte rüber zur Eingangstür. Nichts hatte sich verändert, der Tisch stand immer noch dort. Sie schob ihn zurück an die Wand, musste hier endlich verschwinden. Sie nahm Francescos Geldbörse, das wenige Bargeld würde sie brauchen. Sie könnte sich ein Taxi rufen. Nein, besser nicht, viel zu gefährlich. Er würde bei der Polizei gegen sie aussagen, falls sie ihm etwas angetan hatte. Wenn sie doch wenigstens ihr Handy hätte. Vielleicht hatte sich Francesco ja längst gemeldet. Sie betrachtete den Autoschlüssel. Sie würde den Porsche nehmen. Das war die einzige Möglichkeit, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Der Porsche stand gewiss in der Tiefgarage. Denn gestern waren sie zu Fuß über die Bahnhofsbrücke bis nach Sachsenhausen gelaufen. Und ohne den Schlüssel würde er vermutlich nicht weggefahren sein, es sei denn, er hatte einen Zweitschlüssel. Sie verließ die Wohnung und fuhr mit dem Lift zur Parkgarage. Ein Porsche war direkt neben dem Lift geparkt, auf einem Kopfparkplatz. Sie betätigte die Fernbedienung des Schlüssels und das Türschloss sprang auf, Gott sei Dank.

Sie startete den Motor, schaltete einige Male, ein leichter Rückwärtsruck bestätigte, dass sie sich im richtigen Gang befand. Sie trat die Kupplung und gab Gas. Der Motor heulte auf. Sie schrie auf vor Schreck. Dieses Geschoss hatte eindeutig einige PS zu viel für ihren Geschmack. Sie selbst fuhr bloß einen Smart. So vorsichtig sie konnte, trat sie die Pedale, und das Auto fuhr zurück. Sogleich warnte ein Piepton, dass sie sich mit dem Heck des Porsche zu dicht an der Motorhaube eines BMW befand. »Oh mein Gott, hilf mir hier raus!« Sie fuhr ein paar Mal kurbelnd vor und zurück, bis das Auto endlich ausgeparkt war, dann fuhr sie zur Ausfahrt und betätigte die zweite Fernbedienung. Das Gitter des Tores rollte nach oben.

Sehr langsam und mit zitternden Knien fuhr sie durchs Bahnhofsviertel. Am Platz der Republik bog sie nach rechts auf die Mainzer Landstraße, passierte wenige Minuten später den Opernplatz und fuhr geradeaus bis zur Eschersheimer Landstraße.

Hinter ihr hupte ein Autofahrer und riss entnervt die Arme hoch, denn sie hatte sich zu spät in Bewegung gesetzt. Die Ampel sprang bereits wieder auf Gelb.

»Ist ja schon gut, ist ja gut, du Idiot. Ich will doch nur heil ankommen, schneller kann ich nun mal nicht«, murmelte sie wütend.

Der Autofahrer überholte sie und kurbelte die Scheibe runter. »Wohl Papis Auto geklaut, was?«

Sie konnte ihn durch die geschlossene Scheibe hören.

»Fahr weiter, du Macho!«, rief sie.

Gerade hatte sie die Adickesallee überquert, da überholte sie ein Polizeiwagen, bremste, und auf dem Dach leuchtete die Anzeige: »Bitte folgen« auf.

»Nein, bitte nicht, das darf doch nicht wahr sein. Was wollen die von mir? Verdammt, die Papiere.« Melinda stöhnte, fuhr langsam hinter dem Dienstwagen her. Der hielt direkt am Rande des Polizeipräsidiums an. Die beiden Polizisten kamen auf sie zu, sie betätigte den elektrischen Scheibenheber.

»Bin ich etwa zu schnell gefahren?«

»Eher zu langsam, Sie haben gerade den fließenden Verkehr behindert. Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Kann ich bitte Ihre Papiere sehen?«

Der Albtraum begann. »Ich, ich habe keine. Sie, sie sind mir gestohlen worden und auch mein Geld und mein Handy.«

»Sie haben also keine Papiere, kein Geld und kein Handy, Frau, wie ist denn Ihr Name?«

»Brandt.«

»Gut, Frau Brandt, Sie fahren einen Porsche, der Ihnen nicht gehört, wie Sie uns sagen.«

Melinda nickte verzweifelt.

»Wenn Sie wenigstens den Fahrzeugschein hätten, wäre das deutlich weniger kompliziert«, sagte der andere Polizist. »Bitte Ihre Geburtsdaten, Ihren Wohnsitz mit genauer Adresse, Frau Brandt, wir werden das überprüfen. Haben Sie getrunken?«

»Nein, keinen Tropfen, um Gottes willen.«

»Gut, Sie werden sicher verstehen, dass Sie uns begleiten müssen. Wir werden einen Bluttest anordnen müssen, aber halb so schlimm, wenn Sie nicht getrunken oder Drogen genommen haben. Wie kommen Sie zu dieser Verletzung da am Kopf?«, er deutete auf ihre Stirn.

»Das, das weiß ich nicht.«

*

Sie saßen in einem Vernehmungsraum des Polizeipräsidiums auf der Adickesallee, und einer der beiden Polizisten tippte etwas in seinen Computer. Der hinzugekommene Arzt hatte Melinda Blut abgenommen und sich die Kopfverletzung angesehen. »Die Wunde muss genäht werden. Gehen Sie bitte so bald wie möglich zu einem Arzt, geröntgt werden sollte das auf jeden Fall.« Er klebte ein frisches Pflaster auf. Er nickte den Beamten zu, bevor er den Raum verließ. »Vernehmungsfähig ist sie, aber fassen Sie sich kurz.«

Melinda saß zusammengesunken auf ihrem Stuhl, hob den Kopf und sagte: »Ich habe Nachbarn, die können Sie jederzeit anrufen, ich meine, die kennen mich. Frau …«, sie stockte, sie sollte vielleicht nicht gleich erwähnen, dass Beate Pauli, ihre Nachbarin und gute Freundin, Anwältin war. Vielleicht durfte sie sie dann wegen Befangenheit nicht konsultieren? Sie hatte keine Ahnung, deshalb schwieg sie.

»Das werden wir sicher tun. Erst einmal wollen wir aber wissen, wer Sie sind. Dann legen Sie mal los!«

»Melinda Brandt, geboren am 7. Mai 1989 in Frankfurt. Von Beruf bin ich Model. Ich wohne am Schwalbenschwanz 75, in 60431 Frankfurt.«

»Überprüfst du das bitte, Walter?«, sagte er zu seinem Kollegen.

»Frau Brandt, seit dem 24.08.2017 ist für die Blutkontrolle kein richterlicher Beschluss mehr vonnöten, nur falls Sie sich nicht mit derartigen Untersuchungsmethoden auskennen sollten.«

»Ich habe nicht getrunken«, antwortete Melinda, die mit den Tränen kämpfte.

»Die Formalitäten wären geklärt. Nun erzählen Sie mal, Frau Brandt.« Der Polizist, der sich mittlerweile mit dem Namen Hubner vorgestellt hatte, verschränkte die Arme vor seiner Brust und sah sie neugierig an.

Melinda putzte sich geräuschvoll die Nase. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. »Bin ich eigentlich verhaftet?«

Hubner schüttelte den Kopf. »Wir haben Sie vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen, da Sie keine Papiere bei sich haben. Wir müssen Ihre Identität klären, das verstehen Sie sicher.«

»Ich … es ist alles so verrückt, aber Sie müssen mir glauben. Ich habe nur Francescos Ausweis«, sie reichte ihm das Dokument, das sie bei sich trug. »Den hat er in seiner Wohnung liegen lassen. Und, und das Auto ist auch seines.«

Hubner reichte den Ausweis an seinen Kollegen weiter. »Kannst du den mal überprüfen?« Zu Melinda sagte er: »Und wo ist nun dieser Francesco Lione, besser gesagt, warum haben Sie seinen Ausweis statt Ihres eigenen? Warum fahren Sie sein Auto, und wann hat man Ihnen Ihre Papiere gestohlen?«

»Ich weiß, das hört sich alles völlig verrückt an, ich, ich verstehe es ja selber nicht. Wir, also Francesco und ich, wir wollten ein Wochenende miteinander verbringen. Ich habe ihn erst vor Kurzem kennengelernt. Also, Sie müssen wissen, ich mache das sonst nicht, aber …«

»Bitte nur die Fakten, Frau Brandt.«

»Ja, ja, natürlich.« Sie musste gegen ihre Tränen ankämpfen.

»Er, er wohnt am Mainufer, im Karpfenweg, genauer gesagt. Er besitzt dort eine Wohnung und auch ein Boot. Ich war nicht drauf, aber er hatte es mir heute zeigen wollen, das sagte er mir zumindest. Ja, wir waren nur kurz in der Wohnung gewesen, gestern Abend, bloß um meine Tasche abzustellen, dann gingen wir nach Sachsenhausen, zum ›Wagner‹, er hatte solchen Hunger, müssen Sie wissen. Wir lernten dort ein paar Männer kennen, die uns einluden. Also zum Apfelwein. Mehr weiß ich nicht, ist alles weg. Ich wachte auf einem riesigen Boot auf.«

»Das klingt alles mehr als konfus, Frau Brandt«, sagte der Polizist.

Die Tür des Verhörraumes öffnete sich. »Kannst du mal rauskommen, Rudi?«, bat der Kollege.

»Entschuldigen Sie mich einen Moment, Frau Brandt«, Hubner stand auf und ging hinaus.

Melinda war froh, einen Augenblick durchatmen zu können. Sie wusste nicht recht, was sie erzählen durfte und was nicht. Sollte sie nicht besser sofort einen Anwalt einschalten? Beate würde ihr gewiss helfen.

Hubner kam wieder, zog seinen Stuhl zurück und setzte sich. Er runzelte die Stirn und sah Melinda kopfschüttelnd an. »Frau Brandt, die Geschichte ist leider deutlich komplizierter als gedacht.«

»Wie, wie meinen Sie das? Ist Francesco etwas passiert?« Ihr wurde flau im Magen.

»Dieser Francesco Lione, Frau Brandt, der existiert leider nicht.« Er machte eine Pause. »Der Ausweis ist falsch. Wir werden die Kriminalpolizei einschalten müssen.«

Melinda riss die Augen auf. »Die was? Das kann doch gar nicht sein.«

»Der Porsche ist auf eine Frau zugelassen, Frau Brandt. Die Angaben Ihren Wohnsitz betreffend haben sich bestätigt, dennoch würde ich Ihnen raten, einen Anwalt zu Hilfe zu nehmen, den werden Sie brauchen, glauben Sie mir. Kennen Sie einen, oder sollen wir Ihnen einen vermitteln?«

Melinda musste schlucken, dann nickte sie. »Beate Pauli, sie ist Anwältin. Ich, ich habe ihre Telefonnummer. Sie hat sogar meinen Wohnungsschlüssel. Sie ist meine Nachbarin. Darf ich sie anrufen?«

»Aber natürlich, Frau Brandt.«

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5. August 2018, Karla Senkrecht, Beate Pauli

»Da wollte ich heute ausnahmsweise mal die Beine hochlegen«, sagte Karla Senkrecht, die mürrisch auf dem Beifahrersitz saß und gähnte. »Zur Belohnung werde ich jetzt ein Zigarillo rauchen.«

»Nur über meine Leiche«, antwortete Beate Pauli. »Oder willst du, dass ich einen Unfall baue? Bei dem Qualm sieht man doch nix.«

Karla knurrte. »Möchte mal wissen, wer die Kleine da in die Scheiße geritten hat. Wusstest du überhaupt, dass sie nicht zu Hause ist?«

Beate schüttelte den Kopf. »Bin doch nicht ihre Mutter. Muss sie sich etwa jedes Mal bei uns abmelden, wenn sie was vorhat? Das würde dir wohl so passen, was? Lass sie doch, sie ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.«

Karla stieß einen zischenden Laut aus. Insgeheim war sie traurig darüber, dass Melinda sie beide nicht informiert hatte.

Wer die kauzige Privatdetektivin nicht genau kannte, der hielt sie für eine unfreundliche dicke, nicht zu Scherzen aufgelegte Person mit verkniffenem Gesicht, der man besser aus dem Wege ging. Ein echtes Mannsweib. Ihre kurzen Haare, die wegen widerborstiger Wirbel nicht recht zu bändigen waren, verstärkten dazu den Eindruck eines chaotischen Charakters. Dass Karla das Herz auf dem rechten Fleck trug, das wussten außer ihrer Lebensgefährtin Beate und natürlich Melinda die wenigsten Menschen. Und auch nicht, dass ihre eigentümlichen Ermittlungen auf eine Menge Kreativität und einen wachen Verstand hinwiesen. Um ihre junge Nachbarin Melinda Brandt kümmerten sich die beiden Frauen beinahe rührend. »Einer muss ja auf das Kind aufpassen«, war Karlas Leitspruch, wenngleich das Kind beinah 30 war. Karla und Beate hatten keine leiblichen Kinder, heimlich hofften aber beide, dass Melinda noch lange in der Nachbarwohnung leben möge, denn sie liebten die junge Frau, als ob sie ihr eigenes Kind wäre. Sie sorgten sich um ihr Wohlergehen, hatten sogar schon mit Erfolg einen Freund von Melinda in die Flucht geschlagen. Beate Pauli, die von Beruf Rechtsanwältin war, war die weiblichere der beiden Frauen und eine durchaus elegante Erscheinung. Auch sie trug die dunkelblonden Haare kurz, war stets dezent geschminkt, trug wegen einer massiven Kurzsichtigkeit eine Hornbrille mit starken Gläsern, die ihr jedoch gut stand. Sie pflegte hauptsächlich Kostüme zu tragen, zumindest in ihrer Kanzlei, die sich in der noblen Myliusstraße befand. Als vor einer Viertelstunde der Anruf von Melinda aus dem Polizeipräsidium kam, waren die beiden Frauen nicht nur beinah aus dem Bett gefallen, sondern aus allen Wolken.

»Zum Glück will sie dich als Anwältin, das erleichtert einiges«, knurrte Karla und sah gedankenverloren aus dem Fenster.

»Ja, wen denn auch sonst, oder meinst du, das Mädchen kennt sich mit Anwälten aus?«

»Meinst du, sie hat ihren Eltern Bescheid gegeben?«

»Vermutlich nicht. Sie haben sich all die Jahre nicht gekümmert und Melinda ist darüber enttäuscht, wie du weißt. Ich danke dem Herrgott, dass wir zu Hause waren, als der Anruf kam.«

»Sag mal, kannst du nicht schneller fahren?«

»Wie denn, soll ich die anderen Verkehrsteilnehmer aus dem Weg hupen?«

»Ich hätte mich für eine Polizistin entscheiden sollen«, brummte Karla. »Dann wären wir schon da.«

Beate schüttelte den Kopf. »Sehr witzig. Bei den paar Straßen werden wir doch einer Beziehungskrise aus dem Weg gehen können, oder?«

Der Pförtner des Polizeipräsidiums telefonierte kurz, als die Frauen eingetroffen waren und Beate ihr Ansinnen erklärte. Hubner, der Verkehrspolizist, holte sie an der Pforte ab und brachte sie zum Verhörraum im dritten Stock.

Melinda war überglücklich, als sie die beiden Frauen sah, sprang von ihrem Stuhl auf, umarmte beide und begann heftig zu weinen.

Besorgt sah Beate in ihr verletztes Gesicht. Das hübsche Mädchen mit den feinen Gesichtszügen, den glänzenden schwarzen Haaren und den leuchtend blauen Augen war kaum wiederzuerkennen. Eine große Beule war mit einem riesigen Pflaster abgedeckt. »Was hast du denn da für eine schreckliche Wunde am Kopf, Kind?«

»Das ist eine lange Geschichte, Beate«, sagte Melinda traurig.

Mit Gefühlsduseleien konnte Karla schlecht umgehen. Besser gesagt konnte sie nicht über ihren Schatten springen, auch wenn sie sichtlich erschüttert war. Insgeheim hätte sie das Mädchen gern getröstet, stattdessen klopfte sie ihr unbeholfen auf die Schulter und knurrte: »Wird schon wieder.«

»Hallo, Frau Pauli, Frau Senkrecht, lange nicht gesehen«, sagte der Beamte, der Karla und Beate wohlbekannt war und sich erhoben hatte.

»Welche Überraschung«, knurrte Karla, »Tag Herr Kommissar.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Hauptkommissar, Senkrecht, mittlerweile Hauptkommissar.«

»Na ja, ehrgeizig waren Sie ja schon immer.« Sie reichten sich die Hände. Insgeheim mochte Karla denn smarten Kommissar, denn der 43-jährige Kai Herbracht mit dem schütteren braunen Haar und den Geheimratsecken gehörte in Frankfurt zu den fähigsten Männern der Mordkommission. Natürlich wusste Karla längst, dass er befördert worden war, ärgerte ihn aber gerne ein bisschen. Karla und Beate kannten ihn schon seit Jahren. Er führte kaum ein Privatleben, war mehr oder weniger mit seinem Beruf verheiratet, seit seine Ehe vor Jahren in die Brüche gegangen war. Karla hielt ihn für einen der besten Ermittler, wenngleich sie es niemals zugeben würde. Laut äußerte sie stattdessen oft, dass er völlig verschult sei und nicht über seinen Tellerrand schauen könne. In Wahrheit freute sie sich aber, dass er sie in der Vergangenheit so manches Mal zu Fällen hinzugezogen hatte. Ihr war klar, hier musste etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein, wenn Herbracht ins Spiel kam. Das wiederum gefiel ihr ganz und gar nicht, denn ihre Melinda war darin verstrickt.

»Darf ich Ihnen meinen Kollegen vorstellen, Volker Lorenz«, sagte Herbracht.

Auch Lorenz erhob sich. Karla musterte ihn, den großen athletischen Mann, etwa Mitte 30, mit dunkelblondem Haar, wachen Augen und einem Backenbart.

»Ich gratuliere, wenn Sie in Kommissar Herbrachts, Pardon, Hauptkommissar Herbrachts Abteilung sind, können sicher noch so einiges lernen«, knurrte Karla.

Lorenz lächelte. »Danke, Frau Senkrecht, habe auch so einiges von Ihnen gehört.«

»So? Ich hoffe, nur Gutes. Sieht ja aus, als haben wir es hier mit einer brandgefährlichen Angelegenheit zu tun. Was hat denn unsere junge Nachbarin damit zu schaffen?«

»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Herbracht, deutete auf die gegenüberliegende Seite des Tisches im Verhörraum, an dem mehrere Stühle standen. Karla und Beate setzten sich rechts und links neben Melinda, die Polizisten nahmen ebenfalls wieder Platz.

»Dann fangen Sie mal an, Herr Kommissar, ich würde es gern kurz machen, ich denke, Melinda sollte dringend zum Arzt«, bat Beate und sah den Kommissar aufmerksam an.

Herbracht räusperte sich. »Der Kollege Hubner«, er wies mit dem Kopf in dessen Richtung, »hat Frau Brandt wegen Verkehrsbehinderung aus dem Verkehr gezogen.«

Beate zog die Stirn in Falten. »Verkehrsbehinderung?«

»Hm, auch zu langsames Fahren behindert«, wandte Hubner ein. »Und siehe da, sie ist weder im Besitz eines Ausweises noch eines Führerscheins noch eines Porsches, den sie aber fuhr.«

Karla stöhnte und schüttelte den Kopf. »Wie kommst du denn an einen Porsche?«

Melinda zog geräuschvoll die Nase hoch. »Ich …«

»Sie kommen später zu Wort, lassen Sie uns zuerst einmal die Fakten klären. Wir haben einen Bluttest bei Frau Brandt durchgeführt«, Herbracht richtete seinen Blick auf Beate Pauli. »Wie Sie wissen, ist das bei einem berechtigten Verdacht auf Alkohol- oder Drogenmissbrauch unser Recht, auch ohne richterlichen Beschluss.«

Beate nickte. »Ich weiß, Paragraf 81a StPO.«

»Die gute Nachricht, Frau Brandt war nüchtern. Bei den Drogen allerdings sind wir leider fündig geworden, Frau Brandt.« Er warf ihr einen bedauernden Blick zu.

»Was?«, entfuhr es Karla.

Melinda riss den Mund auf. »Ich habe mein Leben lang noch keine Drogen genommen! Das würde ich niemals tun, ehrlich!« Sie kämpfte erneut mit den Tränen.

»Dann war das sozusagen die Premiere. Das genaue Ergebnis liegt allerdings noch nicht vor.«

»Ich …«

»Ich möchte, dass du schweigst«, fuhr ihr Beate über den Mund.

»Wir werden das in Kürze näher besprechen«, sagte Herbracht.

»Nun gut, wir haben über das Einwohnermeldeamt klären können, dass sie einen festen Wohnsitz hat.«

Beate nickte. »Das kann ich bestätigen, sie ist, wie bereits von Frau Senkrecht erwähnt, unsere Nachbarin.«

»Glück muss man haben«, murmelte Hubner.

»Na, sagen wir so, Glück wird sie brauchen«, ergänzte Lorenz.

»Frau Brandt behauptet, dass das Auto ihrem Freund gehört, bei dem sie sich übers Wochenende aufgehalten hat. Von dem hatte sie nämlich tatsächlich den Ausweis bei sich. Nun haben wir allerdings festgestellt, dass der Ausweis gefälscht ist. Einen Francesco Lione, so nennt er sich, gibt es nicht. Wir überprüfen noch die Adresse, die auf dem Ausweis steht. Frau Brandt, haben Sie ihn dort einmal besucht, ich meine«, er nahm den Ausweis, der vor ihm auf dem Tisch lag, und schaute darauf, »in der Wittelsbacherallee 107?«

Melinda sah Beate an, die nickte. »Nein, mir hat er erzählt, er habe früher im Westend gelebt, wo, das hat er nicht gesagt.«

Herbracht räusperte sich. »Tja, ein Fuchs. Der Porsche gehört auch weder einem Lione noch irgendeinem anderen Herrn, er gehört einer älteren Dame, nämlich einer Frau Ingrid Golden. Wir haben gestern eine Vermisstenanzeige von der Haushälterin reinbekommen. Von Frau Golden fehlt jede Spur.«

Melinda wirkte fassungslos.

Herbracht machte ein bedauerndes Gesicht. »Die Wohnung am Main, in der Sie sich mit dem Mann, den es nicht gibt, aufgehalten haben, die gehört der Vermissten.«

»Ich versteh das alles nicht«, schluchzte Melinda.

Karla gab ihr ein Taschentuch.

»Ja, wenn es dicke kommt. Und der Frau Golden gehört eine nette kleine Motorjacht.« Herbracht blickte auf den Bildschirm seines Computers: »Eine DaVinci 35E. Ist ein paar 100.000 Euro wert.«

»Moment mal, welches Boot?«, fragte Karla verwirrt.

»Lass mich die Verhandlungen führen, Karla, eins nach dem anderen«, Beate warf ihr einen strengen Blick zu.

»Was hat das Boot der Frau Golden mit Frau Brandt zu tun?«

»Ich vergaß zu erwähnen, dass Frau Brandt nach einer Bewusstlosigkeit auf einem Boot erwacht ist, und dieses Boot gehört der Frau Golden«, antwortete Herbracht. »Ich hatte eine längere Unterhaltung mit Ihrer Mandantin, Frau Rechtsanwältin. Sie sehen ja selbst Ihre Kopfverletzung.«

Beate sah Melinda an. »Du hättest nichts sagen sollen, so was musst du erst mal mit mir besprechen, Melinda. Du kannst von deinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen, deswegen bin ich hier.«