Das Geheimnis des Roten Hauses - Franziska Franz - E-Book

Das Geheimnis des Roten Hauses E-Book

Franziska Franz

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Beschreibung

Über Jahre hinweg war der Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt eine umstrittene Großbaustelle – nun ist Frankfurts historisches Zentrum wieder bewohnt. Doch nicht jeder Einwohner hat eine reine Weste. Als ein Geheimnis droht, enthüllt zu werden, kommt es zu einem brutalen Verbrechen. Kommissar Weigand übernimmt die Ermittlungen ohne zu ahnen, dass er damit nicht nur sich, sondern auch seine Familie in Gefahr bringt.

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Franziska Franz

Das Geheimnis des Roten Hauses

Ein Frankfurter Altstadt-Krimi

Franz, Franziska : Das Geheimnis des Roten Hauses. Frankfurter Altstadt-Krimi. Hamburg, edition krimi 2020

Originalausgabe 2020

Buch-ISBN: 978-3-946734-63-5

ePub-eBook-ISBN: 978-3-946734-64-2

Lektorat: Birgit Rentz

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, edition krimi

Hintergrundstrukturen: www.pixabay.de

Coverbild: © pure-life-pictures/stock.adobe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© edition krimi, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Prolog

Mein Partner Bernd Hesse und ich standen am Whiteboard und betrachteten die Fotos der Opfer. Eins davon zeigte Gaby, meine Tochter.

„An Brutalität kaum zu übertreffen, wenn man sein eigenes Kind als Opfer am Whiteboard hängen sieht. Dieser Mann ist ein grausamer Psychopath! Ich werde alles tun, um dieses Schwein zu kriegen, alles!“

Gut und Böse lagen schon immer nah beieinander, auch die Neue Frankfurter Altstadt war nicht gefeit vor einer grausamen Straftat. Hätten nur meine Alarmglocken eher geschrillt, als meine Tochter begann, ihre neue Freundin im geheimnisvollen Roten Haus zu besuchen. Nur wenige Meter von diesem Haus entfernt war das Opfer eines Gewaltverbrechens gefunden worden. Gaby hatte längst zu viel gesehen, doch das war mir verborgen geblieben. Nur mit etwas Glück war sie dem Tod entkommen, doch die Gefahr war lange nicht vorüber, und ich wollte nichts mehr, als sie rächen und den Täter zur Strecke bringen, und wenn ich dafür sterben musste.

1

Mein Name ist Lutz Weigand, ich bin Kriminal­kommissar bei der Frankfurter Mordkommission im Polizeihauptpräsidium auf der Adickesallee – ein Gebäude, das ich mir mit über 8 000 Mitarbeitern teile. Bereits seit weit über 20 Jahren bin ich bei der Kripo und seit dreien Kriminalkommissar. Mittler­weile vierundfünfzig, verheiratet mit meiner bezaubernden Bettina, der besten Ehefrau von allen, um es mit Kishons Worten auszudrücken, und gesegnet mit einer vierzehnjährigen Tochter, Gaby, die sich mitten in der Pubertät befindet, aber da waren wir ja alle schwierig.

Gaby war schon immer recht pfiffig und, wie mein junger Kollege behauptet, manchmal etwas altklug. Aber der hat keine Ahnung. Besser erst mal seine eigenen Kinder großziehen, bevor man über andere lästert, schlug ich ihm des Öfteren vor. Ich gebe zu, Hesse und ich kabbeln uns oft, allerdings nur im Spaß. Manchmal braucht es eine gehörige Portion Humor, ohne die sich unser Beruf wohl nur schwer aushalten ließe.

Zurück zu Gaby: Sie ist eine großartige Tochter und einer meiner besten Ratgeber, nicht nur beim Skat, unserer Lieblingsbeschäftigung zu Hause. Zudem haut Gaby in ihrer kindlichen Naivität manchmal unbewusst irgendwelche Lebensphilosophien raus, die mir während meiner Ermittlungen bereits so manches Mal auf die Sprünge geholfen haben. Außerdem ist sie ein Gesundheitsapostel und hat mir nicht nur meine damalige Zigarettensucht verleidet, sondern auch die Lust an Süßigkeiten. Geblieben ist mir nur Kaugummi.

Mit Hesse arbeite ich inzwischen das dritte Jahr zusammen. Ich schätze ihn und bin mir sicher, dass er einmal in meine Fußstapfen treten wird. In einigen Jahren erst, denn so schnell werde ich das Zepter nicht ab­geben, und außerdem ist er mit seinen 34 Jahren ja ein Greenhorn. Doch ist er nicht nur ein liebenswerter Kerl, er ist vor allem ein kluger Ermittler, und wir ergänzen uns prächtig. In den letzten Jahren haben wir den einen oder anderen kniffligen Fall hier in Frankfurt gelöst.

Wie jeden Morgen brach ich eine gute halbe Stunde vor Arbeitsbeginn von unserer Wohnung in Seckbach auf. Gaby riet mir stets, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, da dies deutlich schneller gehe. Sie mochte damit recht haben, doch mir machte das alltägliche Stop-and-go nichts aus – im Gegenteil, es war die Zeit, in der ich in mich gehen konnte, um mich für meinen bevorstehenden Tag im Polizeipräsidium zu wappnen. Für mich kam es einer meditativen Entspannung gleich, mich im Schneckentempo in Richtung Miquel­allee treiben zu lassen. Die geladene Stimmung der unter Zeitdruck stehenden Autofahrer nahm ich stets nur wie durch einen Nebelschleier wahr. Es fühlte sich an, als würde ich durch eine Art Schleuse von meiner heilen familiären Idylle in die zum Teil zermürbende Wirklichkeit meiner kriminalistischen Laufbahn gebeamt. Um nichts in aller Welt hätte ich wegen meines Jobs eine Wohnung in unmittelbarer Nähe meines Arbeitsplatzes haben wollen. Hesse behauptete, dass mich mein siebter Sinn stets vor größeren Gefahren bewahrt habe. Schon möglich, dass man, wenn man bei der Mordkommission arbeitete, eine besondere Form der Sensibilität entwickelte, die uns Kriminalisten vor der stets lauernden Gefahr bewahrte, in der wir nun einmal schwebten. Seit ein paar Tagen hatte ich dieses ungute Bauchgefühl, das sich wie ein Geschwür in meinem Inneren ausbreitete. Wie sich später herausstellte, sollte ich recht behalten, und ich hätte diese Zeit gern aus dem Kalender meines Lebens gestrichen.

„Morsche, Chef, wie war dein Wochenende?“, fragte mich Hesse, nachdem er das Büro der Frankfurter Mordkommission betreten hatte.

„Mal wieder der Verkehr, he?“, erwiderte ich mit einem Blick auf die Uhr, ohne auf seine Frage einzugehen.

„Kann ja nicht jeder mit Blaulicht zur Arbeit fahren.“

Ich kaute gedankenverloren auf meinem Kau­gummi herum, bevor ich antwortete. „Mal nicht so keck, Junge, verdammt grün hinter den Ohren und schon die Klappe aufreißen, was?“

Hesse grinste und sagte: „Irgendwann kleben dir von den Dingern die Zähne zusammen. Und dazu die Knatscherei, ich besorge mir demnächst ein Paar Ohrstöpsel, dabei kann sich doch kein Mensch konzentrieren.“

„Hast ja jetzt eine Woche Ruhe, wenn ich meinen wohlverdienten Urlaub nehme. Im Übrigen hast du meistens recht. Deshalb habe ich vor zwei Jahren extra für dich aufgehört zu rauchen.“ Ich schnitt eine Grimasse.

Hesse lachte: „Für mich? War es nicht deine Tochter, die dir ins Gewissen geredet hat, oder täusche ich mich?“

„Ja, Gaby hat mir damals die Nachteile des Rauchens vor Augen geführt. Ist doch klar, in ihrem Alter verbessert man die Welt. Aber letztendlich tu ich es nur für dich.“

Hesse gluckste vor Lachen.

Ich fand, wir hatten genug geplänkelt, und beantwortete seine eingangs gestellte Frage. „Wie mein Wochenende war, wolltest du wissen? Um ehrlich zu sein, es war etwas nervig. Meine Familie hat sich in den Kopf gesetzt, auf den Riedberg zu ziehen. Dabei ist unser Seckbach so idyllisch. Und du kennst ja meine Meinung. Ich will nicht umziehen!“

„Warum denn auch?“, warf Hesse ein.

„Eben.“ Ich nickte. „Gaby wird älter, und die Wohnung wird zu klein, behaupten die beiden.“

„Hat Gaby so zugenommen?“

„Es reicht!“, schimpfte ich. „Hör auf, meine Tochter zu mobben. Babyspeck ist in dem Alter völlig normal.“

Hesse lachte. „Nicht dass sie das vom Vater hat?“

„Wenn du so weiterredest, sorge ich dafür, dass du versetzt wirst, alter Stänkerer.“

Hesse kicherte. „Aber mal im Ernst, wieso denn Riedberg? Ist doch ein ziemlich unpersönliches Neubaugebiet.“

Ich stöhnte: „Hab du mal zwei Frauen. Bei so was halten die zusammen wie Pech und Schwefel.“

„Ich sag ja, mit Kindern kannst du mich jagen. Hab’ schon genug mit Julia zu tun, die prügelt mich ständig zum Sport, und dann Zwerge großziehen, die mir auf der Nase herumtanzen? Nein, danke.“

„Als Zwerg würde ich Gaby mit ihren 14 Jahren zwar nicht mehr bezeichnen, aber ich bin mir sicher, ich weiß, was du meinst. Wenn du mich fragst, hängt das Umzugsinteresse nur mit der Neuen in Gabys Klasse zusammen. Die wohnt in der Neuen Frank­furter Altstadt, und Gaby ist hin und weg von ihr, besucht sie dort ständig.“

„Wow, wie hat sie das denn geschafft?“

„Was, das Mädchen zu besuchen?“

„Nein, ich meine Gabys Klassenkameradin – ist schwierig, in der Gegend etwas zu bekommen.“

„Na ja, du weißt doch, Losverfahren. Der Vater ist Architekt. Er war an der Bebauung der neuen Altstadt beteiligt, sagt Gaby, der wird schon was gemauschelt haben.“

„Quatsch“, entgegnete Hesse, „das funktioniert doch gar nicht. Das mit dem Losverfahren ist schließlich eine ehrliche Sache. Wenn du mich fragst, ich hätte die Wohnungen meistbietend versteigert. Brächte der Stadt ein bisschen Geld ins Säckel.“

„Geld braucht’s, damit man dort überhaupt einen Fuß reinbekommt, Bernd. Ich hätte da gewiss keine Chance.“

„Wo kommen die denn her?“

„Aus Hamburg, glaube ich, sagte mir Gaby.“

2

April 2019

Gaby saß auf dem Sofa in unserem, wie ich fand, gemütlichen Wohnzimmer, hatte sich den Laptop auf den Schoß gestellt und tippte eifrig darauf herum.

„Schon wach?“, fragte ich gähnend, als ich verschlafen ins Zimmer schlurfte.

„Ich studiere die Immobilienanzeigen.“ Gaby blickte kurz auf. „Wir nutzen deine Urlaubstage. Kommenden Sommer würde ich gerne in unserem künftigen Garten sitzen – vielleicht im Juli, wenn ich Geburtstag habe?“ Sie lachte.

Bettina stellte mir eine Tasse Kaffee vor die Nase und gab mir einen Kuss. „Morgen, Schatz! Lass ihn erst mal wach werden, Gaby.“ Wie so oft stellte sie sich hinter meinen Sessel und versuchte, mit den Fingern meine Frisur zu ordnen.

Ich trank einen Schluck, suchte in der Tasche meines Bademantels nach einem Kaugummi, stand auf und setzte mich neben Gaby. „Soso, einen Garten brauchst du.“ Ich liebte unsere Wohnung, die wir damals wegen der ruhigen Lage ausgesucht hatten. Unsere Straße war nämlich eine Sackgasse. Wir hatten vier Zimmer zur Verfügung. Einen herrlich hellen Wohnraum mit angrenzendem, dank Bettina wunderschön bewachsenem Balkon, ein ebenfalls recht großes Esszimmer und zwei Schlafräume, wobei der eine davon Gabys Zimmer war, was brauchten wir mehr. Nun gut, die Möbel waren mittlerweile in die Jahre gekommen und sicher nicht besonders modern, sie taten es aber noch, wie auch Bettina schon des Öfteren bekräftigt hatte. Wenn ich im Wohnzimmer auf unserer riesigen Sitz­landschaft saß und ins Grüne schaute, kam ich zur Ruhe. Es erstaunte mich, dass Gaby auf einmal völlig andere Ansprüche anmeldete.

„Hörst du mir eigentlich noch zu?“, fragte sie und holte mich damit aus meinen Gedanken. „Riedberg käme infrage – oder Römerberg.“

„Ach, das ist ja was ganz Neues!“

„Das ist was, Papa. Ich hab` mal geguckt, da wird am Markt 14 eine Vier-Zimmer-Maisonette-Wohnung frei – ein echter Traum, kann ich dir sagen.“

„Ein Albtraum“, erwiderte ich mit Dackelblick.

„Du hast keine Ahnung von der Jugend von heute. Ich muss mich auch mal zurückziehen können, Papa. Du wirst sehen, es kommt der Tag, an dem ich einen Freund mit nach Hause bringe, und dann seid ihr froh, wenn ihr eure Ruhe habt.“

Bettina hatte sich mit ihrem Kaffee zu uns gesetzt. „Was ist denn mit deiner Tochter los?“

Ohne auf sie einzugehen, sprach Gaby sogleich weiter. „Das sind bloß praktische Gedanken, die ich mir mache, Papa. Hier, für 1 700 Euro bekommt man schon eine Wohnung – mit Glück.“

„Da braucht man verdammt viel Glück, Gaby, aber in die Altstadt ziehe ich nicht mal euch zuliebe, da bringen mich keine zehn Pferde hin.“

„Warum denn nicht?“

Ich kaute eine Weile auf meinem Kaugummi herum, dann sagte ich: „Zum einen, weil es zu teuer ist, und zum anderen, weil es dort keine Parkplätze gibt.“

„Für Mieter gibt es das Parkhaus am Dom.“

„Gaby, wie früh soll ich denn morgens aufstehen? Da muss ich ja erst eine Viertelstunde laufen, bis ich in meinem Auto sitze, um dann entspannt ins Präsidium zu fahren.“

Bettina lachte. „Die Betonung liegt auf ‚entspannt‘.“

Gaby verdrehte die Augen, als sie mich ansah. „Hast du etwa weitere Argumente?“

„Mindestens zwei weitere“, erwiderte ich.

Gaby stöhnte: „Und die wären?“

„Drittens ist mir dort alles zu abgehoben, und viertens gibt es in dem Teil der Stadt überhaupt kein Grün.“

„Und das, wo du dich so häufig bewegst … Ab­gesehen davon stimmt das nicht. Du bist in vier Minuten am Main, da hast du alles, was du brauchst. Bewegen könntest du dich also nach Herzenslust. Gibt dort jede Menge Jogger, wär für dein Bäuchlein genau das Richtige.“ Gaby klatschte mit der Hand auf meinen Bauch.

„Wollen wir mal gemeinsam eine Runde joggen?“, entgegnete ich provozierend und zwickte ihr in ihr Hüftpölsterchen. „Könnte dir ebenso wenig schaden.“

„Papa, ich bekomme ein Trauma, weißt du das nicht? So redet man nicht mit heranwachsenden Menschen. Ich befinde mich außerdem in der Wachstumsphase, da schießt alles nach oben!“

Entschuldigend hob ich die Hand. „Ist ja schon recht.“

„Abgesehen davon sagst du doch immer, dass Frankfurt eine vorbildliche Infrastruktur hat. Fahr einfach mit der U-Bahn und lass das Auto stehen. Damit schonst du wenigstens die Umwelt.“

„Gaby!“, warf Bettina mit mahnender Stimme ein.

„Mama, das ist ein Gespräch zwischen Papa und mir. Ich habe doch wohl ein Mitspracherecht, ­zumindest sagt ihr das immer. Wenn ich eines Tages ausgezogen bin, ärgert ihr euch, dass ihr nicht auf mich gehört habt. Glaubt mir, ich weiß besser als ihr, was angesagt ist.“

Jetzt lachte ich. „Mitsprache durchaus, aber nicht alleini­ges Sprachrecht.“

Gaby hatte sich an ihrer Idee festgebissen. Sie konnte ein echter Drillbohrer sein, wenn sie etwas durchzusetzen versuchte. So schlug sie vor, einen gemeinsamen Ausflug in die Altstadt zu unternehmen, da mir bislang immer die Zeit gefehlt hatte, mir die schönen Gebäude näher anzusehen. Nur dienstlich war ich einmal dort gewesen.

„Aber jetzt hast du Urlaub, und ich habe Oster­ferien. Das passt doch perfekt.“ Gebannt sah sie auf den Computerbildschirm. „Es gibt noch ein paar tolle freie Wohnungen. Sieh an, hier habe ich einen groß­artigen Wohnungsgrundriss. Ich drucke den mal aus.“ Sie schob ein Blatt Papier in den Drucker, der auf unserem Schreibtisch in einer der Fensternischen stand, und das Gerät setzte sich prompt in Bewegung.

Wenig später nahm Gaby das Blatt aus dem Ausgabe­fach. „Hier, ist total cool, glaub mir. Jette ist da glücklich, und überleg mal, wir könnten immer zusammen zur Schule fahren.“ Sie drückte mir das Blatt in die Hand, doch ich legte es achtlos auf den Tisch.

„Ich habe mir für meinen Urlaub etwas freie Zeit verdient“, knurrte ich, „und daher keine Lust, diese mit Sinnlosigkeiten zu vergeuden.“ Bedauernd sah ich Gaby an. „Mach bloß nicht so ein Gesicht!“

„Da würde jede Tochter eine lange Nase machen, Papa. Wenn ich das bloß höre: Sinnlosigkeiten! Das kann man sich doch wenigstens mal ansehen, selbst wenn man dort nicht wohnen möchte. 35 neue Häuser, davon 15 Rekonstruktionen.“

„Klingt ja wie auswendig gelernt.“

„Nein, das hat Herr Grubenmacher seiner Tochter gesagt, und der war einer der sieben Architekten beim Altstadtbau. So einer muss es doch wissen, denkst du nicht?“

„Herr Grubenmacher?“, hakte ich nach.

Gaby verdrehte die Augen. „Na, Jettes Vater.“

Ich grinste. „Ein Architekt, der Grubenmacher heißt – das erscheint mir passend. Und wieso nur 15 Rekonstruktionen?“

„Ja, weißt du denn das nicht? Weil es für die restlichen Bauten keine genauen Vorlagen mehr gibt. Aber diese 15 Häuser stehen exakt dort, wo sie damals gestanden haben, und sie sehen genauso aus. Wusstest du, warum das Rote Haus so eine knallige Farbe hat?“

„Welches rote Haus?“

„Oh Mann, Papa, das auf dem Römerberg! Das war das Haus der Metzger, und das Rot sollte die Farbe des Blutes beim Schlachten demonstrieren. Die Metzger waren im Mittelalter dazu verpflichtet, das Haus alle drei Jahre mit Ochsenblut zu streichen. Na ja, Jette sagt, ursprünglich war das Haus daneben das Metzgerhaus. Das steht am Markt 15. Das ist jetzt weiß. Dafür ist nun das Eckhaus rotgestrichen.“

„Igitt, aber hoffentlich wird es nicht mehr mit Ochsen­blut bemalt!“ Bettina verzog das Gesicht.

„Nein, Mama. Übrigens, die Grubenmachers wohnen drin. Und wusstet ihr, dass in diesem Haus das Frankfurter Würstchen erfunden wurde? Nämlich vom Fleischer, Johann Georg Lahner, im 18. Jahrhundert. Er hat zwar eigentlich das Wiener Würstchen erfunden, nannte es aber um in Frankfurter Würstchen.“

Bettina lachte. „Sowas kannst du dir merken? Nein, das wusste ich nicht, du etwa?“ Sie sah mich an. Ich schüttelte den Kopf.

„Die Vorstellung, in einem blutverschmierten Haus zu wohnen – ich weiß nicht.“ Bettina verzog angeekelt das Gesicht.

„Ist doch bloß eine Rekonstruktion, Mama. Und stellt euch vor, es steht auf drei Holzpfosten, ehemals französischen Weinpressen.

Ich war beeindruckt. „Na, du hast ja deine Hausaufgaben gemacht.“

„Papa, ich sage dir, das ist klasse. Wisst ihr, warum es auf Pfosten steht?“

Bettina und ich schüttelten den Kopf.

„Man konnte drunter auf geradem Weg direkt zum Main gelangen.“

„Mir wäre ein Haus auf Pfosten eine zu wackelige Angelegenheit“, gab Bettina zu bedenken.

„Mama, die haben aus statischen Gründen Stahl­pfosten eingebaut. Die haben diese Weinpressen ausgehöhlt und innen drin Stahlpfosten gebaut. Ihr wisst ja gar nicht, wie das ist. Herr Grubenmacher hat Jette von den Bauarbeiten erzählt. Das ist nicht alles nur rekonstruiert, da werden sogar einige Originalteile verwendet. So alte Mosaiken und ein paar Träger oder so ähnlich. Genaueres weiß Jette nicht. Aber es ist nicht alles nur Fake.“

„Fake?“, fragte ich.

„Na, du weißt doch: Einige vertreten die Meinung, dass man den Römerberg mit Disneyland vergleichen kann. Ich finde das vollkommen schwachsinnig. Das ganze Gelände war komplett zerstört. Und der Römer schadet der Stadt ja nicht, oder?“

Da musste ich ihr beipflichten. „Das sehe ich auch so. In zehn Jahren spricht kein Mensch mehr darüber, ob die Altstadt echt ist oder nicht. Da freuen sich die Touristen höchstens, den historischen Teil der Stadt besichtigen zu können. Frankfurt war ja mal eine der bedeutendsten mittelalterlichen Städte. Und sehr berühmt durch den Krönungsweg.“

„Du hast echt was drauf“, stellte Gaby fest und grinste. „Das hätte von mir kommen können.“

„Mal langsam“, konterte ich, „ich bin alter Frankfurter. Wäre ja komisch, wenn ich das nicht wissen würde.“

„Die Wohnung der Grubenmachers ist total cool.“ Gaby geriet ins Schwärmen. „Lauter Designermöbel, der Wahnsinn! Und eine offene Küche. Ihr glaubt ja nicht, wie toll das aussieht, mit einer richtigen Bar!“ Und vom Wohnraum führt eine stylische Treppe in das obere Stockwerk. Da haben die ihr Schlafzimmer und einen Gästeraum. Das sieht aus, als ob die allein in einem richtigen Haus leben, man nennt das, glaube ich, Maisonettewohnung.“ Während sie sprach, sah sie sich im Raum um. „Wie nennt man eigentlich unseren Stil?“

„Landhaus“, antwortete Bettina.

„Na ja, damit könnt ihr keinen modernen Architekten hinterm Ofen hervorlocken, fürchte ich“, sagte Gaby despektierlich.

Ich kniff nur selten meine Lippen zusammen, aber langsam wurde es mir doch etwas zu bunt. „Jetzt reicht’s, Fräulein. Uns gefällt es. Das ist die ­Hauptsache. Und ich muss auch nicht mit einem Architekten in Konkurrenz treten.“

Gaby schien zu bemerken, dass sie zu weit gegangen war, denn sie wechselte geschickt das Thema: „Wenn wir also heute nichts zusammen unternehmen, fahre ich zu Jette. Sie ist sonst ganz allein.“

Ich stöhnte. „Klingt ja fast nach Erpressung. Aber wie wär’s, wenn du Jette mal zu uns einlädst?“

Gaby schüttelte energisch den Kopf. „Das kommt überhaupt nicht infrage. Erstens will das Herr Gruben­macher nicht, und zweitens wäre mir das auch peinlich.“

„Und wieso?“, wollte ich wissen. Ich musste mich bremsen, um nicht aus der Haut zu fahren.

„Na, das ist doch hier wie auf dem Dorf. So etwas kann ich Jette nicht bieten. Ihr glaubt ja gar nicht, was das für ein Abstieg für sie wäre.“

„Weißt du, Gaby“, mischte sich Bettina ein, „so ist es ja nicht, dass man einem Teenager nicht zumuten kann, mal hierherzufahren. Du brauchst dich wahrlich nicht für uns zu schämen.“

„Tu ich ja nicht. Aber ehrlich, es geht eben nicht.“

Immer noch mit meiner Beherrschung kämpfend, hakte ich nach: „Darf ich fragen, warum Herr Grubenmacher das nicht erlaubt?“

„Ach“, Gaby winkte ab, „er möchte nicht, dass Jette mit den Öffentlichen allein unterwegs ist, verstehst du? Das ist ihm zu gefährlich.“

„Ach du großer Gott!“ Ich stöhnte. „Was ist denn mit dem los?“

„Jette sagte, er sei mal erpresst worden oder so, da möchte er nicht, dass seine Tochter unbeaufsichtigt ist, aber das darf keiner wissen. Das bleibt ja unter uns, nicht?“

„Soso, erpresst worden ist er, und womit?“

Gaby sah mich zornig an. „Das weiß ich doch nicht. Glaubst du, dass ich da nachfrage.“

„Dein Vater ist Polizist.“ Ich fischte ein weiteres Kaugummi aus der Tasche meines Bademantels und gesellte es zu dem ersten. Meine Sprache wurde dadurch etwas undeutlicher. „Weißt du, im normalen Leben ist es relativ unüblich, dass man erpresst wird.“

„Papa, hör auf mit dem Geknatsche, das ist echt peinlich! Allein deswegen könnte ich Jette schon nicht zumuten, zu uns zu kommen.“

„Das ist ja was ganz Neues, dass du dich für mich schämst.“ Inzwischen war es mir egal, dass meine Stimme säuerlich klang.

Gaby verdrehte die Augen. „Nicht für dich, nur für das ganze Drumherum. Selbst ich knatsche nicht solche Dinger, und ich bin jung!“

„Ach, und ich bin scheintot und habe nicht das Recht dazu, verstehe.“

„Jetzt hört schon auf, ihr beiden! Ihr müsst euch doch nicht streiten.“ Bettina legte besänftigend eine Hand auf meinen Arm.

Geistesabwesend starrte ich auf Gabys Laptop. „Was macht dieser Grubenmacher jetzt? Die neue Altstadt ist doch fertig.“

„Na ja, was machst du, wenn kein Verbrechen geschieht? Trotzdem arbeiten! Das macht er. Ich glaube, er baut irgendwelche Luxushäuser.“

„Soso“, knurrte ich, „bin mir nicht sicher, ob mir der Mann sympathisch ist. Hat Jette eine Mutter?“

„Na klar! Sie ist nett, aber sie arbeitet als Sekretärin für ihren Mann und ist deshalb tagsüber nie zu Hause. Ich glaube, die haben ein großes Büro an der Alten Oper.“

Gaby sah Bettina an. „Da hab´ ich mit dir echt Glück, Mama – dass du immer zu Hause bist, meine ich.“

Bettina lächelte dankbar.

„Eins steht außer Frage“, stellte ich fest. „Gegen den Mann kann ich mit meinem Polizistengehalt kaum anstinken. Wie wär’s mit ’ner Runde Skat?“

Bettina erhob sich. „Erst wird gefrühstückt. Na los, der Kaffee wird kalt! Lasst uns ins Esszimmer gehen.“

„Gute Idee“, sagte ich und stand ebenfalls auf. „Ich habe einen Bärenhunger.“

Gaby setzte sich am Esstisch neben mich und kicherte. „Untersteh dich, das Kaugummi unter den Tisch zu kleben.“

Ich grinste. „Wir sind doch hier nicht in der Schule.“

„Weißt du, Papa, im Grunde habe ich mit dir verdammtes Glück. Jettes Vater ist nie nett, glaube ich. Nicht zu seiner Tochter und nicht zu seiner Frau. Und Skat spielen die auch nicht zusammen.“

3

Detlef Grubenmacher schaute über den Rand seiner Zeitung. „Du bist ja schon wieder am Handy, Jette. Willst du nicht mal ein Buch lesen oder etwas für die Schule tun?“

„Papa, ich habe doch Ferien.“

„Und mit wem schreibst du dir da dauernd?“

„Mit meiner Freundin.“

Detlef faltete die Zeitung zusammen. „Man kann und sollte in den Ferien ein wenig arbeiten. Lernen hat noch niemandem geschadet. Deine schulischen Leistungenhaben mich in letzter Zeit enttäuscht. Ich bin mir nicht sicher, ob dir der ewige Kontakt zu deiner neuen Freundin – wie heißt sie doch gleich?“

Jettes Teint hatte eine rötliche Färbung ange­nommen, als sie antwortete: „Gaby.“

„Ob dir der Kontakt zu Gaby so guttut. Wie ist sie in der Schule?“

„Sie ist begabt, selbst in Mathe“, erwiderte Jette. „Ihr fällt das Lernen leicht.“

„Was man von dir nicht behaupten kann.“

Renata Grubenmacher war soeben zur Tür hereingekommen. Sie schüttelte den Kopf. „Detlef, nun verbiete ihr doch nicht diese eine Freundin, die sie hat. Sie muss auch mal unter Gleichaltrigen sein dürfen. Genug, dass man sie mobbt, nur weil wir uns einen gehobenen Lebensstandard leisten können.“

„Ach, mobben nennst du das?“, ereiferte sich Detlef. „Ich behaupte, das ist schlicht und ergreifend Neid. Den gab es früher schon, als noch niemand das Wort ‚Mobbing‘ kannte.“

„Nenn es, wie du willst, aber es ist schwierig für sie, zumal sie neu in der Schule ist. Da bin ich dankbar, dass sie so ein bodenständiges Mädchen wie Gaby kennengelernt hat.“

Jette war froh, in ihrer Mutter eine Verbündete zu wissen. An ihren Vater gewandt sagte sie: „Dann lass mich doch allein zur Schule fahren, mit der U-Bahn, wie die anderen es tun. Ist doch nicht weit bis zum Trutz. Wenn du mich dauernd mit deinem Porsche bringst, dann ist es doch klar, dass ich zum ­Außenseiter werde.“

„Zum Außenseiter“, äffte Detlef seine Tochter nach. „Ich habe nie gehört, dass man, wenn man zeigt, was man hat, zum Außenseiter wird.“

„Ich wäre jedenfalls lieber so wie die anderen. Freunde sind mir wichtiger als der ganze Protz.“ Jette senkte den Blick, weil sie ahnte, dass ihr Vater ihr wieder Kontra geben würde.

Detlef sah seine Frau an und hob die Schultern. „Ich mach’s wie van Hamel, der Calvinist.“

Renata erwiderte seinen Blick. „Van Hamel?“, fragte sie mit Neugier in der Stimme.

„Abraham van Hamel hat das damalige Höllhaus gekauft und es zur Goldenen Waage umbauen lassen. Er war reich und zeigte als Calvinist gerne seinen Reichtum, indem er aufwendige und teure Verzierungen anbringen ließ. Sehr zum Leidwesen der Frankfurter, die im Mittelalter Prunk und Protz verpönten. Er aber setzte sich durch, und wenn es nötig war, sogar vor Gericht. Und siehe da, er hat recht behalten. Heute ist die Goldene Waage das berühmteste und nobelste Haus der Neuen Frankfurter Altstadt. Hamel besaß im Übrigen noch einige andere Häuser. Soll doch jeder zeigen, was er hat, wenn ihm danach zumute ist. Was interessieren uns die Neider? Eines kann ich dir sagen, Jette, Neider wirst du immer haben.“

„Ich wäre lieber wie die anderen“, wiederholte Jette.

„Meine Güte, bist du empfindlich! Das musst du von deiner Mutter geerbt haben, von mir hast du es nicht.“

Jette kämpfte mit den Tränen.