Blutzeilen - Franziska Franz - E-Book

Blutzeilen E-Book

Franziska Franz

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Beschreibung

Nach einer Lesung in der Alten Oper verschwindet der Bestseller-Autor Mike Mikkels spurlos. Kurze Zeit später erhält seine Ehefrau Mirjam einen Drohbrief: Ihr Mann wird sterben, wenn sie die Polizei einschaltet. Um Mike zu schützen, belügt Mirjam die Polizei und stellt selbst Nachforschungen an. Bald überschlagen sich die Ereignisse und es kommt zu einer Tragödie …

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Franziska Franz
Blutzeilen
Ein Frankfurt-Krimi
Frankfurt-Krimi

Inhaltsverzeichnis

Blutzeilen

Prolog

1

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Epilog

Danksagung

Die Autorin

Impressum

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

Cover

Prolog

Die erste Obduzentin Doktor Gesine Walther stand neben ihrer Kollegin am Seziertisch des Instituts für Rechtsmedizin und blickte auf den Toten. »Der arme Mann muss höllische Qualen erlitten haben, beinah alle Zehen wurden abgefressen und ein Teil der Fingerkuppen fehlt ebenfalls. Ich habe schon viel gesehen, aber das hier macht mich sprachlos.«
Doktor Leiss, die zweite Obduzentin, nickte. »Das Labor hat eindeutig Rattenbisse bestätigt. Die haben ihn bei lebendigem Leibe angefressen.«
»Dennoch ist er nicht an einer Blutvergiftung gestorben, sondern an stumpfer Gewalt. Der Täter hätte nicht brutaler vorgehen können.«

1

Freitag, 30. Juni 2018, Zoltan Német
Zoltan Német war niedergeschlagen, als er das Büro seines Agenten Klaus Heimann in der Ginnheimer Landstraße verließ.
»Dieses Jahr gewinnt Mikkels den Krimipreis, jede Wette«, hatte Heimann prophezeit. Mike Mikkels war der neue Stern am Autorenhimmel. Zehn Jahre jünger als Zoltan und »alles, was Mikkels schreibt, wird zu Gold«, stand neulich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das wurmte Zoltan, der den Neuen noch nicht persönlich kennengelernt hatte und auch keinen besonderen Wert darauflegte. Am eigenen Ego kratzte eine solche Behauptung schon. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass sich die wenigsten Autoren lange auf der Überholspur befanden, bevor es mit dem nächsten Buch bergab ging und keine Zeitung mehr über den neuen Star berichtete. Denn der Erfolgsdruck war enorm, wenn man einmal einen Bestseller rausgehauen hatte. Zoltan wusste allzu gut, wovon er sprach, hatte er sich doch über zwanzig Jahre gequält, bis zum großen Wurf. Seitdem lief es spektakulär. Mehrere Fernsehsender hatten Interviews mit ihm ausgestrahlt und die Presse war ihm stets wohlgesonnen. Doch vor etwa einem Jahr war dieser junge Schnösel aufgetaucht. Zoltan hatte dessen Bücher quergelesen und war das Gefühl nicht losgeworden, dass dieser Jüngling ihn kopierte. Die Themen waren ähnlich. Ein bisschen Psycho, ein bisschen Öko und Politik durfte auch nicht fehlen. Nein, so ohne weiteres würde er sich seinen Platz nicht streitig machen lassen. Aber insgeheim musste er zugeben, dass der Junge begabt war.
Immer wieder dachte Zoltan an die Jahre zurück, in denen nichts gelingen wollte. »Der Text ist recht nett, passt aber nicht in unser Programm.« Oder: »Sie sind begabt, bleiben Sie dran. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der weiteren Verlagssuche.« Diese und ähnlich übliche Floskeln bekam er zu hören. Das ging Jahre so. Erstaunlich, dass er nie aufgegeben hatte. Lag wohl an der Energie, die man in jungen Jahren hat. Er glaubte an sich, und was eklatant wichtig war, seine Frau glaubte an ihn. Sie hatte ihn stets angespornt, weiterzumachen, damals. Hätte er sie vor drei Jahren nur nicht gehenlassen.
»Der Ruhm hat dich zu einem anderen Menschen gemacht«, hatte sie behauptet. »Du bist arrogant und unausstehlich geworden.« Ja, das waren ihre Worte gewesen, bevor sie zurückgegangen war in ihre Heimat Stuttgart. Etliche Male hatte er sie gebeten, zu ihm zurückzukehren. Vergeblich. Inzwischen war ein neuer Mann in ihr Leben getreten. Umso mehr bedeutete Zoltan seine Arbeit. Wenngleich er zugeben musste, dass sie in vielen Dingen, seinen Charakter betreffend, durchaus nicht im Unrecht war.
Dieser Glückspilz Mikkels war viel zu jung, um es auf Dauer mit ihm aufzunehmen. Denn gutes Schreiben erforderte Erfahrung. Das war zumindest Zoltans Meinung. Seine Anfänge waren bescheiden. Erst eine Kurzgeschichte in einem kleinen Verlag, erneut etliche Absagen, immer wieder von vorne anfangen. Und dann plötzlich sein »Sechser im Lotto«. Der Durchbruch war ihm damals wie ein Traum erschienen. Seit 2012 hatte er regelmäßig Preise für außergewöhnliche Krimis gewonnen. Seit 2015 schrieb er unter dem Pseudonym: Will Buck. Zoltan war bereits 43 Jahre alt. Mit seinem blonden Haar hätte er durchaus als Schwede durchgehen können, nicht unbedingt als Ungar, der er gebürtig war. Aufgewachsen jedoch war er in Frankfurt als Sohn eines Arztes und sprach kaum mehr als zehn Worte in seiner Muttersprache. Da sein Name nicht international klang, hatte ihm sein Agent zu einem Pseudonym geraten. Natürlich zu einem englischen, wer konnte schon einen ungarischen Namen aussprechen. Seine Bücher verkauften sich seit Jahren in diversen Sprachen und einige Krimis wurden verfilmt. Seit kurzem verwendete er sogar ein weiteres Pseudonym.
»Ich hätte da eine Lesung für dich«, sagte Heimann eines Tages. »Im Literaturhaus, na? Wäre wieder an der Zeit, nicht? Dann lernst du Mikkels persönlich kennen, der liest dort auch. Du wirst begeistert sein. Er schreibt nicht nur beeindruckend, er liest auch fantastisch. Bespricht demnächst sein eigenes Hörbuch. Da kannst du eine Menge lernen. Ist nicht jedem gegeben.«
Diesen Satz würde Zoltan so schnell nicht vergessen. Er war bedient. Heimann hatte sich an ihm eine goldene Nase verdient und nun fing er an, herumzumäkeln und ihn wie einen zweitklassigen Schriftsteller zu behandeln.

2

Anfang Juni 2018, Tom Parker
Tom Parker war vor Kurzem 43 Jahre alt geworden und zu dem Schluss gekommen, dass er sein Leben ändern sollte. Wenn er schon Single war, so wollte er wenigstens sein Hobby zum Beruf machen und seinen bisherigen Beruf an den Nagel hängen, genau wie seine langweilige Identität. Er wollte in die Rolle des Tom Parker schlüpfen. Sein Alter Ego ließ sich von niemandem unterjochen und verfolgte klare Ziele. Außerdem war Parker bereits jetzt ein ernstzunehmender Schriftsteller. Mit diesem Talent wurde er geboren. Nur hatten ihn seine Eltern stets kleingehalten. Schon in seiner Kindheit. Seit Jahren galt seine Leidenschaft Krimis. Er las alles, was ihm unter die Finger kam, besonders gern Bestseller. Von dem Erfolgsautor Will Buck hatte er sämtliche Krimis gelesen. Ihm war bewusst, der Kerl beherrschte das Schreiben. Der neue Star am Autorenhimmel war Mikkels, der dauerhaft Bestseller raushaute. Die Presse lobte ihn in den höchsten Tönen, aber Mikkels neuester Thriller gefiel Parker besonders. Dort ging es um die Entführung eines Mannes, der physisch und psychisch bis zum Tod gefoltert wurde. Der Entführer prahlte vor seinem Opfer, dass er sich mit Erfolg an dessen Frau herangemacht und sie verführt hatte. Das trieb den Gefangenen beinah in den Wahnsinn.
Psychospiele sollten auch Parkers Krimis auszeichnen. Er hatte in dieser Hinsicht mehrfach hervorragende Manuskripte geschrieben, davon war er selbst fest überzeugt. Sie lagen trotzdem in der Schublade. Die eine oder andere Änderung stand noch aus. Außerdem musste er den richtigen Verlag suchen. Bisher war er stets abgelehnt worden. Vermutlich hatten die sich nicht einmal die Mühe gemacht, seine Werke zu lesen. Nur weil er unbekannt war. Doch er tröstete sich damit, dass auch die Großen einmal klein angefangen hatten. Den wenigsten gelang auf Anhieb ein Kassenschlager. Er hatte kürzlich die Memoiren von Stephen King gelesen. Seinem großen Vorbild. King musste in seinen Anfängen diverse Absagen hinnehmen, und das über Jahre hinweg, bevor er mit dem Thriller Carrie durch die Decke geschossen war. Und nun verglich man Mikkels mit King, wie Parker neulich gelesen hatte. Das wurmte ihn dann doch. Dieser Glückspilz war noch mit einer bildhübschen Frau gesegnet. Die war Parker aufgefallen, denn sie saß stets an Mikkels Seite, wenn er Interviews gab. Das brachte ihm garantiert zusätzliche Aufmerksamkeit.
Wie auch Buck hat Mikkels einen Agenten, der sich um die richtige Platzierung im Verlag, Lesungen und um die Lizenzverkäufe kümmerte. In einem Interview erwähnte er den Agenten einmal. Parker notierte sich den Namen, um ihm gleich mehrere Exposés und Leseproben zukommen zu lassen.
Klaus Heimann war Profi. Er würde seine Manuskripte zu schätzen wissen. Schrott gab es schließlich genug. Parker würde sich künftig nicht mehr selbst um die Verlagssuche kümmern müssen. Das würde Heimann für ihn übernehmen. Parker würde die bekannten Schriftsteller schon bald in den Schatten stellen.
Freitag, 30. Juni 2018, Tom Parker
Parker hatte endlich per E-Mail eine Einladung von seinem künftigen Agenten erhalten, das wurde auch Zeit. Dennoch war es ein erhabenes Gefühl. Er kannte die Mail bereits auswendig, so oft las er sie. Der Agent verstand ganz offensichtlich, was in ihm steckte. Tom wusste, es war alles eine Frage der Zeit.
Seine kleine Wohnung in Rödelheim würde er als erstes kündigen. Im Schlafzimmer hatte sich bereits vor einem Jahr Schimmel über dem Bett gebildet. Es wurde Zeit für eine bessere Wohnung. Er war nun kein Hobbyautor mehr, sondern würde bald vom Schreiben leben. Das Manuskript, an dem er gerade arbeitete, würde ein Verkaufsschlager werden. Stilistisch war es überdurchschnittlich gut, der Plot gelungen, die Figuren einzigartig. Klar musste ein Agent wie Heimann da zuschlagen. Tom sagte seinem alten Leben nur allzu gern Lebewohl.
Parker brauchte zu Fuß nur knappe zehn Minuten bis zur Ginnheimer Straße. In Höhe des Elisabethenkrankenhauses überquerte er die Fahrbahn. Heimanns Büro lag im ersten Stock eines eher ungepflegten Mehrfamilienhauses. Nach mehrfachem Klingeln an der Tür ertönte der Summer. Parker sah auf die Uhr. Exakt elf Uhr, keine Minute zu früh, aber auch keine zu spät. Kurz spielte er mit dem Gedanken, das akademische Viertel zu nutzen, um sich interessanter zu machen. Aber nicht gleich beim ersten Mal.
Er trug eine Kappe und eine dunkle Sonnenbrille, die er nicht abnahm, als er das Büro betrat. Die Sekretärin, die ihn mürrisch beäugte als er vor ihr stand, war genauso in die Jahre gekommen wie das gesamte Büro. Die vergilbten Wände benötigten dringend einen Anstrich und der Schreibtisch, an dem die Frau mit dem grauen Dutt saß, war abgewetzt wie eine alte Schulbank. Parker fragte sich, ob er sich im falschen Büro befand.
»Bin ich hier richtig bei dem Literaturagenten Klaus Heimann?«
Die Frau schob ihre Brille auf der Nase zurecht und musterte Parker unverhohlen von oben bis unten. »Im Prinzip schon, er ist aber nicht da. Blendet Sie hier im Büro das Licht, wenn ich fragen darf? Oder weshalb tragen Sie eine Sonnenbrille?«
»Wegen einer Augenoperation. Ich habe heute einen Termin bei ihm. Heute ist doch der 30. Juni?«
»Schon. Er hat mir allerdings nichts von einem Termin gesagt. Wie ist denn Ihr Name?«
»Parker, Tom Parker.«
Sie stöberte in einem großen Tischkalender. »Sind Sie ein Klient von uns?«
Parker nickte eifrig. »So gut wie, deshalb sind wir heute verabredet. Ich habe ihm mein gesamtes Material, also meinen Text und das Exposé bereits zukommen lassen.«
»Tja, dann hat er es vermutlich vergessen. Ich sehe in meiner Agenda auch keinen Hinweis darauf. Keine Ahnung, ob er heute noch vorbeischaut. Sie können ja ein anderes Mal wiederkommen. Rufen Sie später einfach nochmal an.«
Parker konnte nicht glauben, was er hörte. »Später? Ich habe lange genug auf den Termin gewartet. Ich gehe nirgendwo hin. Ich habe eine Verabredung mit Herrn Heimann und die beabsichtige ich wahrzunehmen. Bitte rufen Sie ihn an.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Sind Sie verrückt? Glauben Sie, ich riskiere meinen Job? Er würde mich in der Luft zerreißen!«
Parker machte keine Anstalten zu gehen.
Schließlich seufzte sie und deutete auf eine verschlossene Tür. »Gehen Sie in Gottes Namen rein. Wenn er kommt, sage ich ihm, dass Sie da sind. Aber schließen Sie die Tür hinter sich. Ich muss ein paar diskrete Gespräche führen. Und wenn er in einer Stunde immer noch nicht da ist, kommt er vermutlich heute nicht mehr rein. Auf Dienstage legt er meistens seine Außentermine. Das heißt mit anderen Worten, dass Sie dann nicht länger zu warten brauchen.«
Parker lagen ein paar zynische Worte auf der Zunge, die er sich jedoch verkniff. Er öffnete die Tür des Warteraums, der so wenig einladend war, dass Parker sich fragte, ob das pure Absicht war, um sich Leute vom Hals zu schaffen. Er schloss die Tür, setzte sich auf einen der zwei harten Stühle und sah sich in dem kargen Raum um. An der gegenüberliegenden Wand hing eine große Pinnwand, an die diverse Fotos geheftet waren. Von Autoren, Veranstaltungen und Lesungen. Auf Anhieb erkannte er Will Buck, daneben Mike Mikkels und noch ein paar weitere Autoren und Autorinnen. Neben Mikkels war eine Stelle freigeblieben. Schicksal? Der leere Platz war wie für eine Porträtaufnahme von ihm geschaffen.
Eine gute halbe Stunde später saß Parker Heimann gegenüber. Nicht ein Wort der Entschuldigung für die Verspätung kam über die Lippen des Agenten. Heimann war ihm auf den ersten Blick unsympathisch. Ein auffällig angezogener Geck von Mann. Erinnerte in seiner textilen Farbenpracht an einen Buntspecht. Jemand, der um jeden Preis wirken will, dachte Parker. Wahrscheinlich litt er darunter, dass er selbst nicht schreiben konnte.
»Tja Parker, wie war nochmal Ihr richtiger Name? Ach …«, Heimann winkte ab, »… bleiben wir einfach bei Parker. Ich muss mir viel zu viele Namen merken. Übrigens dürfen Sie hier Ihre Brille ruhig abnehmen. Ich sehe gern in die Augen meines Gegenübers.«
»Ich vertrage wegen einer Operation am Auge kein Licht, tut mir leid.«
»Nun denn, Parker, ich habe mir Ihre Leseprobe mal angesehen, nachdem Sie sich so hartnäckig um einen Termin bemüht haben. Manchmal täuscht man sich mit seinem Bauchgefühl.« Er nahm den Telefonhörer zur Hand und drückte eine Taste. »Meierchen, bringst du mir bitte einen Kaffee?« Er schaute auf. »Wollen Sie auch?«
»Nein danke, ich …«
»Nur einen, Meierchen«, unterbrach ihn Heimann. »So, wo waren wir stehen geblieben?« Heimann schaute auf seine Unterlagen. »Ach ja, vom Prinzip her kein schlechter Ansatz, wenngleich Entführungen in vielen Krimis vorkommen. Nichts wirklich Neues. Kennen Sie Mikkels’ neuesten Krimi? Erste Sahne kann ich Ihnen sagen. Von dem können Sie viel lernen. Nun ja, auch Sie haben anfänglich eine gewisse Spannung aufgebaut.«
Sag ich doch, dachte Parker und lächelte.
»Was Ihnen leider fehlt, ist die Lebendigkeit Ihrer Protagonisten. Die Figuren stehen nur hölzern rum und quatschen dummes Zeug. Sie haben keinerlei Esprit. Sind die etwa alle schon tot, oder was? Ihre Kommunikation ist einschläfernder als jede Schlaftablette.«
Parker war irritiert. Sollte das ein Scherz sein?
»Hauchen Sie Ihnen Leben ein, dann kann man vielleicht was aus Ihrem Text machen.« Er hob den Zeigefinger. »Wobei die Betonung auf vielleicht liegt.«
Vielleicht? Tickte der Kerl noch richtig? »Sind Sie sicher, dass Sie meinen Text gelesen haben? Ich fürchte, es handelt sich um eine Verwechslung. Meine Protagonisten sprühen vor Lebendigkeit.«
»Ich denke nicht, dass ich etwas verwechselt habe. Der Arbeitstitel lautet«, sagte er und sah in seine Notizen. »Entführung bei Nacht, stimmt’s?«
Parker nickte.
»Übrigens ein richtiger Scheiß-Titel. Allein da verliere ich das Interesse an dem Text. Wie gesagt, lesen Sie Mikkels oder meinetwegen Buck. Vor allem lesen Sie, so viel Sie können. Meine Sekretärin kann Ihnen eine Liste von Bestsellern mitgeben, die ein Debütant gelesen haben sollte. Ach, was heißt Debütant, jeder Autor sollte stets gute Bücher lesen. Man lernt nie aus.«
Parker schüttelte den Kopf. »Ich habe sowohl Mikkels als auch Buck gelesen. Für mich alles zweitklassige Literatur!«
Heimann lachte auf. »So was aber auch. Was ist denn für Sie erstklassig?«
»John le Carré oder Stephen King zum Beispiel.«
»Sie greifen direkt nach den Sternen. Mit Ihrer Einstellung, mein Lieber, kommen Sie nicht weit. So viel kann ich Ihnen verraten. Mikkels ist ein echtes Juwel, zumindest seine Bücher, und Buck ist es auch. Die beiden werden nicht umsonst von der Presse in den Himmel gelobt. Ihnen rate ich: Verzichten Sie eine Weile auf das eigene Schreiben. Lernen Sie erst das Handwerk eines guten Autors kennen. Ja, betrachten Sie das Schreiben als Handwerk. Glauben Sie mir, mit ein paar düsteren Szenen, noch dazu stilistisch alles andere als einwandfrei, locken Sie keinen Leser hinter dem Ofen vor. Wenn ich ehrlich bin, wüsste ich nicht einen einzigen Verlag«, meinte er und zeigte mit den Fingern auf die Blätter, »… der diesen Mist verlegen würde. Nicht einen einzigen.«
Parker hielt es kaum noch auf seinem Stuhl. »Also, Sie mögen ja von manchen Autoren Ahnung haben, aber das geht mir jetzt zu weit, Herr Heimann. Ich bin mir bewusst, was ich kann, da brauche ich Ihre Möchtegern-Stars nicht zu lesen. Sie werden sich in den Hintern beißen werden, wenn ich eines Tages durchstarte. Ach, was heißt eines Tages. Mit meinem Manuskript werde ich Ihre Bucks und Mikkels überholen. Da können Sie ’nen Besen fressen. Sie nehmen mich nur nicht ernst, weil ich noch keinen bekannten Namen habe, oder?«
Heimann lehnte sich belustigt im komfortablen Schreibtischstuhl zurück und verschränkte die Arme auf dem überdimensionierten Bauch. »Wieso? Sie haben doch einen und sogar schon einen Künstlernamen. Fast imponiert mir Ihre Beharrlichkeit, wenngleich Sie ins Unverschämte abrutschen. Wie auch immer, ich kann Ihnen nichts anderes sagen. Wenn Sie allerdings unbedingt wollen, dass Ihr Buch erscheint, versuchen Sie es mit Selfpublishing, dann haben Sie wenigstens Ihre Zeit nicht ganz umsonst vergeigt. Wichtig ist ebenfalls, Menschen zu beobachten. Situationen zu sehen und diese in Texte umzuschreiben. Schreiben ist wie Zeichnen. Nur, dass man Buchstaben dazu nutzt. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Er nahm den Telefonhörer ab. »Hör mal Meierchen, Herr Parker möchte gehen. Gib ihm doch eine unserer Bestseller Listen.«
*
Parker verzichtete auf die Liste, eilte bloß hastig an der dämlichen Sekretärin vorbei und verließ diesen Schuppen. Das war geradezu eine Farce. Kein Wunder, dass der Innenraum so runtergekommen aussah. Dieser Typ war nichts weiter als ein Möchtegern-Agent. Nur weil er ein paar Autoren vertreten hat. Diesen Mikkels würde Parker am liebsten auf der Stelle in der Luft zerreißen und Buck ebenso. Musste er sich von diesem Paradiesvogel von Heimann sagen lassen, dass er sich unverschämt verhielt? Blieb dahingestellt, wer von Ihnen beiden unverschämt war. Dieser Heimann behandelte ihn wie einen Idioten. Warte ab, dachte Parker. Heimann würde sich wundern, was er ihm liefern würde. Seine Figuren nicht lebendig? Das war geradezu zum Totlachen.

3

Freitag, 30. Juni, 22 Uhr, Zoltan Német
Zoltan befand sich auf dem Heimweg. Er hätte sich diese Lesung wahrhaftig sparen sollen. Statt seinem Agenten gehörig die Meinung zu sagen, ließ er sich auf diese dämliche Kombi-Lesung im Literaturhaus ein, die ihm garantiert noch viele Tage im Kopf herumspuken würde. Bloß, weil er und Mikkels im selben Verlag veröffentlichten. Nach seinen bisherigen Lesungen hatte er im Anschluss häufig Ausflüge über die Brücke nach Sachsenhausen unternommen. Vor Jahren, als sich gegenüber noch das Sudfass befand, überredete ihn einmal ein Freund, den Prostituierten dort einen Besuch abzustatten. Das war ein verdammt teurer Abend geworden. Nun, das Sudfass war mittlerweile Geschichte. 2014 war das Gebäude abgerissen worden und einem großen Wohnkomplex gewichen. Nichts war mehr so wie zuvor und Zoltan wollte nur noch auf dem schnellsten Weg nach Hause, um sich zu besaufen.
Diese Mikkels war eine verdammt attraktive Frau. Die hätte der Kollege ohne seinen Ruhm sicher nie abbekommen. War doch klar. Scheiß freundlich war er, der Mikkels. »Es ist mir eine Ehre, Sie persönlich kennenzulernen, Herr Buck«, hatte Mikkels gesagt. »Ich habe all Ihre Werke gelesen.«
»Na bravo.« Der Typ war doch nichts als ein Speichellecker.
Dann hatte Mikkels eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Sakkos gezogen. »Vielleicht können wir uns nochmal persönlich austauschen. Ich meine so ganz unter Kollegen. Den einen oder anderen Tipp könnten wir uns gegenseitig geben. Das würde unsere Texte optimieren. Wir Autoren sind ja keine Konkurrenten. Hier ist unsere Festnetznummer. Wir würden Sie gerne mal zu uns persönlich einladen, nicht wahr Schatz?«
Mirjam Mikkels hatte höflich genickt und gelächelt, obwohl Zoltan an ihrer Mimik bemerkt hatte, dass sie über diesen Vorschlag nicht begeistert war.
»Leider bin ich momentan sehr beschäftigt«, hatte Zoltan bemerkt und die Visitenkarte in die Brusttasche seines Jacketts gleiten lassen, ohne sie anzusehen. »Aber wenn mal ein Loch in meinem Terminkalender ist, komme ich darauf zurück, falls ich es nicht vergesse.«
Was bildete der Schnösel sich ein, einem versierten Autor wie Zoltan Tipps geben zu wollen? Das war das Allerletzte. Der Kerl war aus dem nichts gekommen und würde hoffentlich bald dorthin verschwinden.
Beinah noch mehr wurmte Zoltan allerdings Mikkels’ Lesung. Erst hatte Zoltan gelesen und sich dabei viel Zeit gelassen. Er war nicht nur der Bekanntere, er war auch der Ältere. Das hin und wieder ältere Menschen bei einer Lesung in einen kurzen Schlummer verfielen, war völlig normal. Zumindest kannte Zoltan es nicht anders und es störte ihn nicht mehr. Hauptsache die Plätze waren belegt und die Verkäufe gesichert.
Danach aber hatte Mike Mikkels vorgelesen. Zoltan konnte nicht sagen, was es war, das es zu etwas so Besonderem machte, doch die Zuschauer hingen förmlich an Mikkels’ Lippen. Die Journalisten hatten sich um ihn geschart und ein Fotograf hatte fast ausschließlich Fotos von Mikkels und seiner Frau geschossen. Nur einmal fotografierte er Zoltan. Das war die Krönung des unsäglichen Abends gewesen. Er hatte den Fotografen sogleich beiseitegenommen, ihn nach seinem Namen gefragt und diesen notiert. Karl Lemberg hieß der Kretin. Er würde sich über den Mann bei der Zeitung beschweren.
*
Karl Lemberg liebte Kriminalromane und las beinah alles, was der Markt hergab, besonders interessierten ihn zeitgenössische Krimis. Da stand aktuell Mike Mikkels im Fokus, natürlich auch Will Buck. Sie beide waren in der Lage, in ihren Büchern eine lebendige Wendigkeit zu erzeugen, die ihresgleichen suchte. Man konnte auf solche Talente schon recht neidisch werden. Aber auch rein beruflich musste er die beiden unter die Lupe nehmen. Er bekam den Auftrag, für die Frankfurter Zeitung ein paar brauchbare Fotos von der Lesung im Literaturhaus zu schießen. Neben Mikkels saß seine bildschöne Frau. Mit ihrem welligen blonden Haar und der makellosen Figur hätte sie glatt neben Claudia Schiffer bestanden. Ein Rasseweib. Er machte circa fünfzig Schnappschüsse von ihr und Mikkels, als er registrierte, dass Will Buck den beiden auf den Pelz rückte und Lemberg auffordernd ansah. Nein, so nicht. Aufdringlichkeit musste bestraft werden. Buck war Lemberg nicht mehr als zwei Schnappschüsse wert, was den eitlen Autor dazu bewog, ihn nach seinem Namen zu fragen. Sollte er sich doch über ihn beschweren. Buck war ein selbstverliebter Wichtigtuer und Mikkels ebenfalls. Er freute sich schon, wenn die beiden demnächst einen auf den Deckel kriegen würden. Kritiken waren nun einmal nicht immer positiv und Hochmut kommt bekanntermaßen vor dem Fall.
Lemberg schrieb den Artikel noch am selben Abend und schickte ihn direkt in die Redaktion. Die Standpauke folgte nach dem Erscheinen des Textes am folgenden Tag.
»Menschenskinder, Lemberg. Nicht Sie haben zu bestimmen, wer der bessere ist. Buck ist außer sich vor Zorn. Gerade mal ein halbwegs brauchbares Foto von ihm und das noch dazu verpixelt. Was soll das? Wollen Sie Ihren Job riskieren?«, fragte der Chefredakteur.
Lemberg riskierte eine dicke Lippe und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sollte ich kündigen, wenn Sie so unzufrieden mit mir sind? Ich gebe immer mein Bestes, wenn Ihnen das nicht ausreicht, dann tut es mir leid. Es herrschten schwierige Lichtverhältnisse an dem Abend und Buck saß nun mal im Schatten von Mikkels und seiner strahlenden Frau.«
»Schieben Sie es nicht auf das Licht. Aber gut, jeder hat einen schlechten Tag, kann mich sonst immer auf Sie verlassen. Ich drücke ein Auge zu. Das kommt hoffentlich nicht wieder vor«, mahnte der Boss und Lemberg grinste innerlich. Sollte er ihn doch feuern. Er würde schon was Neues finden.

4

Montag, 2. Juli, Mike Mikkels
Mirjam war müde und abgearbeitet. Die Montage waren in der Zahnarztpraxis meistens ausgebucht und der Rücken tat ihr weh. Als Zahnarzthelferin musste sie den ganzen Tag Schläuche halten und in ängstliche Patientengesichter schauen, das war recht anstrengend. Noch dazu war ihr Chef heute mehr als schlecht gelaunt gewesen. Mirjam freute sich auf ihren Mann. Ihretwegen hatten sie eine Penthousewohnung in der Adalbertstraße gemietet, damit sie es nicht weit hatte bis zur Praxis in der Leipziger Straße. Die Wohnung, die Mike für sie ausgesucht hatte, war lichtdurchflutet, mit einem riesigen Atelierfenster, einer offenen Küche und einem großzügigen Wohnraum. Auch das Schlafzimmer war sehr geräumig. Allerdings war es gleichermaßen Mikes Arbeitszimmer. Der Wohnung fehlte ein weiterer Raum, in den sich Mike zum Schreiben zurückziehen konnte. Mirjam tröstete sich damit, dass dem Umzug in eine neue Wohnung nicht mehr allzu viel im Weg stand, denn durch Mikes Bucherfolge verdiente er mittlerweile recht gut. Er sprach neulich sogar davon, dass sie ihren Job bald an den Nagel hängen könnte, wenn sich seine Bücher auch weiterhin gut verkauften. Seitdem hatte Mirjam konkrete Träume, über die sie unbedingt mit ihrem Mann reden wollte. Heute war der richtige Zeitpunkt gekommen, entschied sie. Besser gesagt, handelte es sich bloß um einen einzigen Wunsch. Vom Mezzanotte, ihrem Lieblingsitaliener, holte sie auf dem Heimweg zwei Pizzen, denn Kochen wollte sie heute Abend nicht. Außerdem war es beinah schon sieben.
»Schatz?«, rief sie, nachdem sie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte. »Bist du da?«
»Ich arbeite noch«, rief Mike aus dem Schlafzimmer.
Sie ging zu ihm und küsste ihren Mann, der am Rechner saß, auf die Stirn.
»Ich habe Pizza mitgebracht. Komm, mach Schluss für heute.«
Mikes Blick war leer, als er sie anschaute. Vermutlich hatte er ihre Worte kaum wahrgenommen. Sie kannte diesen Blick. Er konnte sich ihr völlig entziehen, wenn er mitten im Roman steckte, und er wurde dann äußerst ungern gestört. Es war, als sei sie nichts weiter als eine Randfigur. Manchmal war sie regelrecht eifersüchtig auf seinen Rechner.
Sie ging in die Küche und legte die Pizzakartons auf die Arbeitsplatte. Vermutlich sollte sie ihn sich selbst überlassen und ihre Pizza essen, solange sie noch warm war, aber etwas in ihr stachelte sie an, ihn aus seiner Welt zu reißen.
Wieder ging sie zum Schlafzimmer, blieb aber im Eingang stehen. »Es war heute wahnsinnig anstrengend in der Praxis. Ich dachte, wir könnten uns einen romantischen Abend machen, was meinst du? Ich habe mich so auf dich gefreut.«
»Nimmst du meinen Beruf nicht ernst?«, fragte Mike und blickte vom Computer auf.
»Natürlich, du solltest aber deine Frau auch ein wenig ernst nehmen«, sagte Mirjam, um ihn zu provozieren.
»Bitte Mirjam, ich befinde mich in einer entscheidenden Phase meines Romans. Ich werde wohl ein paar Tage Auszeit brauchen. Ich miete mich vielleicht mal wieder in einer kleinen Pension ein, damit ich meine Ruhe habe.«
Mirjam stöhnte und lehnte sich an den Türrahmen. »Wie so oft. Wäre es nicht sinnvoller, wir würden uns um eine größere Wohnung kümmern, mit einem Arbeitszimmer nur für dich und vielleicht noch einem vierten Zimmer? Ich finde wirklich, das wäre an der Zeit.«
»So, das findest du? Wozu so viele Zimmer?«
»Du sagtest doch, wenn alles weiter gut läuft, dann kann ich meinen Job aufgeben. Wäre es nicht genau der richtige Zeitpunkt, über Nachwuchs nachzudenken? Ich bin genau im richtigen Alter und ich hätte viel Zeit für das Kind.«
Mirjam stand immer noch im Eingang. Vor Aufregung wurden ihre Knie weich.
Mike war entgeistert. »Bist du völlig verrückt geworden? Ein Kind? Gerade jetzt, wo es läuft? Was ist in dich gefahren. Vielleicht würde ich mir gern mal einen Urlaub gönnen von dem Geld, das übrigbleibt? Mit dir eine größere Reise unternehmen? Dich einfach nur genießen? Aber nein, du willst ein Blag. Bist du irre? Sei einfach stolz auf deinen Mann, verdammt nochmal! Ich dachte, du bist anders als die anderen.« Er schlug mit der Hand auf die Schreibtischplatte.
»Du meinst deine Affären?« Mirjam biss sich auf die zitternde Unterlippe.
»Was heißt hier Affären? Mein Gott, nur weil ich einmal fremdgegangen bin. Glaubst du, das tun andere Männer nicht? Außerdem ist es schon lange aus. Mach dir nicht in die Hosen. Das ist doch kein Drama. Du weißt, dass ich dich liebe. Und jetzt lass mich, ich möchte arbeiten.«
Er starrte stur auf seinen Bildschirm und würdigte sie keines Blickes mehr.
»Danke, das ist großartig, Mike Mikkels. Ich bin wirklich stolz auf dich.« Mirjam warf die Tür des Schlafzimmers zu und stürmte in den Wohnraum, wo sie sich auf die Couch fallen ließ. Ihr war der Hunger vergangen. Sie würde die Nacht im Wohnzimmer verbringen.

5

Samstag, 14. Juli, Mirjam Mikkels
Aus dem Streit mit Mike resultierte, dass sie nur das Nötigste miteinander sprachen. Das Schlimmste daran war, dass ihn das nicht besonders beeindruckte, so sehr war er mit seinem Manuskript beschäftigt. Doch sie konnte ihm nicht vergeben, zu sehr wünschte sie sich ein Kind.
Als er vor drei Tagen zu einer Lesung aufgebrochen war, bat er sie, sich mit ihm zu vertragen. Sie aber konnte es nicht lassen und fing erneut mit dem unsäglichen Kinderwunsch an. Das reichte, Mike war ohne ein weiteres Wort aus der Wohnung gestürmt und bis heute nicht wiedergekommen.
Mirjam war bestürzt und hatte nachts beunruhigt seinen Kleiderschrank inspiziert. Sollte er vorgehabt haben, längere Zeit fort zu bleiben, hätte er Garderobe zum Wechseln mitgenommen, so gut kannte sie ihren Mann. Sie glaubte nicht, dass auch nur ein Kleidungsstück fehlte, wenngleich Mike unzählige Hemden besaß und sie diese zugegebenermaßen nie durchzählte. Ohnehin begriff sie kaum, warum man mehrere blaue, weiße, grau-gestreifte oder blau-weiß gestreifte Hemden brauchte. Er hatte einen wesentlich größeren Kleiderschrank als sie. Darüber ärgerte sie sich insgeheim.
Wenn er ein oder zwei Hemden mitgenommen hatte, dann musste er diese schon in eine Tüte gestopft haben, denn Reisegepäckstücke fehlten nicht. Nicht einmal sein Handy hatte er mitgenommen. Obwohl das nicht viel bedeutete. Er ließ es vor öffentlichen Auftritten oftmals zu Hause. Es machte ihn nervös, wenn es klingelte oder Nachrichten kamen. Wenn er aber verreiste, nahm er es grundsätzlich mit.
Ob seine damalige Affäre hinter seinem Verschwinden steckte? Aber bis auf ihren Streit waren sie in letzter Zeit doch glücklich gewesen. Und soviel Mirjam wusste, war Alessa liiert und letztes Jahr nach München gezogen. Konnte es sich um eine neue Affäre handeln? Nein, er hatte gesagt, dass er sie nie betrügen würde und dass sie ihm viel bedeutete. Und sie glaubte ihm. Dennoch hatte sie ein ungutes Gefühl.
Seither achtete sie auf jedes Geräusch in der Wohnung, besonders nachts. Jedes kleinste Knacken schreckte sie auf, weil sie vermutete, dass Mike zurückgekommen war. Kürzlich sagte er, dass er für ein paar Tage in eine Pension ziehen wolle, das hielt sie bisher davon ab, zur Polizei zu gehen. Gestern hatte sie sich krankschreiben lassen. Sie fühlte sich ausgelaugt, war nicht in der Lage zu arbeiten, und dann war heute Morgen dieser Brief gekommen. Ein Brief von ihrem Mann. Mirjam hatte ihn wieder und wieder gelesen, denn im ersten Moment beruhigte sie, was sie dort las. Mittlerweile kannte sie die Zeilen auswendig: »Mein Herz, mach dir bitte keine Sorgen. Es geht mir gut. Ich stecke tief in der Arbeit und nehme mir eine Auszeit. Ich kann noch nicht sagen, wie lange ich fortbleibe. Bitte mach dir keine Sorgen. Ich bin bald wieder da und glaube mir, ich habe dich lieb, mein Herz.«
Immer wieder hatte sie auf die Zeilen gestarrt, ohne dahinterzukommen, was sie an dem Brief so störte. Dass er nicht mehr auf ihren Streit einging, war es nicht allein. Etwas anderes verwirrte sie. Dann, ganz plötzlich, wurde es ihr bewusst.
*
Kriminalkommissar Arndt Burschel saß in seinem Büro im Frankfurter Polizeipräsidium. Von seinen Kollegen und vor allem von seiner beruflichen Partnerin wurde er liebevoll Burschi genannt, denn er wirkte mit seinen drahtigen Haaren, die sich nicht recht bändigen ließen, und dem ewig fröhlichen Gemüt jünger, als er mit seinen 32 Jahren war. Ein richtiger Bursche.
Uta Scharf, seine Kollegin, trat ein. »Moin Burschi, gut geschlafen?«
»Tag Uta, ich döse noch, tue ich samstags meistens.«
Uta grinste und setzte sich an ihren Schreibtisch, um den Rechner hochzufahren. Burschel beobachtete sie dabei. Für Uta Scharf hatte er heimlich ein Faible. Sie war in seinen Augen die ideale Partnerin, nicht nur beruflich. Er konnte sie sich an seiner Seite gut vorstellen.
Die junge sportliche Kriminalkommissarin, mit blondem Pferdeschwanz, und er hatten schon so manchen Täter überführt und waren dabei psychisch zum Glück nie an ihre Grenzen gestoßen. Einer stützte den anderen, das machte die gemeinsame Arbeit so wertvoll. Viele Kollegen zogen nach einem schweren Verbrechen einen Polizeipsychologen zu Rate, um das Erlebte zu verarbeiten. Scharf und Burschel führten stattdessen lange Gespräche, die ihnen die Kraft zum Weitermachen gaben.
Leider jedoch war Scharf liiert. Sie hatte ihn ihren Kollegen bei der letzten Weihnachtsfeier vorgestellt. In Burschels Augen ein Spießer par excellence dieser Philip und keine Spur von Humor. Noch dazu ein dröger IT-Fachmann.
»Der Mann hat schon viereckige Augen, so oft wie er auf den Bildschirm schaut«, behauptete Burschel einmal. »Kennt er eigentlich deine Augenfarbe?«
Scharf lies diese und ähnliche Bemerkungen unkommentiert. Ein wenig aber freute sie sich über seine offenkundige Eifersucht.
Am heutigen Morgen kam Scharf schwer in die Gänge, da sie schlecht geschlafen hatte. »Magst du auch einen Kaffee, Burschi?«, fragte sie und stand auf.
»Wie könnte ich ein solches Angebot ausschlagen. Du weißt, was ich brauche. Und bitte schwarz wie die Nacht.«
»Schwarz wie deine Seele«, antwortete Scharf und lief lachend zur Teeküche. Das Telefon auf Burschels Schreibtisch klingelte und hielt den Kommissar ab, allzu lange hinter Scharf herzustarren. »Burschel?«
Scharf kehrte mit zwei großen dampfenden Kaffeebechern zurück und stellte ihm einen davon vor die Nase.
»Danke.« Burschel beendete das Gespräch und stand auf. »Wir nehmen die Tassen mit, müssen in den Verhörraum.«
»Warum?«
»Wir bekommen Besuch.«
»Besuch? Am frühen Morgen?« Scharf folgte Burschel in den Gang.
»Ich weiß nicht recht. Du weißt doch gewiss, wer Mike Mikkels ist, oder?«
Uta zog die Stirn in Falten und überlegte. »Mikkels, Mikkels … Der Name kommt mir bekannt vor, aber nein, eigentlich weiß ich es nicht.«
»Er war mal hier, stellte ein paar Fragen, unsere Polizeiarbeit betreffend. Er ist Krimiautor. Momentan DER Krimiautor, soviel ich weiß«, antwortete Burschel.
Scharfs Augen leuchteten. »Aber klar. Hat der nicht sogar einen Bestseller gelandet?«
»Mindestens einen, und er hat uns nicht einmal gefragt, ob er uns prozentual beteiligen darf, oder wenigstens dich.«
Scharf lachte. »Witzbold.«
»Nun ja, du hast ihm bereitwillig Auskunft gegeben. So einen langen Vortrag hast du mir nie gehalten. Ich war regelrecht eifersüchtig. Jedenfalls ist seine Frau hier. Wir werden Sie gleich treffen. Bin gespannt, was sie will.«
»Vielleicht übernimmt sie jetzt die Recherche für ihren Mann?«
Burschel konnte nicht antworten, da sie im Verhörraum angekommen waren und ein Kollege eintrat, gefolgt von einer attraktiven Frau. »Hier ist die junge Dame, die mit euch sprechen möchte«, sagte der Beamte.
»Hallo, ich bin Mirjam Mikkels.«
Burschel gab der jungen Frau die Hand. »Guten Tag Frau Mikkels, was können wir für Sie tun? Das ist Kommissarin Scharf, meine Partnerin.«
Scharf begrüßte die junge Frau ebenfalls. »Ach bitte, nehmen Sie an dem runden Tisch Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
»Danke nein, ich bin ohnehin aufgeregt genug«, sagte die Frau. »Ich wollte zu Ihnen, weil mein Mann bereits mit Ihnen zu tun hatte. Davon hat er mir damals erzählt.«
»Ja, ich sprach gerade mit meiner Kollegin darüber. Ich erinnere mich noch genau an ihn. Er stellte viele Fragen, wollte nichts Falsches schreiben. Das wissen wir von der Kripo zu schätzen. Es wird genug Blödsinn geschrieben. Er machte einen sehr sorgfältigen Eindruck, so etwas unterstützen wir gern.«
Die junge Frau nickte erleichtert. Sie wirkte fahrig und verstört. Die Haare wirr und ungekämmt, die Bluse falsch zugeknöpft. Burschel schätzte, dass sie normalerweise mehr Wert auf ihr Äußeres legte. Zumindest hatte er sie vor kurzem auf einem Foto bewundert, auf dem sie makellos wirkte.
»Nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Mikkels.«
Scharf wies auf einen leeren Stuhl und die junge Frau setzte sich. »Ich, ich bin wegen meines Mannes hier«, stotterte sie. »Er ist seit Mittwoch verschwunden.« Sie presste die Lippen zusammen.
Scharf schob ihren Stuhl näher zu Mikkels und blickte die junge Frau aufmerksam an. »Verschwunden?«
»Also es ist so«, fuhr Mikkels fort. »Er hat die Angewohnheit, hin und wieder unterzutauchen, wenn er für einen Krimi recherchiert. Er behauptet, nur so werden seine Bücher erfolgreich.« Unruhig schaute die Mikkels abwechselnd in die Gesichter der beiden. »Sie werden jetzt denken: Dann ist doch klar, warum er jetzt weg ist, oder?« Sie machte eine Pause. »Er arbeitet an seinem Manuskript.«
Scharf trank einen Schluck Kaffee, antwortete aber nicht.
»So ist es aber nicht. Wir, also es war so, er hatte am Mittwoch, dem 11. Juli, eine Lesung im Mozartsaal der Alten Oper. Die Lesung war sogar ausverkauft. Doch mein Mann kehrte danach nicht nach Hause zurück.«
Hilfesuchend schaute Mirjam sich im Raum um. »Kurz bevor er zu der Lesung ging, hat es nochmal einen unschönen Wortwechsel gegeben und dann ist er, wütend und ohne Abschied zu nehmen, fortgegangen.«