Blutpforte - Alex Thomas - E-Book

Blutpforte E-Book

Alex Thomas

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Beschreibung

Ihr Blut birgt das Geheimnis der wahren Macht Gottes. Und deshalb muss sie sterben.

Eine rätselhafte Nachricht erreicht Ordensschwester Catherine Bell: Ihre Adoptivmutter Ava, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt hatte, will Catherine endlich die Wahrheit über ihre leiblichen Eltern erzählen. Doch am nächsten Tag ist Ava Bell tot – Augen, Ohren und Zunge wurden ihr herausgerissen. Irgendjemand will mit aller Gewalt verhindern, dass die junge Ordensfrau hinter das streng gehütete Geheimnis ihrer Geburt kommt. Die Spur des Mörders führt Catherine in das dunkle Herz des Vatikans, zu einer uralten Gemeinschaft, die sich Hüter der Pforten nennt. Doch vor welcher überirdischen Gefahr schützen die Hüter die Menschheit? Und welche Rolle spielt Catherine in diesem gefährlichen Spiel um Macht, Glaube und Blut?

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Seitenzahl: 607

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Buch

Fast zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit Schwester Catherine Bell zuletzt Kontakt zu ihrer Adoptivmutter hatte. Dann hört sie Ava Bells angstvolle Stimme auf dem Anrufbeantworter. Einen Tag später ist ihre Adoptivmutter tot, ihr wurden Augen, Ohren und Zunge entfernt. Doch Ava ist nicht das erste Opfer des Messias-Mörders, der seine Opfer unter den Teilnehmern jenes Adoptionsprogramms wählt, das Catherine zu Avas Tochter machte … Gleichzeitig berichten Menschen überall auf der Welt, Tote gesehen zu haben. Verwandte, Freunde, Bekannte. Ein Fall ereignet sich im Petersdom, wo Catherine auf eine alte Geheimorganisation stößt, die Hüter der Pforten. Als dann auch noch der verstümmelte Leichnam jenes Mannes gefunden wird, der Catherines Adoption vor vielen Jahren ermöglichte, weiß sie: Jemand will mit allen Mitteln verhindern, dass die junge Ordensfrau hinter das streng gehütete Geheimnis ihrer Geburt kommt. Doch was verbirgt die Gemeinschaft der Hüter vor ihr?

Autor

Alex Thomas ist das Pseudonym eines im Westen Londons lebenden Autorenehepaares. Sie arbeitet seit über zwei Jahrzehnten im Buch- und Medienbetrieb. Er forscht und lehrt als Professor an einer Londoner Universität. Beide entdeckten ihre gemeinsame Liebe für Geschichte, Wissenschaft und das Schreiben.

Von Alex Thomas bereits erschienen:

Lux Domini

Engelspakt

Engelszorn

Alex Thomas

BLUTPFORTE

Thriller

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Copyright © der Originalausgabe 2017 by Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: Masterfile/Beanstock Images

BL · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-19527-4V002www.blanvalet.de

Für J.J.A. & Frank H.

Intro

Seit wir mit Lux Domini Schwester Catherine Bells erstes Abenteuer erzählten, haben uns etliche Leserbriefe erreicht. Mit Erscheinen von Catherines drittem Fall werden wir zunehmend gefragt, ob unsere Romane in einer bestimmten Reihenfolge gelesen werden müssen.

Nun, wir achten darauf, dass jede Geschichte unabhängig voneinander gelesen werden kann, jedoch entwickelt sich unser Romanuniversum natürlich von Episode zu Episode weiter, Bezüge zu vorangegangenen Ereignissen bleiben also nicht aus. Für das größte Lesevergnügen empfehlen wir daher den Einstieg mit Lux Domini, gefolgt von Engelspakt und Engelszorn.

Zur besseren Orientierung und für das leichtere Verständnis unseres Thrilleruniversums haben wir ans Ende jedes Romans ein Glossar mit besonderen Begriffserläuterungen gestellt. Außerdem befindet sich in Blutpforte eine Liste mit Kurzbeschreibungen der Haupt- und wichtigsten Nebenfiguren.

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen von Schwester Catherines viertem Abenteuer. Und immer daran denken: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt.

Alex Thomas

Ich bin durch die Tore der Finsternis geschritten.Ich habe das Reich Gottes gesehen.Und ich sage euch, das Reich Gottes ist nicht Licht!

(Lucifer aus:

Die Hölle, die ihr Himmel nennt)

Prolog

30. Mai 1431,

Rouen, Frankreich

Der Sommer stand vor der Tür, und doch fror Bruder Guillaume durch seine Kutte bis auf die Knochen. Aus der Stadt und aus dem Umland hatten sich Tausende von Menschen auf dem Marktplatz versammelt, um die Hinrichtung des Mädchens zu bezeugen. Etliche hatte die Neugierde zum Richtplatz getrieben. Anderen sah der Mönch an, dass sie der Exekution am liebsten ferngeblieben wären, fürchteten sie nicht die harte Strafe, die mit einer Abwesenheit verbunden war.

Guillaume vom Kloster der Predigerbrüder blickte auf die drei mächtigen Gerüste, die die Engländer hatten errichten lassen. Eines für die Richter, eines für die hohen Prälaten und eines für die Reisigbündel, mit denen der Scheiterhaufen in Brand gesetzt würde. Zwei der Gerüste zierten Flaggen der britischen Monarchie. Auf dem höchsten Gerüst entdeckte Guillaume den Bischof von Beauvais und den Kardinal von Winchester. Zwei mächtige Männer in Violett und Scharlachrot, Männer Gottes voller Machtgier und Hass. Die Männer, die das Mädchen verraten hatten.

Der Mönch zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht, während sein Blick weiter zum hohen Podest des Scheiterhaufens wanderte. Unter Lord Bedford hatten die Engländer für das Mädchen einen ganz besonderen Scheiterhaufen errichten lassen. Üblicherweise wurde Stroh ebenerdig mit Holz, Pech und Schwefel untermischt; dessen Brennstoffe erstickten das Opfer und ersparten ihm die größten Qualen. Dieser Scheiterhaufen jedoch stand auf einem hohen, eigens für dieses Ereignis gemauerten Gipssockel, damit die Pein in den Flammen am größten war. Auch konnte das Volk die Verurteilte so besser brennen sehen.

Guillaume hörte den schweren Karren, der langsam durch die Straßen auf den Marktplatz zurollte. Über achthundert mit Äxten und Lanzen bewaffnete Landsknechte bewachten das Volk und hielten es von den Gerüsten, dem Scheiterhaufen sowie dem Karren fern. Die hohen Prälaten, die das Mädchen verraten und verurteilt hatten, fürchteten einen Aufstand, denn unter den Einheimischen befanden sich viele Anhänger der Pucelle. Und die Bürger von Rouen fürchteten aufgrund der Hinrichtung einen Fluch.

Das Mädchen stand auf der Karre wie eine Statue, trug ein schlichtes, in Schwefel getauchtes Gewand und eine Haube, unter der sie nur noch den Boden unter ihren nackten Füßen erkennen konnte. Neben der Pucelle standen ein Priester und Bruder Martin. Beide begleiteten sie auf ihrem letzten Weg. Die Miene des Priesters glühte vor fanatischer Inbrunst, in Bruder Martins Gesicht konnte Guillaume Trauer und Verzweiflung sehen.

Als der Karren vor dem dritten Gerüst zum Halten kam, breitete sich Unruhe unter den Menschen aus. Viele begannen zu beten, laut zu jammern und zu weinen. Sie beteten und weinten für die Pucelle. So etwas hatte Guillaume noch bei keiner Hinrichtung erlebt.

Bruder Martin streckte dem Mädchen die Hände entgegen und half ihm von dem hohen Karren hinunter. Alle drei stiegen die Stufen zur Plattform hinauf. Obwohl das Mädchen von den zahlreichen Verhören sowie der Kerkerhaft geschwächt war und zitterte, zögerte es mit keinem Schritt. Der Priester ging der Pucelle mit Hass und Genugtuung voran.

Auf dem zweiten Podest trat einer der Geistlichen vor und rezitierte aus einem dicken Buch. Guillaume hörte die Worte, doch sie erreichten ihn nicht. Schlafmangel und die Anstrengungen der letzten Nacht – eine geheime Befreiungsaktion – machten ihm zu schaffen. Nur die letzten Worte der Rede des Geistlichen drangen an sein Ohr.

»So erklären wir Euch erneut der Exkommunikation verfallen, die Ihr mit der Rückfälligkeit in Eure früheren Irrtümer und Ketzerei auf Euch geladen habt. Mit diesem Urteil erklären Wir, die Wir Euch zu richten haben, dass Ihr wie ein brandiges Glied aus der Einheit der Kirche ausgestoßen und von ihrem Leibe weggerissen werdet, damit Ihr die anderen Glieder nicht ansteckt – und dass Ihr dem weltlichen Arm ausgeliefert werdet. Wir bitten die weltliche Gerichtsbarkeit, ihr Urteil über Euch zu mäßigen ohne Tötung und Verstümmelung der Glieder. Und wenn ein Zeichen echter Reue bei Euch offenbar wird, soll Euch das Sakrament der Buße gespendet werden.«

Im Kern besagten die Worte, dass die Kirche das Mädchen nicht mehr schützen könne, weswegen man es nun der weltlichen Gerichtsbarkeit übergab, was einem Todesurteil gleichkam. Was für ein Hohn!

Dann trat der Bischof vor, jenen Hass in den Augen, den er nicht nur auf den Priester übertragen hatte. Er sprach ein paar förmliche Worte. Seine Exzellenz gierte nach Ruhm. Wie Guillaume wusste, hatten die Engländer ihm für diese Schandtat den Posten des Erzbischofs von Rouen versprochen. Doch die Engländer würden ihr Wort nicht halten, und die Richterrolle über die Pucelle würde den hohen Geistlichen zur meistverachteten Figur der Geschichte Frankreichs machen. »Möge Gott sich deiner armen Seele erbarmen«, endete seine Rede kalt.

Zitternd sackte das Mädchen in seinem Schwefelgewand auf die Knie und begann ein Gebet.

Es wurde totenstill.

Laut vernehmlich und mit klarer Stimme bat das Mädchen Gott für seine Sünden um Vergebung und die Aufnahme ins Himmelreich. Auch rief es die heilige Maria, die heilige Katharina, die heilige Margarethe und den Erzengel Michael an, ihm in der Stunde seiner größten Not beizustehen. Aber es unterwarf sich nicht der Kirche und hielt weiter an der Wahrhaftigkeit seiner göttlichen Mission fest. Ebenso sprach das Mädchen seinen König von jeder Schuld frei, ja selbst dem Bischof vergab es sein Unrecht. Die Schuld läge nur bei ihm, dem Mädchen allein.

Guillaume atmete schwer und registrierte, wie noch mehr der Anwesenden in Tränen ausbrachen, weinten und schluchzten. Nur die englischen Soldaten zeigten auf das Mädchen und verhöhnten selbst dieses aufrichtige Gebet. Guillaume war sich sicher, dass keiner von ihnen des Französischen so weit mächtig war, um den Inhalt überhaupt zu verstehen.

Da die weltlichen Richter sich eines endgültigen Urteilsspruchs enthielten, gab der Bischof das Zeichen. Bruder Martin half dem Mädchen auf die Beine und führte es die steile Treppe hinunter zum Podest des Scheiterhaufens. Am Scheiterhaufen hing bereits das Blatt mit dem schriftlichen Todesurteil.

»Bei Gott, ich kann es nicht zulassen«, keuchte eine verhüllte Gestalt neben Guillaume.

Er hielt sie am Ärmel ihrer Kutte zurück und flüsterte ernst: »Ihr habt den Himmlischen Rat gehört. Sie ist kraft der Verbindung durch das gleiche Martyrium gegangen wie Ihr. Bruder Martin hat ihr die Beichte abgenommen und ihr die letzte Kommunion gereicht. Es ist vorbei.«

»Aber sie stirbt – für mich!«

Guillaume spürte über seine feinen Sinne das leise Rauschen von Flügeln, noch bevor er sie sah. Sieben Raben ließen sich auf den Schindeldächern rund um den Marktplatz nieder. Es waren keine gewöhnlichen Raben. Er kannte jeden einzelnen. Sie waren vom Friedhof von St. Quen und vom Kloster der Predigerbrüder herübergeflogen, um ihren Dienst für den Orden zu tun. Es waren Seelenwächter.

»Sie wird nichts spüren«, flüsterte er seiner Begleiterin ins Ohr. »Sie ist Euer Ebenbild. Sie wurde für diesen Augenblick geboren. Sie nimmt ihr Schicksal an, ebenso wie Ihr das Eure annehmen müsst.« Als seine Worte keine erkennbare Reaktion bei der Jungfrau zeigten, fügte er eindringlich hinzu. »Euer König und der Herzog haben für Eure Freilassung viel riskiert. Ihr müsst jetzt stark sein.«

Jeanne begegnete seinem Blick. Die langen Monate der Haft, die langen Monate der Verhöre, des Hungers und der Folter hatten tiefe Spuren im Antlitz der Jungfrau hinterlassen und sie erschöpft. Und ausgerechnet jetzt stand ihr die schwerste Prüfung bevor: Ein reines, unschuldiges Mädchen starb aus freiem Willen an ihrer Stelle, und Jeanne wollte ihr zumindest die letzte Ehre erweisen. Guillaume spürte den inneren Kampf, der trotz der Erschöpfung in seiner Begleiterin tobte. Beruhigend legte er eine Hand auf ihren Arm.

Unterdessen ging das Mädchen mit schweren Schritten, geleitet von Bruder Martin und den anderen, auf den Scheiterhaufen zu. Der triumphierende Jubel der Engländer brandete über das Weinen, Schluchzen und Trauern der Franzosen hinweg.

Das Kohlenbecken brannte wie ein Schlund zur Hölle.

Der Henker wartete.

… denn ihre Werke folgen ihnen nach.

(Offenbarung – Kapitel 14, Vers 13)

TEIL I

1

Rom

Vatikan

Seit Stunden hatte Schwester Martha von der Gemeinschaft der Schwestern der Göttlichen Vorsehung weder etwas gegessen noch getrunken. Über der Lektüre eines mittelalterlichen Folianten, der ein besonders dramatisches Kapitel der Kirchengeschichte enthielt, waren ihr Raum und Zeit entglitten. Und so bemerkte sie auch nicht das wiederholte Räuspern, das von der offenen Tür in ihr kleines, laborähnliches Refugium tief im Herzen der Vatikanischen Archive drang.

»Sagen Sie, Schwester, haben Sie nicht in sieben Minuten ein Treffen mit Hochwürden Pater Hubertus in der Basilika?«

Wie in Trance blickte Schwester Martha von dem alten, vergilbten Schriftstück auf, bis sie den Kopf des Archivsekretärs in der Tür entdeckte und die Bedeutung seiner Worte schlagartig zu ihr durchdrang. Hubertus! Sieben Minuten! Peterskirche!

Sie hätte nicht sagen können, was unter dem Schock zuerst aussetzte: ihr Hirn, ihr Herzschlag oder ihr Atmen. Niemals im Leben würde sie die Strecke von hier bis zum Treffpunkt in der verbliebenen Zeit schaffen. Nicht einmal wenn es ihr gestattet wäre, durch die Flure des Archivs und den Dom mit seinen gigantischen Ausmaßen zu rennen!

Dennoch schnappte Schwester Martha ihre abgenutzte Aktentasche mit dem historischen Textmaterial, um das der Pater – ein Professor der päpstlichen Universität Gregoriana – sie gebeten hatte. Sie stürmte an dem völlig verdutzten Sekretär vorbei zu den Aufzügen, die zu den oberen Bereichen des Archivs führten, wo sie vor lauter Aufregung drei Anläufe brauchte, bis die Schalttafel neben der Aufzugstür ihren ID-Schlüssel akzeptierte. Drei Stockwerke höher stürzte sie aus dem Fahrstuhl, als wären die vier apokalyptischen Reiter hinter ihr her. Eiligen Schrittes raste sie durch die mit Statuen geschmückten Korridore der Vatikanischen Bibliothek in südlicher Richtung zu den Grotten und dann an der Sixtinischen Kapelle vorbei.

Als Schwester Martha den prachtvollen Petersdom durch einen der Nebenzugänge des rechten Seitenschiffs betrat, fiel ihr Blick zuerst auf den barocken Glanz des Hieronymus-Altars. Nach einer geziemenden Drehung nach links hastete sie so unauffällig wie möglich auf den Papstaltar unter dem gigantischen Firmament der Zentralkuppel zu.

In der Ferne glaubte die Nonne auch schon die hagere Gestalt von Pater Hubertus auszumachen. Er beugte das Knie und bekreuzigte sich angesichts des Heiligen Geistes in Gestalt einer von Alabasterstrahlen umgebenen Taube. Geschwind umrundete sie eine Schar von Touristen samt ihrem Gruppenführer und steuerte auf den in goldenes Licht getauchten Bereich hinter dem Hochaltar zu.

Als Schwester Martha die Ausläufer des hinteren Zentrums der Kirche erreichte, tauchte seitlich in ihrem Gesichtsfeld kurz etwas Schwarzes, Flatterndes auf. Fast im gleichen Moment nahm sie die enorme Wucht eines Aufschlags wahr. Die alte Aktentasche mit den Unterlagen für Pater Hubertus entglitt ihrer Hand. Aschfahl mit vor Entsetzen geweiteten Augen stand sie da und starrte auf einen grotesk verdrehten, blutigen Körper, der einmal ein lebendiger Priester gewesen war.

DER ÜBERGANG

2

Villa Ciban

In der Nähe von Rom

Mildes Sonnenlicht flutete die mit luftigen Vorhängen ausgestatteten Räumlichkeiten, keinerlei Straßengeräusche drangen von draußen herein. Keine vorbeifahrenden Autos, keine hastigen Schritte, keine lauten Stimmen wie in Rom. Schwester Catherine Bell ging am Badezimmer vorbei. Es duftete nach Shampoo, nach leichtem Parfüm und nach Aftershave. Es war zwar nicht ihre Aufgabe, doch nach dem Duschen und Ankleiden – sie hatte Jeans und Bluse gewählt – hatte sie das Schlafzimmer und das Bad wieder so hergerichtet, als befände sie sich in ihrem eigenen kleinen Apartment am Campo de’ Fiori und nicht in einer vierhundert Jahre alten Villa mit eigenem Hauspersonal.

Catherine trat an das hohe Fenster und warf einen Blick hinaus. Der Himmel strahlte so blau wie ein Meer, die Vögel zwitscherten in den Bäumen, und die Sonne schien ihr mit ihren wärmenden Strahlen ins Gesicht. Es war, als hätte es den Anschlag auf den Vatikan, den Anblick von Blut und Tod, zwei Wochen zuvor niemals gegeben.

Noch einmal spürte sie die zärtlichen Küsse auf ihrer Haut, den leisen Atem, der sie wie ein Windhauch berührte, den schlanken, muskulösen und von Narben gezeichneten Körper, der sich an sie schmiegte und sich nehmend und gebend in Ekstase wand, bis sich die anwachsende Leidenschaft in Kaskaden von sinnlichem Licht entlud und die Welt in ihr explodieren ließ. Die rauschhafte Sprengkraft dieser Liebe hatte allen Schmerz, alle Finsternis, ja alle Furcht in Catherine zerschmettert und ihr nach all den Katastrophen der letzten Zeit einen inneren Frieden beschert, wie sie ihn noch niemals in ihrem Leben verspürt hatte. Einen Moment lang hatten sich das Licht und die Dunkelheit miteinander versöhnt, als wäre das Urböse, das sie und die Kirche heimgesucht hatte, ein für alle Mal aus der Welt der Lebenden verschwunden.

Doch dem war nicht so. Ganz und gar nicht.

Das Böse hatte in der Gestalt eines menschlichen Todesengels einen Anschlag auf den Vatikan verübt, bei dem viele Todesopfer zu beklagen waren. Dass Catherine überlebt hatte und dass sie trotz der enormen Anforderungen der letzten Tage nicht völlig erschöpft und abgekämpft war, verdankte sie einigen sehr treuen Freunden, ihren regelmäßigen Trainingsrunden im Park der Villa Borghese sowie einem Selbstverteidigungstraining, zu dem sie der gestrenge Präfekt der Glaubenskongregation im Anschluss an einen lebensgefährlichen Einsatz verdonnert hatte, und einer gehörigen Portion Glück.

Damals, vor über eineinhalb Jahren, war Catherine aus Chicago angereist, um sich für ihre kirchenkritischen Bücher vor einem Tribunal der Glaubenskongregation zu verantworten. Und so hatte sie sogar dem amtierenden Großinquisitor Marc Kardinal Ciban Rede und Antwort gestanden. Doch dann geriet sie unversehens in den Strudel einer Mordermittlung, eine Serie von Anschlägen, die indirekt auf das Oberhaupt der katholischen Kirche abzielte, was dazu führte, dass sie mit ihrem Erzfeind Kardinal Ciban enger zusammenarbeiten musste. Das inquisitorische Fahrwasser war dadurch noch gefährlicher geworden, doch am Ende hatten Catherines Mut und die Klugheit, mit der sie den Heiligen Vater unter Einsatz ihres Lebens vor dem Tode bewahrt hatte, ihr den Respekt Cibans samt einem neuen Job in Rom eingebracht.

»Wenn Sie im Dienste Seiner Heiligkeit stehen«, hatte Ciban gesagt, »wird Sie Ihre Gabe nicht vor möglichen physischen Angriffen bewahren. Sie benötigen eine Ausbildung in Selbstverteidigung, Schwester.«

Sie hatten in der Kantine des vatikanischen Gästehauses, des Domus Sanctae Marthae, gesessen. Der hochgewachsene, gebieterische Kardinal, der einer der mächtigsten Familien Italiens entstammte, hatte eine der Servietten genommen und eine Adresse darauf notiert. »Sagen Sie, dass ich Sie schicke und dass Sie für die vatikanische Sicherheit arbeiten. Dann wird sofort klar, welche Ausrichtung Ihr Training haben wird.«

»Aber, Eminenz …«

»Schwester, bitte keine Diskussion. Hier geht es um Ihr Leben und das Leben Seiner Heiligkeit, und nicht um einen persönlichen Glaubensdisput.«

Also hatte Catherine sich neben ihrem sonstigen Fitnesstraining in der Selbstverteidigung geübt, von der Messerabwehr über die Selbstverteidigung Frau gegen Mann bis hin zum Umgang mit einem Taser, und schon ein Jahr später – Ciban ermittelte im Mordfall seiner Schwester – sollte Catherines Ausbildung ihr und dem Kardinal das Leben retten.

Zu jenem Zeitpunkt hatte Catherine sich eingestehen müssen, dass der dickköpfige Präfekt ihr inzwischen weit mehr bedeutete, als sie sich je hatte eingestehen wollen. Der gemeinsame Kampf gegen das Böse schweißte sie auf respektvolle Weise zusammen. Aus dem gegenseitigen Respekt war Freundschaft geworden. Und aus der Freundschaft schließlich Liebe. Und so hatte das Böse, so verrückt es klang, auch zu etwas Gutem geführt.

Doch nun hatte der erbarmungslose Feind zwei Wochen zuvor nicht einmal vor den Festungsmauern des Vatikans haltgemacht. Einer Spur folgend, waren Catherine und Ciban dann in der vergangenen Nacht zur Familienvilla des Kardinals hinausgefahren und hatten in der Krypta einen vielversprechenden Hinweis entdeckt, der sie zu einem Geheimversteck in der Privatbibliothek der Villa geführt hatte.

Bis weit nach Mitternacht hatten sie die entdeckten Geheimpapiere studiert und anschließend zu ihrem Tagesgeschäft im Vatikan zurückkehren wollen, doch es war alles anders gekommen. In dieser Nacht überschritten sie als Liebende die letzte Grenze. Dass die gemeinsamen Stunden ein ungeheures Wagnis darstellten, war ihnen bewusst. Aber manchmal war man gegen die Liebe machtlos, entgegen jeder Regel und wider jede Vernunft. Sie hatten sich geliebt und waren dann eng aneinandergeschmiegt eingeschlafen, bis Catherine ein fernes Geräusch wahrgenommen hatte. Ein leises Wecksignal. Von schierer Müdigkeit benommen, hatte sie sich angeschickt aufzustehen, doch Ciban hatte sie mit einem sanften, aber entschiedenen Kuss in die Kissen zurückgedrückt. Er selbst hatte sich auf den Weg nach Rom gemacht, denn der Terminkalender des Präfekten duldete keine Fehlstunde.

Catherine verließ Cibans Schlafraum und ging noch einmal kurz in das Zimmer, das sie normalerweise bewohnte, wenn sie Gast in der Villa war. Sie schnappte sich ihren Tablet-Rechner und begab sich in die Bibliothek, um sich dort wie abgesprochen mit dem nächtlichen Fund zu befassen, einer Metallbox, in der sich zahlreiche Geheimdokumente befanden.

Die Box beinhaltete nichts anderes als Eleonora Cibans wahres Erbe an ihren Sohn Marc Kardinal Ciban. Essenzielle Hintergrundinformationen über die Gründung, den Aufbau sowie die Struktur des modernen Ordens Lux Domini, der den traditionalistischen Organisationen in der Kirche, allen voran dem Opus Dei, den Kampf angesagt hatte. Das Lux Domini mochte bei der Verteidigung des Vatikans gegen die Triaden ein starker Verbündeter sein. In der Nacht hatten Catherine und Ciban sich deshalb bereits einen ersten Überblick verschafft, doch nun unterzog Catherine die Unterlagen einem genaueren Studium, nahm sich jede einzelne der Namenslisten vor. Namen und Daten von Freund und Feind innerhalb und außerhalb des Ordens, innerhalb und außerhalb der Kirche. Namenslisten von Medialen und Nichtmedialen, die für den Orden nützlich oder gefährlich sein konnten. Und nicht zuletzt enthielt die Metallbox eine Schrift, welche an die wichtigste Kernmission des Ordens erinnerte: Der Kampf gegen das Böse, verbunden mit dem Willen, den Pfad des Guten nicht zu verlassen. Die eigene Seele bei diesem Kampf im Gleichgewicht zu halten stellte dabei die größte Herausforderung dar.

Soweit möglich, stimmte Catherine die Namen, Biografien und sonstigen Informationen mit den aktuellen Gegebenheiten ab, fasste wichtige Details zusammen und hoffte, in Eleonora Cibans schriftlichem Nachlass genug Material zu finden, das ihnen half, den Orden richtig einzuschätzen und in der heraufziehenden Dunkelheit zu bestehen. Wie die Zeit darüber vergangen war, dämmerte ihr erst, als die Tür zur Bibliothek aufging und der Duft von frischem Kaffee in ihre Sinne drang.

»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Schwester, aber da Sie schon das Frühstück – nebenbei bemerkt, die wichtigste Mahlzeit des Tages – ausgelassen haben, sollten Sie allmählich eine Kleinigkeit zu sich nehmen.«

Niles, der alte Butler, der seit den englischen Jahren in den Diensten der Familie Ciban stand, hatte den weitläufigen Raum der Bibliothek mit einem Tablett betreten. Catherine nahm den Duft frisch gebackener Scones und Croissants wahr und beobachtet Niles dabei, wie er die Mahlzeit auf einer freien Ecke des großen Lese- und Arbeitstisches abstellte.

»Das sieht ausgesprochen lecker aus, Niles. Danke.«

Der Butler nickte zufrieden und arrangierte einen der Bibliotheksstühle so, dass Catherine bequem darauf würde Platz nehmen können.

»Wie ich sehe, werden Sie noch eine ganze Weile beschäftigt sein.«

»Das Ganze nimmt biblische Ausmaße an«, stimmte sie zu. »Und dabei schwirrt mir schon jetzt der Kopf.«

Als sähe Niles die Rauchschwaden der geistigen Arbeit über Catherines Kopf aufsteigen, gestattete er sich ein verständnisvolles Lächeln. »Wenigstens lässt Ihnen dieser Arbeitsplatz genug Raum zum Atmen.«

Das konnte man wohl sagen. Zwei Etagen voller Regalwände reichten mit unzähligen alten und neuen Werken in den hohen Raum hinein. Ein farbenprächtiges Deckenfresko zeigte die vier Kardinalstugenden – Klugheit, Gerechtigkeit, Stärke und Mäßigung – in Engelsgestalt. Zwei elegante Wendeltreppen führten vom Erdgeschoss zur umlaufenden Galerie, eine eindrucksvolle Fensterfront gab den Blick auf die prachtvollen Gärten frei.

»Die Bibliothek war Eleonora Cibans Lieblingsplatz«, erklärte der alte Butler. »Sie hat ihre Liebe zu Büchern an ihre Kinder weitergegeben. Bücher haben in dieser Familie schon immer eine große Rolle gespielt.«

Bei dem Gedanken an all die Dinge, die Niles mit den Cibans erlebt haben musste, durchlief Catherine sowohl ein warmer als auch ein eisiger Schauer. Der alte Butler arbeitete schon seit Urzeiten für die Cibans und hatte miterlebt, wie Marc Ciban und seine Schwester Sarah aufgewachsen waren, was nichts anderes bedeutete, als dass er nicht nur die Glanzseiten der Familie Ciban zu Gesicht bekommen hatte. Neben dem Licht in der Gestalt Eleonoras war er ebenso der finsteren Seele des Hauses begegnet, dem Vater Orlando Ciban. Und höchstwahrscheinlich war Niles auch an jenem Tag vor vielen Jahren zugegen gewesen, als man Sarahs Leichnam in der Parkanlage entdeckte, aufgeknüpft an einen Baum.

Niles blickte respektvoll über den vollgeladenen Arbeitstisch. »Dann werde ich Sie jetzt mit Ihrem Brunch allein lassen. Seine Eminenz erwartet sicher bald Ergebnisse.«

Der alte Butler zog sich zurück, und Catherine legte die Papiere für einen Moment beiseite und stärkte sich. Kaffee, Scones, Croissants, Konfitüre, Käse, Schinken, Salami und etwas Obst waren genau das Richtige in diesem Moment. Vor lauter Arbeit war ihr gar nicht bewusst geworden, wie sehr ihr Magen knurrte. Doch selbst während des Essens glitt ihr Blick immer wieder zu den Dokumenten, dachte sie über die bisher studierten Inhalte nach.

Dass das Lux Domini stark war, war Catherine als ehemaliges Mitglied schon vorher klar gewesen. Doch nach dem schweren Anschlag auf dessen Gründungsabtei – wenige Tage vor dem Blutbad im Vatikan – war sie davon ausgegangen, der Orden würde sich nicht so bald wieder erholen. Glücklicherweise hatte sie sich geirrt. Die Abtei war bei Weitem nicht so wichtig für das Überleben der Organisation, wie sie geglaubt hatte. Die Macht des Lux war klug auf viele Schultern verteilt, die bis in den Vatikan hineinreichten.

Nachdem Catherine sich gestärkt hatte, gönnte sie sich ein paar Minuten frische Luft, öffnete eine der deckenhohen Glastüren und trat auf die Terrasse hinaus. Der Himmel erstrahlte noch immer in klarem Blau, und das Blätterrauschen der Bäume beruhigte sie ungemein, als sei ein Fluch gebrochen. Für einen Moment fühlte sie sich wieder wie im Paradies.

Als sie nach einigen Minuten in die Bibliothek zurückkehrte, klingelte ihr abhörsicheres Kryptohandy, Ciban meldete sich.

»Hallo, Schlafmütze. Wie fühlst du dich?«

Schon vor einer Weile hatte er die Verbindung zwischen einer brummigen Catherine und mangelndem Schlaf hergestellt, weshalb er sie hin und wieder damit aufzog.

»Geliebt und ausgeruht«, konterte sie frech und hörte am anderen Ende der Leitung sein seltenes Lachen. »Ich nehme an, als früher Vogel hast du schon den ein oder anderen armen Wurm gefangen, während ich noch immer damit beschäftigt bin, die Namenslisten der Guten mit denen der Bösen abzugleichen.«

»Nicht ganz«, sagte er. »Coelho war gerade bei mir und bat mich um ein außerordentliches Treffen, zu dem er auch Seine Heiligkeit und Kardinal Gasperetti gebeten hat. Wie es aussieht, ist unser Generalinspektor auf etwas gestoßen, das ihm ziemliches Kopfzerbrechen bereitet. Du wirst übrigens auch erwartet. Ebenso Ben.«

Es freute Catherine, dass auch Ben dabei sein würde. Sie kannte Monsignore Ben Hawlett seit Kindheitstagen, sie beide hatten schon viel miteinander erlebt.

»Hat Coelho gesagt, worum es geht?«

»Er meinte, es könne eine Verbindung geben. Es sähe nach einer Lux-Domini-Angelegenheit aus.«

Catherine spürte, wie schwer ihr ums Herz wurde. Vor allem der Tag des Vatikanmassakers hatte alles verändert. Doch besonders schwer wog dieser Tag für jene, die geliebte Angehörige verloren hatten oder Genaueres über die wahren Hintergründe des Massakers wussten. In gewisser Weise traf auf Ciban beides zu. Er hatte seine geliebte Schwester an diesem Tag praktisch ein zweites Mal verloren, und er glaubte die Identität des Urbösen zu kennen, das hinter dem teuflischen Anschlag stand. Die International Security Agency, ein länderübergreifender staatlicher Geheimdienst, hatte von der vatikanischen Sicherheit zwar genug Hinweise erhalten, um die Ermittlungen in die richtige Richtung weiterzuführen, doch der Präfekt bezweifelte, dass eine rein weltliche Organisation, deren Agenten nichts auf die metaphysische Komponente des Falls gaben, diesem Auswuchs des Bösen gewachsen war.

»Das erklärt immerhin Kardinal Gasperettis Anwesenheit«, sagte sie.

Und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie hatte den kleinen Kardinal mit dem Eierkopf und dem pomadisierten Haar in den letzten Jahren sowohl fürchten als auch verachten und bemitleiden gelernt. Gasperetti war ein theologischer Hardliner, der sich den traditionellen Konventionen der Kirche verpflichtet fühlte. Aus genau diesem Grund hatte Papst Leos Vorgänger dem alten Kardinal vor etlichen Jahren auch die Führung des rebellischen Lux Domini übertragen und somit als Aufpasser vor die Nase gesetzt.

»Es tut mir leid«, hörte sie Ciban am anderen Ende der Telefonverbindung sagen. »Du wirst den alten Knaben heute Mittag ertragen müssen. Dafür hält die Sache allerdings auch etwas Positives für dich bereit.«

»Ach ja?«

»Meine Wenigkeit.«

Sie lachte. »Na toll! Wann und wo wird das Treffen stattfinden?«

»Im Apostolischen Palast. In zwei Stunden. Wir haben das derzeitige Verkehrschaos in der Stadt einkalkuliert. Ben ist bereits unterwegs, um dich abzuholen.«

»Ben kommt hierher? Bist du verrückt? Er wird mir auf der Rückfahrt Löcher in den Bauch fragen!«

Es war halb im Scherz, halb ernst gemeint. Sicher, Papst Leo hatte den Pflichtzölibat in einer sensationellen Rede über Radio Vatikan zwei Wochen zuvor abgeschafft, und Ben wusste inzwischen, wie es um Catherine und Ciban stand, doch auf seine Frage hin, wie es denn nun angesichts dieser Tatsache mit den Plänen der beiden aussähe, hatte Catherine im Brustton der Überzeugung erklärt, dass sie nichts überstürzen würden. Die Kirche könne gerade jetzt ganz sicher keine Schlagzeilen in der Regenbogenpresse à la »Ketzerin verführt Glaubenswächter« gebrauchen.

»Lass dir etwas einfallen«, erwiderte der Kardinal amüsiert. »Berichte ihm von unserem Fund in der Bibliothek. Das wird ihn ganz sicher interessieren. Außerdem könntest du ihn bitten, mit Lazarus in Verbindung zu treten, denn wir werden vor allem für das Bibelfragment einen Experten brauchen.«

»Danke für den Tipp, Eminenz. Der Plan könnte sogar funktionieren. Dann räume ich mal rasch auf und ziehe mich um.«

Sogleich verstaute sie die geheimen Unterlagen sorgfältig in der Aktenbox und verwahrte sie in dem besonderen Versteck in der oberen Galerie der Bibliothek. Anschließend legte sie im Gästezimmer ihre moderne, dunkle Ordenstracht an, bevor Niles auch schon Ben Hawlett anmeldete.

Sie hatte kaum im Wagen Platz genommen, als Ben auch schon fragte: »Was ist passiert?«

Catherine berichtete von dem nächtlichen Abenteuer in der Krypta und der Entdeckung der geheimen Unterlagen in der Bibliothek. Ben hörte sich alles ruhig an und versicherte ihr, sich gleich nach dem anstehenden Treffen im Apostolischen Palast mit Lazarus in Verbindung zu setzen. Doch dann sagte er: »Du wirkst ziemlich ausgeruht für eine durchgearbeitete Nacht.«

Sie starrte auf die Fahrbahn und spürte, wie ihr eine gewisse Hitze in die Wangen stieg. »Gott sei Dank hatte ich ein paar Stunden Schlaf.«

Als ein vielsagendes Lächeln um Bens Mundwinkel zuckte, glaubte sie zu glühen wie ein Kaminofen, der noch einmal ordentlich mit Holz befeuert worden war. Doch dann entließ der Pater sie aus ihrer Qual und wechselte das Thema.

»Unser Chef hatte heute Morgen ein recht anstrengendes Gespräch mit unserem neuen Konzilsvater Leander Bois. Und nein, ich habe keinen Schimmer, ob es dabei um das Konzil, die Anschläge oder sonst etwas ging.«

»Bois war bei Ciban?«

Ciban hatte Bois während des Massakers im Vatikan das Leben gerettet. Doch wie es aussah, schien der Professor, der ein Mitglied des Lux Domini war, sich nicht gerade freundschaftlich dafür zu revanchieren.

Ben nickte. »Kaum dass unser Kardinal sein Büro betrat.«

»Es könnte um das Lux Domini gegangen sein«, überlegte Catherine. »Bois und Eleonora waren Freunde.«

»Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte Ben. »Außerdem ist Bois dafür bekannt, in Sachen Konzil nichts anbrennen zu lassen. Und die Glaubenskongregation ist nun mal sein rotes Tuch in der Konzilsarena.«

»Als hätten wir nicht schon genug Grabenkämpfe zu überstehen«, seufzte Catherine. Bisweilen erschienen ihr die Auseinandersetzungen im Innern der Kirche fast noch zerstörerischer als die Angriffe von außen.

Sie erreichten den Autobahnring um Rom, und endlich – nach etlichen kürzeren und längeren Staus – die Via della Conciliazione, die Prachtstraße, die auf den Petersplatz führte.

Ben steuerte den Wagen nach links über die Via Paolo VI., passierte die Zufahrt des Inquisitionspalastes und fuhr in Richtung der Tiefgaragen, die unter dem Papstpalast lagen. Schließlich parkten sie in einem abgelegenen, spärlich beleuchteten Bereich, und Catherine dämmerte der Grund dafür.

»O nein, bitte nicht die unterirdischen Transportkabinen.«

Papst Leos Vorgänger hatte das geheime Liftsystem während einer längeren, unterirdischen Umbaumaßnahme vor vielen Jahren installieren lassen. Es reichte sogar bis zur Engelsburg und einigen anderen vatikanischen Anwesen in Rom. Und Catherine gefiel es absolut nicht, in eine dieser Kabinen eingesperrt zu sein.

»Glaub mir, ich mag dieses Ding genauso wenig wie du. Aber wenn wir pünktlich sein wollen, führt kein Weg daran vorbei.«

Er führte sie zu einer Nische und berührte einen getarnten Sensor. Ein Stück Wand fuhr zur Seite und gab den Weg in eine kleine Kabine frei.

Catherine atmete tief durch.

3

Chicago, USA

Am Abend zuvor

Cabot Lynds setzte sich der zierlichen Dame mit dem perfekt gestylten Silberschopf gegenüber. Ava Bell trug einen schlichten Hosenanzug sowie eine einfache, gut zu ihrem schmalen Gesicht passende Brille, keinen Schmuck, nicht einmal eine Armbanduhr. Das bescheidene, fast schon unauffällige Auftreten der Frau konnte Lynds jedoch nicht über ihre Intelligenz, ihre Zielstrebigkeit und ihre beeindruckenden finanziellen Möglichkeiten hinwegtäuschen. Sie hatte ihn in der Businessclass durch die halbe Welt reisen lassen, um in Erfahrung zu bringen, was er ihr nun offenbaren würde. Und jetzt saßen sie im Restaurant des John Hancock Center, das sich im 95. Stock befand, die unzähligen Lichter der Chicagoer Hochhäuser und Avenues zu ihren Füßen.

Es hatte ihn erstaunt, dass Bell ihn ausgerechnet hier hatte treffen wollen, und nicht in ihrem Haus am Ufer des Lake Michigan. Der Kellner brachte das Essen. Seafood Linguine in einer delikaten Weißweinsoße für Bell, und Beef Wellington, ein Rinderfilet im Blätterteigmantel, für Lynds.

»Nur zu, Mr. Lynds. Das waren harte Monate für Sie. Außerdem sind Sie vom Flughafen direkt hierhergekommen.«

Lynds konnte tatsächlich eine handfeste Mahlzeit gebrauchen, hatte er doch gerade während der rechercheintensiven Zeit in Rom etliche Kilo an Gewicht verloren, was ihm zwar sichtlich gutgetan, aber auch eine Menge Energie gekostet hatte. Also nickte er und fing an zu essen, während Bell das Dossier auf dem Tablet-Rechner studierte. Darauf befanden sich Bild- und Textmaterial, das seine Reise sowie den Fortschritt seiner Ermittlungsarbeit durch halb Europa dokumentierte.

Nach einer Weile blickte Bell von dem Computer auf und sagte: »Es gibt also tatsächlich eine Verbindung zur katholischen Kirche.«

Lynds nickte und ließ die Gabel, mit der er gerade ein ordentliches Stück Fleisch aufgespießt hatte, wieder sinken. »Leider konnte ich bisher nicht herausfinden, wer der Verbindungsmann zum Vatikan ist, und das, obwohl ich mich bis in die Szene vorgewagt habe.«

»Die Szene?«

»Glauben Sie mir, Mrs. Bell, das wollen Sie gar nicht näher wissen.«

»Oh …« Bell errötete leicht.

Es folgte eine Weile des Schweigens, in der Lynds’ Auftraggeberin weiter durch die Seiten des Berichts scrollte, während er in Ruhe sein Rinderfilet aß und über »die Szene« nachdachte.

Auch die Diener des Herrn waren Menschen. Menschen, die liebten und hassten. Menschen, die Mut zeigten oder ganz einfach feige waren. Selbstlosigkeit existierte hinter vatikanischen Mauern ebenso wie Gier. Doch was Lynds am meisten in diesem ganzen gottgefälligen Milieu aufstieß, war das bisweilen durch eine übertriebene Religiosität in die Irre geleitete Verständnis über die menschliche Geschlechtlichkeit.

Chemische Kastration, Bußgürtel, Selbstgeißelung … Die Liste sakraler Irrungen und Wirrungen hatte einiges zu bieten, weswegen es Lynds nicht verwunderte, dass dieser neue, moderne Papst sich dem »neurotischen« Problem angenommen und dem Diktat des Zölibats mutig ein Ende gesetzt hatte.

An diesem Tag war nicht nur durch die römisch-katholische Welt ein Beben gegangen und hatte die Menschen staunen gemacht. Lynds hatte hautnah miterleben dürfen, wie eine über zweitausend Jahre alte Metropole binnen kürzester Zeit verkehrstechnisch nahezu komplett zum Stillstand gekommen war. Papst Leos Rede hatte gezeigt, wie ernst es dem Pontifex mit der Modernisierung der Kirche und dem neuen Konzil war. Leider jedoch hatte seine Rede schon wenige Stunden darauf furchtbare Konsequenzen zur Folge gehabt.

Als Lynds den letzten Bissen seines Beef Wellington verspeist und mit einem ordentlichen Schluck Wein hinuntergespült hatte, blickte Bell von dem Display auf. Sie hatte geduldig gewartet, bis er sich von den Strapazen der letzten Stunden ein wenig erholt hatte, doch jetzt kam sie zum Punkt.

»Was ist mit den … Kindern?« Aufrecht wie ein General saß sie da, doch ihre Lippen zitterten leicht.

Lynds setzte das Weinglas ab und schüttelte den Kopf. »Luise ist verschwunden. Und Simeon …« Er seufzte. »Es tut mir leid, Mrs. Bell, aber er hat komplett den Verstand verloren.«

Lynds hatte im wahrsten Sinne des Wortes Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Luise zu finden, doch ganz gleich wie vielversprechend eine Spur anfangs auch erschienen war, sie hatte jedes Mal ins Leere geführt. Und Simeon hatte er schließlich in einer psychiatrischen Anstalt entdeckt, in einer Sektion, aus der es kein Entkommen mehr gab. Der junge Mann mit dem schwarzen Haar und den himmelblauen Augen war nicht mehr ansprechbar gewesen, ja er hatte nicht einmal mehr auf ein Foto von Luise reagiert. Bei der Erinnerung durchflutete Lynds ein Gefühl, als legte man seinem nun gut gefüllten Magen einen Bußgürtel um.

Ava Bell begegnete seinem Blick und holte tief Luft, ließ sich ansonsten aber nicht anmerken, was ihr bei seinen Worten durch den Kopf ging. Stattdessen kehrte ihre Aufmerksamkeit zum Tablet-Rechner zurück. Dabei scrollte sie durch das Dossier, als wäre sie auf der Flucht, als suchte sie darin nach einem Ausweg in Form einer ganz bestimmten Antwort, einem Indiz oder einfach nur einem Trigger, der ihrer Erinnerung auf die Sprünge half.

Bells Auftrag hatte alles von Cabot Lynds gefordert. Körperlich, geistig und seelisch. Noch nie hatte ihn eine Ermittlung dermaßen an den Rand seiner Kraftreserven gebracht, nicht einmal während der Ausbildung und seiner Jahre bei der CIA. Dennoch war ihm klar, dass er die Strapazen der letzten Monate jederzeit erneut auf sich nehmen würde.

Dabei war Lynds alles andere als ein Hüne. Er überragte die kleine Ava Bell gerade mal um zwei, drei Zentimeter – doch er war weit stärker, zäher, agiler und vor allem cleverer, als es den Anschein hatte. So arbeitete er als Privatdetektiv nicht für jedermann, suchte sich seine Auftraggeber sehr akribisch aus. Gegenseitiges Vertrauen war dabei die wichtigste Grundlage. Er spürte, wenn man ihn belog oder seine Kompetenz für illegale Zwecke nutzen wollte. Außerdem musste ein an ihn herangetragener Fall interessant sein. Eine echte Herausforderung. Nicht das abgedroschene Zeugs, von dem tagtäglich die reißerischen Nachrichten in den Medien handelten.

Ava Bell hatte ihm beides geboten. Aufrichtigkeit und Abenteuer. Von Anfang an hatte sie mit offenen Karten gespielt, ihn auf die möglichen Gefahrenpunkte dieser bizarren Mission hingewiesen. So begann für Bell alles damit, dass ihr ein Mann begegnet war, der eigentlich seit vielen Jahren als tot galt. Von da an hatte die Angelegenheit schon bald in ein klerikales Umfeld geführt, und von dort aus nach Europa und schließlich nach Rom.

Lynds ermittelte nicht das erste Mal in kirchlichen Kreisen, diesmal jedoch unter äußerst ungewöhnlichen Umständen. Als Tourist getarnt, hatte er von der Kuppel des Petersdoms die altehrwürdige Architektur der Heiligen Stadt bestaunt, doch seine eigentliche Ermittlung hatte ihn in den Untergrund geführt, in ein kilometerweites Netz aus unterirdischen Tempeln, Friedhöfen und Wohnanlagen, von denen manche über siebzig Meter in die Tiefe reichten.

Archäologen wagten sich nur in die oberen Regionen vor und beauftragten lieber sogenannte Speläologen, Höhlenforscher, wenn es hieß, in die gefährliche Tiefe der römischen Geschichte hinabzusteigen. Es gab Tunnel, Kanäle und Höhlen, die so finster waren, dass kaum ein Helmstrahler die Dunkelheit durchdrang. Hier stand die Luft, sie war zum Schneiden. Viele der Stollen und Bauwerke waren vor über 2000 Jahren mit Pickeln in den römischen Untergrund geschlagen worden. Straßen, Häuser, Aquädukte, Kult- und Opferstätten, frühe christliche Tempel und Friedhöfe, die einen unterirdischen Bereich mit Gängen umfassten, die sich auf viele Hunderte Kilometer erstreckten. Sogar riesige Kavernen verbargen sich unter den sieben Hügeln Roms, die dem vatikanischen Hügel gegenüberlagen, entstanden aus den alten Tuffsteinbrüchen, in denen die Römer einstmals ihr Baumaterial abtrugen.

Lynds hatte schnell begriffen, dass das unterirdische Rom eine Stadt unter der Stadt war, eine Metropole in der Dunkelheit, mit eigenen Gesetzen und eigenen Gefahren. Niemals hätte er sich zu Beginn dieser Mission ohne einen kundigen und vertrauenswürdigen Führer dorthin vorgewagt. Einer der Eingeweihten, die sich Stadthöhlenforscher nannten und in der Regel der Kulturvereinigung »Roma Sotterranea«, unterirdisches Rom, angehörten, hatte ihm auch gleich klargemacht, dass ohne einen Basiskurs in Stadthöhlenforschung gar nichts lief. In jenen Wochen hatte Lynds praktisch jedes Pfund verloren, das er zu viel mit sich herumschleppte. Auch hatte er seit seinen Recherchen in Rom keine Nacht mehr durchgeschlafen.

Lynds bemerkte, wie Ava Bells Atem kurz stockte, wie ihre Augen hypnotisiert auf dem Display hafteten. Er wusste sofort, welchen Teil seiner Ermittlungsarbeit sie gerade begutachtete. Es ging um einen kurzen, etwa zweiminütigen Film, den er heimlich in einer der alten, tief versunkenen Tempelanlagen aufgezeichnet und dann hatte abbrechen müssen. Gerne hätte er Bell den Anblick des militärbesteckartigen Instruments – Löffel, Messer, Gabel –, des blutigen Altars mit dem ANKH-Symbol und des verstümmelten Körpers erspart, doch zusammen mit seinen restlichen Ermittlungen waren sie ein Beleg dafür, wie tief menschliche Abgründe reichen konnten. Und letztendlich hatte Ava Bell geahnt, was auf sie zukam. Sie hatte ihn gewarnt. Und nun musste sie da durch, so leid es ihm tat.

Kreidebleich blickte die Frau von dem Bildschirm auf, sodass der Kellner kurz vorbeikam, um zu fragen, ob alles mit dem Essen in Ordnung sei. Erst als er wieder verschwunden war, um sich den anderen Gästen zu widmen, beugte Bell sich vor und fragte: »Himmel, wie sind Sie da wieder lebend rausgekommen?«

»Ich habe mich tot gestellt«, antwortete Lynds schlicht, obwohl er seine Flucht und den Sturz von einem unterirdischen Wasserfall der »Cloaca Maxima«, tief unter dem Forum Romanum, noch lebhaft in Erinnerung trug. Den Gestank, den Unrat … Fast hätte die Landung auf einer Masse undefinierbaren Schlamms, durchmischt von einem Haufen Knochen, antiken Keramikbruchstücken und diversen Tierkadavern seinen Schutzanzug zerfetzt. Dabei hatte der Speläologe ihn im Höhlenforscher-Basiskurs eindringlich gewarnt. »Halten Sie bloß Ihre Haut von diesem Abfall fern! Und schlucken Sie um Gottes willen nichts von diesem Dreckwasser!«

Mehr als sieben Stunden hatte Lynds sich nicht in seinem stinkenden, unappetitlichen Versteck gerührt, ehe er sich mit seiner Spezialkamera wieder an die Oberfläche gewagt hatte. Und so glaubte er auch jetzt noch, den Gestank der Kanalisation förmlich riechen zu können, selbst in diesem Nobelrestaurant. Die nächste Untergrundermittlung hatte ihn dann auf die andere Seite des Tibers geführt, in den antiken Untergrund unter den Verliesen des Vatikans. Dort war zwar kein Blut geflossen, doch Lynds war sich sicher, dass es auch dort um Leben und Tod gegangen war.

»Wer ist das … Opfer?«, fragte Bell leise weiter.

»Eine der Mütter aus dem Adoptionsprogramm. Selbst ein Findelkind«, sagte Lynds. »Sie starb auf die gleiche Weise wie Anna Galeotti nach dem Kontakt mit unserem unbekannten vatikanischen Verbindungsmann.«

»Und die italienische Polizei weiß von nichts?«

»Nein. Sie war einfach nur eine Unbekannte unter Millionen. Niemand vermisst sie. Niemand hat eine Suchanzeige aufgegeben. Es ist, als habe sie niemals existiert.«

Seine Antwort ließ Bell schmerzlich aufhorchen, schien sie aber zugleich auch zu beruhigen. Und Lynds wusste auch wieso, denn er hatte erkannt, dass Ava Bell ein großes Schuldgefühl antrieb. Die junge, prominente Ordensfrau Catherine Bell, die einmal ihre Adoptivtochter gewesen war, hatte sich mittlerweile einen Namen als Sachbuchautorin und Kirchenkritikerin gemacht. Die ganze harte Ermittlungsarbeit der letzten Wochen und Monate diente im Grunde einzig dazu, Schwester Catherine Bell zu beschützen. Nur wusste die junge Nonne nichts davon, doch das wollte Ava Bell schon bald ändern.

»Was ist mit diesem ANKH-Symbol über dem Altar? Das ist kein christliches Symbol.«

»Doch, das ist es. Aber diese … Gemeinde um den Opferaltar …« Lynds hielt inne, als wollte er in dem Restaurant nicht zu viel sagen. »Alles, was ich herausfinden konnte, finden Sie in meinem Bericht.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Lynds. Ich werde mir das Material in Ruhe ansehen und setze mich dann wieder mit Ihnen in Kontakt.«

Lynds nickte, während Bell den Tablet-Rechner in ihrer geräumigen Handtasche verstaute. »Es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten«, sagte er. »Es steht nicht im Dossier, weil es mit dem Massaker im Vatikan zu tun hat.« Das Massaker war die blutige Konsequenz, die für Lynds den Rest seines Lebens mit der mutigen Rede des Papstes in Verbindung stehen würde. Ebenso Leos Trauerrede um die Toten, seine Anteilnahme und sein Trost, die nicht minder beeindruckend gewesen waren.

»Ja?« Bell sah ihn sowohl beunruhigt als auch erwartungsvoll an.

Auch ihr waren die Nachrichten, die nach dem Anschlag auf die Synode durch die Medien gingen, nur allzu vertraut. Ein Fanatiker hatte sich mit einer Bombe bewaffnet unter die Konferenzteilnehmer der Synode gemischt, in der päpstlichen Audienzhalle ein schreckliches Blutbad angerichtet und sich am Ende selbst getötet. Die Ermittlungen der Geheimdienste und der Polizei liefen auf Hochtouren, während auf dem Petersplatz rund um die Uhr 47 Kerzen für die Opfer brannten. Noch immer herrschte in Rom der emotionale wie verkehrstechnische Ausnahmezustand. Täglich kamen Zigtausende zum Vatikan, um der Toten zu gedenken.

Doch Lynds glaubte ebenso wenig wie Ava Bell an die Version des Amok laufenden Bombenattentäters, denn hinter den Kulissen ermittelte die International Security Agency, und die ISA ermittelte nur in Fällen von weltumspannender Tragweite.

»Ich habe den Eindruck, dass dieser Kardinal Ciban, der die Glaubensbehörde im Vatikan leitet, ein sehr gefährlicher Mann ist. Nach dem Anschlag auf die Synode habe ich ihn bei einem dieser geheimen Treffen in den römischen Katakomben gesehen.«

Allein schon bei der Erwähnung des hochgewachsenen, gestrengen Kardinals mit dem silbergrauen Haar und dem eisigen Blick schienen Bells Alarmglocken auf allen Ebenen zu schrillen. »Worum ging es da?«

»Ich konnte die Unterredung aus meinem Versteck heraus nicht aufzeichnen, um sie später abzuhören. Er trug einen äußerst effizienten Störsender bei sich. Doch ich glaube, er weiß mehr über das Massaker und die Hintergründe als die italienische Polizei oder die ISA.«

»Sie denken, er könnte einer der Drahtzieher sein?«

»Wenn Sie mich fragen, tobt in der Kirche ein Krieg, der alle anderen Auseinandersetzungen überschattet. Der neue Papst ist verdammt wagemutig. Seine Rede über Radio Vatikan hat etliche Eminenzen ganz schön kalt erwischt. Und dieser Kardinal Ciban ist nicht gerade dafür bekannt, ein Modernist oder Friedensapostel zu sein. Außerdem …« Lynds hielt inne, denn was nun folgte, fiel ihm besonders schwer, in Worte zu fassen. »Er interessiert sich für Ihre Adoptivtochter.«

»Sie meinen aufgrund ihrer kirchenkritischen Bücher? Das ist mir längst bekannt.«

Lynds räusperte sich, als ob ihm plötzlich ein Bissen seines Beef Wellington im Halse stecken würde. »Nein, Mrs. Bell, ich meine persönlich. Sehr persönlich.«

Bell starrte ihn an. »Catherine kann diesen arroganten, verbohrten Mann nicht ausstehen. Außerdem würde sie sich nie auf so eine Torheit einlassen. Wie kommen Sie überhaupt darauf?«

»Beobachtung. Beobachtung und Erfahrung. Ein Blickaustausch zwischen Ciban und Ihrer Adoptivtochter während der gestrigen Messe auf dem Petersplatz. Es währte nur zwei, drei Sekunden, wenn überhaupt, doch es würde mich wundern, wenn ich daneben läge. Sehr wahrscheinlich hat es außer mir niemand sonst bemerkt.« Lynds musste sich eingestehen, dass er es nur deshalb bemerkt hatte, weil er im Auftrag Ava Bells ein besonderes Augenmerk auf Schwester Catherine gelegt hatte.

Ava Bell dachte einen Augenblick lang nach. »Behalten Sie diesen Ciban im Auge, sobald Sie wieder in Rom sind. Ich werde mir überlegen, was wir tun können, sollten Sie recht behalten.«

Ein Griff in ihre Handtasche brachte ein Buch zum Vorschein, ein Sachbuch zum Thema »Strategien an der Börse«. Der Buchblock enthielt statt des Textes und der Bilder jedoch eine größere Summe in bar, die locker das Jahresgehalt eines gehobenen Managers abdeckte. Informationen und Sicherheit hatten ihren Preis. Vor allem, wenn man die Ermittlerspur nicht zu Lynds und Bell zurückverfolgen sollte.

Für ein paar Minuten taten beide so, als ob sie sich über das Sachbuch unterhielten, dann steckte Lynds den Titel in seine Tasche.

»Wie lange werden Sie in der Stadt bleiben?«, fragte er.

»Zwei Tage. Vielleicht auch drei. Ich treffe noch einen alten Freund. Und dann wollte ich endlich einmal wieder zur Beichte gehen. Es ist lange her.«

»Ich verstehe«, sagte Lynds, ungeachtet dessen, dass er dieses ganze Katholizismusgetue nie wirklich verstanden hatte. Obwohl selbst katholisch getauft, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, einen Beichtstuhl zu betreten und um die Vergebung seiner Sünden zu bitten.

Sie unterhielten sich noch ein wenig und ließen ihre Blicke ab und an durch das deckenhohe Fenster auf die grandiose Kulisse der Nachtlichter schweifen, die die Konturen der Gebäude und Straßen formten. Schließlich erhob sich Ava Bell, worauf Lynds – ein vollendeter Gentleman – ebenfalls aufstand.

»Danke«, sagte sie. »Ich rufe Sie wie vereinbart an, um alles Weitere zu besprechen. Genießen Sie noch ein wenig die Aussicht. Und den Nachtisch. Es lohnt sich.«

»Noch einen Moment«, bat Lynds leise. »Wenn Sie das Gebäude verlassen, nehmen Sie nicht das erste Taxi, das für Sie hält. Und auch nicht das zweite.«

Bell verstand und nickte. Sie fischten in gefährlichen Gewässern, da musste man das Schicksal nicht unnötig herausfordern.

Und dann verschwand sie auch schon in den Vorraum, in Richtung Aufzug, der sie in Windeseile nach unten zu den Ausgängen trug.

Lynds nahm wieder auf dem bequemen Sessel Platz, blickte auf die wandhohen Scheiben, ohne jedoch das atemberaubende Lichterpanorama dahinter zu bewundern. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr der Spiegelung auf dem dicken Glas, denn er wollte sichergehen, dass keiner der Gäste sich anschickte, Ava Bell zu folgen.

4

Chicago, USA

Ava Bell brauchte kein Taxi. Der Fußweg vom John Hancock Tower zu ihrer Suite im Millennium Knickerbocker betrug nur wenige Minuten. Die kühle, fast schon frostige Abendluft tat ihr gut. Sie hatte in den letzten Wochen viel zu viel Zeit in der Abgeschiedenheit ihres Hauses am Lake Michigan verbracht und darüber fast vergessen, wie es war, die eigenen vier Wände auch mal zu verlassen. Jetzt allerdings eilte sie auf dem direkten Weg in ihr Hotelzimmer, um dort so schnell wie möglich Lynds’ Recherchen von der ersten bis zur letzten Datei zu studieren.

Lynds hatte sich tapfer geschlagen und mehr brisante Informationen zusammengetragen, als Ava je zu hoffen gewagt hatte. Sollte ihr oder ihm etwas passieren, so hatten sie vereinbart, dass der Überlebende sich sofort in Sicherheit brachte, um Catherine schnellstmöglich zu informieren. Ava konnte es noch immer nicht fassen, dass Lynds’ Ermittlungen ihn sogar in die Katakomben Roms geführt hatten, wo er auch noch diesen eingebildeten Großinquisitor Ciban erblickt hatte. Bei dem Gedanken, dass der Kardinal an Catherine interessiert sein könnte, womöglich gedachte, sie zu seiner Mätresse zu machen, stiegen in Ava Abscheu und Zorn hoch. Umso beruhigender war es zu wissen, dass Catherine wohl kaum auf seine Avancen hereinfallen würde.

Wie sehr sich die Zeiten doch änderten. Noch vor wenigen Jahren hatte Ava die spirituelle Gabe ihrer Adoptivtochter regelrecht gehasst. Und nun war sie dankbar dafür, dass dieselbe Gabe Catherine vor diesem zwielichtigen Kardinal schützen würde. Ava war sich sicher, dass Catherine ihr Überleben in der Kirche vor allem ihrer Gabe zu verdanken hatte, doch jetzt war sie ausgerechnet aufgrund dieser Gabe in großer Gefahr!

Ein Scheusal war aus der Vergangenheit zurückgekehrt und hatte Ava Bell vor knapp drei Monaten vor der nahenden Bedrohung gewarnt. Und als wäre das nicht schon verrückt genug, war dieses Scheusal auch noch seit gut zwei Jahrzehnten tot!

»Die Kleine hat mich in der Schule ganz schön bloßgestellt, Ava, wissen Sie. Und jetzt ist sie auch noch Nonne geworden … Gut sieht sie aus!«

Sie hatte geschlafen, als eine männliche Stimme und eine eisige Kälte Ava aus einer tiefen Schlafphase geholt, ja regelrecht in ihr Schlafbewusstsein hineingekrochen war und sie geweckt hatte. Als sie die Augen aufgeschlagen hatte, stand eine dunkle Gestalt direkt vor dem Bett und schaute auf die ordentlich in der Vitrine aufgereihten Porträts. Ava war vor Angst zusammengezuckt, doch ansonsten schien der Fremde jeden Willen zur Abwehr in ihr gelähmt zu haben.

»Wie alt ist sie? 28? 29?«, fuhr die Stimme beinahe freundlich fort.

Als steckte ihre Zunge in einem üblen, zähen Morast fest, war Ava vor Angst nicht in der Lage zu antworten. Doch es handelte sich ohnehin nur um eine rhetorische Frage, denn irgendwo tief in ihrem Inneren spürte sie, dass die Stimme weit besser als sie über das Leben ihrer Tochter informiert war.

Der Fremde beugte sich vor, um Catherines Porträt näher zu betrachten. »Ich korrigiere mich. Sie ist eine wahre Schönheit!« Dann beugte er sich noch ein Stück tiefer. Warum nahm er das Bild nicht einfach in die Hand?

»Ihre Tochter, oder sagen wir besser Ihre ›Adoptivtochter‹, hat sich wirklich Respekt in der Welt verschafft. Und ebenso viele Feinde gemacht.«

»Dann werden Sie wohl kaum einer ihrer Freunde sein«, brachte Ava mühsam hervor. Ihre eigene Stimme erschien ihr fremd. Die unerklärlich kalte Luft ließ sie beim Sprechen ihren eigenen Atem sehen.

»Es kommt darauf an. Ich bewundere eine Seele, die mutig eine Meinung vertritt.« Die Gestalt richtete sich auf und drehte sich zu Ava um. »Sie bereuen es, Catherine als Kind im Stich gelassen zu haben, stimmt’s? Und jetzt nehmen Sie aus der Ferne an ihrem Leben teil, als warteten Sie nur auf den Tag, an dem Sie alles wiedergutmachen können.«

»Ich war keine gute Mutter. Das ist wahr.« Das Geständnis fiel Ava nicht schwer, denn sie hatte sich ihr Versagen schon lange eingestanden, was nicht bedeutete, dass sie sich verzieh oder allmählich vergaß. »Doch was verbindet Sie mit meiner Tochter? Waren Sie einer Ihrer Lehrer?«

Im Alter von neun Jahren war Catherine von der katholischen Grundschule für Hochbegabte zum Institut gewechselt, nachdem man ihr Talent erkannt und sie von da an speziell geschult und gefördert hatte. Ava wusste nicht sehr viel über die dortige Ausbildung, denn mit Catherines Schulwechsel hatte sie sich mehr und mehr von ihrer Tochter distanziert, bis der Kontakt schließlich ganz abgebrochen war. Damals, nach dem Tod ihres Mannes, eine große Erleichterung für Ava. Heute hingegen konnte sie ihre damalige Reaktion kaum noch fassen.

»Ein Lehrer Ihrer Tochter? Nein. Catherine und ich sind uns nie im Unterricht begegnet, doch sie hat dafür gesorgt, dass ich in die Hölle kam. Und dafür bin ich ihr dankbar, denn nun weiß ich, dass ich eine unsterbliche Seele habe. Außerdem werde ich seither für meine … Passion bezahlt.«

»Schön für Sie«, brachte Ava mühsam hervor. »Was wollen Sie von mir?« Die Kälte kroch ihr bis in die Knochen.

Der Fremde trat aus dem Schatten, gerade so, dass das einfallende Mondlicht sein Gesicht beschien. Ava schnappte nach Luft.

Eliot!

Als Catherine neun Jahre alt gewesen war, hatte Eliot in der Parallelklasse Mathematik, Physik und Sport unterrichtet, bis Catherine eines Tages auf dem Schulhof vor ihn getreten war und ihn vor all den anderen Kindern und Lehrern einen Mörder genannt hatte. Ein Skandal, der wie ein böses Lauffeuer durch die ganze Schule gewütet war. Doch Catherine hatte ihre Anschuldigung belegen und das FBI hatte Eliot überführen und das siebente Opfer retten können. Die anschließende Haft in einem Übergangsgefängnis Eliot hatte dann jedoch nicht überlebt. Für Kinderschänder und -mörder gab es im Zuchthaus kein Pardon.

Doch jetzt stand er in Avas abgelegenem Haus am Lake Michigan, in ihrem Schlafzimmer, keine zwei Meter von ihr entfernt, sprach über Catherine, seine Passion und eine recht komfortable Hölle.

»Wie kann das sein? Sie sind … tot!«

Eliot zuckte mit den Schultern. »Jetzt übertreiben Sie mal nicht. Ich habe eine unsterbliche Seele! Schon vergessen?«

Unfähig sich zu wehren, starrte Ava ihn an. »Was wollen Sie?«

»Fairness. Gerechtigkeit. Chancengleichheit …« Eliot hielt inne, blickte durch sie hindurch, als wäre sie ein Geist. Dann schüttelte er den Kopf. »Eigentlich ist mir das alles ziemlich egal. Sagen wir einfach, ich bin neugierig.«

»Auf mich?«

»Nein. Auf das, was geschehen wird. Darauf, ob Catherine überleben wird. Offen gesagt, weiß ich nicht, ob es überhaupt einen Unterschied machen wird, wenn ich Sie informiere und Sie eingreifen. Doch ich weiß, es kann einen Unterschied machen.«

»Wovon reden Sie eigentlich?«

Die Gestalt wandte sich halb zu ihrem Nachttisch um und deutete auf das Buch, das sie gerade las: »Sieben Irrtümer über Gut und Böse«.

»Lesen Sie weiter und betrachten Sie die dabei gewonnenen Erkenntnisse wie einen Gewinn an der Börse. Damit kennen Sie sich ja aus. Ich liefere Ihnen ein paar Zusatzinformationen. Sie überprüfen sie und treffen eine Entscheidung. Falsche Entscheidung, Tod. Richtige Entscheidung, Leben. So einfach ist das.«

Im nächsten Schritt hatte Eliot ihr erklärt, sie solle einen Ruheständler namens Peter Willetts kontaktieren, einen ehemaligen Mitarbeiter des KIMH, des »Katholischen Instituts für medial Hochbegabte«, und ihn zum »Projekt CORONA« befragen. Außerdem, was Kinder wie Ben Hawlett und Catherine Bell damit zu tun gehabt hätten.

»Aber rufen Sie ihn auf gar keinen Fall an«, hatte Eliot gesagt. »Sein Telefon wird überwacht. Ebenso seine Post und sein E-Mail-Verkehr. Peter geht jedoch jeden Samstagvormittag für zwei Stunden zur Harold Washington Library. Im neunten Stock befindet sich ein Wintergarten, dort werden Sie auf ihn warten. Ich werde ihn auf das Treffen vorbereiten.«

Und dann war Eliot von der einen auf die andere Sekunde verschwunden, ohne dass sich die geschlossene Tür des Schlafzimmers auch nur einen Hauch bewegt hätte. Ebenso hatte Ava schlagartig aufgehört zu frieren. Dreißig Sekunden später hatte sie genug Mut gefasst, um die Nachttischlampe einzuschalten und unter dem Bett, im Badezimmer und im begehbaren Kleiderschrank nachzusehen. Es war, als hätte Eliot sich einfach in Luft aufgelöst, als wäre er niemals hier gewesen. Erst als sie aus der Kleiderkammer zurückgekehrt war und einen beiläufigen Blick auf den Schlafzimmerspiegel geworfen hatte, entdeckte sie es. Ein einzelnes Wort wie auf das Glas gehaucht: CORONA.

Inzwischen wusste Ava, was sich hinter Projekt CORONA verbarg. Peter Willetts hatte geredet, auch wenn er ihr im gleichen Atemzug klargemacht hatte, dass er alles leugnen würde, falls sie gedachte, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Und Lynds hatte daraufhin erste Spuren bis nach Europa verfolgt, von denen die letzte Spur ihn nach Rom geführt hatte. CORONA war ein Deckname für jenes Pflegeelternprogramm gewesen, für das Ava und ihr Mann Matthew sich damals gemeldet und durch das sie Catherine adoptiert hatten. Sieben Jahre nach der Adoption erkrankte Matthew so schwer, dass er innerhalb eines halben Jahres verstarb. Eine entsetzliche Zeit, in der es Ava gerade noch so gelungen war, für Catherine ein halbwegs normales Familienleben aufrechtzuerhalten. Ein Schauer durchlief Ava bei all der Erinnerung.

Sie betrat die weitläufige Hotel-Lobby des Millennium Knickerbocker und steuerte auf den Empfang zu. Ihr wurde klar, dass sie während des gesamten Fußwegs nichts von ihrer Umgebung wahrgenommen hatte, nicht einmal die schrillen LED- und Leuchtstoffröhren-Schaufenster entlang der Geschäftsstraßen.

»Guten Abend, Mrs. Bell«, begrüßte sie der Portier freundlich und reichte ihr neben dem Zimmerschlüssel einen versiegelten Umschlag, auf dem nichts weiter stand als »Für Ava Bell – persönlich«. »Der Brief wurde vor einer halben Stunde für Sie abgegeben.«

»Danke, Richard.« Sie steckte den Umschlag in ihre Tasche, gleich neben Lynds’ Tablet-Rechner. Das würde eine lange Nacht werden. »Bitte lassen Sie mir noch eine Schale von dem englischen Gebäck und ein Kännchen Tee aufs Zimmer bringen.«

»Earl Grey?«

»Danke, ja. Und teilen Sie dem Weckdienst bitte mit, dass ich morgen früh eine Stunde später geweckt werden möchte.«

Sie ging zu den Aufzügen und seufzte innerlich. Als sie den Briefumschlag gesehen hatte, war ihr sofort klar gewesen, von wem das Schreiben kam. Sie kannte die Handschrift des anonymen Absenders seit fast drei Jahrzehnten: Anthony Mason Bear, Kardinal des Erzbistums Chicago, einer der reichsten Diözesen der Kirche.

Bear hatte in den Achtzigerjahren die sowohl in ihrem moralischen Ansehen als auch finanziell stark angeschlagene Vatikanbank saniert. Und dabei hatte er eine heimliche Finanzberaterin gehabt: Ava Bell, deren profundes Investmentwissen die positive Entwicklung so mancher Aktie vorausgesehen hatte. Sie besaß einen ausgeprägten Instinkt für innovative Unternehmen, die darüber hinaus eine gewisse ethische Ausrichtung besaßen. Ava war auf diesem Gebiet ein Genie, und zwar ein Genie, von dem nur sehr wenige Eingeweihte wussten.

Wenn es um Finanzen und Finanzmärkte ging, war Ava für ihre nüchterne und seelenruhige Recherche bekannt. Ihr sorgfältig errungenes Hintergrundwissen bildete den Grundstein für ihre Nervenstärke. Wenn man auf höchster Ebene an den Schaltstellen der internationalen Finanzwelt saß, betreute man nicht selten Vermögen, die größer waren als das Budget manch westlicher Volkswirtschaft. Börsenmagie ohne exzessive Profitversessenheit war Ava Bells Markenzeichen. Dabei war ihr Credo denkbar simpel: Greife niemals das stetig wachsende Realvermögen an.

Seit zwei Jahren nun hatte sie sich aus dem Finanzgeschäft zurückgezogen, denn es war an der Zeit gewesen, sich auf die wahren Werte des Lebens zu besinnen. Zumindest hatte Ava so gedacht und geplant. Bis Eliot auf der Bildfläche erschienen war und erklärt hatte, dass sich Ava die Chance bot, mit Catherine wieder ins Reine zu kommen. Der Haken an der Sache: Catherine schwebte in ernsthafter Gefahr.

Im Aufzug fiel Ava wieder ein, was Lynds über diesen Ciban gesagt hatte: »Ich habe den Eindruck, dass dieser Kardinal Ciban ein sehr gefährlicher Mann ist … außerdem ist er an Ihrer Tochter interessiert.«

Hatte Eliot am Ende den mächtigen Kardinal gemeint? Brachte Ciban Catherine in Gefahr? Und was, um Gottes willen, hatte der Präfekt überhaupt in den römischen Katakomben gesucht? Was wusste er über das Massaker?

In ihrem Hotelzimmer angekommen, nahm Ava sogleich an dem komfortablen Schreibtisch Platz, legte ihre Tasche ab, öffnete den Brief und schaltete die Leselampe ein.

Meine liebe Ava,

wenn Sie geglaubt haben, dass mir Ihr Besuch in der Stadt entgeht, so haben Sie sich gründlich geirrt. Nein, Monsignore Feehan trifft keine Schuld. Er hat über Ihren Aufenthalt geschwiegen wie ein Grab.

Wie dem auch sei, ich freue mich über Ihre Rückkehr aus der Diaspora und erwarte Sie morgen Abend zum Essen. Keine Ausreden!

Gott segne Sie

Anthony