Blutsbande - Nicci French - E-Book
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Blutsbande E-Book

Nicci French

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Beschreibung

Niemand verschwindet spurlos – zumindest nicht für immer ...

1990, in einer alten Scheune mitten in der weiten, sumpfigen Landschaft der englischen Ostküste: Die Einwohner des nahegelegenen Dorfs versammeln sich zu einer Geburtstagsfeier. Nur die Frau des Jubilars fehlt. Niemand scheint sich echte Sorgen um die freiheitsliebende, impulsive Charlotte zu machen – einzig ihre Tochter Etty fürchtet, dass ihrer Mutter etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte. Wenig später wird die Leiche eines Dorfbewohners im Fluss gefunden. Und Charlotte bleibt vermisst.

Viele Jahre später kehrt Etty an den Ort ihrer Kindheit zurück, um ihr Elternhaus auszuräumen, weil der Vater in ein Pflegeheim muss. Die Ereignisse von damals haben die Familie zerrüttet. Als im Dorf erneut ein furchtbares Verbrechen geschieht, wird Detective Maud O’Connor mit dem Fall beauftragt. Bei ihren Ermittlungen stößt sie auf Hinweise, die in die Vergangenheit führen – und auf eine Mauer des Schweigens. Denn niemand hat Charlotte jemals wieder gesehen …

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Niemand verschwindet spurlos – zumindest nicht für immer …

1990, in einer alten Scheune mitten in der weiten, sumpfigen Landschaft der englischen Ostküste: Die Einwohner des nahe gelegenen Dorfs versammeln sich zu einer Geburtstagsfeier. Nur die Frau des Jubilars fehlt. Niemand scheint sich echte Sorgen um die freiheitsliebende, impulsive Charlotte zu machen – einzig ihre Tochter Etty fürchtet, dass ihrer Mutter etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte. Wenig später wird die Leiche eines Dorfbewohners im Fluss gefunden. Und Charlotte bleibt vermisst.

Viele Jahre später kehrt Etty an den Ort ihrer Kindheit zurück, um ihr Elternhaus auszuräumen, weil der Vater in ein Pflegeheim muss. Die Ereignisse von damals haben die Familie zerrüttet. Als im Dorf erneut ein furchtbares Verbrechen geschieht, wird Detective Maud O’Connor mit dem Fall beauftragt. Bei ihren Ermittlungen stößt sie auf Hinweise, die in die Vergangenheit führen – und auf eine Mauer des Schweigens. Denn niemand hat Charlotte jemals wieder gesehen …

NICCIFRENCH – hinter diesem Namen verbirgt sich das Ehepaar Nicci Gerrard und Sean French. Seit über zwanzig Jahren sorgen sie mit ihren außergewöhnlichen Thrillern international für Furore und verkauften weltweit über acht Millionen Exemplare. Die beiden leben in Südengland. Zuletzt erschienen die achtteilige Bestsellerserie um Ermittlerin Frieda Klein sowie die Stand-alone-Thriller Eine bittere Wahrheit, Ein dunkler Abgrund und Tödliche Schuld, die ebenfalls sofort nach Erscheinen in die SPIEGEL-Bestsellerliste einstiegen. Mit ihrem neuen Thriller Blutsbande garantieren sie ihren Leser*innen einmal mehr Hochspannung.

»Nicci French schreibt brillante Psychothriller.« BRIGITTE

»Nicci French – das ist einfach immer wieder eine Garantie für spannende Unterhaltung.« Hessischer Rundfunk

»Nicci French macht absolut süchtig.« The Independent

www.cbertelsmann.de

NICCI FRENCH

BLUTSBANDE

THRILLER

AUSDEMENGLISCHENVONBIRGITMOOSMÜLLER

Die Originalausgabe erschien 2024

unter dem Titel Has Anyone Seen Charlotte Salter

bei Simon & Schuster, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2024

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Irmgard Perkounigg

Umschlaggestaltung: bürosüd, München

Umschlagabbildung: Getty Images/Feifei Cui-Paoluzzo und www.buerosued.de

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29907-1V001

www.cbertelsmann.de

Für Caleb und Esther

Es ist nun dreißig Jahre her, dass in einem Dorf in East Anglia, wo das Land von Wattflächen und Sümpfen verschluckt wird, eine Frau verschwand.

Es war mitten im Winter, matschig und dunkel, aber Weihnachten nahte. Die Hauptstraße war festlich beleuchtet, in den Fenstern standen geschmückte Bäume, aus den Schornsteinen schlängelte sich Rauch – und in einer Scheune am Rand des Dorfes versammelten sich die Leute zu einer Feier.

Eine Person jedoch traf nie ein, wodurch sich das Leben in jenem kleinen Dorf für immer veränderte. Ihr Verschwinden war der Beginn einer Kette schrecklicher Ereignisse, die drei Jahrzehnte lang das Leben zweier Familien zerstörten.

Dies ist eine Geschichte über dunkle Geheimnisse, die vor sehr langer Zeit vergraben wurden, ihre Macht aber nie verloren – über den Einfluss, den die Vergangenheit auf die Gegenwart ausübt.

Es ist die Geschichte von Menschen, deren Leben ab jenem Wintertag aus den Fugen geriet: von Söhnen und Töchtern, Brüdern und Schwestern, Partnern und Freunden.

Es ist die Geschichte einer Frau: einer Ehefrau, Mutter und Vertrauten. Diese Frau ist impulsiv, warmherzig und voller Leben. Wenn die Leute sie beschreiben, benutzen sie Worte wie »strahlend«, »lebendig«, »großzügig«, »optimistisch«. Sie ist eine Frau voller Lust: Sie liebt gutes Essen, Rotwein und lange, heiße Bäder. Sie tanzt gern und wandert bei jedem Wetter. Puzzles mag sie auch. Und Klatschgeschichten. Sentimentale Filme. Schicke Kleidung. Hefegebäck. Orangenmarmelade. Zufällige Begegnungen. Pfingstrosen und Wicken. Kerzen. Räudige Hunde. Hoffnungslose Fälle.

Sie liebt das Leben. Sie liebt Menschen. Vor allem aber liebt sie ihre vier Kinder.

Ihr Name ist Charlotte Salter.

Er blickte hoch.

»War das in Ordnung so?«

»Ja. Mehr als in Ordnung. Es war gut.«

»Dann hätten wir das.«

ERSTER TEIL

1990

1

Wo ist Charlie?«

Etty verstand ihn nicht. Die Party hatte gerade erst begonnen, aber die Luft war bereits erfüllt von Stimmengewirr, und auf der Anlage lief Neil Young. Sie strich sich die Locken aus dem Gesicht und beugte sich zu Greg Ackerley hinüber.

»Was?« Lächelnd betrachtete sie seine betrübte Miene.

Ihr selbst war leicht ums Herz, ein Gefühl von Vorfreude durchströmte sie. Das Schulhalbjahr war zu Ende. Sie freute sich auf die Weihnachtsfeiertage, Partys, Ausflüge und schläfrige Vormittage im Bett. Greg erwiderte ihr Lächeln. Sie stand so dicht neben ihm, dass sie seinen Duft riechen konnte und die Schweißperlen an seiner Stirn glitzern sah. Er hatte richtig hart gearbeitet, um das alles vorzubereiten.

Etty hatte schon genug Brüder, vielleicht sogar zu viele. Trotzdem war er für sie immer ein bisschen wie ein weiterer Bruder gewesen. Sie betrachtete seine markanten Wangenknochen, seine blauen Augen, seine besorgte Miene. Er war attraktiv, süß, ein bisschen schüchtern. Wäre er nicht wie ein Bruder für sie … Wäre er nicht drei Jahre älter … Sie empfand das alles als ziemlich verwirrend. Außerdem hatte sie an diesem Abend einen anderen Jungen im Kopf.

»Was?«, fragte sie noch einmal.

»Wo ist deine Mutter?« Dieses Mal sprach er deutlicher und langsamer, wie zu einer Schwerhörigen. »Ich möchte, dass sie sieht, wie schön alles ist. Bevor die Meute es verwüstet.«

Etty ließ den Blick durch die Scheune schweifen. Greg und sein Vater Duncan hatten den gesamten gestrigen Tag gebraucht, um das ganze Gerümpel hinauszuschaffen und dann alles zu fegen und zu putzen. Jetzt war der Raum mit Blumen, Girlanden, Bändern und bunten Lichtern geschmückt. Der lange Arbeitstisch, hinter dem Greg stand, war bedeckt mit Flaschen, Gläsern und einem riesigen Punschtopf, um den sich Grünzeug wand. Am anderen Ende der Scheune gab es eine Auswahl an Quiches, Dips und Fingerfood.

»Ist sie noch nicht da?«

»Nein.«

Etty schnaubte genervt.

»Zu mir sagt sie, ich soll früh hier sein, aber selbst hält sie es nicht für nötig, rechtzeitig zu erscheinen. Wahrscheinlich wünscht sie sich einen großen Auftritt.«

Während Greg in Ettys gerötetes Gesicht blickte, ging ihm durch den Kopf, dass sie wohl gar nicht zu schätzen wusste, was für ein besonderer Mensch ihre Mutter war und was für ein Glück sie hatte, deren Tochter zu sein, statt beispielsweise die Tochter seiner eigenen Mutter Frances, die oft den Großteil des Tages im Bett lag oder mit hängenden Schultern und leerem Blick in einem Sessel saß. Etty hielt die Vitalität und Herzlichkeit ihrer Mutter für selbstverständlich, fand sie sogar peinlich, weil sie nicht begriff, dass diese herzliche Art wie ein Feuer war, an dem man sich wärmen konnte.

Etty registrierte Gregs überraschte Miene und hatte einen Augenblick das Gefühl, ihre Mutter zu verraten, schob den Impuls jedoch gleich wieder beiseite. Am Eingang der Scheune wartete ihre Clique auf sie: Kim und Rosa und auch Robbie aus der Klasse über ihr. Etty wusste, dass er ihretwegen hier war.

Ein Blitzen ließ sie die Augen zusammenkneifen. Ihr Bruder Niall fotografierte mit einer Polaroidkamera.

»Die gehört Keith«, erklärte er, während er sie erneut ins Visier nahm. »Sie wird es nicht so richtig einfangen.«

»Ich hatte den Mund voll«, schimpfte Etty. »Du solltest keine Fotos von Leuten machen, die gerade essen.«

Niall betrachtete den Tisch und deutete entrüstet auf das Grünzeug, das den Punschtopf zierte.

»Ist das nicht ein Trauerkranz? Wie für eine Beerdigung?«

»Der wurde versehentlich geliefert«, erklärte Greg. »Er gehört Doris Winter. Die ist letzte Woche gestorben, mit siebenundneunzig. Wahrscheinlich wird er erst morgen wieder abgeholt. Ich dachte mir, sie hätte bestimmt nichts dagegen, wenn wir ihn vorübergehend zweckentfremden.«

»Ist das dein Ernst, was du da anhast?«, wandte sich Niall an Etty.

Etty blickte an sich hinunter, als sähe sie ihre Kleidung zum ersten Mal: ein kurzes schwarzes Kleid mit einem Flanellhemd darüber. Dazu trug sie ihre Doc Martens.

»Sieht ganz danach aus.« Sie hatte nicht das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen. Niall trug einen grauen Anzug, der spannte, als wäre er ihm ein paar Nummern zu klein, und dazu eine violette Krawatte mit einem großen, klobigen Knoten. Greg steckte in einer farbbespritzten Jeans und einem alten Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Dazu hatte er eine schäbige Kappe aufgesetzt, die meist sein Vater trug.

Ein paar Meter von ihnen entfernt entdeckte sie ihre zwei anderen Brüder, in ein Gespräch vertieft. Etty redete sie in einem Ton an, der fast schon wie ein Befehl klang.

»Paul, Ollie, kommt mal rüber!«

Die beiden latschten auf sie zu. Ollie hob eine Hand, um Greg zu begrüßen, der während ihrer ganzen Schulzeit in seinem Jahrgang gewesen war, aber nie ein enger Freund. Greg erwiderte den Gruß, indem er kurz seine Bierflasche hob, ehe er einen großen Schluck daraus nahm.

»Niall findet, ich bin unpassend gekleidet«, erklärte Etty.

»Was soll das denn überhaupt heißen?«, entgegnete Paul.

Ollie grinste. »Nette Krawatte, Niall.«

»Ich komme direkt aus der Arbeit«, antwortete Niall. Es klang, als würde er ihnen allen dreien das irgendwie zum Vorwurf machen. In diesem seltsamen gesellschaftlichen Rahmen fand Etty es plötzlich fast komisch, wie unterschiedlich ihre Brüder aussahen. Niall war ein großer, kräftig gebauter Kerl mit schwerem Gang. Sein sandfarbenes Haar trug er kurz geschnitten. Obwohl Ollie und Etty noch zu Hause lebten, hatte Niall bereits den halb resignierten, halb anklagenden Blick des Kindes, das geblieben war – des Sohnes, der ins Familiengeschäft eingetreten war.

Paul schaute nicht nur anders aus, sondern schien einer völlig anderen Art anzugehören. Er war klein und dünn und hatte ein weiches, rundes Gesicht, das ihn jünger wirken ließ als einundzwanzig. Bei ihm handelte es sich um das Kind, das weggegangen war, um zu studieren. Er sprach nie darüber, doch Etty hatte das Gefühl, dass es nicht gut lief und irgendwo schlechte Nachrichten lauerten, von denen Paul ihnen aber bisher nichts gesagt hatte. Paul erzählte grundsätzlich niemandem etwas.

Ollie war der Bruder, der ihr ähnelte. Zumindest sagten die Leute das. Sie beide galten als die Spaßvögel, die Partymäuse, die Anhänger von Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll. Wobei es natürlich so einfach nicht war. Nichts ist jemals einfach. Trotzdem hatte Etty das Gefühl, dass man sie beide so einschätzte: Niall irritierte die Leute, Paul beunruhigte sie, aber für Etty und Ollie würde es immer gut laufen.

»Wir sollten ein Foto von uns schießen lassen«, bemerkte Etty, während sie ihrer Clique mit einem Handzeichen zu verstehen gab, dass sie bald zu ihnen stoßen würde.

»Warum?«, fragte Niall.

»Wir sind alle zusammen. An Dads fünfzigstem Geburtstag.«

Sie nahm Niall die Kamera ab und überreichte sie einem Mann mittleren Alters, mit der Bitte, ein Foto von ihnen zu machen. Sie stellten sich zu einer Gruppe zusammen.

»Bitte lächeln«, forderte der Mann sie auf.

»Ja, lasst uns lächeln, als wären wir auf einer Feier, die uns Spaß macht«, meinte Ollie.

»Ach, in Gottes Namen!«, stöhnte Niall.

Als das Polaroidfoto dann zum Vorschein kam, zeigte es Niall, wie er Ollie wütend anfunkelte, während Paul mit leerem Blick vor sich hin starrte. Nur Etty hatte sich lächelnd der Kamera zugewandt. Im Hintergrund war ein verschwommener Greg mit Bierglas auszumachen.

»Perfekt«, befand Ollie, »und jetzt verschwinde ich, um mich draußen mit ein paar Leuten zu treffen und genug zuzudröhnen, um den Rest des Abends ertragen zu können.«

Während er das Weite suchte, wandte Etty sich an Paul.

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Ich bin irgendwie nicht in der richtigen Stimmung.«

Etty ging durch den Kopf, dass er mittlerweile nie in der richtigen Stimmung war, antwortete ihm aber so fröhlich, wie sie nur konnte.

»Ich glaube, das sind wir alle nicht.«

»Wolltest du nicht noch zu einer anderen Party?«

Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung ihrer Freunde.

»Ja, wir verdünnisieren uns, sobald wir können.«

Paul murmelte irgendetwas Unverständliches, griff nach einer Bierflasche und entfernte sich. Obwohl er sechs Jahre älter war als sie, wirkte er immer noch sehr jung und unreif. Als Kind hatte sie ihm nahegestanden, doch inzwischen verursachte er ihr ein Gefühl von Beklemmung. Er wirkte so still, einsam und argwöhnisch. In seiner Gegenwart empfand sie Schuldgefühle, weil sie einen Freundeskreis besaß, mit Jungs zusammen war und Spaß hatte. Und diese Schuldgefühle machten sie wütend.

Kim trat neben sie und legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Komm, lass uns verschwinden«, flüsterte sie.

»Moment noch.« Etty wandte sich zu Niall um. »Hast du Mum gesehen?«

Niall runzelte die Stirn. »Ist sie denn nicht mit dir gekommen?«

»Ich bin nicht von zu Hause her, sondern direkt von Kim. Ist Penny da?«

Penny war Nialls Freundin. Die Erwähnung ihres Namens ließ ihn noch missmutiger dreinblicken.

»Keine Ahnung, ob sie überhaupt kommt.«

»Wieso?«

»Ich möchte hier und jetzt keine große Diskussion über Penny führen.«

»Soll mir recht sein.«

»Wenn Mum nicht bald auftaucht, verpasst sie noch Dads Rede.«

»Er hält doch nicht ernsthaft eine Rede, oder?«, entgegnete Etty. »Das kann er nicht bringen.«

»Und ob er das kann.«

Nur wenige Minuten zuvor hatte sich die Scheune noch ziemlich leer angefühlt, bevölkert bloß von ein paar einzelnen Grüppchen mit sehr viel Platz dazwischen. Mittlerweile waren es so viele Leute, dass Etty sich einen Weg durch sie bahnen musste, um zu ihrem Vater zu gelangen.

Alec Salter trug einen fast schon extravaganten Anzug, braun mit weißen Nadelstreifen, und dazu eine blaue Krawatte mit einem unruhigen roten Muster. Im Näherkommen sah Etty, dass er mit Gregs Vater sprach, Duncan Ackerley, und einem anderen Mann, den sie nicht kannte. Alec legte ihr einen Arm um die Schultern. Er wirkte, als käme er gerade von einem Marsch an der frischen Luft: Sein Gesicht war gerötet, das hellbraune Haar leicht zerzaust. Ein intensiver Geruch nach Lavendel und Zigaretten stieg Etty in die Nase.

»Wie geht’s denn meiner Lieblingstochter?«, fragte er.

Sie war seine einzige Tochter, und der Witz längst abgedroschen. Genervt schüttelte sie seinen Arm ab.

»Hast du Mum gesehen?«

»Ich bin direkt von der Arbeit hergekommen«, antwortete er ohne jede Spur von Beunruhigung.

»Sie sollte inzwischen da sein.«

Seine Miene hatte einen leicht amüsierten und gleichzeitig ein wenig verächtlichen Ausdruck.

»Das Vorrecht der Frauen, oder nicht?«

»Du meinst, sich zu verspäten?«, entgegnete Etty. »Ich dachte, bei diesem sexistischen Spruch ginge es darum, es sich ständig anders zu überlegen.«

»Du hast aber nicht vor, uns zu langweilen, oder?«

»Niall meinte, du willst eine Rede halten. Du kannst keine Rede halten, solange Mum nicht hier ist.«

»Warum nicht? Wahrscheinlich hat sie das alles sowieso schon mal gehört.« Alec warf einen Blick auf seine Uhr. »Sollte sie in fünfzehn Minuten noch immer nicht da sein, fange ich an. Wenn sie die Rede verpasst, kannst du ihr ja darüber berichten.«

Alec beendete das Gespräch, indem er sich wieder seinen Freunden zuwandte, doch Duncan trat zur Seite. Er war blond, groß und kräftig. Als er sich zu Etty hinunterbeugte, konnte sie in seiner Hornbrille ihr Spiegelbild erkennen.

»Hallo, Etty. Alles klar?«

»Hast du Mum gesehen?«

»Nicht seit kurz nach Mittag. Sie hat vorbeigeschaut, um ein paar zusätzliche Schüsseln und einen Schöpflöffel zu holen. Hast du schon versucht, sie anzurufen?«

»Wir sind in einer Scheune. Hier hat’s nicht wirklich ein Telefon.«

An der Vorderseite der Scheune befanden sich zwei große Holztore. Viele Jahre zuvor waren dort wohl die Kühe hinein- und hinausgetrieben worden. An der Rückseite führte eine kleinere Tür auf ein Feld. Etty hob die Hand, um erneut ihrer Clique zu signalisieren, auf sie zu warten, und trat durch diesen Ausgang in die Dunkelheit. Kalte Dezemberluft schlug ihr entgegen. Von hier konnte sie den breiten Fluss schimmern sehen.

Der Geruch von Marihuana stieg ihr in die Nase. Ein Stück von ihr entfernt erspähte sie in der Finsternis eine Gruppe und die verräterische Glut.

»Ollie«, rief sie.

Eine der nur als Silhouetten wahrzunehmenden Gestalten wandte sich ihr zu.

»Was machst du denn hier?«, fragte er, als wäre sie ein kleines Mädchen, das die großen Jungs beim Spielen störte.

Sie empfand das als gemein. Sonst standen sie sich so nahe, aber manchmal, wenn er mit seinen Freunden zusammengluckte, benahm er sich abweisend. Ollie war neunzehn, drei-und-ein-bisschen Jahre älter als sie, doch in der Familie waren sie beide immer eine eingeschworene Zweiergang gewesen. Im Juni war er mit der Schule fertig geworden und für ein paar Monate auf Reisen gegangen. Im kommenden Jahr würde er sein Studium antreten, und zwar nicht an der nächstbesten Uni, sondern in Newcastle, also so weit weg von Suffolk wie nur irgendwie möglich. Etty graute davor, weil dann nur noch sie zu Hause wäre.

»Ich frage mich, wo Mum steckt.«

»Woher soll ich das wissen?«

Etty betrachtete die Jungs bei Ollie etwas genauer. Sie erkannte zwei aus seinem Jahrgang, außerdem Morgan Ackerley, Duncans zweiten Sohn. Er war jünger als die anderen, derselbe Jahrgang wie Etty, wenn auch kein besonderer Freund von ihr. Er war clever, ein ziemlicher Nerd und äußerst unsicher.

»Ich glaube nicht, dass sie schon da ist«, fuhr Etty fort. »Und Dad will gleich seine Rede halten.«

Auf Ollies Gesicht breitete sich langsam ein Lächeln aus. »Wahrscheinlich ist sie deswegen nicht da.« Er hielt den Joint hoch. »Noch ein bisschen was hiervon, und ich bin auch so gut wie nicht da.«

»Kann ich was haben?«

»Du bist zu jung.«

»Es wäre ja nicht das erste Mal.«

»Dann besorg dir was von jemand anderem.«

Sie fühlte sich durch seinen Ton gedemütigt, verkniff sich jedoch eine wütende Antwort.

»Es kommt mir einfach komisch vor«, sagte sie stattdessen. »Sie redet seit Tagen davon und hat so viel dafür getan. Das würde sie sich doch nicht entgehen lassen.«

Sie hörte ein Glas klirren und drinnen jemanden etwas rufen. Eine Gestalt erschien in der Tür.

»Ihr müsst reinkommen«, rief eine Stimme. »Alec hält eine Rede.«

»Das kann er doch nicht machen!«, stöhnte Etty. »Er hat gesagt, er wartet noch ein paar Minuten.«

»Es ist sein großer Moment«, meinte Ollie. »Da wartet er auf niemanden.«

Etty trat mit Ollie in die Scheune, doch statt sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, blieben sie beide ganz am Rand stehen, den Rücken an die Wand gelehnt. Robbie kam angelatscht und stellte sich neben sie ins Halbdunkel. Sie spürte seine Wärme und roch Nikotin und Bier. Ihr Körper prickelte. Plötzlich spürte sie noch jemanden ganz in ihrer Nähe und blickte sich um. Greg schon wieder, mit einer Bierflasche in der Hand.

»Hast du sie gesehen?«

»Was?«, fragte Greg.

»Meine Mum.«

»Nein.« Er nahm einen Schluck von seinem Bier. »Bestimmt ist sie hier irgendwo, wahrscheinlich damit beschäftigt, irgendeine besondere Überraschung für Alec zu organisieren, an die sonst niemand denken würde.«

»Aus einer Torte zu springen?«

Er lächelte und nahm dann einen weiteren Schluck. Ollie wirkte schon ziemlich zugedröhnt, und Greg betrank sich still und leise, während sie selbst sich erschreckend nüchtern fühlte.

Sie kam sich fehl am Platz vor, auf der falschen Party. Es wurde Zeit aufzubrechen.

»Ruf doch mal zu Hause an«, schlug Greg vor.

Sie schüttelte den Kopf.

»Du hast vermutlich recht. Bestimmt steckt sie hier irgendwo.«

Sie trat ein bisschen näher an Robbie heran, der daraufhin ihre Hand nahm.

Ihr Vater begann zu sprechen, doch sie verstand nicht, was er sagte, und sehen konnte sie ihn auch nicht. Jemand rief dazwischen, woraufhin er abbrach und dann leicht schwankend über den Köpfen der Menge auftauchte. Er stand gefährlich wackelig auf einem Stuhl.

Etty wusste, dass ihr Vater nicht nervös war. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen machte er sich keine Gedanken darüber, dass eine Rede in die Hose gehen könnte. Ihm war klar, dass das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht passieren würde, und falls doch, wäre es ihm auch egal.

»Ich habe mir gedacht, bei einer solchen Gelegenheit sollte jemand ein paar Worte sagen«, begann er, »und wenn dem so ist, dann mache ich das wohl am besten selbst. Wie es aussieht, handelt es sich hier um eine Geburtstagsfeier …« Die Menge reagierte mit Gelächter, doch Alec verzog keine Miene. Er wartete nur, bis sich der Lärm gelegt hatte, und fuhr dann fort. »Meine liebe Gattin ist, soweit ich weiß, noch nicht eingetroffen. Solltest du hier sein, mach dich bitte irgendwie bemerkbar.«

Er legte eine Pause ein. Für einen Moment wurde es fast ganz still. Etty spürte, wie Robbie ihre Hand streichelte.

»Keine Reaktion«, stellte Alec schließlich fest. »Immerhin habe ich Grund zu der Annahme, dass der Rest meiner Familie anwesend ist. Meine Kinder. Meine Nachkommenschaft. Meine Augensterne. Ich meine, was soll ich sagen? Da wäre Niall zu nennen, derjenige, der ins Familiengeschäft eingestiegen ist und nun darauf wartet, dass ich mich endlich daraus zurückziehe. Heb die Hand, Niall.« Das klang nach einer Art Scherz, aber Alec lächelte noch immer nicht. Niall fühlte sich sichtlich unbehaglich, als die Partygäste sich nach ihm umdrehten.

»Der Nächste in der Reihenfolge ist dann Paul, der … was machst du noch mal, Paul? Irgendwo studiert er irgendwas. Wo steckst du, Paul?«

Etty entdeckte Paul an einer Seite des Raums, ebenfalls an die Wand gelehnt. Obwohl sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, wusste sie, wie er in dem Moment dreinblickte. Deprimiert und unglücklich.

»Und dann ist da noch mein jüngster Sohn, Oliver. Wie soll ich den beschreiben? Künstlerisch. Kreativ.«

»Er sagt das, als wäre es etwas Schlechtes«, murmelte Ollie Etty ins Ohr.

»Zeig dich, Ollie.«

Ollie hob die Hand. Dabei leuchtete sein Gesicht fast so rot wie sein Haar.

»Schon gut, Oliver, du kannst die Hand wieder runternehmen. Und zuletzt, oder sollte ich sagen, zu guter Letzt, ist da noch meine kleine Blume zu nennen, meine Stütze im Alter, die all die kleinen weiblichen Zierden in den Haushalt Salter bringt, meine Tochter Elizabeth. Wo ist sie? Wo bist du? Mach dich bemerkbar.«

Einen kurzen Moment lang war Etty froh, dass ihre Mutter sich das nicht anhören musste. Sie hätte es gehasst. Etty löste sich von Robbie, verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und wandte sich von ihrem Vater ab. Auf der anderen Seite des Raums sah sie Rosa und Kim grinsen und theatralisch die Augen verdrehen. Sie bedachte die beiden mit einer kleinen Grimasse.

»Schaut sie euch an«, fuhr Alec fort. Etty spürte, wie ihre Wangen brannten, während ein paar von den Partygästen der Aufforderung tatsächlich nachkamen, wobei sie selbst nicht recht wusste, ob sie vor Verlegenheit rot wurde oder einfach nur vor Wut. »Ist sie nicht bildhübsch? Aber schaut sie euch nicht zu genau an. Sie ist erst fünfzehn, und vergesst nicht, sie hat drei ältere Brüder.« Er legte eine Pause ein. »Wo war ich gerade? Ach ja, ich bin fünfzig. Fünfzig. Ein halbes Jahrhundert. Wie konnte irgendjemand auf die Idee kommen, dass das ein Grund zum Feiern ist? Trotzdem danke fürs Erscheinen.«

Damit fand die Rede ein jähes Ende. Alec stieg von seinem Stuhl. Es gab kurz Applaus, und jemand stimmte »Happy Birthday« an, aber es kam kein richtiger Chor zustande.

»Arschloch«, sagte Ollie in Ettys Ohr.

»Wo ist sie?«

»Brechen wir jetzt endlich auf?«, fragte Robbie.

Der Tanz wurde eröffnet. Etty konnte den Anblick kaum ertragen. Duncan versuchte galant, die Gäste zu ermutigen, sich auf die Tanzfläche zu begeben. Er schwang Mary Thorne im Kreis herum und wollte sie dann unter seinem Arm durchdrehen, doch es ging schief, und die beiden verhedderten sich. Er brüllte vor Lachen, während sie ihr Kleid zurechtzupfte. Ihr Ehemann Gerry, der verwaist an der Seite der Scheune saß, starrte über sein Bier hinweg finster zu ihnen hinüber.

Ihr Vater schien verschwunden.

»Lass uns gehen«, meinte Rosa. »Die andere Fete ist inzwischen bestimmt schon voll im Gang. Hier ist es echt langweilig.«

In einem Haus am Rand von Glensted stieg eine Party anlässlich des Ferienbeginns. Jemand hatte eine sturmfreie Bude, die Eltern waren weggefahren, und alle würden da sein. Etty hatte Kim und Rosa überredet, auf dem Weg dorthin auf der Feier ihres Vaters vorbeizuschauen.

»Gebt mir noch ein paar Minuten«, sagte sie, »bis Mum kommt und sieht, dass ich hier war. Dann brechen wir auf.«

Ein paar Minuten lang tanzten sie und ihre Clique auf ironische Weise zu ABBA. Etty tanzte sonst liebend gern, hier jedoch nicht, weil sie das unangenehme Gefühl hatte, dass ihr Vater und seine Freunde sie beobachteten, während sie mit ihrer Clique eine Show abzog, um den Leuten mittleren Alters oder älter zu zeigen, was es hieß, jung und sorglos zu sein.

Duncan galoppierte vorbei, die Arme wild über dem Kopf schwingend.

»Ich habe eine Kassette dabei«, bemerkte Robbie. »Sollen wir die Runde mal ein bisschen aufmischen? Was meint ihr? My Bloody Valentine? Bis ihnen die Ohren bluten!«

»Ich würde lieber gehen«, antwortete Kim. »Du hast gesagt, bloß eine Stunde, Etty. Wir verpassen den ganzen Spaß.«

Etty zögerte. Sie erhaschte einen Blick auf Paul, der richtig deprimiert wirkte, und empfand einen Anflug von Wut.

»Brecht ihr schon mal auf«, sagte sie. »Ich komme, sobald ich kann.«

Sie rechnete halb mit Widerspruch, doch es kam keiner. Die anderen nickten nur achselzuckend. Kim schlang die Arme um sie und drückte sie ein wenig zu fest.

»Ist das für dich wirklich in Ordnung?«

»Klar.«

»Dann bis ganz bald.« Sie stupste Etty an und warf einen vielsagenden Blick zu Robbie hinüber. »Das wird ein toller Abend.«

Etty schaute ihnen einen Moment nach und setzte sich dann selbst in Bewegung, am Rand des Raums entlang. Ihre Augen brannten vom Zigarettenrauch. Die ganze Zeit dachte sie, dass ihre Mutter plötzlich auftauchen würde, in dem roten Kleid, in dem sie aussah wie ein Filmstar, die dunkelblonde Haarmähne hochgesteckt, nach Chanel duftend und so breit lächelnd, dass sich die Grübchen in ihren Wangen noch vertieften.

Wo blieb sie bloß? Etty warf einen Blick auf ihre Uhr. Halb zehn. Charlie kam oft zu spät, aber nicht so spät.

»Deine Mutter«, sagte Alec – der betrunken sein musste, denn Etty hatte ihn ein Glas Punsch nach dem anderen leeren sehen, wodurch sein Spott aber nur noch schärfer klang als sonst –, »deine geliebte Mutter steht einfach gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie will, dass alle fragen, wo sie bleibt.«

»Das stimmt nicht.«

»Ach, wirklich?« Alec bewegte sein Gesicht dicht vor das ihre. »Inzwischen ganz Mummys Mädchen, was?«

Etty begab sich auf die Suche nach Niall, bis sie ihn schließlich an der Seite der Scheune fand, wo ein Rechteck aus Licht, das durchs Fenster fiel, ihn und Penny beleuchtete. Letztere trommelte gerade heftig schluchzend auf seine Brust ein, während er immer wieder »Schhh, schhh!« sagte, als versuchte er, ein Pferd zu besänftigen.

Etty hielt Ausschau nach Paul, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.

Ollie lümmelte mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl neben der provisorischen Bar, schaukelte leicht hin und her und gab dabei ein summendes Geräusch von sich. Als Etty ihn an der Schulter rüttelte, öffnete er ein Auge, nickte ihr zu und schloss es dann wieder.

»Tut mir leid, dass ich vorhin so ein Mistkerl war«, flüsterte er kaum hörbar. »Beschissene Party, was?«

Viertel vor zehn. Zehn. Fünf nach.

Sie dachte an die Party, zu der sie wollte, an den Jungen, der ihr gefiel.

Es wurde weiter getanzt. Die Kerzen, die Greg auf den Esstisch gestellt hatte, flackerten schwach.

Etty holte ihre Jacke. Sie würde zu Hause anrufen, um herauszufinden, ob Charlie da war, und sich dann zu der anderen Party aufmachen – obwohl ihre prickelnde Vorfreude mittlerweile verflogen war und sie sich müde und lustlos fühlte. Draußen war es feuchtkalt. Ein böiger Wind peitschte ihr das Haar ins Gesicht. Der Weg zur Straße wurde schnell von tiefer Dunkelheit verschluckt. Sie musste langsam gehen, um nicht vom Weg abzukommen. Immer wieder stießen ihre Stiefel gegen die gefurchte Oberfläche, und zu beiden Seiten ragten wuchtige Bäume wie Wachposten auf.

Sie glaubte, eine Eule zu hören, doch vielleicht war es gar keine. Womöglich war es Penny, oder ein Paar hatte Sex im Gebüsch. Als sie die Telefonzelle erreichte, tauchte vor ihr eine Gestalt auf.

»Morgan! Hast du mich erschreckt!«

Jetzt konnte sie sein Gesicht sehen: so ganz anders als Duncans oder Gregs. Er war dünn und bleich, und unter dem dunklen Haarschopf funkelten seine Brillengläser. In der Hand hielt er eine Zigarette, deren Spitze aufleuchtete, als er sie an den Mund hob und daran zog.

»Ich rufe zu Hause an«, erklärte sie. »Mum ist noch immer nicht aufgetaucht.«

Die Kabine roch nach Urin und Tabak. Der Hörer fühlte sich schmierig an, sodass sie ihn ein Stück von sich weghielt, während sie die Nummer wählte. Sie hörte es läuten, dann ein statisches Knistern in der Leitung. Etty schob die Münzen hinein.

»Hallo?«, fragte sie.

»Mum?« Die Stimme am anderen Ende klang brüchig.

»Paul?«

»Etty? Bist du das? Ich dachte, Mum ruft an.«

»Demnach ist sie nicht da?«

»Nein.«

»Wo ist sie?«

Am anderen Ende herrschte Schweigen. Sie hörte sein Atemgeräusch – und die Leere des Hauses, ohne Charlie.

Es hatte zu regnen angefangen. Morgan wartete draußen, die Hände tief in den Taschen vergraben. Wieso war er überhaupt hier, auf einer Party für alte Leute, während alle seine Schulkameraden den Ferienbeginn feierten?

»Sie ist nicht daheim«, informierte ihn Etty. »Warum macht sich außer mir niemand Sorgen?«

»Du könntest den Notruf wählen«, antwortete er in beiläufigem Ton.

»Was?«

»Du könntest die Polizei anrufen.«

Sie starrte ihn an. Die Polizei. Das würde es auf beängstigende Weise real machen. Er erwiderte ihren Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

Erneut zog sie die Tür der Telefonzelle auf, trat hinein, griff nach dem schmierigen Hörer und wählte drei Ziffern.

»Es geht um meine Mutter«, erklärte sie. Ihre Stimme klang hoch und kindlich. »Charlie – besser gesagt, Charlotte Salter. Ich weiß nicht, wohin sie verschwunden ist.«

Als sie wieder aus der Zelle kam, war Morgan weg. Sie kehrte allein zur Feier zurück.

2

Der Hinterausgang der Scheune war wie die hässliche Kehrseite der Feier. Die Leute taten in der Dunkelheit Dinge, die sie drinnen nicht tun konnten. Seitlich an der Wand sah Etty ein ineinander verschlungenes Paar. Der Geruch von Marihuana stieg ihr in die Nase, natürlich erkannte sie dann Ollie in der betreffenden Gruppe und stellte fest, dass Morgan inzwischen auch wieder bei ihm war. Sie empfand einen Anflug von Zorn. Anscheinend waren Fünfzehnjährige sehr wohl in Ordnung, solange es sich dabei nicht um seine Schwester handelte. Sie stieß gegen Greg, der etwas Unverständliches murmelte. Sein glasiger Blick verriet ihr, dass er sehr betrunken war. Außerdem hatte er die blasse Gesichtsfarbe und die schweißnasse Haut eines Menschen, der sich gerade übergeben hatte oder kurz davorstand, es zu tun. Sie murmelte etwas Unverständliches zurück und bewegte sich schnell von ihm weg.

Draußen im Freien hatte jemand in einem Kohlebecken ein Feuer entfacht. Während sie auf das flackernde Licht zusteuerte, hörte sie eine vertraute, erhobene Stimme. Ihr Vater stieß gerade den Zeigefinger an die schmale Brust von Victor Pearce. Er war der Betreiber des Dorfcafés und ein Freund von Charlie, nicht von Alec. Sie machte die Scones und die Schoko-Walnuss-Küchlein, die immer auf der Theke des Cafés standen, und manchmal arbeitete Etty samstags dort. Victor war kleiner als Alec und eher schmächtig. Sein Haar hatte er zu einem Knoten zurückgebunden. Er trug ein Batik-T-Shirt und eine Samthose.

»Hey, beruhige dich«, sagte er, während er zurückwich.

Etty berührte ihren Vater an der Schulter, woraufhin er sich nach ihr umwandte.

»Ich habe die Polizei angerufen.«

Alec starrte sie mit ausdrucksloser Miene an, was aber irgendwie zur Folge hatte, dass ihr Herz wie wild zu hämmern begann.

»Warum denn das?« Seine Stimme klang plötzlich sehr liebenswürdig.

»Niemand sonst hat etwas unternommen.«

»Es ist nichts passiert. Sie hat es einfach nicht für nötig gehalten, zur Feier meines fünfzigsten Geburtstags zu erscheinen.«

»Die schicken in einer halben Stunde jemanden zu uns nach Hause.«

Seine Miene war immer noch ausdruckslos, doch Etty spürte seine Wut. Er entfernte sich von Victor Pearce, drehte sich ruckartig um und stürmte zurück in die Scheune, wo er in der Menge verschwand. Einen Moment später brach die Musik plötzlich ab. Die Tanzenden hielten inne, und es war auf einmal ganz still.

Etty konnte ihren Vater nicht sehen, hörte dann aber seine Stimme. Er verkündete, die Feier sei zu Ende.

»Zumindest für die Familie Salter. Danke fürs Kommen und so weiter. Macht das Licht aus, wenn ihr geht.«

»Du kannst nicht fahren«, sagte Ollie zu seinem Vater. »Nicht, nach allem, was du getrunken hast.«

»Aber du, oder? Nach allem, was auch immer du da geraucht hast?«

»Ich hatte nicht vor zu fahren.«

Alec riss die Tür seines Wagens auf.

»Steig ein.«

»Vergiss es.«

»Ganz, wie du meinst. Etty?«

Einen Moment dachte sie an die andere Party, an tanzende, trinkende, schmusende junge Leute. Sie schob die Hände tief in die Taschen.

»Ich gehe mit Ollie zu Fuß.«

»Wo ist Paul?«

»Der ist schon zu Hause«, erklärte Etty. »Und Niall fährt selbst.«

»Gut. Dann fahre ich eben allein. Genießt euren Spaziergang.«

Er stieg ein, zog die Tür zu und ließ den Motor an. Ollie und Etty beobachteten, wie er auf dem Feldweg beschleunigte, bis die roten Rücklichter seines Wagens schließlich in der Dunkelheit verschwanden.

Es waren nur fünfzehn Minuten zu gehen, doch der Regen verwandelte sich allmählich in weichen Schneeregen, den ihnen der Wind ins Gesicht wehte.

Ohne zu sprechen, erreichten sie die Hauptstraße, kurz bevor diese über den Fluss führte, marschierten vorbei an der Telefonzelle und der Bushaltestelle, wo Etty jeden Morgen in den Bus zu ihrer Schule in Hemingford stieg und jetzt eine aus Dosen trinkende Gruppe von jüngeren Teenagern herumhing, vorbei an der neuen Wohnanlage mit ihren Reihen identischer Bungalows und hinein in die verschlungenen Straßen von Glensted mit seinen roten, mit Giebeln versehenen Ziegelhäusern. Lichter an Weihnachtsbäumen funkelten durch die Fenster, und die Luft roch nach Holzfeuer.

Etty versuchte, Wut auf Charlie zu empfinden, weil sie ihr den Ferienbeginn ruinierte, doch sie schaffte es nicht, ihre wachsende Angst zu unterdrücken. Wäre sie allein gewesen, wäre sie bestimmt gelaufen. So aber marschierte sie mit Ollie im Schlepptau dahin, begleitet vom Klappern ihrer schweren Schuhe. Das Städtchen lag fast hinter ihnen, ein paar Häuser noch, dann erreichten sie die kleine, stillgelegte Tankstelle und die Ansammlung von Mobilheimen, die den Großteil des Jahres leer standen. Von hier aus konnten sie bereits die Umrisse des Bauernhauses mit den erleuchteten Flächen der unteren Fenster erkennen.

Paul öffnete die Tür. Wie eine Scherenschnittfigur stand er in dem Rechteck aus gelbem Licht. Seine Augen hatten die Farbe von Walnüssen. Sein Haar, mit dem gleichen satten Kastanienton wie Ettys, war ziemlich lang. Laut Alec sah er dadurch nur noch memmenhafter aus. Hinter ihm in der Diele leuchtete der Salter-Weihnachtsbaum wie buntes Farbgekleckse. Charlie war keine Anhängerin dezenter Dekoration. Sie hatte die Äste mit roten, goldenen und violetten Kugeln, Lichterketten und silbrigem Lametta behängt. Unter dem Baum stapelten sich bereits die Geschenke, zu denen, wie Etty feststellte, auch ein kleines quadratisches, von einer Schleife zusammengehaltenes Päckchen gehörte, das für sie bestimmt war.

»Noch immer keine Spur von ihr?«, fragte sie.

Paul schüttelte den Kopf.

Sie gingen ins Haus, schlüpften aus ihren feuchten Jacken. Ollie beugte sich hinunter und zog seine durchnässten Sportschuhe und Socken aus, wobei er sich vor dem Umkippen bewahrte, indem er sich mit einer Hand am Geländer festhielt. Seine Füße erschienen Etty sehr rosig, und als er sich wieder aufrichtete, bemerkte sie, wie groß seine Pupillen waren. Ihr selbst rann das Wasser aus den Haaren den Hals hinunter, und ihre Wangen brannten von der Kälte.

»Ich habe die Polizei angerufen«, informierte sie Paul. »War das blöd von mir?«

Sie wünschte, er würde Ja sagen.

»Nein.«

Die Tür, die links ins Wohnzimmer führte, öffnete sich, und Alec trat mit einem vollen Whiskyglas in der Hand über die Schwelle.

»Ein absolut denkwürdiger fünfzigster Geburtstag«, erklärte er. »Vielen Dank euch allen.«

Scheinwerferlichter bewegten sich die Zufahrt herauf. Es waren zwei Wagen: Nialls alter Honda und hinter ihm ein Streifenwagen.

»Ich bin ziemlich neben der Spur«, verkündete Ollie in lautem Flüsterton und stieß dann ein kleines, angstvolles Kichern aus. »Meint ihr, er wird das merken?«

»Halt den Mund«, antwortete Paul. »Es geht jetzt nicht um dich.«

Als Niall hereinkam, fühlte Etty sich erleichtert. Mit seinen braunen Augen, dem vorwurfsvollen Blick und seiner hellen Haut, die rot anlief, wenn er verlegen oder verärgert war, wirkte er so bodenständig und nüchtern. In seiner Anwesenheit erschien es Etty unvorstellbar, dass Charlie etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte.

Der Polizeibeamte sah nicht älter aus als Ollie und erinnerte Etty an manche ihrer Mitschüler, die sich mit ihrer Körpergröße und Masse nicht wohlfühlten und dadurch linkisch wirkten. Sein Körper schien auf unangenehme Weise in die Uniform gezwängt. Immer wieder schob er einen Finger in seinen Hemdkragen. Als er den Raum betrat, lächelte er. Dieses Lächeln behielt er bei. Selbst wenn er versuchte, ernst dreinzublicken, brach sich das Grinsen Bahn und zog sein breites, jungenhaftes Gesicht in Falten.

»Geoffrey Bealing«, stellte er sich vor und nickte ihnen der Reihe nach zu.

Sie führten ihn ins Wohnzimmer, wo er sich auf dem Sessel niederließ, bei dem eine Feder gebrochen war. Etty und Niall setzten sich ihm gegenüber aufs Sofa, Paul nahm den kleinen Stuhl, und Ollie lehnte sich an den Kamin, in dem ein Häufchen kalte Asche lag. Die Heizung war nicht eingeschaltet, sodass der Raum ungemütlich und trist wirkte.

Alec blieb an der Tür stehen. Das Glas in seiner Hand war inzwischen fast leer.

»Sie machen sich Sorgen wegen Ihrer Frau?«, wandte Bealing sich an Alec.

»Nein.«

Bealing rutschte verlegen auf seinem Sessel hin und her.

Etty sprang vom Sofa hoch und baute sich mit geballten Fäusten vor ihm auf.

»Sie ist verschwunden«, erklärte sie mit schriller Stimme. »Wir wissen nicht, wo sie ist. Sie müssen sie finden.«

»Es sind doch erst ein paar Stunden«, warf Niall ein.

Bealing ließ den Blick von einem zum anderen schweifen. An Alec blieb er hängen.

»Ist es ungewöhnlich, dass Ihre Frau so lange auf der Piste ist?«

»Auf der Piste«, wiederholte Ollie. »Verdammte Scheiße!«

»Halt den Mund, Oliver«, wies Alec ihn zurecht. An den Polizeibeamten gewandt, sagte er in beruhigendem Ton: »Ganz und gar nicht. Meine Frau ist eine impulsive Person. Sie kommt bestimmt bald zurück.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Etty. »Hat sie das zu dir gesagt?«

»Ich weiß es, weil ich Charlie kenne.«

Bealing kämpfte sich aus dem Sessel.

»Wie eben sehr richtig angemerkt wurde, sind es erst ein paar Stunden, Sir. Ich bin sicher, es besteht kein Grund zur Sorge. Wenn Ihre Frau binnen vierundzwanzig Stunden nicht zurück ist, melden Sie sich bei uns.«

»Es tut mir leid, dass Sie ausrücken mussten. Ich entschuldige mich im Namen meiner Tochter. Sie ist erst fünfzehn.«

»Behandle mich nicht wie ein Kleinkind. Irgendetwas ist ihr passiert. Womöglich ist sie gestürzt. Oder sie ist …«

Sie wusste nicht, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte.

3

Als Bealing wieder im Polizeirevier von Hemingford eintraf, trank sein diensthabender Vorgesetzter gerade Tee und las dabei Zeitung. Er hieß Guy Lock. Da er Witwer war, arbeitete er gern die lange Nachtschicht. Nun blickte er hoch.

»War was?«

»Eine Frau ist nicht zu einer Feier erschienen.«

»Was hältst du davon?«

Bealing grinste.

»Mir hat die Tochter gefallen. Ich schätze, man muss ein Auge auf sie haben. Ein Schulmädchen, aber … du weißt schon, voll erwachsen und ziemlich temperamentvoll.«

Lock schüttelte den Kopf »Ich habe meine Töchter immer vor Typen wie dir gewarnt. Ernsthaft, pass bloß auf. Wie alt ist sie, vierzehn?«

»Nein, Chef, nicht mehr minderjährig, oder jedenfalls fast nicht mehr.«

»Aber was diese Mum betrifft, sollten wir uns da Sorgen machen?«

Bealing zog ein Gesicht.

»Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sie sich mit ihrem Alten gezofft. Vermutlich ist sie inzwischen wieder zu Hause und kocht gerade Tee.«

Die drei Brüder saßen rund um den Küchentisch. Etty tigerte hin und her, als wäre sie auf der Suche nach einem Platz zum Ausruhen, ohne einen zu finden. Es war das erste Mal seit dem letztjährigen Weihnachtsfest, dass sie alle zusammen waren. Damals hatte Alec sich betrunken, und Ollie war in sein Zimmer verschwunden. Etty und ihre Mutter hatten vor alledem die Flucht ergriffen, einen ausgedehnten Spaziergang entlang der Flussmündung gemacht und die Kälte, den Wind und die Sonne genossen. Sie hatten nicht über das gesprochen, wovor sie geflohen waren, aber Charlie hatte ihre Tochter gefragt, ob es ihr gut gehe, und sie hatten die ganze Strecke Hand in Hand zurückgelegt. Das war genug gewesen.

»Mir graute ja schon seit Wochen vor diesem Fest«, erklärte Ollie. »Aber nun ist es tatsächlich noch übler ausgefallen als in meinen schlimmsten Albträumen.« Er warf einen Blick in die Runde. »War daran irgendetwas gut? Doch, ja, die Blumen sahen gut aus.« Er wandte sich an Niall. »Wie läuft es denn zwischen dir und Penny?«

»Nicht so besonders.«

»Hast du dich von ihr getrennt?«

»Ich habe ihr gesagt, wir sollten uns eine Auszeit gönnen.«

»Also keine Trennung?«

»Ich wollte es ihr leichter machen.«

»Wie hat sie reagiert?«

»Sie war nicht glücklich darüber. Sie ist früh gegangen.«

»Ich verschwinde auf mein Zimmer«, verkündete Ollie, »es sei denn, jemand hat einen Plan.«

»Du kannst nicht einfach gehen«, widersprach Etty. »Mum ist nicht da. Sie ist irgendwo da draußen in der Finsternis.« Sie deutete auf die Dunkelheit jenseits des Fensters. »Ich bleibe hier, bis sie nach Hause kommt.«

»Wahrscheinlich sitzt sie bei irgendeiner Freundin und jammert über Dad«, meinte Niall.

»Welcher Freundin?«, fragte Etty. »Nenn mir ein paar Namen, ich fange sofort an rumzutelefonieren.«

»Du hast doch schon die Polizei angerufen«, entgegnete Niall. »Die kennen sich mit solchen Sachen aus. Kam dir dieser Polizeibeamte beunruhigt vor?«

»Er wirkte nicht sehr interessiert – wenn du darauf hinauswillst.«

»Ich könnte einen Drink gebrauchen«, wechselte Niall das Thema. »Falls Dad uns noch was übrig gelassen hat.«

»Wahrscheinlich ging es ihr genau wie uns«, mutmaßte Ollie. »Sie konnte den Gedanken an die Party nicht ertragen und suchte sich deswegen einen besseren Zeitvertreib. Egal, was, Hauptsache, nicht hier. Ich meine, wir haben doch alle mehr oder weniger so getan, als wären wir gar nicht da. Sie war bloß konsequenter, indem sie tatsächlich nicht erschien. Die richtige Entscheidung, wenn ihr mich fragt.«

»Bist du immer noch bekifft?«, fragte Etty.

»Nicht genug. Mein Plan war, mich durch den Einsatz chemischer Mittel in einen Raum zu befördern, wo ich entspannt und heiter wäre, was mir aber nicht so richtig gelang.«

Niall tigerte mittlerweile in der Küche herum, damit beschäftigt, Schranktüren zu öffnen und wieder zu schließen. Schließlich fand er, was er suchte, und schenkte sich ein halbes Glas Whisky ein.

»Eins muss man Mum lassen«, sagte er, ehe er einen Schluck nahm. »Wenn man vorhat, sich von seinem Mann zu trennen, kann man es auch gleich richtig machen und ihn an seinem fünfzigsten Geburtstag sitzen lassen.«

»Du sprichst von unserer Mutter.« Paul klang, als hätte er Probleme, die Worte herauszubringen. »Sie ist die gütigste Person der Welt. Warum sollte sie so etwas tun, ohne jemandem davon zu erzählen? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Es ergibt sehr wohl einen Sinn«, widersprach Ollie. »Sie ist nämlich mit Alec Salter verheiratet. Wenn sie zurückkommt …«

»Sie kommt ganz bestimmt zurück«, warf Etty ein. »Das versprecht ihr mir doch, oder?«

»Natürlich, sie kommt zurück«, antwortete Niall. Etty fand, dass er es in dem gleichen beruhigenden Tonfall sagte, den er angeschlagen hätte, um zu sagen, natürlich, es gibt den Weihnachtsmann.

»Wie auch immer«, fuhr Ollie fort, »wenn sie zurückkommt, kann es nicht einfach so weitergehen wie bisher.«

»Du redest dich leicht«, entgegnete Etty. »Du gehst ja bald weg. Dann bin nur noch ich hier.«

Etty war sicher, dass ihre drei Brüder, egal, was sie sagten, genauso empfanden wie sie selbst. Irgendetwas Gewaltiges war passiert, als wäre ein Krieg erklärt worden. Sie hatten bloß alle keine Ahnung, wie sie es ausdrücken oder was sie unternehmen sollten. Trotzdem wusste Etty, wie die drei reagieren würden. Niall fühlte sich immer wie der starke Mann in der Familie. Er würde versuchen weiterzumachen, als wäre im Grunde nichts passiert. Paul würde sich einfach in sich selbst zurückziehen, in seine eigene Dunkelheit. Ollie war am ehesten wie sie. Er würde darüber reden. Immer wieder. Sie aber konnte nicht nur reden. Sie musste etwas tun.

»Ich rufe die Ackerleys an«, verkündete sie. »Zu denen würde Mum gehen.«

»Duncan wird inzwischen schlafen«, erwiderte Niall.

»Das ist mir egal.«

Draußen in der Diele, gleich neben der Küchentür, befand sich ein Telefon. Etty griff nach dem Hörer und war schon im Begriff zu wählen, als sie am anderen Ende plötzlich Stimmen hörte, von denen sie eine sofort als die ihres Vaters erkannte. Ihr war klar, dass sie wieder auflegen sollte, doch als sie dann die andere Stimme vernahm, die ihr ebenfalls bekannt vorkam, klappte sie die Hand über das Mundstück und hörte weiter zu. Ja, es war Mary. Mary Thorne.

Sie verstand kaum etwas von dem, was die beiden sagten. Es war, als sprächen sie eine Fremdsprache. Am meisten irritierte sie der Ton, dieses leise Gemurmel, das so intim klang. Es erinnerte sie an Unterhaltungen, die sie selbst mit Jungs geführt hatte. So etwas fand am Tag nach einer Party statt, wo sie sich geküsst hatten, in die Ecke eines Sofas geschmiegt oder draußen im Garten. Er rief dann an und fragte nach ihr, woraufhin sie ein langes, seltsames Gespräch führten, fast schon im Flüsterton, als könnte jemand lauschen. Ihr Vater war den ganzen Abend sarkastisch und laut gewesen, doch nun sprach er in diesem seltsamen Ton, den sie bei ihm noch nie gehört hatte.

Nachdem sie den Hörer so behutsam wie möglich aufgelegt hatte, musste sie erst einmal tief Luft holen, und dann gleich noch einmal, ehe sie in die Küche zurückkehren konnte.

»Was haben sie gesagt?«

»Ich habe nicht angerufen. Dad war am Telefon.«

»Um diese Zeit, mitten in der Nacht?«, fragte Niall.

»Er hat mit Mary Thorne gesprochen.«

Es folgte eine lange Pause. Etty fand das schlimmer als alles andere. Ihr wäre es lieber gewesen, jemand wäre wütend geworden.

Draußen auf der Treppe waren Schritte zu vernehmen. Alec betrat den Raum mit einer prallen Mülltüte, die er neben der Tür deponierte. Er griff nach der Whiskyflasche auf dem Sideboard, nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es und trank einen Schluck. Wieso kippte er nicht sturzbetrunken um? Stattdessen betrachtete er die vier feindseligen Mienen seiner Kinder und verzog das Gesicht zu einem Lächeln.

»Ich habe gerade mit Mary Thorne gesprochen«, erklärte er in neutralem Ton. »Sie macht sich Sorgen wegen Charlie.«

»Du hast um ein Uhr nachts Mary Thorne angerufen, weil die sich Sorgen um Mum machen könnte!«

Die Bemerkung kam von Paul, wobei er so barsch klang, wie man es sonst von ihm nicht kannte.

»Wer sagt, dass ich sie angerufen habe?«

»Hätte sie dich angerufen«, entgegnete Paul langsam, »dann hätten wir das Telefon klingeln gehört. Haben wir aber nicht.«

Alec kippte seinen Drink hinunter und stellte das leere Glas in die Spüle.

»Sprich nicht in diesem Ton mit mir«, sagte er. »Ich habe heute Geburtstag.«

»Nein, du hast nicht mehr Geburtstag«, widersprach Paul. »Schon seit einer Stunde nicht mehr.«

»Stimmt«, räumte Alec ein. »Rede trotzdem nicht so mit mir. Ich bin euer Vater.«

»Du hast vielleicht Nerven!«, antwortete Paul.

Es folgte ein Schweigen, das Etty fast wie etwas Körperliches empfand, etwas Kaltes und Hartes an ihrer Haut.

»Was hast du gerade gesagt?«, fragte Alec in gefährlich ruhigem Ton.

»Ich habe gesagt, du hast vielleicht Nerven.« Paul sprach jetzt lauter. »Wir wissen über dich Bescheid. Wir wissen alles über dich. Das geht auf deine Kappe. Du hast sie dazu getrieben – was auch immer sie getan hat.«

Er stand auf und stieß dabei seinen Stuhl so heftig zur Seite, dass der mit einem Rums umkippte.

»Raus!«, befahl Alec.

»Was soll denn das?«, rief Paul, ehe er aus dem Raum stürmte. Er polterte so heftig die Treppe hinauf, dass davon das Haus zu wackeln schien. Eine Tür knallte zu.

Alec blickte sich um. Was gerade passiert war, schien ihn kalt zu lassen, er wirkte deswegen weder erregt noch bekümmert.

»Sonst noch was?«, fragte er. »Noch jemand, der etwas loswerden möchte?«

»Wie kannst du bloß so reden?«, entgegnete Ollie.

»Mum ist verschwunden«, mischte Etty sich ein, »und wir hocken hier nur herum.«

»Eure Mutter ist nicht verschwunden.«

»Ist sie wieder da?«, fragte Etty mit einem verzweifelten Aufblitzen von Hoffnung.

»Nein. Aber ihr wisst doch, wie sie ist: Wenn sie einen Einfall hat, setzt sie ihn in die Tat um.«

»Was für einen Einfall denn?«, hakte Ollie nach.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Alec, »genauso wenig wie ihr. Vielleicht war sie sauer. Oder sie hatte einfach keine Lust auf eine Party. Ich hatte weiß Gott auch keine.«

»Sauer weswegen?«, wollte Ollie wissen.

»Habt ihr euch gestritten?«, fragte Etty. »Ist sie deshalb weg?«

»Nein, wir haben uns nicht gestritten«, erwiderte Alec in gereiztem Ton. »Das war nur als Beispiel gedacht. Es war hypothetisch gesprochen.«

»Mir reicht’s«, verkündete Niall und erhob sich. »Ich pack das nicht. Diese Warterei hier halte ich nicht mehr aus. Ich fahre jetzt los und suche nach ihr.«

»Wo denn?«, fragte Alec.

»Egal, wo. Ich fahre einfach herum, frage die Leute. Das ist besser, als gar nichts zu tun.«

»Ich glaube nicht, dass das wirklich so viel besser ist«, widersprach Alec.

Niall verzog das Gesicht. Etty befürchtete schon, er würde seinen Vater ebenfalls anschreien oder womöglich sogar schlagen. Doch er verließ nur wortlos den Raum. Niemand sagte etwas. Die Stille hatte erst ein Ende, als Niall seinen Wagen anließ und in der Dunkelheit verschwand.

Mittlerweile war es drei Uhr morgens, und im Haus herrschte Ruhe, mal abgesehen von gelegentlichem Knarren oder Ächzen, so, als müsste sich das alte Gebäude nach den Ereignissen des Tages erst wieder beruhigen.

Nur eine einzige Person schlief: Alec Salter lag in seinem Pyjama mitten auf dem Doppelbett und atmete gleichmäßig.

Seit Paul an der Uni war, hatte sich sein Zimmer zu einem Abstellraum für Kartons und ausrangierte Möbelstücke entwickelt. Er saß vollständig bekleidet und mit Kopfhörern über den Ohren auf seinem Bett. Inzwischen hörte er fast ausschließlich Cocteau Twins – das und Talk Talk. Musik, von der ihm schwindlig wurde und in der er sich verlieren konnte. Jedes Mal, wenn die Scheibe zu Ende war, setzte er die Nadel wieder auf den Anfang zurück. When you come to me, you come to broke.

Ollie befand sich ebenfalls im Bett, in seinem eigenen Zimmer. Er hatte ferngesehen, mit ganz leise gedrehtem Ton. Als dann nächtlicher Sendeschluss war, ließ er das Gerät trotzdem an – graues Geflimmer, von dem er hoffte, es würde ihn einschläfern. Was es aber nicht tat.

Ein paar Kilometer entfernt, Richtung Hemingford, saß Niall am Straßenrand in seinem Wagen. Er hatte bereits eine halbe Schachtel Zigaretten geraucht, und ihm war schlecht. Er wusste, dass es keinen Grund gab, nicht in seine Mietwohnung zurückzukehren, in der er allein lebte, und sich dort ins Bett zu legen, doch sobald er eine Zigarette zu Ende geraucht hatte, zündete er sich die nächste an. Heimzufahren wäre das Eingeständnis, dass das Leben weiterging und alles, was womöglich passieren würde, tatsächlich passierte. Er wollte diesen Moment hinausschieben.

Etty saß immer noch am Küchentisch, inzwischen vollkommen erschöpft. Ihre Augen brannten, und das grelle Küchenlicht schmerzte. Trotzdem ging sie nicht ins Bett, und sie schaltete auch das Licht nicht aus.

Wenn das Haus dunkel wäre, würde ihre Mutter sie nicht sehen können und den Weg nach Hause nicht finden.

4

Der Morgen kam mit grauem, mattem Licht, das den östlichen Himmel fleckig wirken ließ, und brachte Schneematsch, der schmolz, sobald er den Boden berührte. Etty hob den Kopf vom Küchentisch. Ihre Wange hatte Druckstellen, ihre Augen brannten, und die linke Hand war ihr eingeschlafen. Noch immer trug sie ihr kurzes schwarzes Kleid mit dem Flanellhemd darüber, und sie fühlte sich schmutzig und durchgefroren bis auf die Knochen. Sie wusste nicht, ob sie überhaupt geschlafen hatte, aber falls doch, dann immer nur in ganz kurzen Etappen, denn bei jedem Blick auf die Uhr war es ihr vorgekommen, als hätten sich die Zeiger kaum bewegt.

Als sie nun erneut auf die Uhr sah, rückte der Minutenzeiger gerade zitternd ein Stück vor. Es war zehn vor sieben am dreiundzwanzigsten Dezember: einen Tag vor Weihnachten. Im Haus herrschte Stille, abgesehen vom Scheppern des alten Heizkörpers und dem unregelmäßigen Tröpfeln aus der kaputten Dachrinne draußen.

Etty stand auf.

Seit gestern hatte sich nichts verändert, alles befand sich noch an seinem Platz: die Tassen, aus denen sie am Vorabend getrunken hatten, am Spülbecken, die fast leere Flasche Whisky auf dem Fensterbrett, Pauls Jacke über einer Stuhllehne.

Etty trat hinaus in die Diele. Auch dort nichts Neues. Sie konnte weder die Stiefel ihrer Mutter entdecken, noch hing deren Mantel über dem Treppengeländer. Die Lichter am Weihnachtsbaum brannten noch. Was für ein Hohn. Etty bückte sich hinunter und betrachtete die unter dem Baum gestapelten Geschenke: Sie waren alle von ihrer Mutter, eingehüllt in grünes Papier und mit ihrer schwungvollen Handschrift versehen. Das Päckchen für sie war klein und quadratisch. Einen Moment hielt sie die kleine Schachtel an ihre kalte Wange, dann stellte sie sie zurück zu den anderen Geschenken und schaltete die Beleuchtung aus.

Leise stieg sie die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sich das Schlafzimmer ihrer Eltern befand. Sie presste das Ohr an die Tür, hörte jedoch nichts, woraufhin sie die Tür aufschob und mit angehaltenem Atem hineintrat. Im Raum war es ziemlich dunkel. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Seite des Bettes und legte eine Hand auf die Gestalt unter der Decke. Noch immer konnte sie den Lavendelduft riechen, süß und intensiv.

Nachdem sie den Raum wieder verlassen hatte, ging sie den Gang entlang, vorbei an dem Zimmer, das Niall gehört hatte, inzwischen aber als Arbeitszimmer und Rumpelkammer diente. Aus Pauls Zimmer drang Musik. Sie klopfte und schob die Tür auf. Er saß auf seinem Bett, die Kopfhörer über den Ohren, und starrte sie an oder durch sie hindurch. Sein Gesichtsausdruck machte ihr Angst. Sie schloss die Tür wieder.

Ollies Zimmer lag ein paar flache Stufen höher, neben dem Bad. Sie klopfte mehrmals an die Tür.

»Was?«

»Ich bin’s, Etty«, antwortete sie, während sie eintrat. »Du musst mich begleiten.«

Er lag in Jogginghose und Sweatshirt auf seinem Bett, mit kalkweißem Gesicht und rot geränderten Augen. Sein Haar stand in alle Richtungen ab.

»Dich begleiten? Wohin?«

»Sie ist nicht nach Hause gekommen.«

»Ich weiß.«

»Wir müssen los, nach ihr suchen.«

»Wo denn?«

»Egal wo. Überall. Hoch mit dir!«

Ihr eigenes Zimmer befand sich ganz oben, unter dem Dach. Es war klein und niedrig. Das Fenster ging auf die Rückseite des Hauses hinaus, mit Blick über die Felder. Diese hatten früher, als noch Alecs Vater und Großvater die Besitzer waren, zum Haus gehört, das damals als Bauernhof betrieben wurde. Inzwischen waren sie längst verkauft. Gerüchten zufolge hatte eine Baufirma ein Auge auf sie geworfen. Angeblich wollten sie dort eine Wohnanlage bauen.

Etty putzte sich an dem winzigen Waschbecken unter dem Fenster die Zähne und vertauschte ihre getragenen Sachen mit einer Jeans, einem Langarmshirt und einem dicken Pulli mit Mottenlöchern in den Ärmeln. Sie ließ den Blick über die schlammigen Felder schweifen, über die hohen Pappeln, die in diesem Teil von East Anglia so viele Grundstücksgrenzen markierten, und über den immer breiter werdenden Fluss, bis zu dem Bereich, wo er sich in Richtung Brücke wand. War ihre Mutter irgendwo dort draußen? Vor ihrem geistigen Auge sah Etty sie verletzt am Boden liegen und nach Hilfe rufen, während der Wind ihre Worte verschluckte und sie immer stärker fror, Schmerzen litt und vergeblich darauf wartete, dass jemand sie fand.

So sollten ihre Ferien nicht beginnen. Eigentlich hatten sie und Kim eine Einkaufstour nach Hemingford geplant, weil sie beide noch keine Weihnachtsgeschenke für ihre Familien besorgt hatten, und danach Kino. Kim wollte Kevin – Allein zu Haus sehen.

Alles fühlte sich falsch an. Ihr Haar war verfilzt, sie hatte vor Müdigkeit pochende Kopfschmerzen, und der Hals tat ihr auch weh. Außerdem spürte sie ein Ziehen im unteren Rücken, was bedeutete, dass sie ihre Periode bekam. Sie empfand ein Gefühl hilfloser Dringlichkeit, doch Ollie bestand auf Toast und Kaffee, bevor sie aufbrachen. Und dann rief Niall an – das Läuten des Telefons ließ sie beide voller Hoffnung hochschrecken – und fragte, ob es etwas Neues gebe. Paul kam in die Küche. Er wirkte schlapp und verängstigt.

»Wir wollen sie suchen«, informierte ihn Etty.

Er fragte nicht, wo. Stattdessen nickte er nur ein paarmal und erklärte dann, er werde zu Hause bleiben, für den Fall, dass sie anrief oder auftauchte.

Da Ettys Doc Martens noch nass waren, schlüpfte sie in Gummistiefel und in eine alte Jacke, die Charlie gehörte. Als sie ihre Hand in die Tasche schob, fand sie darin eine Einkaufsliste und ein Paar Handschuhe, die sie gleich anzog.

»Frierst du denn nicht?«, wandte sie sich, bereits im Gehen begriffen, an Ollie.

Er hatte sich nicht umgezogen, trug immer noch Jogginghose und Sweatshirt.

»Ich mag das«, meinte er achselzuckend.

»In welche Richtung sollen wir gehen?«

»Keine Ahnung.«

Etty begriff, dass er gar nicht daran glaubte, Charlie auf diese Weise zu finden. Sie suchten nur, weil sie mussten – weil sie nichts anderes tun konnten.

Sie selbst aber hatte das Gefühl, dass sie, wenn sie sich von ganzem Herzen und mit ihrer ganzen Willenskraft bemühte, bestimmt spüren würde, wo Charlie war. Angestrengt hielt sie Ausschau, suchte mit ihrem Blick den Horizont ab, rechnete jeden Moment damit, dass die vertraute Gestalt ihrer Mutter auf dem Hügel auftauchen würde, mit wehendem Mantel, das lange blonde Haar zerzaust, und dass sich auf ihrem Gesicht dieses schöne, herzliche Lächeln ausbreiten würde, sobald sie sie entdeckte. Im Gehen wandte Etty den Blick auch immer wieder zur einen und zur anderen Seite, weil sie befürchtete, ihre Mutter könnte vielleicht gestürzt sein und irgendwo zwischen den Bäumen entlang des schmalen Wegs liegen, der zur Straße führte.

Etty rutschten in ihren Gummistiefeln ständig die Socken hinunter. Sie spürte, dass sich an ihrer Ferse bereits eine Wasserblase bildete. Ollie hielt den Kopf gesenkt und hatte beide Hände in den Taschen, während er sehr schnell dahinmarschierte, als wäre er wütend.

Das Café am Platz machte gerade erst auf. Victor Pearce war damit beschäftigt, die Kaffeemaschine zu reinigen, als sie eintraten. Als die sich hinter ihnen schließende Tür das Windspiel in Bewegung setzte, wandte er den Kopf. Bei ihrem Anblick legte er seinen Lappen weg und wischte sich an seiner Schürze, auf deren Latz eine gelbe Sonne gestickt war, die Hände ab. Er trug ein geblümtes Hemd, orangerote Sneaker und in einem Ohr einen silbernen Stecker. Sein schulterlanges Haar hätte dringend eine Bürste nötig gehabt, und sein Gesicht wirkte blass, als hätte er schlecht geschlafen. Beim Rasieren hatte er einen Fleck übersehen.

»Ist Mum hier?«

Die Frage schien ihn zu verwirren.

»Charlie? Nein? Wollte sie denn vorbeischauen?«

»Wir wissen nicht, wo sie ist.«

»Soll das heißen, sie ist nicht nach Hause gekommen?«

»Genau.«

»Das ist seltsam.«

Wie gebannt starrte Etty auf die Tische mit den noch hochgeklappten Stühlen, die geschlossenen Jalousien, die leere Theke, als könnte Charlie sich schlagartig irgendwo materialisieren. Ihr Blick blieb an einem der Gemälde haften, die Victor an den Wänden aufgehängt hatte, um sie vielleicht zu verkaufen. Er sagte immer, er wolle die Kreativität vor Ort fördern. In diesem Fall handelte es sich um eine Komposition aus wirbelnden Grün-, Blau- und Gelbtönen, eine grelle Nachahmung von van Gogh, die Ettys Kopf noch stärker pochen ließ.

»Du hast sie wirklich nicht gesehen?«

»Ich habe doch gerade erst aufgeschlossen. Macht Alec sich Sorgen?«

»Nein«, antwortete Ollie. »Der pennt noch.«

»Vielleicht brauchen die beiden mal eine Auszeit, um sich abzukühlen.«

»Was soll denn das heißen?« Ettys Stimme klang schrill. »Was hat sie dir erzählt?«

»Nichts. Ich meine ja nur …« Er hielt inne. »Ich wollte damit wirklich nichts andeuten. Es war nur so dahingesagt.«

»Sie würde nicht einfach abhauen«, erklärte Etty hitzig. »Sie hat doch uns. Noch dazu ist morgen Weihnachten, und alle sind nach Hause gekommen, alle ihre Kinder. Darüber hat sie sich so gefreut. Unter dem Baum liegen schon die Geschenke.«

»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«, meldete Ollie sich in schroffem Ton zu Wort.

»Am Donnerstag, glaube ich. Ja, am Donnerstag. Sie brachte Scones vorbei und trank einen Kaffee mit mir.«

Victor band sein Haar zu einem Pferdeschwanz zurück. Sein Gesicht wirkte spitzer denn je, wie das eines Wiesels. »Es geht ihr bestimmt gut. Sie ist eine weise Seele.«

»So ein Widerling«, sagte Ollie, als sie wieder in den böigen Schneeregen hinaustraten. »›Weise Seele.‹ Was soll das denn heißen?«

»Mum mag ihn.«

»Sie mag jeden«, entgegnete Ollie. »Sie glaubt, unter der Oberfläche ist jeder nett.«