Blutzeuge - Tess Gerritsen - E-Book
SONDERANGEBOT

Blutzeuge E-Book

Tess Gerritsen

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sie haben das Böse gesehen – und er lässt sie mit ihrem Blut zahlen.

In Boston wird die Leiche einer jungen Frau gefunden – in der offenen Handfläche liegen ihre Augäpfel. Die Verstümmelung geschah post mortem, wie bei der Obduktion eindeutig festgestellt wird. Doch die genaue Todesursache bleibt unklar. Kurze Zeit später taucht die Leiche eines Mannes auf – Pfeile ragen aus seinem Brustkorb, die ebenfalls erst nach seinem Tod dort platziert wurden. Beide wurden Opfer desselben Täters, ansonsten scheint es keine Verbindung zwischen ihnen zu geben. Detective Jane Rizzoli von der Bostoner Polizei steht vor einem Rätsel, bis eine Spur sie zu einem Jahrzehnte zurückliegenden Fall von Misshandlungen in einem katholischen Kinderhort führt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 517

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

In Boston wird die Leiche einer jungen Frau gefunden – in der offenen Handfläche liegen ihre Augäpfel. Die Verstümmelung geschah post mortem, wie bei der Obduktion eindeutig festgestellt wird. Doch die genaue Todesursache bleibt unklar. Kurze Zeit später taucht die Leiche eines Mannes auf – Pfeile ragen aus seinem Brustkorb, die ebenfalls erst nach seinem Tod dort platziert wurden. Beide wurden Opfer desselben Täters, ansonsten scheint es keine Verbindung zwischen ihnen zu geben. Detective Jane Rizzoli von der Bostoner Polizei steht vor einem Rätsel, bis eine Spur sie zu einem Jahrzehnte zurückliegenden Fall von Misshandlungen in einem katholischen Kinderhort führt …

Autorin

So gekonnt wie Tess Gerritsen vereint niemand erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, war die Autorin selbst erfolgreiche Ärztin. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit dem Thriller Die Chirurgin, und seither sind ihre Romane von den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Tess Gerritsen lebt mit ihrer Familie in Maine.

Weitere Informationen unter: www.tess-gerritsen.de

Von Tess Gerritsen bereits erschienen Gute Nacht, Peggy Sue · Kalte Herzen · Roter Engel · Trügerische Ruhe · In der Schwebe · Leichenraub · Totenlied

Die Rizzoli-&-Isles-ThrillerDie Chirurgin · Der Meister · Todsünde · Schwesternmord · Scheintot · Blutmale · Grabkammer · Totengrund · Grabesstille · Abendruh · Der Schneeleopard · BlutzeugeBesuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Tess Gerritsen

Blutzeuge

Thriller

Deutsch von Andreas Jäger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »I Know a Secret« bei Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC., New York. Copyright der Originalausgabe © 2017 by Tess Gerritsen Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München Published by Arrangement with Tess Gerritsen Inc. Dieses Werk wurde im Auftrag der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Redaktion: Gerhard Seidl Umschlaggestaltung: © www.buerosued.deUmschlagmotiv: © Francesca Perticarini/Arcangel Images; plainpicture/Demurez Cover Arts/Gary Waters WR · Herstellung: sto Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-21157-8 V007 www.limes-verlag.de

Der göttlichen Ms. Margaret Ruley

1

Als ich sieben Jahre alt war, lernte ich, wie wichtig es ist, bei Beerdigungen zu weinen. Der Mann, der an jenem Sommertag im Sarg lag, war mein Großonkel Orson, der sich vor allem durch seine stinkigen Zigarren, seinen üblen Mundgeruch und sein ungeniertes Furzen unvergesslich gemacht hatte. Zu Lebzeiten hatte er mich mehr oder weniger ignoriert, so wie ich ihn, weshalb ich auch über seinen Tod keineswegs untröstlich war. Ich sah nicht ein, warum ich zu seiner Beerdigung gehen sollte, aber das gehört nun einmal nicht zu den Dingen, die eine Siebenjährige selbst entscheiden darf. Und so rutschte ich an jenem Tag unruhig auf meinem Platz in der Kirchenbank herum, schwitzte in meinem schwarzen Kleid und langweilte mich fürchterlich. Warum hatte ich nicht zu Hause bei Daddy bleiben können? Der hatte sich schließlich kategorisch geweigert mitzukommen. Daddy sagte, er wäre ein Heuchler, wenn er so täte, als ob er um einen Mann trauerte, den er in Wirklichkeit verachtet hatte. Ich wusste nicht, was das Wort Heuchler bedeutete, aber ich ahnte, dass auch ich keiner sein wollte. Trotzdem saß ich nun da, eingeklemmt zwischen meiner Mutter und Tante Sylvia, und musste die schier endlose Reihe von stumpfsinnigen Lobreden auf den so ganz und gar nicht bemerkenswerten Onkel Orson über mich ergehen lassen. Er war stolz auf seine Unabhängigkeit! Wie leidenschaftlich er sich seinen Hobbys gewidmet hat! Ein passionierter Briefmarkensammler!

Seinen Mundgeruch erwähnte niemand.

Während des nicht enden wollenden Trauergottesdienstes vertrieb ich mir die Zeit damit, die Köpfe der Leute in der Reihe vor uns zu studieren. Mir fiel auf, dass Tante Donnas Hut mit Schuppen übersät war, dass Onkel Charlie eingenickt und sein Toupet verrutscht war. Es sah aus, als ob eine braune Ratte von seinem Kopf herunterzukrabbeln versuchte. Da tat ich, was jedes normale siebenjährige Mädchen getan hätte.

Ich prustete los.

Sofort drehten sich alle Leute zu mir um und musterten mich streng. Meine Mutter wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Sie bohrte mir fünf spitze Fingernägel in den Arm und zischte: »Sei still!«

»Aber seine Haare sind runtergerutscht! Die sehen aus wie eine Ratte!«

Ihre Nägel bohrten sich mir tiefer ins Fleisch. »Darüber reden wir später noch, Holly.«

Aber zu Hause wurde nicht darüber geredet. Stattdessen gab es eine Schimpftirade und eine Ohrfeige, und so lernte ich, wie man sich bei einer Beerdigung angemessen benimmt. Ich lernte, dass man ernst und still sein muss und dass manchmal Tränen erwartet werden.

Vier Jahre später, bei der Beerdigung meiner Mutter, achtete ich darauf, besonders laut zu schluchzen und reichlich Tränen zu vergießen, weil alle das von mir erwarteten.

Aber heute, bei der Beerdigung von Sarah Basterash, bin ich mir nicht sicher, ob irgendjemand von mir erwartet, dass ich weine. Es ist über zehn Jahre her, dass ich sie zuletzt gesehen habe – das Mädchen, das ich in der Schule als Sarah Byrne kannte. Wir standen uns nie sehr nahe, deshalb kann ich eigentlich nicht behaupten, dass ich um sie trauere. Tatsächlich bin ich nur aus Neugierde zu ihrer Beerdigung in Newport gekommen. Ich wollte wissen, wie sie gestorben ist. Ich muss wissen, wie sie gestorben ist.

So eine furchtbare Tragödie, höre ich die Leute in der Kirche murmeln. Ihr Mann war verreist, Sarah hatte etwas getrunken und war mit einer brennenden Kerze auf dem Nachttisch eingeschlafen. Das Feuer, das sie getötet hat, war ein tragischer Unfall. Zumindest behaupten das alle.

Ich will es gerne glauben.

Die kleine Kirche in Newport ist bis auf den letzten Platz gefüllt mit all den Freunden und Bekannten, die Sarah in ihrem kurzen Leben begleitet haben. Die meisten habe ich nie kennengelernt. Auch Kevin, ihren Mann, sehe ich heute zum ersten Mal. Unter glücklicheren Umständen wäre er ein ziemlich attraktiver Mann, ein Typ, der durchaus in mein Beuteschema fällt, aber heute wirkt er völlig aufgelöst. Ist es das, was Trauer mit einem macht?

Ich sehe mich in der Kirche um und erblicke in der Reihe hinter mir Kathy, eine alte Klassenkameradin aus der Highschool. Ihre Augen sind verquollen, die Wimperntusche vom Weinen verschmiert. Fast alle Frauen und viele der Männer weinen, weil jetzt eine Sopranistin das alte Quäkerlied »Simple Gifts« singt, das anscheinend eine unfehlbare Wirkung auf die Tränendrüsen hat. Dann treffen sich unsere Blicke – der ihre tränenverschleiert, der meine kühl und ungerührt. Seit der Highschool habe ich mich sehr verändert, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich erkennt. Trotzdem starrt sie mich mit großen Augen an, als ob sie einem Geist begegnet wäre.

Ich drehe mich wieder nach vorn.

Als dann die letzten Töne von »Simple Gifts« verklingen, gelingt es sogar mir, ein paar Tränen zu vergießen.

Ich reihe mich in die lange Schlange von Trauergästen ein, die der Verstorbenen die letzte Ehre erweisen, und als ich an dem geschlossenen Sarg vorbeikomme, betrachte ich das Foto von Sarah auf der Staffelei. Sie war erst sechsundzwanzig, vier Jahre jünger als ich, und auf dem Foto sieht sie taufrisch aus, lächelnd und mit rosigen Wangen, genau die hübsche Blondine, die ich aus unserer Schulzeit in Erinnerung habe, als ich das Mädchen war, das von allen übersehen wurde, das Phantom, das immer ein wenig abseits stand. Und jetzt stehe ich hier, meine Haut immer noch warm und von Leben durchpulst, während Sarah, die hübsche kleine Sarah, nur noch ein Haufen verkohlte Knochen in einer Holzkiste ist. Ich bin mir sicher, dass alle hier das Gleiche denken, wenn sie das Bild der lebendigen Sarah betrachten – sie sehen das lächelnde Gesicht auf dem Foto und stellen sich dabei das verbrannte Fleisch vor, den schwarz verkohlten Schädel.

Die Schlange rückt vor, und ich spreche Kevin mein Beileid aus.

Er murmelt: »Danke, dass Sie gekommen sind.« Er hat keine Ahnung, wer ich bin oder woher ich Sarah kenne, aber er sieht meine tränenfeuchten Wangen und dankt mir mit einem Händedruck. Ich habe um seine tote Frau geweint, und das reicht, um diese Prüfung zu bestehen.

Ich trete aus der Kirche in den kalten Novemberwind und schreite zügig aus, denn ich möchte nicht, dass mir Kathy oder andere Bekannte aus meiner Kinderzeit auflauern. In alle den Jahren ist es mir stets gelungen, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Oder vielleicht gehen sie mir aus dem Weg.

Es ist erst 14 Uhr, und obwohl mein Chef bei Booksmart Media mir den ganzen Tag freigegeben hat, überlege ich, ob ich nicht ins Büro zurückgehen und noch ein paar E-Mails und Telefonate erledigen soll. Ich arbeite als Agentin für ein Dutzend Autorinnen und Autoren, und ich habe Publicity-Auftritte zu organisieren, Druckfahnen zu verschicken und Werbetexte zu schreiben. Aber bevor ich mich auf den Weg zurück nach Boston mache, muss ich noch einen Zwischenstopp einlegen.

Ich fahre zu Sarahs Haus – oder vielmehr zu dem, was von dem Haus übrig ist. Jetzt sind da nur noch verbrannte Trümmerteile, verkohlte Balken und rußgeschwärzte Steine zu sehen. Der weiße Lattenzaun, der den Vorgarten umschloss, liegt zersplittert am Boden, plattgemacht von den Feuerwehrleuten, als sie ihre Schläuche und Leitern von der Straße herbeischleppten. Als die Löschfahrzeuge eintrafen, muss das Haus schon ein flammendes Inferno gewesen sein.

Ich steige aus und gehe auf die Ruine zu. Die Luft ist immer noch vom stechenden Rauchgeruch geschwängert. Als ich dort auf dem Gehweg stehe, kann ich den schwachen Schimmer eines Edelstahlkühlschranks ausmachen, der unter dem schwarzen Trümmerhaufen vergraben ist. Ich muss mich nur einmal in dieser edlen Wohngegend von Newport umsehen, um zu wissen, dass dies eine Luxusbleibe gewesen sein muss, und ich frage mich, in welcher Branche Sarahs Mann wohl arbeitet, oder ob seine Familie begütert ist. Ein Vorteil, den ich bestimmt nie hatte.

Ein Windstoß wirbelt welkes Laub um meine Füße, und das trockene Rascheln weckt Erinnerungen an einen anderen Herbsttag vor zwanzig Jahren, als ich zehn Jahre alt war und durch das dürre Laub in einem Wald stapfte. Dieser Tag wirft immer noch seinen Schatten über mein Leben, und er ist der Grund, weshalb ich heute hier stehe.

Ich blicke auf die improvisierte Gedenkstätte für Sarah, die hier entstanden ist. Die Menschen haben Blumen niedergelegt, und ich betrachte den Berg von verwelkten Rosen, Lilien und Nelken, dargebracht als letzten Gruß für eine Frau, die offensichtlich von vielen geliebt wurde. Plötzlich fällt mein Blick auf etwas Grünes, das nicht zu einem der Sträuße und Gestecke gehört, sondern über die anderen Blumen drapiert wurde wie ein nachträglicher Einfall.

Ein Palmzweig. Das Symbol der Märtyrer.

Es läuft mir eiskalt über den Rücken, und ich weiche zurück. Das Hämmern meines Herzens wird vom Motorgeräusch eines Autos übertönt. Ich drehe mich um und erblicke einen Streifenwagen der Polizei von Newport, der auf Schritttempo abbremst. Die Fenster sind geschlossen, und ich kann das Gesicht des Beamten nicht erkennen, doch ich weiß, dass er mich im Vorbeifahren lange und gründlich mustert. Ich wende mich ab und steige wieder in meinen Wagen.

Dort sitze ich eine Weile und warte, bis mein Herzschlag sich beruhigt hat und meine Hände nicht mehr zittern. Wieder fällt mein Blick auf die Ruine des Hauses, und wieder sehe ich die sechsjährige Sarah vor mir. Die hübsche kleine Sarah Byrne, wie sie im Schulbus auf dem Sitz vor mir herumhüpft. Damals waren wir zu fünft im Bus.

Jetzt sind nur noch vier von uns übrig.

»Mach’s gut, Sarah«, murmele ich. Dann starte ich den Wagen und fahre zurück nach Boston.

2

Auch Monster sind sterblich.

Die Frau, die auf der anderen Seite der Scheibe im Bett lag, mochte genauso menschlich aussehen wie all die anderen Patienten auf dieser Intensivstation, aber Dr. Maura Isles wusste nur zu gut, dass Amalthea Lank in der Tat ein Monster war. Dort, nur durch eine Glasscheibe von ihr getrennt, war die Kreatur, die Maura in ihren Albträumen verfolgte, die einen Schatten über Mauras Vergangenheit warf und deren Gesicht Mauras Zukunft vorhersagte.

Da liegt meine Mutter.

»Wir hatten gehört, dass Mrs. Lank eine Tochter hat, aber uns war nicht bewusst, dass Sie hier in Boston ganz in der Nähe wohnen«, sagte Dr. Wang.

Hörte sie da einen Anflug von Kritik in seiner Stimme? Warf er ihr etwa vor, dass sie ihre Tochterpflichten vernachlässigt und es versäumt hatte, ihre im Sterben liegende Mutter zu besuchen?

»Sie ist meine biologische Mutter«, sagte Maura, »aber ich war noch ein Säugling, als sie mich zur Adoption freigab. Ich habe erst vor ein paar Jahren von ihrer Existenz erfahren.«

»Aber Sie sind ihr schon einmal begegnet?«

»Ja, aber ich habe nicht mehr mit ihr gesprochen, seit …« Maura hielt inne. Seit ich mir geschworen habe, dass ich nichts mehr mit ihr zu tun haben will. »Ich wusste nicht, dass sie auf der Intensivstation liegt, bis die Schwester mich heute Nachmittag anrief.«

»Sie wurde vor zwei Tagen hier eingeliefert, nachdem sie Fieber bekommen hatte und ihre Leukozyten in den Keller gingen.«

»Wie niedrig sind sie?«

»Ihre Neutrophilen – das ist ein spezieller Typ von weißen Blutkörperchen – liegen gerade mal bei fünfhundert. Es sollten drei Mal so viele sein.«

»Ich nehme an, Sie haben eine empirische Antibiotikatherapie eingeleitet?« Sie sah das verblüffte Blinzeln ihres Gegenübers und fügte hinzu: »Entschuldigen Sie, Dr. Wang. Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass ich Ärztin bin. Ich arbeite am rechtsmedizinischen Institut.«

»Oh, das wusste ich nicht.« Er räusperte sich und wechselte sofort zu dem technischen Jargon, der ihnen beiden als Mediziner vertraut war. »Ja, wir haben mit den Antibiotika begonnen, gleich nachdem wir Blutkulturen angelegt hatten. Ungefähr fünf Prozent der Patienten mit ihrem Chemotherapieschema entwickeln eine fiebrige Neutropenie.«

»Welche Chemo bekommt sie?«

»Folfirinox. Das ist eine Kombination von vier Medikamenten, darunter Fluoruracil und Leukovorin. Laut einer französischen Studie verlängert Folfirinox eindeutig die Lebenserwartung bei Patienten mit metastasierendem Pankreaskarzinom, aber wegen des Risikos von Fieberschüben müssen sie engmaschig überwacht werden. Zum Glück hatte die Gefängniskrankenschwester alles im Griff.« Er hielt inne und schien zu überlegen, wie er die heikle Frage formulieren sollte. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Sie das frage …«

»Ja?«

Er wandte den Blick ab, offenbar war es ihm unangenehm, dieses Thema anzuschneiden. Es war viel einfacher, über Blutwerte, Antibiotikatherapien und wissenschaftliche Daten zu sprechen, denn Fakten waren weder gut noch böse; da gab es nichts zu bewerten oder zu verurteilen. »In Mrs. Lanks Krankenakte aus Framingham steht nicht, weshalb sie inhaftiert ist. Man hat uns lediglich darüber informiert, dass sie eine lebenslange Haftstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung verbüßt. Der Aufseher, der mit ihrer Bewachung betraut war, hat darauf bestanden, dass seine Gefangene stets mit Handschellen ans Bettgestell gefesselt sein muss, was mir ziemlich barbarisch erscheint.«

»Das ist nun mal Vorschrift, wenn Gefangene ins Krankenhaus eingeliefert werden.«

»Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium, und jeder kann sehen, wie gebrechlich sie ist. Sie wird ganz bestimmt nicht aufspringen und davonlaufen. Aber der Aufseher sagte uns, sie sei wesentlich gefährlicher, als sie aussieht.«

»Das ist sie«, bestätigte Maura.

»Weswegen wurde sie verurteilt?«

»Mord. In mehreren Fällen.«

Er starrte Amalthea durch das Sichtfenster an. »Diese Dame?«

»Jetzt wissen Sie, wozu die Handschellen nötig sind. Und warum vor ihrem Zimmer eine Wache postiert ist.« Mauras Blick ging zu dem uniformierten Beamten, der neben der Tür saß und ihr Gespräch aufmerksam verfolgte.

»Es tut mir leid«, sagte Dr. Wang. »Es muss sehr schwierig für Sie sein zu wissen, dass Ihre Mutter …«

»Eine Mörderin ist? Oh ja.« Und Sie wissen noch nicht einmal das Schlimmste. Sie kennen den Rest meiner Familie nicht.

Durch die Scheibe beobachtete Maura, wie Amalthea langsam die Augen aufschlug. Ein knochiger Finger, dürr wie eine Teufelsklaue, winkte sie herbei, eine Geste, bei der es Maura eiskalt überlief. Ich sollte mich umdrehen und gehen, dachte sie. Amalthea hatte weder Mitleid noch Zuwendung verdient. Aber Maura konnte nicht leugnen, dass es eine Verbindung zwischen ihr und dieser Frau gab, eine Verbindung, die bis in ihre Moleküle hineinreichte. Amalthea Lank war ihre Mutter, wenn auch nur in genetischer Hinsicht.

Der Wachmann behielt Maura genau im Auge, als sie Schutzkittel und Maske anlegte. Dies würde kein privater Besuch werden – der Aufseher würde jeden Blick registrieren, den sie tauschten, jede Geste; und die unvermeidlichen Gerüchte würden mit Sicherheit im Krankenhaus die Runde machen. Dr. Maura Isles, die Rechtsmedizinerin aus Boston, deren Skalpell zahllose Leichen aufgeschnitten hatte und die regelmäßig dort auftauchte, wo der Sensenmann Ernte gehalten hatte – diese Dr. Isles war die Tochter einer Serienmörderin. Der Tod war ihr Familiengeschäft.

Mit Augen so schwarz wie Obsidian blickte Amalthea zu Maura auf. Ein leises Zischen kam von ihrer Sauerstoffnasenbrille, und der Monitor über dem Bett zeichnete piepsend ihren Herzrhythmus auf. Der Beweis, dass selbst eine eiskalte Killerin wie Amalthea ein Herz hatte.

»Du kommst mich doch noch besuchen«, flüsterte Amalthea. »Nachdem du geschworen hast, dass du das niemals tun würdest.«

»Man hat mir gesagt, du seist schwer krank. Es ist vielleicht unsere letzte Gelegenheit für eine Aussprache, und ich wollte dich sehen, solange es noch möglich ist.«

»Weil du etwas von mir brauchst?«

Maura schüttelte ungläubig den Kopf. »Was sollte ich von dir brauchen?«

»Das ist nun einmal der Lauf der Welt. Jedes vernünftige Wesen sucht seinen Vorteil. Alles, was wir tun, tun wir aus Eigennutz.«

»Das gilt vielleicht für dich. Aber nicht für mich.«

»Warum bist du dann gekommen?«

»Weil du im Sterben liegst. Weil du mir immer wieder geschrieben und mich gebeten hast, dich zu besuchen. Weil ich mir einbilde, dass ich nicht ganz ohne Mitgefühl bin.«

»Im Gegensatz zu mir.«

»Was glaubst du, warum du mit Handschellen an dieses Bett gefesselt bist?«

Amalthea verzog das Gesicht, schloss die Augen und presste die Lippen zusammen, als ein jäher Schmerz sie durchzuckte. »Ich nehme an, dass ich das verdient habe«, murmelte sie. Schweiß glänzte auf ihrer Oberlippe, und einen Moment lang lag sie vollkommen reglos da, als ob jede Bewegung, jeder Atemzug eine unerträgliche Qual bedeutete. Als Maura sie das letzte Mal gesehen hatte, war Amaltheas schwarzes Haar dicht und von zahlreichen silbergrauen Strähnen durchsetzt gewesen. Jetzt verloren sich nur noch einige wenige Büschel auf ihrem Schädel, die letzten Überlebenden eines brutalen Chemotherapiezyklus. Das Fleisch an ihren Schläfen hatte sich zurückgebildet, und die Haut hing wie ein zusammengefallenes Zelt über den spitzen Knochen ihres Gesichts.

»Du siehst aus, als ob du Schmerzen hättest. Brauchst du Morphium?«, fragte Maura. »Ich rufe die Schwester.«

»Nein.« Amalthea ließ langsam die angehaltene Luft entweichen. »Noch nicht. Ich muss wach sein. Ich muss mit dir reden.«

»Worüber?«

»Über dich, Maura. Darüber, wer du bist.«

»Ich weiß, wer ich bin.«

»Weißt du das wirklich?« Amaltheas Augen waren dunkel und unergründlich. »Du bist meine Tochter. Das kannst du nicht leugnen.«

»Aber ich bin völlig anders als du.«

»Weil du von dem netten und anständigen Ehepaar Isles in San Francisco aufgezogen wurdest? Weil du auf die besten Schulen und Universitäten gegangen bist? Weil du im Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit arbeitest?«

»Weil ich nicht zwei Dutzend Frauen abgeschlachtet habe. Oder waren es mehr? Gab es noch weitere Opfer, die auf der Liste deiner Verbrechen nicht vermerkt waren?«

»Das ist alles in der Vergangenheit passiert. Ich will über die Zukunft reden.«

»Wozu soll das gut sein? Du wirst nicht mehr da sein.« Es war eine herzlose Bemerkung, aber Maura war nun einmal nicht in gnädiger Stimmung. Plötzlich kam sie sich manipuliert vor, hergelockt von einer Frau, die genau wusste, welche Knöpfe sie drücken musste. Über Monate hinweg hatte Amalthea ihr Briefe geschickt. Ich habe Krebs im Endstadium. Ich bin Deine einzige Blutsverwandte. Das wird Deine letzte Gelegenheit sein, Abschied zu nehmen. Nur wenige Worte waren wirkungsvoller als diese: die letzte Gelegenheit. Wenn sie diese Chance verstreichen ließe, würde sie es vielleicht bis an ihr Lebensende bedauern.

»Ja, ich werde tot sein«, sagte Amalthea nüchtern. »Und du wirst dich weiter fragen müssen, wer deine Leute sind.«

»Meine Leute?« Maura lachte. »Das klingt ja, als ob wir irgendein Stamm wären.«

»Das sind wir. Wir gehören zu einem Stamm, der von den Toten profitiert. Dein Vater und ich haben es getan. Dein Bruder hat es getan. Und ist es nicht ironisch, dass du es auch tust? Frag dich doch einmal, Maura, warum du diesen Beruf gewählt hast. Eine so sonderbare Art, sein Geld zu verdienen. Warum bist du nicht Lehrerin oder Bankerin geworden? Was treibt dich dazu, Leichen aufzuschneiden?«

»Es geht mir um die Wissenschaft. Ich will verstehen, warum sie gestorben sind.«

»Natürlich. Die intellektuelle Antwort.«

»Gibt es eine bessere?«

»Es ist die Dunkelheit. Das ist es, was wir beide gemeinsam haben. Der Unterschied ist, dass ich keine Angst davor habe, im Gegensatz zu dir. Du gehst mit deiner Angst um, indem du sie mit Skalpellen aufschneidest in der Hoffnung, ihre Geheimnisse zu enthüllen. Aber das funktioniert nicht, oder? Es löst nicht dein grundsätzliches Problem.«

»Welches wäre?«

»Dass sie in dir ist. Die Dunkelheit ist ein Teil von dir.«

Maura sah ihrer Mutter in die Augen, und was sie dort sah, ließ ihre Kehle schlagartig austrocknen. Du lieber Gott, ich sehe mich selbst. Sie wich zurück. »Ich bin hier fertig. Du hast mich gebeten zu kommen, und ich bin gekommen. Schreib mir keine Briefe mehr, denn ich werde sie nicht beantworten.« Sie wandte sich ab. »Leb wohl, Amalthea.«

»Du bist nicht die Einzige, der ich schreibe.«

Maura hielt inne, die Hand schon an der Türklinke.

»Mir kommt so manches zu Ohren. Dinge, die du vielleicht wissen möchtest.« Sie schloss die Augen und seufzte. »Es scheint dich nicht zu interessieren, aber das wird es schon noch. Denn ihr werdet bald wieder eine finden.«

Eine was?

Maura war schon im Begriff hinauszugehen, doch etwas hielt sie noch zurück, und sie musste dagegen ankämpfen, sich wieder in das Gespräch hineinziehen zu lassen. Nicht antworten, dachte sie. Lass dich nicht von ihr in die Falle locken.

Es war ihr Handy, das sie rettete, als es sich mit seinem tiefen Brummen in ihrer Tasche meldete. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie aus dem Zimmer, riss sich die Gesichtsmaske herunter und tastete unter dem Schutzkittel nach dem Telefon. »Dr. Isles«, meldete sie sich.

»Ich hab ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk für dich«, sagte Detective Jane Rizzoli in einem forsch-fröhlichen Ton, der so gar nicht zu der Nachricht passte, die sie loswerden wollte. »Weiblich, weiß, sechsundzwanzig Jahre. Liegt tot im Bett, vollständig bekleidet.«

»Wo?«

»Wir sind im Leather District. Es ist ein Loft in der Utica Street. Ich bin ja so gespannt, was du dazu sagen wirst.«

»Du sagst, sie liegt im Bett? In ihrem eigenen?«

»Genau. Ihr Vater hat sie gefunden.«

»Und es handelt sich eindeutig um ein Tötungsdelikt?«

»Kein Zweifel. Aber es ist das, was danach mit ihr passiert ist, was unseren guten Frost hier total fertigmacht.« Jane hielt inne und fügte leise hinzu: »Wenigstens hoffe ich, dass sie tot war, als es passierte.«

Durch das Sichtfenster konnte Maura sehen, dass Amalthea das Gespräch verfolgte, ihre Augen hellwach und interessiert. Kein Wunder – der Tod war schließlich ihr Familiengeschäft.

»Wie schnell kannst du hier sein?«, fragte Jane.

»Ich bin gerade in Framingham. Es könnte eine Weile dauern – kommt auf den Verkehr an.«

»Framingham? Was tust du denn da?«

Es war ein Thema, über das Maura lieber nicht sprechen wollte, ganz bestimmt nicht mit Jane. »Ich fahre jetzt los«, sagte sie nur und legte auf. Ihr Blick fiel auf ihre todkranke Mutter. Ich bin hier fertig, dachte sie. Jetzt muss ich dich nie wiedersehen.

Amaltheas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

3

Es war schon dunkel, als Maura in Boston ankam. Ein schneidender Wind hatte die meisten Fußgänger in den Häusern Zuflucht nehmen lassen. Die schmale Utica Street war bereits mit Einsatzfahrzeugen zugestellt, also parkte sie um die Ecke und blieb noch eine Weile sitzen, um den Blick über die menschenleere Straße schweifen zu lassen. Die letzten Tage hatten zuerst Schnee gebracht, dann Tauwetter und schließlich diese bittere Kälte. Der Gehweg war mit einer tückisch glänzenden Eisschicht überzogen. Zeit, an die Arbeit zu gehen und Amalthea hinter mir zu lassen, dachte sie. Genau diesen Rat hatte Jane ihr schon vor Monaten gegeben: Besuch Amalthea nicht; denk nicht mal an sie. Soll sie doch im Gefängnis verrotten.

Jetzt ist es aus und überstanden, dachte Maura. Ich habe mich verabschiedet, und jetzt kann sie mir endlich nicht mehr in mein Leben hineinpfuschen.

Sie stieg aus ihrem Lexus. Sogleich erfasste der Wind den Saum ihres langen schwarzen Mantels, und die Kälte drang glatt durch den Stoff ihrer Wollhose. Sie ging so schnell, wie sie es auf dem vereisten Gehweg eben wagte, vorbei an einem Café und einem Reisebüro mit heruntergelassenen Rollläden, und bog um die Ecke in die Utica Street, die sich wie eine enge Schlucht zwischen den Lagerhäusern aus rotem Backstein hindurchzog. Früher war dies ein Viertel mit Gerbereien, Lederfabriken und Großhändlern gewesen, doch viele der Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert waren in Loftwohnungen umgewandelt worden, und das einstige Industriegebiet war heute ein angesagtes Künstlerviertel.

Maura umkurvte einen Haufen Bauschutt, der die halbe Straße versperrte, und erblickte das flackernde Blaulicht eines Streifenwagens, wie ein unheilvolles Leuchtfeuer, das ihr den Weg wies. Durch die Windschutzscheibe konnte sie die Silhouetten der beiden Streifenbeamten sehen. Sie hatten den Motor laufen lassen, um den Wagen heizen zu können. Als Maura näher kam, wurde ein Fenster heruntergelassen.

4

Von meinem Platz im Café aus beobachte ich die zwei Frauen, die direkt vor dem Fenster miteinander reden. Ich erkenne sie beide wieder, denn ich habe im Fernsehen Interviews mit ihnen gesehen und in der Zeitung über sie gelesen, und meistens ging es dabei um Mord. Die mit den widerspenstigen dunklen Haaren ist Detective beim Morddezernat, und die große Frau in dem langen, eleganten Mantel ist Rechtsmedizinerin. Ich kann nicht hören, was sie sagen, aber ich kann ihre Körpersprache lesen. Die Polizistin gestikuliert aggressiv, die Ärztin versucht, ihr auszuweichen.

Abrupt macht die Kriminalpolizistin kehrt und stürmt davon. Die Ärztin verharrt einen Moment lang reglos, als ob sie überlegt, der anderen hinterherzugehen. Dann schüttelt sie resigniert den Kopf, steigt in einen schnittigen schwarzen Lexus und fährt davon.

Worüber die beiden wohl gestritten haben?

Ich weiß schon, was sie an diesem bitterkalten Abend hierher geführt hat. Vor einer Stunde habe ich es in den Nachrichten gehört: In der Utica Street ist eine junge Frau ermordet worden. In derselben Straße, in der Cassandra Coyle wohnt.

Ich spähe hinüber zur Einmündung der Utica, doch außer dem Blaulicht der Streifenwagen ist da nichts zu erkennen. Ist es Cassandras Leiche, die jetzt dort liegt, oder die einer anderen Unglücklichen? Ich habe Cassie seit der Middleschool nicht mehr gesehen, und ich frage mich, ob ich sie überhaupt wiedererkennen würde. Ganz bestimmt würde sie mich nicht wiedererkennen, die neue Holly, die jetzt aufrecht dasteht und ihrem Gegenüber in die Augen blickt, die sich nicht mehr im Hintergrund herumdrückt und ihre glücklicheren Geschlechtsgenossinnen beneidet. Die Jahre haben mein Selbstbewusstsein gestärkt und mein Modebewusstsein verfeinert. Mein schwarzes Haar ist jetzt zu einem eleganten Bob geschnitten, ich habe gelernt, in High Heels zu gehen, und ich trage eine Zweihundert-Dollar-Bluse, die ich geschickterweise um fünfundsiebzig Prozent heruntergesetzt ergattert habe. Wenn man als PR-Agentin sein Geld verdient, lernt man schnell, dass es auf Äußerlichkeiten ankommt, und so habe ich mich angepasst.

»Was ist da draußen los? Wissen Sie etwas?«, fragt eine Stimme.

Der Mann ist so urplötzlich an meiner Seite aufgetaucht, dass ich überrascht zusammenzucke. Normalerweise bekomme ich immer mit, was in meiner Nähe vor sich geht, aber ich war so auf den Polizeieinsatz draußen vor dem Café konzentriert, dass ich nicht gemerkt habe, wie er an mich herantrat. Ein scharfer Typ, ist mein erster Gedanke, als ich ihn anschaue. Er ist ein paar Jahre älter als ich, Mitte dreißig, schlank und sportlich gebaut, blaue Augen, weizenblondes Haar. Ich ziehe ein paar Punkte ab, weil er einen Latte in der Hand hat, wo doch echte Männer um diese späte Stunde nur Espresso trinken. Aber wegen seiner umwerfenden blauen Augen bin ich bereit, diesen Schönheitsfehler zu übersehen. Sie sind im Moment nicht auf mich gerichtet, sondern auf das Geschehen vor dem Fenster. Auf all die Einsatzfahrzeuge, die sich in der Straße versammelt haben, in der Cassandra Coyle wohnt.

Oder wohnte.

»Die ganzen Polizeiautos da draußen«, sagt er. »Ich frag mich, was da passiert ist.«

»Etwas Schlimmes.«

Er zeigt auf einen Übertragungswagen. »Sehen Sie mal, Channel Six ist auch schon da.«

Eine Weile sitzen wir nur da, nippen an unseren Drinks und verfolgen die Ereignisse draußen auf der Straße. Jetzt trifft ein weiterer Übertragungswagen ein, und mehrere andere Cafégäste streben zum Fenster hin. Ich spüre, wie sie sich von allen Seiten nähern und sich vordrängeln, um besser sehen zu können. Der bloße Anblick eines Polizeiautos kann uns abgestumpfte Bostoner normalerweise nicht aus der Ruhe bringen, aber wenn die Fernsehkameras anrollen, stellen wir unsere Antennen auf Empfang, weil wir wissen, dass es um mehr geht als um einen Blechschaden oder ein Parkvergehen. Dann ist wirklich etwas Berichtenswertes passiert.

Wie um unsere Ahnungen zu bestätigen, rollt jetzt der weiße Lieferwagen der Rechtsmedizin in unser Blickfeld. Ist er gekommen, um Cassandra oder ein anderes unglückliches Opfer abzuholen? Beim Anblick des Wagens schießt mein Puls plötzlich in die Höhe. Lass es nicht sie sein, denke ich. Lass es eine andere Frau sein, eine, die ich nicht kenne.

»Oh-oh, die Rechtsmedizin«, sagte Mr. Blue Eyes zu mir. »Das lässt nichts Gutes ahnen.«

»Hat irgendjemand gesehen, was passiert ist?«, fragt eine Frau.

»Nur, dass ein Haufen Polizei angerückt ist.«

»Hat jemand Schüsse oder so was gehört?«

»Sie waren zuerst hier«, sagt Mr. Blue Eyes zu mir. »Was haben Sie gesehen?«

Alles schaut in meine Richtung. »Die Polizeiautos waren schon hier, als ich kam. Es muss schon vor einer Weile passiert sein.«

Die anderen stehen da und gaffen, hypnotisiert vom flackernden Blaulicht. Mr. Blue Eyes nimmt auf dem Hocker direkt neben mir Platz und schüttet Zucker in seinen unpassenden Abendkaffee. Ich frage mich, ob er diesen Platz gewählt hat, weil er das Geschehen draußen aus der ersten Reihe verfolgen will oder weil er einfach nur nett sein will. Gegen Letzteres hätte ich nichts einzuwenden. Im Gegenteil, ich spüre schon ein elektrisierendes Kribbeln im Oberschenkel, die automatische Reaktion meines Körpers auf seinen. Ich bin nicht hergekommen, weil ich Anschluss suche, aber es ist schon eine Weile her, dass ich die intime Zuwendung eines Mannes genossen habe. Über einen Monat, wenn man den Handjob zwischen Tür und Angel mit dem Hoteldiener vom Colonnade letzte Woche nicht mitrechnet.

»Und? Wohnen Sie hier in der Nähe?«, fragt er. Eine vielversprechende Eröffnung, wenngleich nicht allzu originell.

»Nein. Und Sie?«

»Ich wohne in der Back Bay. Ich wollte mich mit ein paar Freunden bei dem Italiener hier in der Straße treffen, aber ich bin viel zu früh dran. Da dachte ich mir, ich gönne mir hier noch rasch einen Kaffee.«

»Ich wohne im North End. Ich wollte mich auch mit Freunden hier treffen, aber sie haben in letzter Minute abgesagt.« Wie leicht mir die Lüge über die Lippen geht. Und er hat keinen Grund, an meinen Worten zu zweifeln. Die meisten Menschen gehen automatisch davon aus, dass man die Wahrheit sagt, was das Leben für Leute wie mich so viel einfacher macht. Ich schüttle ihm die Hand, eine Geste, die Männer bei Frauen eher irritiert, aber ich will möglichst früh klare Verhältnisse schaffen. Er soll wissen, dass dies eine Begegnung auf Augenhöhe ist.

Eine Weile sitzen wir in einträchtigem Schweigen da, trinken unseren Kaffee und beobachten die Aktivitäten draußen auf der Straße. Polizeiliche Ermittlungen sind in der Regel für den Außenstehenden nicht sonderlich spannend. Man sieht nur Fahrzeuge kommen und wegfahren und uniformierte Menschen in Häuser gehen und wieder herauskommen. Was drinnen vor sich geht, bekommt man nicht mit. Man kann nur mutmaßen, um welche Art von Situation es sich handeln könnte, je nachdem welches Personal zum Einsatz anrückt. Die Mienen der Polizisten, die ich hier sehe, sind gelassen, ja geradezu gelangweilt. Was immer in der Utica Street passiert ist, es ist schon einige Stunden her, und die Ermittler sind nur noch damit beschäftigt, die Puzzleteile zusammenzusetzen.

Da es nichts Interessantes zu sehen gibt, verstreuen sich die anderen Cafégäste nach und nach wieder, und ich bleibe allein mit Mr. Blue Eyes an der Fenstertheke zurück.

»Dann werden wir wohl erst aus den Nachrichten erfahren, was passiert ist«, sagt er.

»Es ist ein Mord.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe vor ein paar Minuten da draußen jemanden vom Morddezernat gesehen.«

»Ist er reingekommen und hat sich vorgestellt?«

»Es ist eine Sie. An ihren Namen kann ich mich nicht erinnern, aber ich habe sie im Fernsehen gesehen. Die Tatsache, dass sie eine Frau ist, finde ich interessant. Ich frage mich, warum sie sich für diesen Beruf entschieden hat.«

Er betrachtet mich eingehender. »Verfolgen Sie etwa die Nachrichten über solche Dinge? Über Morde?«

»Nein, ich habe nur ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Aber bei Namen bin ich furchtbar.«

»Wo wir gerade beim Thema Namen sind – meiner ist Everett.« Er lächelt, und um seine Augen bilden sich reizende Lachfältchen. »Jetzt dürfen Sie ihn gleich wieder vergessen.«

»Und wenn ich ihn gar nicht vergessen will?«

»Dann darf ich das hoffentlich als Kompliment auffassen.«

Ich überlege, was zwischen uns passieren könnte. Als ich ihm in die Augen schaue, weiß ich plötzlich ganz genau, was ich will: Ich will, dass wir in seine Wohnung in der Back Bay fahren. Anstatt Kaffee genehmigen wir uns ein paar Gläser Wein. Und dann fallen wir übereinander her und treiben es die ganze Nacht wie die Karnickel. Zu schade, dass er mit seinen Freunden hier in der Nähe zum Essen verabredet ist. Ich bin absolut nicht daran interessiert, seine Freunde kennenzulernen, und ich werde keine Zeit damit verschwenden, neben dem Telefon zu hocken und auf seinen Anruf zu warten, also nehme ich mal an, dass es bei diesem netten Plausch bleiben wird. Manchmal soll es einfach nicht sein, auch wenn man es gerne hätte.

Ich leere meine Kaffeetasse und rutsche vom Hocker. »War nett, Sie kennenzulernen, Everett.«

»Ah. Sie haben sich meinen Namen gemerkt.«

»Ich hoffe, Sie haben einen schönen Abend mit Ihren Freunden.«

»Und wenn ich keine Lust habe, mit meinen Freunden essen zu gehen?«

»Sind Sie nicht deswegen hier in der Gegend?«

»Pläne können sich ändern. Ich kann meine Freunde anrufen und ihnen sagen, dass ich kurzfristig woanders sein muss.«

»Und wo könnte das sein?«

Er erhebt sich auch, und jetzt stehen wir uns Auge in Auge gegenüber. Das Prickeln in meinem Bein breitet sich in warmen, köstlichen Wellen in mein Becken aus, und schlagartig verschwende ich keinen Gedanken mehr an Cassandra und die Frage, was ihr Tod bedeuten könnte. Meine ganze Aufmerksamkeit ist auf diesen Mann fixiert und auf das, was zwischen uns passieren könnte.

»Zu mir oder zu dir?«, fragt er.

5

Amber Voorhees hatte blondes Haar mit violetten Strähnchen und glänzend schwarz lackierte Fingernägel, aber es war das Nasenpiercing, das Jane am meisten irritierte. Während Amber schluchzte, hingen Rotzfäden an dem goldenen Ring, und sie tupfte immer wieder vorsichtig mit einem Papiertaschentuch daran herum, um die Tropfen aufzufangen. Ihre Kollegen Travis Chang und Ben Farney weinten nicht, wirkten aber nicht minder geschockt und am Boden zerstört angesichts der Nachricht von Cassandra Coyles Tod. Die drei Filmemacher trugen alle T-Shirts, Kapuzenpullis und zerrissene Jeans, die Uniform der jungen Hipster, und sie sahen alle aus, als hätten sie sich seit Tagen nicht mehr gekämmt. Und nach dem muffigen Umkleideraumgeruch im Studio zu urteilen hatten sie auch seit Tagen nicht mehr geduscht. Jede horizontale Fläche im Raum war mit Pizzakartons, leeren Energydrinkdosen und verstreuten Drehbuchseiten bedeckt. Auf dem Videomonitor lief eine Szene aus ihrem aktuellen Projekt: Ein blonder Teenager strauchelte schluchzend durch einen finsteren Wald, auf der Flucht vor der schattenhaften Gestalt eines gnadenlosen Killers.

Travis drehte sich abrupt zum Computer um und hielt das Video an. Das Bild des Mörders erstarrte auf dem Monitor, eine ominöse Silhouette, eingerahmt von Baumstämmen. »Scheiße«, stöhnte Travis. »Ich kann’s nicht glauben. Ich kann’s verdammt noch mal nicht glauben.«

Amber schlang die Arme um Travis, worauf der junge Mann aufschluchzte. Jetzt trat auch noch Ben dazu, und so hielten die drei Filmemacher sich eine Weile schweigend im Arm, während im Hintergrund der Computerbildschirm leuchtete.

Janes Blick ging zu Frost, und sie sah eine Träne in seinem Auge schimmern, die er rasch wegblinzelte. Kummer war ansteckend, und auch Frost war dagegen nicht immun, obwohl er im Lauf der Jahre schon so viele schlechte Nachrichten überbracht hatte und Zeuge geworden war, wie die Betroffenen zusammenbrachen. Polizisten waren da wie Terroristen – sie warfen verheerende Bomben in das Leben der Freunde und Angehörigen der Opfer, und dann standen sie da und betrachteten den Schaden, den sie angerichtet hatten.

Travis war der Erste, der sich aus der Umarmung löste. Er ging zu einem durchgesessenen Sofa, ließ sich auf die Polster sinken und verbarg den Kopf in den Händen. »Mein Gott, gestern war sie noch hier. Sie hat genau hier gesessen.«

»Ich wusste, dass es einen Grund gab, warum sie meine SMS nicht mehr beantwortet hat«, sagte Amber und schniefte in ihr Taschentuch. »Als von ihr nichts mehr kam, dachte ich mir, es wäre, weil sie wegen ihrem Dad so gestresst war.«

»Wann hat sie aufgehört, SMS zu schicken?«, fragte Jane. »Können Sie in Ihrem Handy nachsehen?«

Amber stöberte unter den verstreuten Drehbuchseiten herum und fand schließlich ihr Smartphone. Sie scrollte sich rückwärts durch ihre Nachrichten. »Ich habe ihr gestern Nacht gegen zwei Uhr geschrieben, und darauf hat sie nicht mehr geantwortet.«

»Hätten Sie denn eine Antwort von ihr erwartet, um diese Zeit?«

»Doch. In diesem Stadium des Projekts schon.«

»Wir haben Nachtschichten eingelegt«, warf Ben ein. Er ließ sich ebenfalls auf das Sofa plumpsen und rieb sich das Gesicht. »Wir waren bis drei Uhr auf und haben den Film geschnitten. Am Ende waren wir alle zu fertig, um noch nach Hause zu gehen, und da haben wir einfach hier gepennt.« Er deutete mit einem Nicken auf die zusammengerollten Schlafsäcke in der Ecke.

»Sie haben alle drei die Nacht hier verbracht?«

Ben nickte wieder. »Wir stehen schwer unter Termindruck. Cassie hätte normalerweise auch mit angepackt, aber sie musste sich erst sortieren für das Treffen mit ihrem Dad. Davor hatte sie nämlich einen ziemlichen Bammel.«

»Um wie viel Uhr ist sie gestern von hier weggegangen?«, fragte Jane.

»Vielleicht so gegen sechs?«, fragte Ben seine Kollegen, die beide nickten.

»Die Pizzas waren gerade geliefert worden«, sagte Amber. »Cassie ist nicht zum Essen geblieben. Sie sagte, sie würde sich selbst was zu essen holen, also haben wir zu dritt hier weitergearbeitet.« Sie wischte sich mit einer Hand über die Augen, und ein breiter Streifen Wimperntusche blieb auf ihrer Wange zurück. »Ich kann nicht glauben, dass wir sie da zum allerletzten Mal gesehen haben. Als sie zur Tür rausging, hat sie noch von der Party geredet, mit der wir den Picture Lock feiern wollten.«

»Picture Lock?«

»Das heißt, dass der Schnitt im Kasten ist«, erklärte Ben. »Dann ist der Film im Grunde fertig, es fehlen nur noch die Soundeffekte und die Musik. Wir sind fast so weit – vielleicht noch ein bis zwei Wochen.«

»Und noch mal zwanzig Riesen«, murmelte Travis. Er hob den Kopf, und seine schwarzen Haare standen in fettigen Büscheln ab. »Mist. Ich habe keine Ahnung, wie wir ohne Cassie so eine Summe aufbringen sollen.«

Jane sah ihn fragend an. »Hätte Cassandra das Geld beschaffen sollen?«

Die drei jungen Filmemacher wechselten Blicke, als ob sie sich nicht sicher wären, wer die Frage beantworten sollte.

»Sie wollte heute beim Lunch ihren Vater fragen«, ergriff Amber das Wort. »Deswegen war sie so gestresst. Sie hasste es, ihn um Geld angehen zu müssen. Zumal beim Lunch im Four Seasons.«

Jane sah sich im Zimmer um, sie registrierte den fleckigen Teppich, das verschlissene Sofa, die zusammengerollten Schlafsäcke. Diese Filmemacher waren alle weit über zwanzig, aber sie wirkten viel jünger – drei filmverrückte junge Leute, die immer noch wie im Studentenwohnheim hausten.

»Können Sie drei eigentlich vom Filmemachen leben?«, fragte sie.

»Davon leben?« Travis zuckte mit den Achseln, als ob die Frage keine Bedeutung hätte. »Wir machen eben Filme, darum geht es. Wir leben den Traum.«

»Und das Geld kommt von Cassandras Vater.«

»Es ist kein Geschenk. Er investiert in die Karriere seiner Tochter. Mit diesem Streifen könnte sie sich als Filmemacherin einen Namen machen, und die Story hat ihr persönlich viel bedeutet.«

Janes Blick fiel auf das Drehbuch, das auf dem Schreibtisch lag. »Mr. Simian?«

»Lassen Sie sich nicht von dem Titel täuschen, oder von der Tatsache, dass es ein Horrorfilm ist. Es ist ein ernsthaftes Projekt über ein Mädchen, das verschwindet. Der Film basiert auf einem wahren Ereignis aus ihrer Kindheit, und er wird ein viel größeres Publikum finden als unser erster.«

»Und dieser erste Film war I See You?«, fragte Frost.

Travis warf ihm einen verblüfften Blick zu. »Sie haben ihn gesehen?«

»Wir haben das Plakat gesehen. Es hängt in Cassandras Wohnung an der Wand.«

»Haben Sie …« Amber schluckte. »Haben Sie sie dort gefunden?«

»Ihr Vater hat sie dort gefunden.«

Amber schauderte und schlang die Arme um sich, als ob ihr kalt wäre. »Wie ist es passiert?«, fragte sie. »Ist jemand bei ihr eingebrochen?«

Jane beantwortete die Frage nicht, stattdessen stellte sie die nächste: »Wo waren Sie alle in den letzten vierundzwanzig Stunden?«

Die drei Filmemacher wechselten Blicke, unsicher, wer als Erstes sprechen sollte.

Travis antwortete schließlich. »Wir waren alle hier in diesem Gebäude«, sagte er langsam und betont. »Alle drei. Die ganze Nacht und den ganzen Tag.«

Die anderen zwei nickten zustimmend.

»Hören Sie, ich weiß, warum Sie uns diese Fragen stellen, Detective«, fuhr Travis fort. »Es ist Ihr Job, sie zu stellen. Aber wir kennen Cassie, seit wir alle Studenten an der NYU waren. Wenn man zusammen einen Film macht, dann schweißt einen das dermaßen zusammen, das ist … mit nichts zu vergleichen. Wir essen, schlafen und arbeiten zusammen. Okay, wir streiten uns auch mal, aber dann versöhnen wir uns wieder, weil wir eine Familie sind.« Er wies auf den Computerbildschirm, wo immer noch das Standbild des Killers zu sehen war. »Mit diesem Film werden wir den Durchbruch schaffen. Wir werden der Welt beweisen, dass man nicht irgendwelchen Studiobossen in den Arsch kriechen muss, um einen großen Film zu machen.«

»Können Sie uns sagen, was Ihre jeweiligen Aufgaben bei der Produktion von Mr. Simian waren?«, fragte Frost, der alles gewissenhaft in seinem zerfledderten Notizbuch festhielt.

»Ich bin der Regisseur«, sagte Travis.

»Und ich der Director of Photography«, sagte Ben. »Mit anderen Worten, der Kameramann.«

»Produzentin«, sagte Amber. »Ich stelle ein und entlasse, mache die Gehaltsabrechnung und sorge dafür, dass alles reibungslos abläuft.« Sie hielt inne und fügte mit einem Seufzer hinzu: »Eigentlich mache ich so ziemlich alles.«

»Und was war Cassandras Rolle?«

»Sie hat das Drehbuch geschrieben. Und sie ist die Produktionsleiterin – der wichtigste Job von allen, könnte man wohl sagen«, erklärte Travis. »Sie hat die Produktion finanziert.«

»Mit dem Geld ihres Vaters.«

»Ja, aber wir brauchen noch ein kleines bisschen mehr. Noch ein Scheck, das ist alles, worum sie ihn bitten wollte.«

Ein Scheck, den sie wahrscheinlich nie zu sehen bekämen.

Amber ließ sich neben Ben auf das Sofa sinken, und die drei saßen eine Weile schweigend da. Der ganze Raum schien nach abgestandenem Essen und geplatzten Träumen zu riechen.

Jane blickte zu dem Plakat auf, das hinter dem Sofa an der Wand hing. Es war das gleiche, das sie in Cassandras Wohnung gesehen hatte – I See You. »Dieser Film«, sagte sie und deutete auf das Bild eines riesenhaften roten Auges, das aus der Schwärze hervorstarrte. »Erzählen Sie mir davon.«

»Es war unser erster abendfüllender Film«, sagte Travis. »Und hoffentlich nicht unser letzter«, fügte er finster hinzu.

»Haben Sie alle vier daran mitgearbeitet?«

»Ja. Es fing an als Seminarprojekt an der Filmhochschule in New York. Wir haben eine Menge gelernt bei der Arbeit an diesem Film.« Er schüttelte den Kopf und lächelte ein wenig schief. »Wir haben auch eine Menge Fehler gemacht.«

»Wie ist er in den Kinos angekommen?«, fragte Frost.

Das Schweigen war qualvoll. Und vielsagend.

»Wir haben nie einen Verleihvertrag bekommen«, gab Travis zu.

»Dann hat ihn also niemand gesehen?«

»Oh, er wurde schon bei einigen Horrorfilm-Festivals gezeigt. Wie zum Beispiel bei diesem.« Travis zog seinen Kapuzenpulli hoch, um das T-Shirt mit dem Aufdruck SCREAMFESTFILMFESTIVAL zu zeigen, das er darunter trug. »Er ist auch als DVD und Video-on-Demand erhältlich. Wir haben sogar gehört, dass er sich zu einer Art Kultklassiker entwickelt hat, was so ziemlich das Beste ist, was einem Horrorstreifen passieren kann.«

»Und haben Sie damit Geld verdient?«, fragte Jane.

»Darum geht es doch gar nicht.«

»Und worum geht es dann?«

»Wir haben jetzt Fans.Leute, die unsere Arbeit kennen! Im Indie-Filmgeschäft reicht oft allein die Mundpropaganda, um ein Publikum für das nächste Projekt aufzubauen.«

»Sie haben also kein Geld damit verdient.«

Travis seufzte und senkte die Augen auf den schmutzigen Teppich. »Nein«, gestand er.

Janes Blick ging wieder zu dem monströsen Auge auf dem Kinoplakat. »Was passiert in diesem Film? Worum geht es?«

»Es geht um ein Mädchen, das zufällig Zeugin eines Mordes wird, aber die Polizei kann weder eine Leiche noch irgendwelche Spuren finden, also schenkt man ihr keinen Glauben. Das liegt daran, dass der Mord noch gar nicht geschehen ist. Sie hat eine telepathische Verbindung zu dem Mörder, und sie kann sehen, was er als Nächstes tun wird.«

Jane und Frost wechselten einen Blick. Zu dumm, dass wir nicht diese Fähigkeit haben, sonst hätten wir den Fall im Handumdrehen gelöst.

»Und ich vermute mal, dass der Mörder am Ende hinter ihr her ist«, sagte Jane.

»Natürlich«, erwiderte Ben. »Das gehört sozusagen zum Einmaleins des Horrorkinos. Irgendwann muss der Killer auf die Heldin losgehen.«

»Werden in diesem Film auch Menschen verstümmelt?«

»Ja, schon. Das ist auch so eine Grundregel. Gehört auch zum …«

»… zum Einmaleins des Horrorfilms, ja, ja. Welche Verstümmelungen?«

»Es werden ein paar Finger abgeschnitten. Ein Mädchen bekommt die Zahl 666 in die Stirn geritzt.«

»Vergiss nicht das Ohr«, warf Amber ein.

»Ach ja. Einem Typen wird ein Ohr abgeschnitten, wie van Gogh.«

Ihr seid echt krank im Kopf.

»Was ist mit den Augen?«, fragte Frost. »Werden auch einem der Beteiligten die Augen herausgeschnitten?«

Die Filmemacher sahen einander an.

»Nein«, sagte Travis. »Wieso fragen Sie nach Augen?«

»Wegen des Titels. Der Film heißt I See You.«

»Aber Sie haben ausdrücklich gefragt, ob jemandem die Augen herausgeschnitten werden. Wieso? Ist das etwa auch bei …« Travis brach ab, und ein Ausdruck des Entsetzens machte sich auf seinem Gesicht breit.

Amber schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh Gott. Ist das mit Cassandra passiert?«

Jane antwortete nicht, sondern ging gleich zur nächsten Frage über. »Wie viele Menschen haben diesen Film gesehen?« Wieder wies sie auf das Plakat.

Im ersten Moment sagte niemand etwas. Sie waren alle zu geschockt von dem, was sie gerade erfahren hatten. In ihrer Welt war das Blut stets künstlich, die Gliedmaßen waren Requisiten aus Gummi, die Gewaltszenen nur Spezialeffekte.

Willkommen in meiner Welt. Der wirklichen Welt.

»Wie viele?«, fragte Jane noch einmal.

»Das wissen wir nicht so genau«, gab Travis zu. »Wir haben schon ein paar DVDs verkauft. Und mit den Video-Downloads haben wir so um die tausend Dollar verdient. Und dann haben wir ihn ja bei diesen Filmfestivals gezeigt.«

»Geben Sie mir doch mal eine Hausnummer.«

»Ein paar tausend Leute werden ihn schon gesehen haben. Aber wir haben keine Ahnung, wer die sind. Die Horror-Fangemeinde ist über die ganze Welt verstreut, die könnten also weiß Gott wo leben.«

»Sie glauben doch nicht, dass sie von jemandem ermordet wurde, der unseren Film gesehen hat?«, rief Amber. »Ich meine, das ist doch verrückt! Horrorfans sehen vielleicht zum Fürchten aus, aber das sind alles total nette und normale Menschen.« Sie deutete auf den Computerbildschirm mit der Silhouette des Killers. »Filme wie Mr. Simian helfen uns einfach nur, uns unseren Ängsten zu stellen, unsere verborgenen Aggressionen aufzuarbeiten. Sie haben eine therapeutische Wirkung.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Psychos schauen keine Horrorfilme.«

»Wissen Sie, worauf die richtig miesen Typen stehen?«, bemerkte Ben. »Romantische Komödien.«

Travis zog eine Schreibtischschublade auf, nahm eine DVD heraus und reichte sie Jane. »Eine Kopie von I See You. Gehört Ihnen, Detective.«

»Und der Film, an dem Sie gerade arbeiten? Haben Sie auch eine DVD von Mr. Simian, die wir uns anschauen können?«

»Tut mir leid, wir sind noch nicht fertig mit dem Schnitt, deswegen ist er noch nicht vorzeigbar. Aber schauen Sie sich mal I See You an und sagen Sie uns, was Sie davon halten. Und wenn Sie sonst irgendetwas brauchen, sind wir gerne behilflich.«

»Wenn diese Sache wirklich etwas mit I See You zu tun hat, müssen wir uns dann alle Sorgen machen?«, fragte Amber. »Müssen wir auch Angst vor diesem Mörder haben?«

Es war lange Zeit still, während die Filmemacher über diese Möglichkeit nachdachten.

Es war Travis, der schließlich leise sagte: »Das Einmaleins des Horrorfilms.«

6

Der sedierte Patient im Krankenhausbett hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Mann, den Jane erst wenige Stunden zuvor vernommen hatte. Das hier war eine eingefallene Version von Matthew Coyle, grau und geschrumpft, die Kinnlade heruntergeklappt. Im Kontrast zu diesem bleichen Gespenst war die Frau, die an seinem Bett saß, eine grelle Farbexplosion: feuerrotes Haar, smaragdgrüne Bluse, knallroter Lippenstift. Priscilla Coyle war achtundfünfzig, fast so alt wie Matthew, sah aber mindestens zehn Jahre jünger aus, die Haut bronzefarben und mit Botox aufgespritzt, der Körper fit und durchtrainiert wie der einer Sportlerin. Neben ihrem kränklichen Ehemann bot sie ein Bild der Vitalität, und nach ihrem maßgeschneiderten Kleid und den High Heels zu urteilen, hatte sie heute Abend eigentlich etwas anderes vorgehabt, als an der Seite ihres Gatten zu wachen.

Priscilla sah auf ihre Armbanduhr und sagte zu Jane und Frost: »Sie müssen morgen früh wiederkommen, wenn Sie mit ihm sprechen wollen. Er war so erregt, dass die Ärzte ihm Beruhigungsmittel geben mussten, und er wird wahrscheinlich die ganze Nacht durchschlafen.«

»Eigentlich sind wir hier, um mit Ihnen zu sprechen, Mrs. Coyle«, entgegnete Jane.

»Warum? Ich kann Ihnen wirklich nichts sagen. Ich war den ganzen Nachmittag in einer Kuratoriumssitzung des Gardner-Museums und hatte keine Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte, bis das Krankenhaus anrief und mir mitteilte, dass Matthew eingeliefert wurde.«

»Könnten wir uns woanders weiter unterhalten? Unten gibt es eine Besucherlounge.«

»Ich sollte wirklich bald zu Hause sein. Ich muss noch so viele Leute informieren.«

»Es dürfte nicht lange dauern«, versicherte Frost ihr. »Wir müssen lediglich einige Details zum Ablauf des Geschehens klären.«

Matthew Coyle lag im VIP-Flügel des Pilgrim Hospital, wo die Besucherlounge mit einem Breitbildfernseher, einer ledergepolsterten Sitzgruppe und einer gut gefüllten Kaffeemaschine ausgestattet war. Priscilla nahm auf dem Sofa Platz, stellte ihre Krokodilleder-Handtasche von Prada neben sich und warf ihren Cucinelli-Mantel achtlos über die Armlehne. Jane hatte einmal einen verstohlenen Blick auf das Preisschild eines Kaschmirmantels von Cucinelli geworfen und wusste, wie teuer die Dinger waren. Wenn sie je so einen Mantel besitzen sollte, würde sie ihn in einem Tresor aufbewahren und nicht so lieblos damit umspringen, wie Priscilla es tat.

Frost nahm sich einen Stuhl und setzte sich Priscilla gegenüber. »Könnten Sie uns erzählen, was heute alles passiert ist, Mrs. Coyle?«, begann er. Es war eine ungezwungene, offene Frage, und dennoch schien Priscilla lange zu überlegen, wie sie darauf antworten sollte.

»Matthew wollte sich mit Cassandra zum Lunch im Four Seasons treffen«, sagte sie schließlich. »Als sie nicht im Restaurant auftauchte, rief er mich an und fragte, ob ich von ihr gehört hätte. Das hatte ich nicht. Ein paar Stunden später rief mich dann das Krankenhaus an und teilte mir mit, dass er mit einem Herzinfarkt eingeliefert worden sei.«

»Haben die zwei sich oft zum Lunch getroffen?«

»So gut wie nie. Cassie ist immer so beschäftigt, sie hält es nicht mal für nötig …« Priscilla hielt inne, dann korrigierte sie sich. »Sie hatte ihr eigenes Leben, deshalb haben wir sie kaum zu Gesicht bekommen. Aber heute war ein besonderer Anlass.«

»Ihr Mann sagte uns, es sei ein Geburtstagslunch gewesen.«

Priscilla nickte. »Ihr Geburtstag ist eigentlich der dreizehnte Dezember, aber da waren wir verreist. Also hatten sie ausgemacht, stattdessen heute zu feiern.«

»Sie hatten nicht vor, dabei zu sein?«

»Ich hatte diese Kuratoriumssitzung schon terminiert, und ich dachte nicht …« Priscilla verstummte. Sie senkte den Blick und fingerte an dem goldenen Verschluss ihrer Handtasche herum. Es war das, was sie nicht sagte, was Jane neugierig machte. Manchmal war Schweigen bedeutungsvoller als alle Worte.

»Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Tochter?«, fragte Jane.

»Cassandra war eigentlich meine Stieftochter.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wir standen uns nicht sonderlich nahe.«

»Waren Sie zerstritten?«

Jetzt blickte Priscilla auf. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Matthew hat sich von Cassandras Mutter scheiden lassen, um mich zu heiraten. Sie werden also verstehen, dass es da Spannungen gab. Cassandra hat mir das immer vorgehalten, obwohl die Ehe ihrer Eltern im Grunde längst vorbei war, als das mit Matthew und mir anfing. Inzwischen sind neunzehn Jahre vergangen, und ich bin immer noch die andere Frau, obwohl sie von meinem Geld an der NYU studiert hat, und mein Geld finanziert auch ihr lächerliches …« Priscilla bremste sich gerade noch rechtzeitig und starrte wieder auf ihre Krokotasche hinunter – eine Tasche, die genau das symbolisierte, was sie in die Ehe eingebracht hatte. Matthew Coyle hatte seine Frau für eine andere verlassen, die an Prada und Cucinelli gewöhnt war – ein finanzielles Ungleichgewicht, das jede Beziehung belasten konnte.

»Kennen Sie irgendjemanden, der Grund hätte, Cassandra zu schaden?«, fragte Jane. »Irgendwelche Expartner, irgendwelche Feinde?« Abgesehen von Ihnen.

»Nicht dass ich wüsste. Aber ich habe auch nicht allzu viel mitbekommen von ihrem Leben. Nach meiner Heirat mit Matthew ist Cassandra bei ihrer Mutter in Brookline geblieben.«

»Wo ist ihre Mutter jetzt? Wir müssen mit ihr sprechen.«

»Elaine ist im Moment in London, sie besucht dort Freunde. Sie wird übermorgen einen Flug zurück nach Boston nehmen. Das hat sie jedenfalls in ihrer E-Mail geschrieben.«

»Sie haben ihr die Nachricht von Cassandras Tod gemailt?«

»Nun ja, irgendjemand musste sie schließlich informieren.«

Jane versuchte, sich vorzustellen, wie es wäre, eine solche E-Mail zu bekommen: Deine Tochter ist ermordet worden. Wie sehr mussten diese zwei Frauen einander hassen, dass die Nachricht vom Tod einer Tochter mal eben beiläufig in ein Smartphone eingetippt wurde?

»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sonst noch sagen könnte«, fügte Priscilla hinzu.

»Kennen Sie irgendwelche von Cassandras Freunden?«

Priscilla rümpfte die Nase. »Ich habe diese Kids kennengelernt, mit denen sie zusammenarbeitet.«

»Kids?«

»Sie sind vor vier Jahren vom College abgegangen, und sie sehen immer noch so aus, als ob sie in ihren Kleidern schlafen. Man sollte meinen, dass sie inzwischen einen Job haben müssten. Ich weiß wirklich nicht, wie sie sich mit diesen Filmen, die sie machen, über Wasser halten.«

»Haben Sie zufällig Cassandras ersten Film gesehen?«

»I See You? Da habe ich vielleicht fünfzehn Minuten lang durchgehalten. Mehr konnte ich nicht ertragen.« Sie sah in die Richtung des Krankenzimmers, in dem ihr Mann lag. »Matthew hat sich das ganze Machwerk von Anfang bis Ende angeschaut. Hat sich eingeredet, dass es ihm gefällt, denn was blieb ihm auch anderes übrig? Er wollte sein kleines Mädchen glücklich machen. Nach all den Jahren versucht er immer noch, Wiedergutmachung dafür zu leisten, dass er ihre Mutter verlassen hat, und Cassie hat seine Geschenke gerne angenommen. Die mietfreie Wohnung, das Studio. Aber ich glaube nicht, dass sie ihm jemals verziehen hat.«

»Haben die beiden sich verstanden, ihr Mann und Cassandra?«

»Natürlich.«

»Und doch sagen Sie, Cassandra hätte ihm nie verziehen? Gab es Streit zwischen ihnen? Vielleicht wegen des Geldes?«

»Streiten sich nicht alle Kinder mit ihren Eltern ums Geld?«

»Manchmal eskaliert so ein Streit auch.«

Priscilla zuckte mit den Schultern. »Sie hatten ihre Probleme. Ich bin mir sicher, dass das Thema Geld heute bei ihrem Lunch zur Sprache gekommen wäre. Sie hatte angedeutet, dass sie mehr braucht, um den Film fertigzustellen, den sie gerade drehte. Noch ein Grund, warum ich bei dem Lunch lieber nicht dabei sein wollte.« Sie hielt einen Moment inne. »Wieso fragen Sie nach Matthew? Sie können doch unmöglich glauben, dass er etwas damit zu tun hat?«

»Reine Routinefragen, Ma’am«, versicherte ihr Frost. »Wir müssen immer auch die nächsten Angehörigen überprüfen.«

»Er ist ihr Vater. Haben Sie denn keine wirklichen Verdächtigen?«

»Kennen Sie welche, Mrs. Coyle?«

Priscilla dachte über die Frage nach. »Cassie war ein hübsches Mädchen, und hübsche Mädchen ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Wenn ein Mann sich für einen interessiert, kann man nie wissen, was das für Folgen haben wird. Vielleicht entwickelt er eine Obsession. Vielleicht folgt er einem nach Hause und … Wir wissen alle, was Frauen so zustoßen kann.«

Das wusste Jane nur zu gut. Sie hatte die Belege dafür im Leichenschauhaus gesehen, in den übel zugerichteten Körpern, den von abgewiesenen Freiern zerschnittenen Gesichtern. Sie dachte an die leeren Höhlen, in denen Cassandras Augen gesessen hatten; Augen, die den Mörder gesehen haben mussten. Hatte sie ihn mit Verachtung oder Abscheu angeschaut? Hatte er deswegen geglaubt, ihr die Augen herausschneiden zu müssen, damit sie ihn nie wieder ansehen könnte?

Priscilla griff nach ihrem Mantel. »Ich muss jetzt nach Hause. Es war ein fürchterlicher Tag.«

»Noch eine letzte Frage, bevor Sie gehen, Mrs. Coyle«, sagte Jane.

»Ja?«

»Wo waren Sie und Ihr Mann gestern Abend?«

»Gestern Abend?« Priscilla runzelte die Stirn. »Wieso?«

»Wie gesagt, reine Routine.«

Priscillas Mund verhärtete sich. »Na schön. Wenn Sie meinen, mich das fragen zu müssen, bin ich gerne bereit zu antworten. Matthew und ich waren gestern Abend zu Hause. Ich habe für uns gekocht. Lachs mit Brokkoli, falls das für Sie wichtig ist. Und dann haben wir uns im Fernsehen einen Film angeschaut.«

»Welchen Film?«

»Ach du liebe Zeit. Es war so ein alter Schinken auf Turner Classics. Invasion der Körperfresser.«

»Und danach?«

»Danach sind wir zu Bett gegangen.«

»Hast du Invasion der Körperfresser mal gesehen?«, fragte Frost Jane, als sie in der Cafeteria des Krankenhauses saßen und ihre Sandwiches hinunterschlangen. Um diese späte Stunde gab es im Verkaufsautomaten nur noch die Wahl zwischen Thunfischsalat und Schinken-Käse. Janes Thunfischsandwich war aufgeweicht, aber es stillte wenigstens den Hunger – schließlich hatten sie beide das Abendessen ausfallen lassen.

»Gab es da nicht schon ungefähr ein halbes Dutzend Remakes?«, fragte sie.

»Ich rede nicht von den Remakes. Ich meine den Schwarz-Weiß-Klassiker mit Kevin McCarthy.«

»Schwarz-Weiß? Das war dann ja wohl weit vor unserer Zeit, wie?«

»Ja, aber der Film ist zeitlos. Alice nennt ihn die perfekte Metapher für Entfremdung. Sie sagt, wenn die Leute im Film als Doppelgänger aus diesen Schoten kommen, dann ist das so, wie wenn dein Mann oder deine Frau sich in einen Fremden verwandelt, jemand, der dich nicht mehr liebt. Das macht den Film viel verstörender als diese Nullachtfünfzehn-Monsterstreifen, weil die Angst dich auf so einer tiefen psychologischen Ebene packt.«

»Augenblick mal – seit wann redest du wieder mit Alice?«

»Seit … keine Ahnung. Ein paar Wochen vielleicht. Gestern Abend haben wir zusammen Invasion der Körperfresser geschaut. Er kam um neun im Fernsehen, also hat Priscilla Coyle die Wahrheit gesagt, als sie behauptete, ihn mit ihrem Mann gesehen zu haben.«

»Du hast den Abend mit Alice verbracht?«

»Wir haben nur zusammen gegessen und ein bisschen ferngesehen. Dann bin ich nach Hause gegangen.«

»Hilf mir doch mal auf die Sprünge – wie lange ist eure Scheidung jetzt schon durch?«

»Das heißt doch nicht, dass wir wieder zusammen sind.«