Bombenkopf - Phia Quantius - E-Book

Bombenkopf E-Book

Phia Quantius

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Beschreibung

Phia Quantius leidet seit ihrer Kindheit unter einer besonders starken Form von Migräne. Die neurologische Erkrankung attackiert die junge Frau drei bis sechs Mal pro Monat und reißt sie mit Schmerzen, Übelkeit, Lähmungen und Halluzinationen aus ihrem Alltag. Trotz der enormen Auswirkungen gilt Migräne oft als Bagatelle, dabei leiden rund zwanzig Prozent der Bevölkerung daran und die Forschung hat noch kein wirksames Mittel dagegen gefunden. Phia Quantius erzählt darum ihre Geschichte, spricht mit Expert:innen über Behandlungsmöglichkeiten und über alles, was noch mit der Krankheit zusammenhängt: Medikamentenkonsum, Depressionen, Suizidalität - und allem zum Trotz ihre unbändige Lebenslust.

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Inhalt

Über das Buch

Phia Quantius leidet seit ihrer Kindheit unter einer besonders starken Form von Migräne. Die neurologische Erkrankung attackiert die junge Frau drei bis sechs Mal pro Monat und reißt sie mit Schmerzen, Übelkeit, Lähmungen und Halluzinationen aus ihrem Alltag. Trotz der enormen Auswirkungen gilt Migräne oft als Bagatelle, dabei leiden rund zwanzig Prozent der Bevölkerung daran und die Forschung hat noch kein wirksames Mittel dagegen gefunden. Phia Quantius erzählt darum ihre Geschichte, spricht mit Expert:innen über Behandlungsmöglichkeiten und über alles, was noch mit der Krankheit zusammenhängt: Medikamentenkonsum, Depressionen, Suizidalität – und allem zum Trotz ihre unbändige Lebenslust.

Über die Autorin

Phia Quantius leidet seit ihrer Kindheit massiv unter Migräne mit Aura und will dieser unsichtbaren Krankheit ein Gesicht geben. Darum hält sie ihr Leben damit, gemeinsam mit ihrem Freund, dem Musiker und Tierschützer Malte Zierden, schonungslos ehrlich auf Social Media fest. Phia ist Model, Content Creatorin, engagiert sich im Tierschutz und lebt und arbeitet in Hamburg.

PHIA QUANTIUSMit Sylvie Gühmann

BOMBENKOPF

WIE MIGRÄNE MICH AUSMACHT

Der Abdruck der Atemübung auf Seite 81/82 aus dem BandMein Trainingsbuch Selbstvertrauen. Die Ab-in-den-Müll-Kur für Ihre Ängstevon Erich Kasten erfolgt mit freundlicher Genehmigung von verlag modernes lernen.

Originalausgabe

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 –20, 51063 Köln

Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen

Umschlaggestaltung: © Camille Lezaun | Foto: © Isabel Hayn

Illustrationen Innenteil: © Shutterstock

Einband-/Umschlagmotiv: © Isabel Hayn

Satz: two-up, Düsseldorf

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-431-07056-9

www.luebbe.de

www.lesejury.de

VORWORT

Hi. Mein Name ist Sophia Theresa Quantius, aber für die meisten bin ich Phia. 1998 bin ich als Früh- und Sturzgeburt in einem roten VW Passat in die Welt gerutscht. An der Stelle ein fettes Dankeschön an meine Eltern, die mich nach langem Überlegen doch nicht Passata getauft haben. Das stand tatsächlich kurz zur Debatte, ich möchte nicht darüber reden.

Nachdem ich vor dem Krankenhaus noch im Auto von den Ärzt:innen aus der Latzhose meiner Mutter befreit wurde, begann ich mein friedliches Leben mit damals drei älteren Geschwistern in einem kleinen Dorf in NRW. Mittlerweile besteht meine Familie aus meinen Eltern, meiner Schwester, meinen fünf Brüdern und mir. Wenn ich meine Kindheit mit drei Worten beschreiben müsste, dann wären das folgende: chaotisch, lustig, liebevoll.

Das war sie allerdings nicht nur: Ich arbeite seit meinem 15. Lebensjahr freiberuflich als Model. Entdeckt wurde ich damals in Köln beim Bummeln. Dass es ernsthaft klappen würde, damit hatte ich nicht gerechnet: Ich war damals ein ziemlicher Strich in der Landschaft, was mich in dem Alter nicht gerade selbstsicherer gemacht hat. Während ich also mit der Agentin sprach, wartete ich eigentlich nur darauf, dass Guido Cantz mit seiner versteckten Kamera um die Ecke kommt. Tatsächlich passierte nichts dergleichen. Sie überreichte mir ihre Visitenkarte, und spätestens da wurde mir klar, dass sie es ernst meinte.

Wie du bis hierhin vielleicht gemerkt hast, kam mein Selbstbewusstsein erst mit den Jahren und der Erfahrung als Model. Ich wurde bei dem Job ins eiskalte Wasser geworfen. Was ich bis zu dem Zeitpunkt nur als glitzernde Welt aus dem Fernsehen kannte, stellte sich ziemlich schnell als nicht nur funkelnd heraus. Kurz gesagt: Als was es nach außen hin vor allem scheint (und was oft auch der Wirklichkeit entspricht), ist gleichzeitig ein knallhartes Business und manchmal auch eine brutale Welt, die nichts mit dem gemein hat, was bei Germany’s Next Topmodel gezeigt wird. Glücklicherweise ging ich parallel weiter zur Schule, machte mein Abi und blieb mit einem Bein in einer bodenständigen Welt, in der mich Freund:innen und Familie immer wieder auffingen. 2017 hielt ich dann mein Zeugnis in den Händen. Geil, dachte ich mir. Und was jetzt? Ich hatte keine Ahnung, wohin die Reise gehen sollte.

Das klingt jetzt so, als wüsste ich mittlerweile, wo sie hingehen soll, aber wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich noch immer keinen blassen Schimmer. Doch das ist ein anderes Thema. Zu meinem Glück hatte meine Agentur damals mehr Plan als ich und schickte mich kurze Zeit später kreuz und quer durch die Weltgeschichte.

Neun Jahre später, siehe da, bin ich immer noch in der Branche. Hin und wieder bin ich zudem ehrenamtlich als Tierschützerin mit einem Verein unterwegs, der sich für Straßenhunde einsetzt. Was absolut logisch ist, weil Hunde die tollsten Wesen auf dieser Welt sind. Zusätzlich mache ich ab und an Kram auf Social Media, wobei ich mich zeige, wie ich bin: Neben Einblicken in meine Arbeit als Model und Telefonaten mit meiner kölschen Oma greife ich auch Themen auf, die mir wichtig sind. Beispielsweise spreche ich über meine Periode und darüber, wie sich PMS (Prämenstruelles Syndrom) jeden Monat bei mir auswirkt (nämlich ätzend). Ich finde es wichtig, in der Öffentlichkeit Dinge zu thematisieren, über die weniger gesprochen wird. Das nimmt ihnen oft ein wenig Wucht und hilft zumindest mir dabei, besser mit ihnen umzugehen. Dass ich so denke, hat vielleicht auch mit der Krankheit zu tun, die mich schon ziemlich lange auf brutale Art und Weise begleitet – und die für die meisten leider unsichtbar ist. Und damit kommen wir auch schon zum eigentlichen Thema dieses Buches:

Meine Migräne, meine Aura und ich

Was sich jetzt nach einer Komödie für die ganze Familie anhört, ist in Wahrheit leider eine relativ beschissene neurologische Erkrankung, die einen Großteil meines Lebens ausmacht. Vielleicht merkst du an dieser Stelle, dass ich die meisten Rückschläge in meinem Alltag mit Humor abschmettere.

Ich komme aus der Nähe von Köllefornia, wie ich vorhin schon angeschnitten habe. Ich bin also ein echtes kölsches Mädel und liebe den Karneval. Dass ich sechsmal im Monat einen in meinem Kopf habe, eher weniger. Ich sage dir ganz ehrlich: Der Karneval am 11.11. hätte mir auch gereicht. Schönen Dank für nichts. Ich bin also nicht nur Model, Enkelin und eine Frau. Ich bin auch Migränikerin mit Aura, seit ich elf Jahre alt bin. Zum jetzigen Zeitpunkt begleitet mich meine Krankheit schon mehr als die Hälfte meines Lebens – und schränkt mich damit fundamental in all meinen Lebensbereichen ein. Klingt scheiße, ist auch scheiße. Allgemein würde ich auch eher sagen, dass Migräne ein riesengroßes Arschloch ist.

Aber wem sag ich das. Du hältst wahrscheinlich dieses Buch in der Hand, weil du entweder auch betroffen bist oder jemanden kennst, der mit dieser Krankheit kämpft. Also weißt du vielleicht schon, wie massiv Migräne die Lebensqualität einschränkt. Doch wenn du nicht zu den oben aufgezählten Personen gehörst, dann wird dir vielleicht spätestens nach diesem Buch klar, dass diese Krankheit die reinste Hölle ist.

Damit kommen wir auch schon zu dem Grund, warum ich dieses Buch überhaupt geschrieben habe. Ich habe mich lange Zeit mit der Krankheit alleingelassen gefühlt. Ich habe das große Los gezogen, die Einzige in meiner näheren Familie zu sein, von der bekannt ist, dass sie Migräne hat. Mein Umfeld war zwar immer hilfsbereit und verständnisvoll, aber wie wir damit am besten umgehen, wusste keiner von uns. Wirklich darüber gesprochen habe ich auch nicht. Außer natürlich mit Ärzt:innen. Und das ganz schön viel. Gebracht hat das in den meisten Fällen herzlich wenig. Ich rannte von Praxis zu Praxis, ich beschrieb Symptom für Symptom, litt immer weiter und bekam im Gegenzug Spruch für Spruch gedrückt. »Warte einfach, bis du dein erstes Kind bekommen hast, dann ist das alles weg« – den hörte ich übrigens im zarten Alter von elf Jahren. Chillig, dachte ich mir da. Dann warte ich halt noch zwanzig Jahre. Meine Schmerzen sind ja quasi nicht vorhanden. Ich will meinen Kopf bei Anfällen nur aus Spaß gegen die Wand rammen. Ob ich überhaupt Kinder haben möchte, danach hat er natürlich nicht einmal gefragt. Geholfen hat der Spruch jedenfalls nicht – du findest zu dem Thema später ein eigenes Kapitel.

Also saß ich da. Mit elf Jahren und dem gelben Zettel mit der Diagnose Migräne mit Aura darauf. Letzteres habe ich sowieso nicht gerafft. Was bitte soll eine Aura sein? Positiv war die jedenfalls nicht, wie ich schnell feststellen musste. Zusammengefasst: Ich fühlte mich einsam. Ich hätte mir damals nichts mehr gewünscht als irgendeine Art von Unterstützung bei meinem Weg mit der Krankheit. Deshalb möchte ich dir an dieser Stelle schon eine Sache mitgeben, sofern du selbst betroffen bist:

Du bist nicht allein.

Nicht mit der Krankheit und auch damit nicht, mit ihr zu leben. Ich würde gern so viel mit dir darüber teilen, wie ich kann. Einfach, um dir deinen Weg vielleicht ein bisschen zu erleichtern und ein kleines bisschen Last zu nehmen, die du mit dir schleppst. Denn das ist diese neurologische Erkrankung – Ballast. Migräne ist eine Krankheit, die noch nicht einmal ansatzweise genügend erforscht worden ist. Nicht in ihrem Ausmaß, aber auch nicht in ihren Facetten, die sie eben hat. Und die – was das Leben mit ihr noch schwieriger macht – oft nicht ernst genug genommen wird – weder von der Gesellschaft noch von Expert:innen.

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass mein Buch dir weder zahlreiche Untersuchungen ersetzen kann noch die volle Last nimmt, damit zu leben. Ich bin keine Ärztin. Ich schreibe nicht als Expertin. Ich schreibe als Betroffene. Und vielleicht als deine Freundin und Mutmacherin, wenn du magst.

Denn das ist es, was ich eigentlich möchte:

Mut machen.

Ja, Migräne ist ein Arschloch. Migräne ist beschissen. Aber zusammen finden wir vielleicht einen Weg, wie wir am besten mit ihr umgehen können. Ich habe, und das möchte ich hier auch ausdrücklich betonen, leider kein Heilrezept für dich. Ich wünschte, ich hätte eines! Glaub mir. Dafür kann ich alles teilen, was ich bisher mit der Krankheit erlebt und schon ausprobiert habe. Mir ist wichtig, dass wir alle den Kampf mit der Krankheit nicht aufgeben. Auch ich kämpfe noch täglich mit ihr.

Dennoch möchte ich, dass du alles, was ich hier aufführe, mit deinem Arzt oder deiner Ärztin besprichst. Denn meine Migräne ist nicht deine Migräne. Auch dazu findest du später mehr.

Ansonsten möchte ich meine Plattform, die ich dankenswerterweise habe, dafür nutzen, diese unsichtbare Erkrankung ein bisschen sichtbarer zu machen, um es für uns Migräniker:innen in unserer Gesellschaft leichter zu machen. Wir schlagen uns schon genug mit der Krankheit herum. Es wäre schön, wenn wir nicht zusätzlich auch noch Kraft dafür verschwenden müssten, ernst genommen zu werden. Weil Dinge existieren, auch wenn wir sie nicht sehen. Deshalb schon einmal jetzt ein dickes Dankeschön an dich, solltest du Migräniker:in sein, aber auch an dich, solltest du keine:r sein. Danke, dass du dir die Zeit nimmst, dir meine Geschichte anhörst und Teil davon wirst.

Was jede:r, der oder die mit Erkrankungen zu tun hat, auch weiß: Es betrifft nicht nur die erkrankte Person. Es wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus, und es trifft das gesamte Umfeld, weshalb hier meine Familie und mein Freund Malte zu Wort kommen. Und zu guter Letzt: Damit du nicht nur meine Tipps und Tricks als Hobbyärztin liest, findest du in diesem Buch immer wieder Gastbeiträge aus ganz verschiedenen Fachbereichen (Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, Berufsverband Deutscher Neurologen und Neurologinnen, Bund Deutscher Heilpraktiker und Heilpraktikerinnen). Ich wollte meine sehr persönliche Geschichte gern durch Ausführungen von Expert:innen untermauern, durch die auch ich dazulernen durfte. Freundlich unterstützt wurde ich zusätzlich von Prof. Dr. Hartmut Göbel von der Schmerzklinik Kiel.

Kurz: Du begleitest mich mit diesem Buch durch mein Leben – und auf meinem Weg mit meiner Erkrankung.

Ich habe mich in meinem Leben noch nie so nackt gefühlt wie mit diesem Buch – nicht einmal bei einem Nackt-Shooting. Ich wünsche mir einfach, dass dir meine Geschichte zumindest eine kleine Stütze sein kann. Denn trotz allem, trotz der ganzen Untersuchungen, Sprüche und Zusammenbrüche bin ich mehr als nur meine Migräne. Wir Migräniker:innen sind alle mehr als unsere Krankheit. Und ich hoffe, dass dieses Buch dazu beiträgt, sie besser zu verstehen oder – solltest du betroffen sein – ein bisschen Kraft schenken kann. Und dir dabei hilft, nicht aufzugeben. Auch wenn es schwer ist. Jetzt aber wirklich langer Rede kurzer Sinn: Willkommen in meinem Bombenkopf.

Eure Phia

DIE BOMBE TICKT

Ich war elf Jahre alt, und der Sommer lag in der Luft, als die Bombe in meinem Kopf hochging. Ich ging in die fünfte Klasse, war gerade aufs Gymnasium gekommen und generell ziemlich cool: Ich trug jetzt Schlaghosen, ein Top mit fliederfarbenen Strickjacken – und einen geflochtenen Zopf, den ich mir jeden Morgen in mein damals stiftkurzes blondes Haar klippte. Wie cool das in Wirklichkeit war, kannst du dir jetzt aussuchen.

Meine Mutter brachte mich zum Geburtstag meiner besten Freundin, die nur ein paar Querstraßen entfernt wohnte, als ich zum ersten Mal spürte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Es war ein ganz normaler Tag im Juni, und die Sommerferien standen vor der Tür. Ich erinnere mich daran, wie doll ich mich auf die Feier mit meinen Freundinnen gefreut hatte und wie aufgeregt ich gewesen bin. Es war die Zeit, als sich Kindergeburtstage noch wie Weihnachten anfühlten. Egal, ob es der eigene oder der von wem anders war.

Als mir an diesem Tag flau im Magen wurde, ignorierte ich das Gefühl, weil ich es nicht greifen konnte. Ich band mir die Schuhe zu. Mir fehlten noch die Worte für das, was ich fühlte. Wenig zielführend sagte ich: »Meine linke Augenbraue tut weh.« Ich meinte damit ein Stechen, das sich langsam von meinem Nacken über meinen Kopf bis hin zu meiner linken Augenbraue ausbreitete. Meine Mutter reagierte darauf mit einem Satz, den ich von diesem Tag an immer wieder hören sollte: »Du musst mehr trinken!«

Als wir uns auf den Weg machten, stand die Sonne hoch am Himmel über Much, dem Dorf, aus dem ich komme. Bei meiner besten Freundin angekommen, stopften wir Kinder uns mit Benjamin-Blümchen-Torte voll, bis uns schlecht war. Wenig später brachen wir zur Schnitzeljagd auf. Ich hatte klebrige Hände vom Kuchen und ein bisschen auch vom Schwitzen, immerhin war es Hochsommer und die Luft um uns herum schwül. Wir Kinder waren froh, der Hitze im Wald entfliehen zu können, wo die Eltern meiner Freundin rote Luftballons mit kleinen Hinweisen zwischen den Bäumen versteckt hatten.

Die Suche nach den Ballons fühlte sich unfassbar aufregend an, und wir stießen alle paar Meter Schreie aus, sobald jemand den nächsten Zettel fand. Mir kam das wie eine Ewigkeit vor, wahrscheinlich dauerte die Suche nur eine halbe Stunde. Wir zehn Mädels jubelten wie verrückt im Wald, als wir die Holztruhe mit den Süßigkeiten fanden.

Ich glaube, ich habe an dem Tag angefangen, meine Umgebung anders wahrzunehmen. Ich habe intensiver gesehen. Geräusche hörten sich anders an. Ich fühlte mich anders an.

Denn obwohl der Waldboden und das Laub die Geräusche der Landstraße hätten schlucken müssen, fühlte es sich so an, als wäre ich nicht im Wald, sondern neben einer Baustelle mit Presslufthämmern. Immer häufiger rieb ich mir über den Nacken und drückte auf verschiedene Punkte. Ich quetschte Haut zwischen meinen Fingern zusammen, um Gegendruck gegen etwas zu erzeugen, das ich nicht ausmachen konnte. Ich kniff die Augen zusammen, weil ich Flecken und Blitze sah, als hätte ich zu lange in die Sonne geguckt, obwohl ich im Schatten stand.

Vor allem jedoch versuchte ich angestrengt, all das auszublenden und mir vor den anderen nichts anmerken zu lassen. Denn wenn ich eines gar nicht konnte, dann das: mir einzugestehen, dass ich eigentlich nach Hause gehen musste. Auf gar keinen Fall wollte ich einen Kindergeburtstag sausen lassen. Unter meinen Freundinnen war ich die Frechste von allen. Ich war mit Abstand die Lauteste, für meine Oma war ich nur »die wilde Hilde« – ich hatte wirklich nur Quatsch im Kopf. Trotzdem fiel es mir an jenem Tag immer schwerer, so zu tun, als wäre alles okay: Die Bombe in meinem Kopf hatte zu ticken begonnen.

Es fühlte sich so an, als wäre ich nicht mehr ich selbst. Ich war wie ausgewechselt. Jetzt war ich nicht mehr laut. Ich sagte kein Wort. Ich wusste selbst nicht, was mit mir los war. Zurück im Haus trennten meine beste Freundin und ich uns von den anderen. Während der Rest schon nach unten in den Keller stürmte, gingen wir ins Bad, und erst da sprach ich zum ersten Mal aus, wie ich mich fühlte: Mir war kotzübel. Die Stiche hinter meiner Augenbraue schnitten so tief, dass meine Gedanken nicht mehr anders konnten, als darum zu kreisen. Es war fast, als hätte der Schmerz sein eigenes Leben, als wäre er ein Organ mit Puls und als schlüge es im selben Takt wie mein Herz.

Aus dem Keller stiegen die Kinderlieder hoch in den Flur, wo die anderen auf uns warteten. Wir wollten T-Shirts batiken, worauf ich mich schon die ganze Woche gefreut hatte, und ich lehnte mich mit aller Kraft auf. Ich nahm ein paar Stufen auf einmal, hinunter in den Keller, ignorierte, wie meine Knie zitterten, und sog dabei das Färbemittel aus der Luft ein. Der chemische Geruch ätzte in meiner Nase, Schweißperlen liefen über meine Stirn, ich riss meine Augen immer wieder unkontrolliert auf, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Ich muss ausgesehen haben wie ein Reh auf der Fahrbahn, mitten im Scheinwerferlicht.

Ich stützte mich mit einer Hand am Geländer ab und hörte die Stimmen der anderen nur noch verzerrt, wie ein Echo, irgendwer sang »Heute kann es regnen, stürmen oder schneien«, und so fühlte sich das in meinem Kopf auch an, und ich war komplett allein damit. Alles wurde lauter, krasser, der Schmerz aggressiver, bis ich plötzlich nichts mehr sah: Mein Sichtfeld zerplatzte in tausend Einzelteile, mein Herz raste, die Bombe explodierte.

Wenn ich mich heute an den Moment zurückerinnere, in dem ich zu mir gekommen bin, sehe ich die vielen fremden Köpfe auf mich herabstarren. Ich weiß noch, wie komisch ich damals alle anderen fand. Ich brauchte ein paar Minuten, um zu checken, dass ich es war, die jetzt komisch war – dass mit mir etwas nicht stimmte. Die Erwachsenen schauten mich an, als wäre ich ein Tier im Zoo.

Irgendwer hatte mir eine alte kratzige Wolldecke übergeworfen, kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Meine Beine zitterten, ich konnte meinen linken Arm nicht mehr anheben. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mich, mein Körper gehörte mir nicht mehr.

Am Rande bekam ich mit, wie meine Mutter ins Zimmer gestürzt kam. Die Panik stand ihr im Gesicht, aber ich konnte nichts tun, um sie zu beruhigen. Ich konnte mich nicht rühren, nichts sagen, nichts machen. Der Vater meiner Freundin trug mich zum Auto. Ich war nicht mehr in der Lage, eigenständig zu laufen.

Ich nahm an dem Tag mit elf Jahren meine erste Ibu 400. Ich würgte die Tablette herunter, die sich in meinem Mund viel zu groß anfühlte, wie ein Fremdkörper. Ich rang mit meiner Übelkeit und schluckte die Pille mit Wasser runter. Zu Hause angekommen, trug mich mein Vater in mein Zimmer, wo er mich ins Bett brachte. Ich zog die Knie unter meine Brust und versuchte in Embryonalhaltung, die Schmerzen auszuhalten, bis es nicht mehr ging. Ich kotzte in die blaue Backschüssel, die meine Geschwister und ich bekamen, wenn wir krank waren. Irgendwann spuckte ich Magensäure. Ich bemerkte nicht, dass sich meine Eltern im selben Raum aufhielten, so weggetreten war ich. »Vielleicht ein Sonnenstich«, hörte ich meinen Vater irgendwann murmeln, nahm seine Stimme aber nur undeutlich wahr. Ich konnte seit der Ohnmacht nur noch Laute von mir geben, drehte mich ächzend um und schlief ein.

Am nächsten Morgen war es, als wäre nie etwas passiert. Ich war, abgesehen von meiner Schlappheit, wieder gesund. Das dachte ich jedenfalls, und meine Eltern dachten es auch. Wir wussten noch nicht, wie falsch wir damit lagen. Ein paar Ohnmachtsanfälle, Sehstörungen und höllische Kopfschmerzen später bekam ich nach meinem ersten MRT-Termin von einem Mann im weißen Kittel einen Zettel in die Hand gedrückt: »Migräne mit Aura«. Was das bedeuten sollte, wusste ich nicht.

Wenn eine Bombe explodiert, entsteht innerhalb eines Wimpernschlags Wärme von bis zu tausend Grad Celsius. Meine damalige Chemielehrerin hat mal gesagt, die meisten Stoffe dehnten sich bei Hitze aus. Das passiert auch bei Sprengstoffen. Sie nehmen mehr Raum ein, bis es plötzlich zu einer Druckwelle kommt. Zu einer besonders schweren Explosion kommt es, wenn die Druckwelle mit Überschallgeschwindigkeit voranprescht und ein Überdruck entsteht, der sich mit einem Schlag entlädt.

Das Gleiche passiert in meinem Kopf, wenn ich einen Migräneanfall habe. Die Gefäße in meiner Hirnhaut weiten sich aus. Sie nehmen so viel Raum ein, bis sie Nerven stimulieren und Schmerzreize wie Druckwellen weiterleiten. Nur eins unterscheidet meinen Kopf dann noch von einer tickenden Zeitbombe:

Ich weiß nie, wann die nächste hochgeht.

MEIN NEUES HOBBY

Als Kind und Jugendliche hatte ich 100 Hobbys. Ich will nicht überheblich klingen, aber ich war eines dieser Kinder, das du in jede Sportart stecken konntest. Sei es Fußball, sei es Basketball, Tanzen, Golfen oder Tennis – und je mehr davon, je intensiver, desto besser. Nur vor Pferden hatte ich Angst, wenn ich ganz ehrlich bin. Reitsport fiel damit flach.

Ich gehörte also offensichtlich zu den nervigen Personen, die sich im Schulsport über eine »Zwei« aufgeregt haben und die du deshalb sehr wahrscheinlich und völlig zu Recht gehasst hast. An dieser Stelle entschuldige ich mich bei meiner damaligen Sportlehrerin, die vermutlich die Hälfte der Schulstunde mit mir über meine Note diskutiert hat. Und wenn ich sowieso gerade dabei bin, mich unbeliebt zu machen – habe ich schon damit angegeben, dass ich 2009 im Gardetanz mit meiner damaligen Gruppe gleich vierfache deutsche Meisterin wurde?

Und ich merke gerade: Nach 14 Jahren bin ich immer noch stolz darauf. Irgendwo auch mit Recht, immerhin habe ich mir damals den Arsch dafür aufgerissen. Ich bin auf einem Gymnasium gewesen und hatte dort dank G8-Schulsystem dreimal die Woche bis 16:30 Uhr Unterricht. Danach bin ich eine Stunde mit dem Bus nach Hause gefahren, habe meine Tasche in die Ecke geworfen, mir das vorgekochte Essen meiner Mutter warm gemacht und inhaliert. Um 18:10 Uhr habe ich mich auf den Weg zum Training gemacht. Nach zwei Stunden Unterricht ging es nach Hause und – zum Glück für alle – noch schnell unter die Dusche.

Jetzt denkst du vielleicht, dass ich danach nur noch ins Bett gefallen bin, aber davor kam noch etwas anderes: Hausaufgaben. So sah mein Alltag jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag aus. Hinzu kamen ein dreistündiges Training am Samstag und die wöchentlichen Turniere, die jeden Sonntag von morgens bis abends abliefen. Also irgendwie kein Wunder, dass ich nach so langer Zeit immer noch damit angebe, oder? Immerhin hat das alles einen Großteil meines Lebens eingenommen.

Das war aber noch längst nicht alles. Wie ich ja bereits sagte, war ich eine richtige Sportskanone. Deshalb hatte ich natürlich jeden Montag und Samstag nach dem Tanztraining auch noch zusätzlich Golftraining. Sehr zu meinem damaligen Ärger hatte ich mich auf diese beiden Sportarten festlegen müssen, angeblich musste auch ich zur Schule gehen.

Rückblickend kommt mir das alles wie ein völlig anderes Leben vor. Wenn ich heute die Treppen zu meiner Wohnung im dritten Stock hochlaufe, muss ich erst mal tief Luft holen und klarkommen. Die guten alten Zeiten. Ich habe es geliebt, ständig unterwegs zu sein. Ständig Sport zu machen und in einem Team zu sein. Bis heute vermisse ich vor allem das Tanzen. Bei meinem letzten Turnier habe ich geweint. Obwohl wir damals gewannen, kamen mir die Tränen, weil ich wusste, dass es mein letzter Auftritt sein sollte. Ich hatte keine Wahl.

Zuerst hörte ich das Golfen auf, obwohl mein Trainer damals sagte, dass er Potenzial in mir sehe. Dabei war Golfen für mich nicht einmal ansatzweise das, was Tanzen für mich war. Ich trat bei den Tanztrainings kürzer. Dabei hatte ich zuvor nie auch nur eine Stunde gefehlt. Ich schwänzte nicht. Ich war niemand, der faul war.

Dann fing es an, dass ich Auftritte absagen musste. Schließlich durfte ich nicht einmal mehr bei Turnieren mitmachen. Ich hätte zu oft gefehlt, hieß es. Ich habe für das Tanzen gelebt. Mir brach es das Herz. Und Grund dafür war nicht, wie bei anderen im Jugendalter, der immer härter werdende Schulstoff oder die noch mehr werdenden Unterrichtsstunden, die wachsende Klausurenflut – oder die ersten Partys. Damit kam ich zurecht. Grund dafür war nur eines: meine Migräne mit Aura. Nach und nach hörte ich jedes meiner Hobbys auf. Meine Trainingseinheiten wurden Stück für Stück von Migräneanfällen ersetzt. Hatte ich sie nicht schon nach der Schule, bekam ich sie spätestens während oder nach dem Training.

Im Gegenzug bekam ich noch ein anderes Hobby dazu. Eines, das ich mir nicht ausgesucht hatte: Marathonläufe zu den verschiedensten Praxen. Ich hatte jahrelang andauernden Leistungssport hinter mir, aber mit diesem Ausmaß konnten meine anderen Hobbys nicht mithalten. Denn obwohl ich recht früh die Diagnose »Migräne mit Aura« bekam, konnte ich trotzdem nichts mit dieser unsichtbaren Krankheit anfangen.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar keine Ahnung, was Migräne wirklich ist. Starke Kopfschmerzen, das wusste ich bereits, weil ich es am eigenen Leib erfahren musste, aber was das nach sich zieht, welche Symptome es gibt, wie die Migräne funktioniert und warum sie immer kommt, wann sie will, das wusste ich alles noch nicht. Letzteres weiß ich bis heute noch nicht, um ehrlich zu sein.

Und genau deshalb, wegen dieses Unwissens, rannte ich ab da von einer Praxis zur nächsten. Ich weiß gar nicht mehr, wo ich als Erstes gewesen bin. Einmal ging ich nicht zur Schule und saß stattdessen mit meiner Mutter im Wartezimmer beim Zahnarzt. Ich klagte seit Tagen über Zahnschmerzen oder Zahnfleischschmerzen, so genau wusste ich es selbst nicht. Der Schmerz breitete sich langsam, aber sicher über meine linke Gesichtshälfte aus.

Als ich endlich dran war, konnte die Ärztin mir nach stundenlanger Untersuchung nicht weiterhelfen. Sie vermutete eine Nasennebenhöhlenentzündung und dass sich Schleim in meinen Nebenhöhlen abgesetzt habe. Also zogen wir weiter zum Hals-Nasen-Ohrenarzt. Da wir spontan vorbeigekommen waren, musste ich weitere zwei Stunden mit Schmerzen darauf warten, bis ich drankam. Der Arzt stellte mich auf den Kopf – nur fand auch er nichts Auffälliges.