Born of War – Vom Krieg geboren -  - E-Book

Born of War – Vom Krieg geboren E-Book

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Beschreibung

Als sich die Wehrmacht gegen Ende des Zweiten Weltkriegs aus den von ihr besetzten Ländern zurückzog, hinterließ sie nicht nur Tod und Zerstörung, sondern auch Hunderttausende von Kindern, die deutsche Soldaten mit einheimischen Frauen gezeugt hatten. Die Frauen wurden von ihrer Umgebung meist geächtet und nicht selten härter bestraft als Kollaborateure. Doch was ist aus den Kindern geworden?
In diesem Buch erzählen Menschen aus ganz Europa von ihrem Leben als »Kinder des Feindes«. Sie berichten von der schwierigen Beziehung zu ihren Müttern, die ihnen oft ihre wahre Herkunft verschwiegen. Und von der mühsamen Suche nach den Vätern, die von der Existenz ihrer Kinder bisweilen nichts wussten – oder auch später nichts wissen wollten. Darüber hinaus schildern Deutsche, die in »Lebensborn«-Heimen zur Welt kamen, ähnliche Erfahrungen. Es sind zutiefst bewegende Geschichten über Zurückweisung und Misshandlung, Unsicherheit und Scham sowie die schmerzhafte Suche nach der eigenen Identität. Aber bisweilen auch über das Glück, spät noch eine zweite Familie zu finden.
Ergänzt wird das Buch durch Einführungen in die historischen Zusammenhänge des jeweiligen Landes.

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Seitenzahl: 497

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Gisela Heidenreich (Hg.)

BORN OF WAR –VOM KRIEG GEBOREN

Europas verleugnete Kinder

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, November 2017entspricht der 1. Druckauflage vom November 2017© Christoph Links Verlag GmbHSchönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag, unter Verwendung eines Motives von bpk/Fotoarchiv RuhrMuseum/Erich Rühl (Spielende Kinder in der Hüttensiedlung Oberhausen, 1950er Jahre)Übersetzungen: Jeanne Jacobs (Übersetzung des Beitrags von Arne Øland aus dem Dänischen); Marlene Märkert (alle Beiträge im Kapitel »Frankreich« aus dem Französischen)

eISBN 978-3-86284-408-1

beharrlichkeit:schweigenablehnung und beharrlichkeitschweigen und ablehnung und beharrlichkeit undhoffnung

Julia de Boor

Inhalt

Vorwort: Europas verleugnete Kinder

Gisela Heidenreich

Finnland

Erst »Waffenbrüder«, dann Feinde – Deutsche Soldaten in Finnland während des Zweiten Weltkrieges

Irja Wendisch

»In meinem ganzen Leben konnte ich zu niemandem Vater sagen.«

Die Geschichte von Pertti

Irja Wendisch

»Welchen Sinn hat das Leben für ein Kind, das nicht wie ein Menschenkind behandelt wird?«

Die Geschichte von Johannes

Irja Wendisch

»Ich bin eigentlich nur noch auf der Suche nach mir selbst.«

Die Geschichte von Tuula

Irja Wendisch

Dänemark

Dänemark unter deutscher Besatzung und der Umgang mit den Wehrmachtskindern

Henny Vestergaard Granum

»Andere Kinder waren fremd, als wären sie Einwanderer aus einem anderen Land, in dem es Väter gab.«

Arne Øland

»Spielen Blutsbande gar keine Rolle?«

Henny Vestergaard Granum

Deutschland

»Heilig soll uns sein jede Mutter guten Blutes« – Der »Lebensborn«

Gisela Heidenreich

»Du bist halt mein Privatkind.«

Heilwig Hadwiga Weger

»Geschenke gibt’s, wenn deine Mutter kommt. Mutter kam nie.«

Barbara Krähmer

»Ich war ein Schubladenkind.«

Brigitta Rambeck

»Jetzt muss ich immer doppelt lieb zu euch sein.«

Imke B.

Norwegen

Die deutsche Besatzung in Norwegen und das Schicksal der »Kriegskinder«

Sarah Rehberg

»Einen Vater zu suchen war nicht das, was ich mir vorstellen konnte.«

Einar Bangsund

»70 Jahre nach meiner Geburt fand meine Mutter ihr Gedächtnis wieder.«

Thorleif Blatt

Norwegisch-deutsche Freundschaft

Nachtrag zum Text von Thorleif Blatt von Gisela Heidenreich

Niederlande und Belgien

Die nationalsozialistische Besatzung in den Niederlanden und Belgien und das Schicksal der »Kriegskinder«

Sarah Rehberg

»Ich will doch meine beiden Eltern lieben dürfen.«

Gisela Heidenreich im Gespräch mit Monika Benndorf

Frankreich

Frankreich im Zweiten Weltkrieg und die »Kinder der Schande«

Stéphane Leteure

Über Cœurs sans Frontières/Herzen ohne Grenzen

Michel Blanc

»Meine Gefühle – richtig oder falsch?«

Huguette

»Was mich tröstet ist letztlich, dass ich aus einer Liebesgeschichte entstanden bin.«

Hervé

»Das einzige Band, das uns verbindet.«

Françoise

»Für sie war ich immer Margarete.«

Claudine

Griechenland

Griechenland im Zweiten Weltkrieg und das Schicksal der griechischen Wehrmachtskinder

Kerstin Muth

»Ich habe mich immer als Europäer gefühlt.«

Gerrit

Italien

Leerstelle Italien

Gisela Heidenreich

»Feindeskinder« in Italien und der »Schrank der Schande«

Roman Arens

Osteuropa

Leerstelle Osteuropa

Gisela Heidenreich

Wehrmachtskinder in der Sowjetunion. Die vergessenen Sekundäropfer des Zweiten Weltkrieges

Barbara Stelzl-Marx

in den klammern eines kriege(r)s

Julia de Boor

Anhang

Ausgewählte Literatur

Abbildungsverzeichnis

Dank

Zu den Autorinnen und Autoren

Zur Herausgeberin

Vorwort: Europas verleugnete Kinder

Gisela Heidenreich

Stellvertretend für Hunderttausende bricht in diesem Buch eine Gruppe von europäischen »Kriegskindern« mit spezifischem Schicksal ihr jahrzehntelanges Schweigen. So verschieden Nationalität, geografische Bedingungen und Sprachen sind, »Kinder des Krieges« in Europa von Nord bis Süd haben vieles gemeinsam: Teilen sie auch schreckliche Erlebnisse, Not und Entbehrung mit allen Kriegskindern ihrer Generation,1 so sind ihre Biografien zusätzlich geprägt durch nagende Zweifel an ihrer Herkunft und den schmerzhaften Mangel an Identität. So paradox es klingt: Diese Kinder verdanken ihr Leben dem Krieg, weil sie im Krieg durch Beziehungen mit »dem Feind« entstanden – aus Liebe oder Ideologie – manchmal auch durch Gewalt.

Deutschlands Eroberungs- und Vernichtungskrieg führte auch dazu, dass in allen von Deutschen besetzten Ländern Europas zwischen 1939 und 1945 deutsche Soldaten Kinder zeugten, von Finnland über Norwegen bis Dänemark, in den Niederlanden, Belgien und Frankreich, auf den Kanalinseln, in Italien und Griechenland, sicher auch in den Balkanstaaten, der damaligen Tschechoslowakei, Polen bis hin zu Teilen der Sowjetunion. Sie wuchsen als »Kinder des Feindes« und somit »Kinder der Schande« im Land ihrer Mütter auf, die nicht selten härter bestraft wurden als Kollaborateure, weil sie sich mit »dem Feind« eingelassen hatten. Sie waren die Sündenböcke, die kahl geschoren mit Schimpf und Schande durch die Straßen gejagt oder sogar interniert wurden.

Ihre Kinder erfuhren meist wenig Liebe, oft genug den Hass und die Schmach, »Deutschenbälger« und »Nazibastarde« zu sein. Der Versuch vieler Mütter, die wahre Herkunft solcher Kinder zu verleugnen und sie als »Kuckuckskinder« in einer Ehe mit einem anderen Mann zu verbergen, war selten ein »Heilmittel«, ebenso wenig wie die Freigabe zur Adoption: Die Lebens- und Leidensgeschichten Betroffener bezeugen dies.

»Wehrmachtskinder« ist eine geläufige Bezeichnung, seit Ebba D. Drolshagen – eine der ersten Autorinnen, die sich mit den Geliebten der Wehrmachtssoldaten im besetzten Europa2 und der Existenz solcher Kinder auseinandergesetzt hat – diesen Begriff geprägt hat.3 Er klammert allerdings »SS-Väter« aus. In der Forschung4 gehören diese Kinder, wie die Besatzungskinder, zu den »Children Born of War«. Vom Krieg geboren sind die Kinder des Krieges, während oder als Folgen des Zweiten Weltkrieges.

Auch wenn streng genommen nur die norwegischen »Lebens-born«-Kinder zu dieser Gruppe gehören, kommen in diesem Buch einige zu Wort, die von deutschen Müttern in Heimen des »Lebensborn e. V.« geboren wurden. Denn auch die Väter der deutschen »Lebensborn«-Kinder wurden meist verleugnet, und die psychosozialen Schicksale ihrer Kinder sind denen anderer Kinder des Krieges sehr ähnlich. Und ihr Beispiel verdeutlicht den Rassenwahn der Nationalsozialisten als Motor für die mörderische Eroberung Europas. »Lebensborn«-Kinder sollten mit ihrer Geburt durch den Krieg entstandene Verluste ausgleichen.

Der Verein der ehemaligen »Lebensborn«-Kinder Lebensspuren e. V.5 gehörte zudem zu den ersten, die sich auf Anregung des Wegbereiters Ludwig Norz, Mitarbeiter der Deutschen Dienststelle WASt6 (Wehrmachtauskunftstelle) 2005 in Berlin, zunächst mit dem französisch-deutschen Verein Cœurs sans Frontières / Herzen ohne Grenzen7 trafen. Verbände und Organisationen aus Belgien, Dänemark, Frankreich, Finnland, Holland und Norwegen haben sich dann 2007 in der WASt zu einem »Europäischen Netzwerk« zusammengeschlossen.8 Unter dem Namen BOW i. n., BORN OF WAR international network9 wurde die Vereinigung Mitglied des Vereins Fantom e. V., einem Netzwerk für Kunst und Geschichte, das der Künstler Ludwig Norz gegründet hatte. 2013 kam eine weitere Gruppe dazu, die »Russenkinder in Deutschland«10, die auf der Suche nach ihren russischen Vätern sind.

Die meist kurz WASt genannte Deutsche Dienststelle spielte und spielt bei der Suche nach unbekannten Vätern eine entscheidende Rolle, wie in den folgenden Beiträgen mehrfach berichtet wird. Die Anfragen dort werden auch in der Gegenwart nicht geringer, mittlerweile ist die Enkelgeneration auf der Suche nach der wahren Herkunft ihrer Großväter.

Ziel des europäischen Netzwerkes BOW i. n. ist die gemeinsame psychohistorische Aufarbeitung der Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges mit Blick auf individuelle Traumata. Der Kontext mit gegenwärtigen Konflikten und Kriegen wird betont. So haben die nationalen Vertreter von BOW i. n. 2012 eine gemeinsame, in die jeweilige Sprache übersetzte Anfrage an ihre Regierungen bezüglich der derzeitigen Auslandseinsätze gestellt:

»Als Kriegskinder vom Zweiten Weltkrieg haben wir selbst erfahren, wie unsere Mütter behandelt wurden, und selten wurden wir willkommen geheißen. Aber wofür kann man ein Kind anklagen? Wie viele andere Länder hat auch [das jeweilige Land] eine UN-Konvention über die Rechte von Kindern unterzeichnet. [Das Land] trägt somit eine große Verantwortung für Kinder [seiner] Soldaten und anderen entsandten Personals. Ein Frieden bewahrender Einsatz sollte kein neuer Krieg gegen Kinder sein.

Mit dieser Sorge im Hintergrund bitten wir um Antwort auf folgende Fragen:

•Welche Richtlinien hat das Verteidigungskommando ausgearbeitet im Hinblick auf die sexuellen Verhältnisse unserer Soldaten?

•Welche Maßnahmen werden zum Schutz der schwangeren Frau vorgenommen?

•Wie verhält es sich mit der Anerkennung des Kindes, das zur Welt gekommen ist, und mit dessen Unterhalt?

•Hat das Kind das Recht und die Möglichkeit, seinen Vater wiederzufinden?

•Kann das Kind seine Akte einsehen und hilft man ihm bei der Suche? (Vergl. Artikel 8 der Kinderkonvention).«

Alle Regierungen haben noch im selben Jahr geantwortet, wenn auch sehr unterschiedlich.11 So gab z. B. das Dänische Verteidigungsministerium eine sehr konkrete Antwort auf die erste Frage:

»Die letzten Verhaltenskodexe enthielten als roten Faden, dass jegliches Verhalten, das die im Einsatzgebiet lebenden Frauen kompromittieren könnte, vermieden werden sollte – so z. B. sich direkt an eine Frau zu wenden, sie zu berühren oder anzustarren. Außerdem geht eindeutig daraus hervor, dass romantische Affären mit der örtlichen Bevölkerung nicht geduldet werden. Sexueller Verkehr ist mit anderen Worten inakzeptabel.«

Das Königliche Verteidigungsministerium Norwegens bescheinigte u. a., dass »norwegische Soldaten, die in internationalen Operationen eingesetzt sind, als öffentliche Bedienstete anzusehen« sind. »Sowohl das Regelwerk für öffentliche Bedienstete, als auch das Strafgesetzbuch verbieten den Kauf von sexuellen Diensten.«

Auf die Frage nach dem Schutz schwangerer Frauen mochte niemand eingehen, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beantwortete »auch im Namen der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel« immerhin die Fragen nach den Rechten und der Staatsangehörigkeit des Kindes u. a. so: »Wenn das Kind durch die Geburt auch die Staatsangehörigkeit der Mutter erworben hat, was in der Regel der Fall sein dürfte, und eine wirksame Anerkennung oder Feststellung der Vaterschaft eines deutschen Staatsangehörigen vorliegt, besitzt das Kind somit im Regelfall die Staatsangehörigkeit der Eltern, also die deutsche Staatsangehörigkeit des Vaters und die ausländische Staatsangehörigkeit der Mutter.«

Genau dieser »Regelfall« ist noch lange nicht die Regel bei allen Kindern des Krieges, und deshalb ist ein anderer Schwerpunkt unserer Zusammenarbeit die gegenseitige Unterstützung bei der Bemühung um die zusätzliche deutsche Staatsbürgerschaft. Alle unsere Aktivitäten zielen auf die Vertiefung europäischer Kooperation und Freundschaft.

Auf Anregung von BOW i. n. erzählen in diesem Buch Kinder des Zweiten Weltkrieges aus Dänemark, Deutschland, Griechenland, Finnland, Frankreich, Holland und Norwegen ihre Lebensgeschichte. Das geschieht keineswegs, um Leid gegen Leid »aufzurechnen«, sondern um exemplarisch zu zeigen, wie existenziell notwendig, schmerzhaft und schwierig die Suche nach den eigenen Wurzeln ist, und wie schwer es ist, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten.

Deutlich wird in den eindrücklichen Lebensbeschreibungen, wie viele Erfahrungen diese Kriegskinder trotz aller Unterschiede der Lebensumstände und der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen über alle Ländergrenzen hinweg verbinden:

Den meisten wurde ihre Herkunft lange verheimlicht, sie stießen immer wieder auf eine Wand des Schweigens und der Ablehnung. Daraus resultierende diffuse Gefühle der Unsicherheit, der Schuld und der Scham kennen alle. Viele haben lange geschwiegen, konnten sich selbst und anderen ihr psychisches Leid und ihre Verletzlichkeit nicht erklären und erkannten erst allmählich den Zusammenhang mit der frühen kindlichen Ver-Störung. Viele fühlen sich »fremd in der eigenen Haut«, kennen die Selbstzweifel und das mangelnde Selbst-Bewusstsein, die oft genug verstärkt werden durch das Wissen, »Täterkind« oder »Feindeskind« zu sein und /oder Produkt des krankhaften Rassenwahns der Nationalsozialisten.

Die wenigsten dieser Zeitzeugen sind in der Geborgenheit einer Familie aufgewachsen, sie alle haben auch lange nach dem Krieg Feindseligkeiten und Ablehnung erfahren. Die meisten waren oder sind noch immer seit Jahrzehnten auf der Suche nach ihren Vätern und ihrer wahren Identität. Zur Identität gehören auch die Historie und die Familiengeschichte auf beiden Seiten. Das ist schwieriger, wenn die Eltern verschiedenen Nationalitäten angehörten, und besonders dann, wenn der Vater ein Feind war, vom sozialen Umfeld gehasst wird. War mein Vater ein Mörder? Habe ich seine schlechten Gene geerbt? So quälen sich viele, wenn sie – meist spät genug – erfahren, dass ihr Vater Deutscher war. Die Holländerin Monika, die lange mit dem »deutschen Vater in mir« gerungen hat, kommt in ihrer Erzählung zu dem Schluss: »Ich wollte doch den deutschen Vater anerkennen und nicht abweisen! Dann musste ich auch seine Geschichte und die Geschichte seines Landes annehmen.«

Was alle verbindet, könnte eine gemeinsame Überschrift zu allen Erzählungen ausdrücken: »Das Schweigen und die Lügen der Mutter«. Mehr noch als die plötzliche Erkenntnis, dass der Vater Deutscher war, habe ihn die Tatsache erschreckt, dass seine Mutter ihn all die Jahre angelogen hatte, schreibt der Däne Arne, und der Finne Pertti fragt sich: »Warum wollte meine Mutter keinerlei Informationen über den Vater ihres Sohnes preisgeben, nicht einmal, als sie eine alte Frau war?«

Es sind Geschichten von Müttern, die ein Leben lang lügen oder schweigen und ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen – oder manchmal mit über 90 Jahren kurz vor ihrem Tod sagen können: »O ja, ich habe ihn geliebt.« Wie die französische Mutter von Huguette.

Es sind Geschichten von Vätern, die ihr Kind zurücklassen mussten oder von seiner Existenz nichts wussten und bis zum Ende ihres Lebens nichts davon erfahren haben – oder wollten. Oder als alte Männer endlich ein fremdes »Kind« in die Arme nehmen konnten.

Es sind Geschichten von Stiefvätern, die dem Kind eines Feindes ihren Namen gegeben haben, selten ihre Liebe, es oft genug misshandelten. »Die Erinnerungen an die Prügel sind noch da«, schreibt der Norweger Einar.

Und es sind Geschichten von Hürden und Willkür der Bürokratie, über Zufälle bei den Recherchen, Glück und Trauer, Freude bei Begegnungen mit der gefundenen Familie oder über den Schmerz, erneut abgewiesen zu werden.

Es war nicht leicht, »Kinder des Krieges« zu finden, die bereit waren, ihr Schicksal zu erzählen – einige tun es in diesem Band zum ersten Mal. Manche haben ihre Zustimmung wieder zurückgenommen, weil sie der Schmerz aus der Kindheit einholte, als sie anfingen zu schreiben, und sie sich nicht damit konfrontieren wollten. Manche haben ihr Einverständnis zur Publikation in letzter Minute wieder zurückgezogen – sie wollten ihr Leben nicht gedruckt ausgebreitet sehen, nicht einmal anonym.

Alle, die schließlich mitgewirkt haben, zeigen auf unterschiedliche Weise, wie existenziell notwendig, wenn auch schmerzhaft und schwierig die Suche nach den eigenen Wurzeln ist – aber auch, dass ein belastetes Leben zu meistern sein kann. Ihre Geschichten machen auch Mut. Und für ihren Mut, ihre Geschichte zu erzählen, gebührt ihnen großer Dank und große Anerkennung.

Diese Berichte bezeugen, wie Kinder unter den Folgen von Kriegen leiden, und hoffen in Gegenwart und Zukunft gehört zu werden, auch wenn sich derzeit bei weltweiten Kriegen und Konflikten die Schicksale auf dramatische Weise wiederholen.

Es gab viele Hürden zu überwinden, das Netzwerk BOW i. n. hat sich trotzdem zur gemeinsamen Herausgabe authentischer europäischer Lebensgeschichten entschlossen, weil es Zeit ist, dass solche Zeitzeugen der Kriegs- und Nachkriegsjahre ihre Erlebnisse selbst erzählen. Erst am persönlichen Schicksal wird Geschichte richtig begreifbar.

Den Berichten aus einem Land wird jeweils ein Rahmentext vorangestellt, so dass die individuellen Erfahrungen in die jeweilige historische Situation eingebettet werden, also der »psychohistorische« Kontext verständlich wird. Das gilt vor allem auch für Jugendliche, die sich in der Schule mit den historischen Fakten zu Nationalsozialismus und Weltkrieg oft bis zum Überdruss auseinandersetzen müssen. In vielen Lesungen an Schulen habe ich erfahren, wie emotionale Betroffenheit durch persönliche Berichte von Zeitzeugen bei Schülern und Lehrern eine andere Sicht auf Krieg und Terror bewirkt – und zugleich die Wachsamkeit für die Gegenwart schärft.

Als die »Kinder des Krieges« heranwuchsen, waren die meisten europäischen Staaten untereinander zerstritten und Feinde Deutschlands. Die Autoren und Autorinnen haben die Annäherung erlebt, sie waren glücklich über ein vereintes Europa, in dem sie sich zuhause fühlen konnten. »Waren wir nicht die ersten echten Europäer?«, fragt die deutsche Dänin Henny, und der deutsche Grieche Gerrit konstatiert: »Ich habe mich damals schon als Europäer gefühlt, also als Person zwischen Deutschland und Griechenland.«

Henny und Gerrit und alle anderen in diesem Buch waren und sind auch »Brückenpfeiler« für ein geeintes Europa. Auch dafür gilt ihnen ein besonderer Dank.

Gerade in dieser Zeit, in der nationale Interessen wieder dominieren und rechtsextreme Randgruppen ihre Wertvorstellungen in die Mitte der Gesellschaft rücken wollen, da der europäische Gedanke auch an der würdelosen Auseinandersetzung über eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen zu zerbrechen droht, erscheint es notwendiger denn je, durch die Erinnerung an individuelle Lebensgeschichten unser gemeinsames Schicksal in einer europäischen Dimension zu betrachten.

Anmerkungen

1Vgl. Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart 2004.

2Ebba D. Drolshagen: Nicht ungeschoren davonkommen. Das Schicksal der Frauen in den besetzten Ländern, die Wehrmachtssoldaten liebten, Hamburg 1998.

3Ebba D. Drolshagen: Wehrmachtskinder. Auf der Suche nach dem nie gekannten Vater, München 2005.

4Vgl. INIRC-International Network for Interdisciplinary Research Children Born of War, www.childrenbornofwar.org; vgl. Elke Kleinau, Ingvill C. Mochmann ( Hg.): Kinder des Zweiten Weltkrieges. Stigmatisierung, Ausgrenzung, Bewältigungsstrategien, Frankfurt a. M. 2016.

5www.lebensspuren-deutschland.eu

6www.dd-wast.de

7www.coeurssansfrontieres.com

8Vgl. Wolfgang Remmers, Ludwig Norz (Hg.): Né maudit – Verwünscht geboren. Kriegskinder, EXPERIENZAWASt Bd. 2, Berlin 2008.

9www.bowin.eu

10www.russenkinder-distelblueten.de

11Alle vorliegenden Antwortschreiben können auf der website www.bowin.eu nachgelesen werden.

Finnland

Erst »Waffenbrüder«, dann Feinde – Deutsche Soldaten in Finnland während des Zweiten Weltkrieges

Irja Wendisch

Als ich Ende der 1990er Jahre von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Auftrag erhielt, einen Artikel über die deutsche Wehrmacht am Polarkreis zu schreiben, wusste ich nur wenig über die deutsch-finnische »Waffenbruderschaft«, die schon seit 1917 im Ersten Weltkrieg bestanden hatte1 und 1941 während des Zweiten Weltkrieges2 erneuert wurde.

Ich bin 1955 geboren und erinnere mich noch an Schützengräben und Betonbunker, die ich als Kind in den Wäldern meines Heimatdorfes Oikarainen entdeckt hatte. Aus meiner Kindheit waren mir auch die verrosteten Helme der deutschen Wehrmacht vertraut, die meine Brüder aus den nahegelegenen Wäldern mit nach Hause schleppten.

Natürlich wusste ich, dass die Deutschen beim Rückzug ihrer Truppen mein Heimatdorf Oikarainen, so wie alle anderen Ortschaften oberhalb des finnischen Polarkreises, systematisch niedergebrannt hatten. Aber erst bei der Recherche zu meinem Artikel dachte ich zum ersten Mal ernsthaft darüber nach, wie das Zusammenleben der deutschen Soldaten mit der finnischen Bevölkerung wohl gewesen sein könnte.

Zwischen 1941 und 1944 waren circa 200 000 deutsche Soldaten in Lappland stationiert, mehr als die Region Einwohner hat. Die meisten von ihnen waren immer wieder über längere Zeit hinweg in der Nähe finnischer Ortschaften untergebracht, weit weg von der Front an der finnisch-russischen Grenze. Zigtausend deutsche Soldaten lebten zur Miete bei finnischen Familien. Umgekehrt fanden viele finnische Frauen gut bezahlte Arbeit bei den Deutschen.

Was machten also die Menschen, als sie Seite an Seite lebten? Wie war der Umgang miteinander? Das wollte ich wissen, als ich mit der Recherche für den Zeitungsartikel begann. In der vorhandenen Literatur fand ich jedoch keine ausreichenden Antworten auf meine Fragen. Deshalb beschloss ich, noch lebende deutsche Soldaten zu suchen, die in Finnland stationiert gewesen waren. Von ihnen wollte ich erfahren, wie das Leben hinter der Front ausgesehen hatte.

Im Laufe der letzten 15 Jahre habe ich zahlreiche Gespräche mit ehemaligen deutschen Soldaten geführt und dabei auch viel über meine eigene Heimat erfahren. Dabei lernte ich Menschen kennen, die gern auf die Zeit und die Menschen von damals zurückblickten. Ich fand niemanden, der den Krieg verherrlichen mochte, aber auch niemanden, der sich mit Hass an die finnische Bevölkerung erinnerte. Die meisten deutschen Soldaten waren junge Männer, die ohne zu ahnen, dass der Krieg ihnen die besten Jahre des Lebens rauben würde, in den Krieg zogen. Hitlers Eroberungskrieg sei, so glaubten viele dieser jungen Männer, bald wieder vorüber und am Ende sollte ein neues, großes Deutschland entstehen. Doch am Ende fanden 5,3 Millionen deutsche Soldaten den Tod, davon die Hälfte an der Ostfront.

Je mehr ehemalige Soldaten ich gesprochen hatte, desto mehr bekam ich das Gefühl, dass diejenigen Soldaten, die in Finnland waren, den Krieg eher als ein großes Abenteuer erlebten, das nur wenig mit der Weltpolitik zu tun hatte. Diejenigen deutschen Soldaten, die in die nordischen Länder geschickt wurden, hatten, ohne es zu diesem Zeitpunkt zu wissen, Glück. Denn im Vergleich zu den Ereignissen an der Ostfront gab es in Skandinavien relativ wenige Kampfhandlungen. Kaum jemand konnte oder wollte mit mir über Kampfhandlungen sprechen. Da die meisten Soldaten sich während des sogenannten Stellungskrieges in Finnland befanden, hatten viele von ihnen kaum kriegerische Auseinandersetzungen erlebt. Ich traf viele ehemalige Soldaten, die ihre Waffen über Jahre nicht ein einziges Mal benutzen mussten. So erzählte mir ein Gesprächspartner, dass bei ihnen höchstens dann ein Schuss fiel, »wenn ein Oberfeldwebel morgens auf seinen Wecker geschossen hat, weil er glaubte, der hätte zu früh geklingelt«.

Obwohl die Soldaten mit dem Bauen von Brücken und Baracken und dem Ausheben von Schützengräben beschäftigt wurden, war die Langeweile ihr größtes Problem. Kein Wunder also, dass diese jungen Männer die Gesellschaft der finnischen Zivilbevölkerung suchten. Es war nicht schwierig, junge finnische Frauen kennenzulernen, denn viele von ihnen arbeiteten für deutsche Einrichtungen, in Kantinen, Wäschereien oder Krankenhäusern. Es wurden Freundschaften geschlossen und Liebesbeziehungen entstanden. Es wurden Kinder in flüchtigen Begegnungen gezeugt, andere wiederum entstanden in festen Partnerschaften. In manchen Familien wurden die deutschen »Verlobten« wie Familienmitglieder behandelt. Manch ein Vater wartete genauso aufgeregt auf das Kind wie die Mutter des zukünftigen Kindes. Drohte die Trennung, so hinterließen diese Männer ein Schreiben mit der Anerkennung der Vaterschaft. Andere Soldaten wiederum waren sicherlich froh, wenn sie rechtzeitig versetzt wurden, um sich der Verantwortung für ein Kind entziehen zu können, wieder andere haben nie erfahren, dass sie ein Kind gezeugt haben, bis sich das in manchen Fällen Jahrzehnte später meldete.

Die Einheimischen erzählten mir gern Geschichten über die Hilfsbereitschaft der deutschen Soldaten, die Bekanntschaften mit den Familien schlossen und Kindern Schokolade, Honigbrot und Äpfel zum Essen gaben. Auch boten die Deutschen den Einheimischen die Möglichkeit an, ihre kulturellen Veranstaltungen, wie Kino oder Theater, zu besuchen.

Kein Wunder also, dass unter diesen Menschen der Glaube herrschte, diese netten Soldaten seien nicht an der späteren Zerstörung Lapplands beteiligt gewesen. »Die meisten Soldaten, die länger im Dorf lebten, wurden am Ende durch neue Kräfte ersetzt«, erzählten sie mir.

Die deutsch-finnische Waffenbruderschaft endete im September 1944, als die Finnen mit der Sowjetunion einen Separatfrieden schlossen und sich verpflichteten, die deutschen Truppen innerhalb von 14 Tagen aus dem Land zu vertreiben. Der zunächst friedliche Abzug eskalierte im Lapplandkrieg.3 Die Wehrmacht hinterließ auf ihrem Rückzug nach Nordnorwegen verbrannte Erde.4 Die Zivilbevölkerung wurde nach Schweden und Südfinnland evakuiert. Kein Wunder also, dass man in der Nachkriegszeit nicht mehr über engeren Kontakt zwischen den Soldaten und der Zivilbevölkerung sprechen wollte. Es herrschte Schweigen, erst zu Beginn dieses Jahrtausends wurde es allmählich gebrochen.

Von diesem Schweigen umhüllt war auch die Kindheit von schätzungsweise 1000 finnischen Wehrmachtskindern. Wie fast alle Wehrmachtskinder in Europa erfuhren sie nur zufällig, manchmal nach jahrzehntelanger Kleinstarbeit, die Wahrheit über die eigene Herkunft und mehr über ihre wahre Identität. Die Mütter schwiegen, weil sie sich dafür schämten, dass sie sich mit einem Deutschen eingelassen hatten. Auch wenn diese Männer anfangs willkommen gewesen waren, als sie den Finnen beim Kampf gegen die Sowjetunion zur Seite standen und halfen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, wollte man diese Freundschaft nach dem Krieg schnell vergessen.

Der Waffenstillstandsvertrag mit der Sowjetunion sah vor, dass eine Alliierte Kontrollkommission, die im September 1944 ihre Tätigkeit aufnahm und aus 200 sowjetischen und 15 britischen Offizieren bestand, die Vereinbarung überwachte. In der finnischen Geschichtsforschung wird die Zeit der Kontrollkommission, die bis zum Herbst 1947 dauerte, als »Jahre der Gefahr« bezeichnet. Auch das zwischen Finnland und der Sowjetunion im Jahr 1948 abgeschlossene Abkommen über einen Freundschafts- und Kooperationsvertrag (YYA) nährte in der Bevölkerung die Angst, die Kommunisten könnten eine Revolution organisieren und die Macht im Land übernehmen.

In diesen Nachkriegsjahren entstanden die Gerüchte über jene Frauen, die beim Rückzug der deutschen Truppen im Herbst 1944 zunächst mit nach Norwegen und, viele von ihnen, später nach Deutschland gegangen waren, Gerüchte, die sich jahrzehntelang hartnäckig hielten: Die Deutschen hätten viele von diesen Frauen später einfach über Bord geworfen, sobald deren Dienste als Geliebte, Küchenhilfe oder Krankenschwester nicht mehr gebraucht wurden. Eine Behauptung, die genauso wenig bewiesen ist wie die Geschichten über Frauen, die angeblich kahl geschoren wurden, als sie nach dem Krieg aus Deutschland nach Finnland zurückkehrten.

Der Weg der Frauen, die mit oder ohne Kind in den Nachkriegsjahren das vom Krieg zerstörte Deutschland in Richtung Finnland verlassen wollten, führte über die Internierungslager von Hanko an der südlichsten Spitze Finnlands. Dort wurden sie verhört, viele von ihnen wegen illegalen Grenzübertritts zu Bewährungsstrafen verurteilt, die meisten jedoch nach einigen Wochen Gesundheitsquarantäne auf freien Fuß gesetzt. Nicht nur diese Frauen, sondern alle Finninnen und Finnen, die das Land in den Kriegsjahren verlassen hatten und nach dem Krieg in die Heimat einreisen wollten, nahmen diesen Weg. Allgemein bekannt ist das Internierungslager von Hanko bis heute jedoch nur im Zusammenhang mit jenen Frauen, die gern »deutsche Flittchen« genannt werden.

Die Historikerin Anu Heiskanen, die das Schicksal dieser Frauen untersucht hat, schätzt die Anzahl der Frauen, die mit den deutschen Truppen nach Deutschland gegangen sind, auf ungefähr 1000. »In Gerüchten und in Geschichten wurden diese Frauen als bemitleidenswerte, brünstige Masse dargestellt, deren misslungener Versuch, hinter dem deutschen ›Fritz‹ herzulaufen, mit einem demütigenden Fußmarsch von Kemi nach Oulu sein Ende fand«, schildert Anu Heiskanen die Situation im Nachkriegsfinnland.5

Dass es zu diesen Gerüchten kommen konnte, ist nach Heiskanens Meinung zum Teil auf einige finnische Wissenschaftler der Nachkriegsjahre zurückzuführen: »So schilderten manche Historiker die Lage der aus Deutschland über die Internierungslager von Hanko nach Finnland zurückgekehrten Frauen als besonders erniedrigend, obwohl alle aus dem Ausland nach Finnland einreisenden Personen mit finnischer Staatsangehörigkeit dieselbe Prozedur durchlaufen mussten.«6

Nach dem Krieg: »Versteckte Kinder«

Kein Wunder also, dass die meisten Mütter, auch wenn sich die politische Situation schon bald nach dem Rückzug der Kontrollkommission normalisierte, die wahre Identität ihrer Kinder am liebsten für sich behalten hätten. Besonders im Norden Finnlands gelang die Geheimhaltung jedoch schwer.

Fast in jedem Ort hatten die Deutschen nicht nur verbrannte Erde hinterlassen, sondern auch Frauen, die entweder schwanger waren oder bereits ein oder mehrere Kinder von einem deutschen Soldaten bekommen hatten. Diese Kinder wurden von anderen Kindern gehänselt, sie fühlten sich fremd in ihrer eigenen Haut. Die Suche nach der wahren Identität dauert bei den meisten von ihnen bis heute an.

In den letzten 15 Jahren habe ich einigen von diesen »versteckten Kindern« bei der Suche nach ihren deutschen Wurzeln helfen dürfen.7 Ich suchte und fand den biologischen Vater oder Halbgeschwister und konnte sie mit den finnischen Töchtern und Söhnen bzw. der neuen Verwandtschaft aus Finnland zusammenführen. Auch wenn die Suche nicht immer glücklich verlief – mal war keine Verwandtschaft mehr vorhanden oder aber sie zeigte kein Interesse an einer Begegnung –, so hatte die Klärung des Schicksals des biologischen Vaters eine enorme Bedeutung für die Einzelnen. Eine oft lebenslange Suche nach dem wahren Ich fand somit ein Ende.

Tuula suchte ihren Vater in Berlin, Pertti irgendwo in Deutschland und Johannes wusste nicht, ob er in Deutschland oder Österreich suchen sollte. Irgendwann in den 1980er Jahren hatten alle drei den ersten Versuch gestartet, nach ihrem deutschen Vater zu suchen. Es handelte sich um Männer, die in den Kriegsjahren in Finnland stationiert waren. Die Mütter von Pertti, Tuula und Johannes waren Finninnen, die während des Krieges einen deutschen Soldaten geliebt hatten. Wie Tausende von finnischen Frauen hatten sie für die in Finnland stationierten Deutschen als Dolmetscherinnen, Küchenhilfen, Näherinnen oder Krankenschwestern gearbeitet.

Ob über die Heilsarmee, das Rote Kreuz oder die Deutsche Dienststelle, ganz gleich wie sie auch suchten, Tuula, Pertti und Johannes mussten die Suche aufgeben, ohne Erfolg.

Anmerkungen

1Deutschland unterstützte den Finnischen Unabhängigkeitskrieg, bildete finnische Freiwillige als »Königlich-Preußisches Jägerbataillon Nr. 27« aus und verhalf 1917 dem bis dahin russischen Großfürstentum Finnland zur Loslösung von Russland.

2Nach Stalins »Winterkrieg« 1939/40 gegen die Finnen verhalfen ihnen deutsche Divisionen ab 1941 zur Rückeroberung der 1940 von Russland annektierten Gebiete.

3Finnlands Oberbefehlshaber Feldmarschall Mannerheim, seit August zugleich Staatspräsident, stellte den aussichtslosen Kampf gegen die Russen an der Seite der deutschen Lappland-Armee Anfang September ein und eröffnete ihn auf Stalins Befehl Ende September gegen die vormaligen »Waffenbrüder«.

4Der über den »finnischen Verrat« empörte Hitler hatte den Befehl dazu erteilt: Straßen- und Eisenbahnbrücken wurden zerstört, ganze Dörfer niedergebrannt und die Hauptstadt Lapplands, Rovaniemi, zerstört.

5Vgl. Anu Heiskanen: Kansakunnan huonot naiset – Myyttinen kuva ja todellisuus Saksan sotavoimien edustajien kanssa seurustelleista naisista, in: Alenius Kari, Fält Olavi, Vahtola Jouko (Hg.): Vieraat sotilaat, Studia Historica Septentrionalia 45, Rovaniemi 2004, S. 182.

6Ebd.

7Vgl. Irja Wendisch: Salatut lapset – Saksalaissotilaiden lapset suomessa, Helsinki 2006.

»In meinem ganzen Leben konnte ich zu niemandem Vater sagen.«Die Geschichte von Pertti

Irja Wendisch

Am 14. September 2005 um 8:30 Uhr befindet sich Pertti in einem rechtsmedizinischen Institut in Kaiserslautern, um gemeinsam mit Rosemarie eine Blutprobe abzugeben. Ist Rosemarie Perttis Halbschwester? Ist Rosemaries Vater Rudolf auch Perttis Vater? In zwei Wochen werden die Ergebnisse der DNA-Analyse vorliegen, dann vielleicht wird Pertti endlich eine Antwort auf eine Frage bekommen, die er sich fast sein Leben lang gestellt hat.

Ich traf Pertti zum ersten Mal im September 2002. Ich hatte ihn, ohne ihn persönlich zu kennen, wie andere Zeitzeugen aus dem Dorf zu einer kleinen Feier in meinem Heimatort Oikarainen im finnischen Lappland im Rahmen der Veröffentlichung meines Buches »Dr. Conzelmanns Kriegsjahre in Lappland« über die deutsche Wehrmacht in Lappland eingeladen. Dr. Conzelmann war in den Jahren 1942 bis 1944 als Truppenarzt eines Sturmbootkommandos dort stationiert gewesen und hatte eine Privatunterkunft gemietet. Nach fast 60 Jahren kehrte er in dieses 400-Seelen-Dorf zum ersten Mal zurück. Von Pertti wusste ich zu diesem Zeitpunkt nur, dass er ein Wehrmachtskind ist und dass seine Mutter Saara aus Oikarainen stammte. Es könnte also durchaus möglich sein, dass Saara ihren Geliebten in Oikarainen kennengelernt hatte. Pertti kam zu der Feier in der Hoffnung, etwas über seinen Vater Rudolf E. zu erfahren. Immer wieder im Laufe seines Lebens hatte Pertti sich gefragt, ob der Geliebte seiner Mutter womöglich im Krieg gefallen war, da er sich nach Kriegsende nie wieder bei seiner Mutter gemeldet hatte. Dr. Conzelmann konnte sich aber an den Namen nicht erinnern.

Schon bald nach meiner ersten Begegnung mit Pertti nahm ich Kontakt mit der WASt, der Deutschen Dienststelle in Berlin, auf, um mehr über den Verbleib von Rudolf E. zu erfahren. Es war Perttis Glück, dass Saara, die ihm nur sehr wenig über den biologischen Vater erzählt hatte, immerhin den kompletten Namen preisgegeben hatte. Auch konnte sich Pertti an eine Adresse in Deutschland erinnern, die seine Mutter ihm gegenüber erwähnt hatte.

Es dauerte nicht lange, bis ich von der Deutschen Dienststelle einen Brief erhielt. Der am 25. September 1914 in Gladbeck geborene Rudolf E. war während des Zweiten Weltkrieges genau unter der Adresse gemeldet gewesen, die Pertti von seiner Mutter erhalten hatte. Ferner ging aus den Unterlagen der Deutschen Dienststelle hervor, dass Rudolf E. »mit Datum vom 1. 11. 1943 in den Erkennungsmarkenverzeichnissen der Armee-Pionierschule Oikarainen« geführt wurde. Diesem Truppenteil soll er bis Kriegsende angehört haben. »Betreffender geriet übrigens vorübergehend in britische Gefangenschaft, aus der er am 2. 9. 1945 wieder in die Heimat entlassen wurde«, teilte mir die Deutsche Dienststelle weiter mit. Ferner konnte ich aus der Mitteilung der Deutschen Dienststelle entnehmen, dass Rudolf E. im Sommer des Jahres 1946 nach Kaiserslautern umgezogen war, wo er am 28. Oktober 1992 starb.

Im Alter von 58 Jahren erhielt Pertti erste Informationen über einen Mann, der womöglich sein biologischer Vater war. Sein Glaube, dass der Vater nach dem Krieg keinen Kontakt zu seiner finnischen Geliebten aufnehmen konnte, weil er im Krieg gefallen war, war mit diesen Informationen hinfällig geworden. Aber Pertti fühlte sich erleichtert und neue Hoffnung keimte in ihm auf: Hatte Rudolf womöglich eine Familie in Kaiserslautern gegründet? Hatte er eventuell eine Frau und Kinder gehabt? Vielleicht würde Pertti Schwestern oder Brüder finden? Vielleicht würde er endlich Menschen treffen können, die den unbekannten Vater gekannt haben und ihm erzählen könnten, was für ein Mensch der Vater gewesen war?

Im Januar 2003 wandte ich mich an die Stadt Kaiserslautern mit der Bitte um Meldeauskunft zur Familienzusammenführung im Fall von Rudolf E. Ich hatte einen Brief an die fiktiven Angehörigen vorbereitet und bat um Weiterleitung, falls es Verwandtschaft geben sollte. Bereits nach zwei Wochen schrieb mir eine Angestellte der Stadt sichtlich erfreut, dass sie zwei Töchter von Rudolf E. ausfindig machen konnte. Mit einer von ihnen, Brigitte, hatte sie bereits telefoniert. Brigitte hatte ihre Zustimmung zur Weitergabe ihrer Daten gegeben, und so konnte ich sie telefonisch erreichen.

Es fiel mir nicht leicht, in dieser sensiblen Angelegenheit nach dem Hörer zu greifen, aber ich tat es trotzdem. Am anderen Ende der Leitung hörte ich die Stimme einer etwas unsicher wirkenden Frau. Zum Glück war sie über die Angelegenheit informiert worden und deshalb nicht allzu sehr überrascht. Auf meine Fragen hin berichtete mir Brigitte, dass ihr Vater sogar ziemlich viel über die Kriegszeit erzählt hatte, aber von einer Liebschaft, ja sogar von einem Kind sei niemals die Rede gewesen. Brigitte war sich sicher: Hätte ihr Vater von einem Kind in Finnland gewusst, hätte er ganz sicher die Verantwortung dafür übernommen.

Diese Informationen übergab ich Pertti und bat ihn, einen Brief an Brigitte zu schreiben. Ich übersetzte ihn ins Deutsche und leitete ihn samt einem Foto an Brigitte weiter. Danach tauschten sich die beiden gelegentlich per E-Mail aus, bis Pertti im Juni 2003 gemeinsam mit Frau und Tochter nach Kaiserslautern fuhr, um Brigitte zu besuchen.

Ich traf Pertti kurz danach in Oikarainen und hatte das Gefühl, noch nie einen glücklicheren Mann getroffen zu haben. »Ich war schrecklich aufgeregt vor der Begegnung«, erzählte er mir. »Aber der Empfang war sehr herzlich und die Aufregung war schnell vorbei. Brigitte hat mich und mein Jugendfoto betrachtet und sofort Ähnlichkeiten mit ihrem Vater feststellen können. Brigitte erzählte mir auch von einer Kiste voller Fotos aus der Kriegszeit, die sie in ihrer Kindheit gelegentlich im Arbeitszimmer ihres Vaters heimlich in Augenschein genommen hatte. Ob unter den Fotos auch ein Bild von Saara war, wusste sie aber nicht mehr zu berichten. Brigitte lebt mit ihrer Familie in einem Teil ihres Elternhauses, im anderen Teil des Hauses wohnt ihre Schwester Rosemarie, mit der sie aber wenig Kontakt hat. Brigitte erzählte mir, dass Rudolf die einzige Tochter des Betreibers eines gut gehenden Malergeschäftes geheiratet und später selbst das Geschäft übernommen hatte. Als ich mich nach einigen Stunden von Brigitte und ihrem Mann verabschiedet hatte, klingelte ich noch kurz an der Tür am anderen Ende des Hauses, aber dort war anscheinend niemand zu Hause.«

Nach dem ersten Besuch in Kaiserslautern bat mich Pertti, Kontakt mit Rosemarie aufzunehmen, ich kam jedoch diesem Wunsch aus unerklärlichen Gründen nicht gleich nach.

In den zwei darauffolgenden Jahren wechselten Pertti und Brigitte gelegentlich kurze E-Mails, ohne ein Wort über die Schwester zu verlieren. Fragen zu Rosemarie wollte Pertti nicht stellen, weil ihm klar war, dass das Verhältnis zwischen den beiden Schwestern nicht gut war. Im Juni 2005 bat Pertti mich dann, einen Brief, den er an Rosemarie geschrieben hatte, zu übersetzen und teilte mir gleichzeitig mit:

»Ich beabsichtige nun, im September nach Deutschland zu kommen in der Hoffnung, auch Rosemarie treffen zu können. Ich habe mir in den vergangenen zwei Jahren viel Zeit genommen, um meine Gedanken zu sortieren. Jetzt ist es mein dringender Wunsch, absolute Gewissheit über meine Herkunft bzw. die Vaterschaft zu bekommen. Ich habe mich über die Möglichkeit eines DNA-Tests informiert und man hat mir erklärt, dass man in einem solchen Fall wohl keine 100-prozentige Sicherheit erreichen könne, aber eine einigermaßen klare Aussage wäre wohl möglich, wenn eine oder womöglich beide Schwestern sich zu solch einem Test bereit erklären würden. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schrieb diesbezüglich an Brigitte einen Brief. Ich musste ziemlich lange auf eine Antwort warten, dann aber schrieb sie mir, dass einer solchen Untersuchung im Prinzip nichts entgegenstünde.«

Erst zwei Wochen vor der Abreise Perttis nach Deutschland übersetzte ich endlich den an Rosemarie gerichteten Brief. Gespannt warteten wir auf die Antwort, die nicht lange auf sich warten ließ. Aus dem Brief konnte man entnehmen, dass Brigitte ihrer Schwester nichts von Perttis Besuch zwei Jahre zuvor erzählt hatte. »Wie Ihnen Familie N. bestimmt erzählt hat, haben wir seit vielen Jahren keinen persönlichen Kontakt mehr, und was meinen Vater betrifft, haben wir immer über sehr viel geredet, aber von der eventuellen Existenz eines Sohnes hat er nie etwas erzählt, also gehe ich davon aus, dass er davon nichts wusste. Da ich für meine Eltern immer jeglichen Schriftverkehr erledigt habe, ist mir auch von einer Unterhaltsleistung an Ihre Mutter nichts bekannt. Ich kann nicht sagen, dass mich Ihre Nachricht sehr ›geschockt‹ hat, aber überrascht schon. […] Ich bedauere sehr, dass mein Vater seine Wahrheit dazu nicht mehr sagen kann und alles, was Sie mir jetzt erzählt haben, sich nur auf die Aussagen Ihrer Mutter beschränkt.

Auch kann ich nicht verstehen, dass Sie vor zwei Jahren bei Familie N. waren und nach Ihrer Rückkehr nach Finnland mir nicht von Ihrem Besuch berichtet haben, und Sie sich so lange Zeit ließen, den Wunsch zu äußern, mich kennenzulernen. Mein Lebensweg war nicht immer sehr leicht und einfach, deshalb möchte ich Sie nun auch direkt fragen, was die Absicht Ihres Besuches ist. Möchten Sie einfach nur mehr über Ihren eventuellen Vater und seine Kinder erfahren oder verfolgen Sie andere Absichten?«

Nur zwei Tage vor seiner Abreise nach Deutschland erhielt ich dieses Schreiben von Pertti mit der Bitte um Übersetzung. Beim Übersetzen kam ich ins Schwitzen bei dem Gedanken, dass Rosemarie vermuten könnte, Pertti würde den Kontakt suchen in der Hoffnung auf eine eventuelle Erbschaft. Um diesem Missverständnis vorzubeugen, beschloss ich, Rosemarie gleich anzurufen. Am anderen Ende der Leitung begrüßte mich eine Frau mit energiegeladener, munter klingender Stimme. Ich stellte mich vor und machte gleich deutlich, dass eigentlich ich schuld daran war, dass der Kontakt erst jetzt zustande kam. Ich versicherte ihr auch, ohne dass sie danach gefragt hätte, dass es sich hier nicht um Erbschaftsangelegenheiten handelte und sie diesbezüglich keine Angst zu haben brauche, denn nach der deutschen Gesetzgebung gebe es diese Möglichkeit gar nicht. Es ginge Pertti nur um die Suche nach den eigenen Wurzeln.

Rosemarie reagierte mit Erleichterung. Sie lud mich und Pertti mit großer Neugier auf unseren Besuch in ihr Haus ein. Bei der Ankunft spürten wir sofort, dass wir willkommen waren. Rosemarie wohnte in ihrem Haus gemeinsam mit ihrer Tochter und deren Ehemann. Wir alle fünf setzten uns zum Kaffeetisch und verstanden uns prächtig. Stundenlang saßen wir zusammen und redeten ununterbrochen. Pertti versuchte sich immer wieder auf Deutsch zu verständigen, wenn das nicht klappte, kam ich ihm zu Hilfe. Rosemarie erzählte umfangreich von ihrer Kindheit und dem Leben ihrer Eltern und erfuhr nach und nach gleichzeitig Perttis Geschichte.

Rudolf E., Perttis Vater, circa 1940

Pertti

»Vermutlich haben Saara und Rudolf sich im Frühjahr 1944 in Oikarainen kennengelernt, denn zu diesem Zeitpunkt war Rudolf dort stationiert, um in der Pionierschule den deutschen Soldaten Skilanglauf beizubringen. War Rudolf eventuell einer der Soldaten, die täglich bei Saaras Bauernfamilie Milch gekauft hatten? Oder begegneten sie sich bei den Tanzabenden, die zwar verboten waren, aber trotzdem immer wieder heimlich hinter verschlossenen Fenstern und Türen irgendwo spontan veranstaltet wurden?

Niemand von der heutigen Dorfbevölkerung kann es mehr erzählen, aber meine Mutter muss von diesem jungen blonden Deutschen sehr beeindruckt gewesen sein. Sie verliebte sich mit der Leidenschaft einer 19-Jährigen und verlor offensichtlich keinen einzigen Gedanken an die Folgen dieser Verliebtheit. Bis zum Morgengrauen blieb sie gelegentlich in der Kaserne der Pionierschule bei Rudolf, was strengstens verboten war. Dann lief sie in Windeseile, um nicht entdeckt zu werden, quer über den zugefrorenen Fluss nach Hause. In den taghellen Nächten im Mittsommer des Jahres 1944 muss sie dann schwanger geworden sein. Ob sie Rudolf zum Abschied im September über ihren Zustand informierte, ist unbekannt.

Als der Aufruf zur Evakuierung die Bevölkerung in Oikarainen in der zweiten Septemberwoche 1944 erreichte, begannen die am Südufer des Flusses lebenden Menschen ihr Hab und Gut auf das Nordufer zu transportieren, wo sich das Barackendorf der deutschen Soldaten befand. Das Vieh wurde schwimmend zum anderen Ufer getrieben, die Gegenstände in Ruderbooten über den 200 Meter breiten Strom gebracht, denn die von deutschen Soldaten erst im Juli des Jahres als Ersatz für die Fähre gebaute Brücke durften die Einheimischen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr benutzen, sie wurde kurz danach gesprengt.

An der Sammelstelle angekommen, wurden alte Menschen und die meisten Frauen auf LKWs zum Weitertransport geladen, für den Transport des Viehs waren die jungen Frauen des Dorfes wie Saara zuständig, sie trieben es zu Fuß vor sich her. Saara lief in der Gruppe zunächst die 20 Kilometer nach Rovaniemi, dann täglich weitere 20 Kilometer, bis das über 100 Kilometer entfernte Haparanda an der schwedischen Grenze erreicht war. Der Schrecken war groß, als die Mädchen von den Grenzsoldaten aufgefordert wurden, sich nackt auszuziehen, um sich in der Sauna einer Läuse-Kontrolle zu unterziehen. Die Nacht darauf verbrachten sie in Zelten, am nächsten Morgen ging die Reise über Pieteå nach Burträsk weiter, wo Saara gemeinsam mit anderen Flüchtlingen aus ihrem Heimatdorf in verschiedenen Räumlichkeiten der Kirchengemeinde des Ortes untergebracht wurde.

Zu diesem Zeitpunkt war Saara bereits im vierten Monat mit mir schwanger, ohne dass die mitreisenden Mädchen über ihren Zustand Bescheid wussten. Groß und schlank wie sie war, konnte sie ihre Schwangerschaft bis zum Ende verheimlichen. Erst nachdem sie mich zur Welt gebracht hatte, erfuhren die anderen Mädchen davon. Im Burträsk versorgte Saara bis zum Ende ihrer Schwangerschaft die Kühe ihrer Familie. Als die Wehen am frühen Abend einsetzten, fuhr sie allein mit dem Tretschlitten ins Krankenhaus. Ich wurde Mitte März 1945 geboren und ein Pfarrer aus Rovaniemi taufte mich auf den Namen Bertil Rudolf. Als eine der Letzten kehrte meine Mutter mit mir im Frühjahr 1946 zurück nach Oikarainen. Da konnte ich schon laufen.

Die ersten Monate nach ihrer Rückkehr verbrachte meine Mutter bei ihrer Familie, zog aber bald nach Rovaniemi, wo sie neben einem Sportplatz wohnte, der bis heute den Namen des deutschen Generals Erwin Rommel trägt. Dort hatte der schwedische Staat Baracken für die Bewohner der völlig zerstörten Stadt herrichten lassen. Hier kam Saara mit mir unter.

Diese Geschichten habe ich nach und nach erfahren, meine eigenen frühesten Erinnerungen an meine Kindheit führen mich zurück ins Jahr 1947.

Meine Mutter Saara hatte ihren zukünftigen Mann ziemlich bald nach ihrer Rückkehr aus Schweden kennengelernt und bereits im November 1947 geheiratet. Ich kann mich sehr gut an die Hochzeit und den darauffolgenden Umzug in eine kleine Zweizimmerwohnung erinnern.

Ich war keine drei Jahre alt, als das erste gemeinsame Kind von Saara und dem Stiefvater geboren wurde. Die kleine Schwester lebte jedoch nicht lange, sie starb an plötzlichem Kindstod. Die Trauer der Mutter und die Beerdigung der Schwester sind mir noch in lebhafter Erinnerung.

Die ersten Jahre mit dem Stiefvater verliefen harmonisch. Ein eigenes Haus wurde gebaut und im Jahr 1949 fertiggestellt. An den Wochenenden radelte die kleine Familie die 20 Kilometer lange Strecke nach Oikarainen zur Familie meiner Mutter. Es war ein schönes Gefühl, während der Fahrt beim Stiefvater auf dem Gepäckträger oder quer auf der Stange seines Herrenrades zu sitzen.

Bei der Oma Lyyli fühlte ich mich immer wohl und willkommen. Wie die Oma im Schaukelstuhl sitzt und schaukelt, wie ich auf ihren Schoß klettere und dort geknuddelt werde, das Gefühl der Geborgenheit dabei habe ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen. Als ich etwas älter war, verbrachte ich immer längere Zeiten bei der geliebten Oma. Gemeinsam mit dem jüngsten Sohn der Oma, einem Halbbruder von Saara, oder mit einem Nachbarsjungen namens Erkki, der auch ein Wehrmachtskind war, wie ich später erfuhr, ging ich angeln. Diese Zeit ist mir als die glücklichste meiner Kindheit in Erinnerung geblieben, vielleicht auch deshalb, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, was es bedeutet, ein Wehrmachtskind zu sein.

Dann kam das Jahr 1951 und ich erlebte den ersten Schock meines Lebens. In der Stadt vor dem Haus meiner Mutter und des Stiefvaters spielte ich gerade auf der Straße mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft, als diese mir zuriefen: ›Du bist das Kind eines Deutschen!‹ Ich ging nach Hause zu meiner Mutter und erzählte ihr, was passiert war, aber meine Mutter reagierte eigentlich gar nicht. Sie sagte mir nur, ich solle mir keine Gedanken darüber machen, was die anderen erzählten. Die ganze Angelegenheit wurde also einfach totgeschwiegen. Noch heute kann ich nicht sagen, ob ich zu jenem Zeitpunkt gedacht habe, mein Stiefvater wäre mein biologischer Vater, aber eines weiß ich ganz genau: Ich habe kein einziges Mal ›Vater‹ zu ihm gesagt, ich sprach ihn immer mit seinem Vornamen oder mit einer Abkürzung des Namens an. Für mich war er Allu, aber warum es so war, weiß ich bis heute nicht. In meinem ganzen Leben konnte ich zu niemandem ›Vater‹ sagen. Für einen Jungen ist das ein Verlust, ein sehr großer Verlust.

Die Nachbarn hatten die Wahrheit über meine Herkunft aus einer kleinen Zeitungsannonce erfahren. Rechtzeitig vor dem Schulbeginn hatte meine Mutter nämlich bei der Behörde eine Namensänderung beantragt, wohl wissend, dass der Sohn aufgrund seines ungewöhnlichen Namens in der Schule unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. So wurde Bertil Rudolf zu Pertti Antero. Als Nachnamen erhielt ich den Namen meines Stiefvaters. Da es sich bei der Umbenennung um eine Namensänderung und nicht um eine Adoption handelte, musste der Akt öffentlich bekannt gegeben werden. Mit mir hatte man jedoch nicht darüber gesprochen. Alle wussten es, nur ich nicht.

Das musste ich schon bald nach Schulbeginn bitter erfahren. Einen ›deutschen Bastard‹ haben sie mich genannt. Ich wunderte mich, woher die Kinder so etwas hatten. Es fühlte sich schlecht an, sehr schlecht. Bei der Oma in Oikarainen war alles ganz anders. Die Menschen im Dorf haben immer über mich als Saaras Sohn gesprochen. Für sie war ich niemals Allus Sohn, sondern wurde immer über meine Mutter definiert. Über meinen Vater wurde nie ein Wort gewechselt.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich eines Tages, als ich auf dem Schoß meiner Oma saß, kurzerhand nachfragte, was dieses Gerede über den deutschen Vater bedeuten würde. Aber die Oma sagte nur lakonisch, es sei die Angelegenheit meiner Mutter, mit mir darüber zu sprechen, sie möchte dies nicht tun. Heute glaube ich, dass sie sich nicht in die Angelegenheiten ihrer Tochter einmischen wollte. Ich habe auch keine Ahnung, ob Saara jemals mit ihrer Mutter darüber gesprochen hat.

Je mehr eigene Kinder der Stiefvater bekam, desto schlechter wurde das Verhältnis zwischen uns beiden, obwohl es in den ersten Jahren des Zusammenlebens gut gewesen war, wenn auch distanziert. Bald spürte ich fast tägliche Diskriminierung. Wenn nichts zu bemängeln war, wurde ich von ihm einfach ignoriert. Von meiner Mutter bekam ich Geld für neue Kleider, Schulbedarf und Hobbys. Trotz großer Familie war Saara immer berufstätig. Zuerst besaß sie einen Tante-Emma-Laden, später arbeitete sie als Angestellte in einem Büro. Zu Hause kümmerte sich eine Haushaltshilfe um alles.

Je älter ich wurde, umso mehr verschlechterte sich das Verhältnis zum Stiefvater. Allein meine Anwesenheit brachte ihn auf die Palme. Ich hatte niemals Recht und alles war meine Schuld. Immer fing der Streit als Wortgefecht an, meistens blieb es auch dabei, aber gelegentlich kämpften wir richtig miteinander. Auch in der Ehe mit Saara stand es, trotz sechs gemeinsamer Kinder, nicht zum Besten. Mit dem Lebensstil ihres Ehemannes war sie noch nie einverstanden gewesen. Er leitete das Ersatzlager eines Autohauses und verbrachte viel Zeit mit seinen Kunden in Restaurants. Eines Tages erzählte ich meiner Mutter, dass ich den Stiefvater mit zwei fremden Frauen und einem Mann in der Stadt gesehen hatte. Daraufhin verprügelte er mich heftig und ich musste sagen, ihn niemals mit einer anderen Frau gesehen zu haben! Ansonsten hätte ich wohl nicht überlebt. Ich war 15, als die Situation zu Hause derart eskalierte, dass ich zu meiner Oma ziehen musste. Ein halbes Jahr lang fuhr ich den 20 Kilometer langen Weg mit dem Bus zur Schule, bis meine Mutter beschloss, mir eine eigene Wohnung in der Stadt zu mieten.

Als mein jüngster Bruder mit dem Abitur fertig war, reichte meine Mutter mit 55 Jahren die Scheidung ein.

Über Rudolf habe ich insgesamt genau vier Mal mit ihr gesprochen. Zum ersten Mal damals als kleiner Junge im Zusammenhang mit seiner Namensänderung, das zweite Mal als 15-Jähriger. Auch dabei verlor Saara nur wenige Worte.

Zum dritten Mal versuchte ich es im Jahr 1971, als sie mich zur Abschlussfeier meines Fachhochschulstudiums besuchte. Als wir gemeinsam mit dem Auto nach Hause zurückfuhren, fing ich wieder an zu fragen. Ich spürte, dass meine Mutter immer noch nicht gern darüber sprach, aber zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich den Namen meines Vaters. Auch die Adresse in Deutschland erwähnte sie. Sie sagte, dass Rudolf ein gutaussehender, höflicher Mann gewesen war, der gut tanzen konnte. Gesellig und gebildet sei er gewesen. Der Sommer mit dem Mann, den sie geliebt hatte, sei einfach wunderbar gewesen. Das vierte und letzte Mal redeten wir miteinander über Rudolf Mitte der 1990er Jahre. Ich erzählte meiner Mutter, dass ich um Auskunft über Rudolf bei der Deutschen Dienststelle in Berlin gebeten hatte. Sie reagierte etwas unwirsch und bat mich, endlich die alten Angelegenheiten ruhen zu lassen. Die Antwort aus Berlin war negativ. Solange ich das Geburtsdatum oder weitere Merkmale nicht nennen könne, könnte man mir leider nicht weiterhelfen. Als meine Halbschwester wenig später von einer Reise nach Deutschland und Österreich zurückkam, wollte sie mit Mutters Hilfe die Suche wieder aktivieren. Saara wies ihre Tochter zurück mit der Begründung, die Sache ginge sie gar nichts an.

Pertti als Soldat der finnischen Armee, circa 1965

Heute möchte ich gern verstehen, warum meine Mutter und alle anderen Frauen, die mit ihr das gleiche Schicksal teilten, eine Schutzmauer um sich aufgebaut haben. Aus welchem Grund wollte meine Mutter keinerlei Informationen über den Vaters ihres Sohnes preisgeben, nicht einmal, als sie schon eine alte Frau war? Ich glaube, dass die Schwangerschaft für Saara ein sehr traumatisches Erlebnis gewesen sein muss. Hat die Verbitterung auch damit zu tun, dass sie, schon schwanger, den zwei Wochen dauernden Fußmarsch nach Schweden machen musste? Oder waren die Umstände in Schweden so schrecklich für sie, dass ihr Leben dadurch vollständig ruiniert wurde? Hat sie während der Flucht vielleicht einen Teil ihrer selbst verloren?

Ohne Antworten auf diese Fragen habe ich leben müssen. Immer wieder habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen, um sie zum Erzählen zu zwingen. Jedes Mal hat mich der Mut wieder verlassen, mein Respekt der eigenen Mutter gegenüber war einfach zu groß. Ich schätzte meine Mutter sehr. Sie wurde von allen respektiert, sie war eine gewissenhafte Angestellte, die sehr gut mit Menschen klarkam. Auch wenn das Verhältnis zwischen ihr und uns Kindern nicht so herzlich war, wie meine Geschwister und ich es gewünscht hätten, wir wussten immer, dass Mutter uns liebt. Nur das Leben hat sie verhärten lassen. So blieb das Verhältnis bis zu ihrem Tod als 75-Jährige im Jahr 2000.«

Pertti und Rosemarie

Am Kaffeetisch in Kaiserslautern reicht Pertti Rosemarie ein Foto von Saara, auf dem sie als junge Frau zu sehen ist. Vielleicht kann sich Rosemarie daran erinnern, ein Bild von ihr in Rudolfs Pappkarton gesehen zu haben? Perttis Hoffnung ist groß, dass er während dieser Reise handfeste Beweise für die Vaterschaft sammeln kann, Gewissheit darüber, dass Saara und Rudolf ein Liebespaar waren.

Als Rosemarie das Foto von Saara in ihren Händen hält, sieht sie sichtbar erstaunt aus. Die Frau selbst erkennt sie nicht wieder, aber ihr Gesicht kommt ihr sehr vertraut vor. Rosemarie steht auf, kramt in ihrem Fotoarchiv herum und zieht dann ein Bild ihrer Mutter Sophie als junge Frau hervor. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen ist verblüffend. Als Sophie und Rudolf sich kennenlernten, war Sophie gerade Witwe geworden. Sophies große Liebe, ein Nachbarsjunge, war kurz nach der Hochzeit im Krieg gefallen. Rudolf war vom Reservelazarett Landstuhl, wo er wegen seiner Knöchelverletzung behandelt worden war, mit dem Zug unterwegs nach Hause.

Diese Geschichte hatte Rosemarie von der Mutter des Öfteren erzählt bekommen. Sophie war noch in Trauer gewesen und Rudolf musste sehr hartnäckig sein, um sie von seiner Liebe zu überzeugen.

Rudolf und Sophie haben im Jahr 1946 geheiratet, aber in welchem Jahr haben sie sich kennengelernt? Rosemarie erzählt, dass Sophie im Jahr 1940 ihren ersten Mann geheiratet hatte und ein Jahr darauf Witwe wurde. Also müssen ihre Eltern sich wohl bereits im Jahr 1942 zum ersten Mal begegnet sein? War Rudolf bereits mit Sophie zusammen, als er Saara begegnete? Wir beschließen, Informationen über Rudolfs Kriegsjahre bei der Deutschen Dienststelle zu holen. Vielleicht ist dort dokumentiert, zu welchem Zeitpunkt Rudolf wegen der Knöchelverletzung behandelt wurde?

Was für ein Mensch war Rudolf? Pertti möchte von Rosemarie gern eine ausführliche Beschreibung. Rosemarie erzählt und ich übersetze: Seine Jugend verbrachte Rudolf mit seiner Mutter und zwei älteren Schwestern in Holland. Von dort zogen sie vermutlich bei Kriegsbeginn nach Wuppertal. Das Verhältnis zur Mutter war nicht besonders gut. Sie war eine strenge Frau, die gern auch mal zuschlug. Einmal so fest, dass bei Rudolf das Trommelfeld platzte.

Rosemarie kann sich gut an die Geschichten ihres Vaters über die Kriegsjahre erinnern. Wie er manchmal Strecken von 120 Kilometern auf den Langlaufskiern zurücklegen musste. Gern erinnerte er sich an die gute finnische Milch, die die Soldaten vom Bauernhof holten.

Rosemarie lacht laut los, als Pertti erzählt, dass Rudolf nach Saaras Auskunft ein guter Tänzer gewesen sei. Eher unbeholfen und nicht sehr gesellig sei er gewesen, und tanzen konnte er gar nicht, meint Rosemarie. Die Familie und Arbeit seien Mittelpunkt seines Lebens gewesen. Sein Schwiegervater sei bis zu dessen Tod sein bester und einziger Freund gewesen. Neben der Beschäftigung in der Firma seines Schwiegervaters arbeitete Rudolf auch als Berufsschullehrer und war Vorsitzender der Handwerkskammer. In dieser Funktion gehörte er auch der Kommission an, die die Prüfungsarbeiten für Malermeister entwarf. Für seine ehrenamtlichen Verdienste erhielt er sogar das Bundesverdienstkreuz.

Sophie wiederum sei eine sehr gesellige Frau gewesen, die sich unter Menschen sehr wohl gefühlt habe. Sie sei eine selbständige Frau und eine gewissenhafte Mutter gewesen, von Beruf Hutmacherin, die in den ersten Nachkriegsjahren auch ihren Mann ernährt hatte. Rudolf hatte Maurer gelernt, während seiner Umschulung zum Malermeister verdiente Sophie das Geld. Nach der Geburt von Rosemarie im Jahr 1948 sei Sophie zu Hause geblieben. Brigitte wurde im Jahr 1950 geboren.

Erst vor einigen Tagen hat Rosemarie erfahren, dass sie möglicherweise einen Bruder hat. Sie kann nicht glauben, dass der Vater absichtlich die Existenz seines Sohnes verheimlicht hätte, weil er es immer bedauert hätte, keinen Sohn zu haben.

Je länger sie Pertti zuhört, desto glaubhafter erscheinen ihr seine Erzählungen. Als Pertti dann vorsichtig seine Pläne zu dem Gentest offenbart, wirkt Rosemarie nicht überrascht. Sie hatte schon damit gerechnet, sagt sie und kann Perttis Wunsch sehr gut nachvollziehen.

Sie greift zum Telefon, um von einer Freundin zu erfahren, wo man in Kaiserslautern einen Gentest durchführen kann. Dann verabschieden wir uns. Pertti fährt mit seinem Mietwagen los, »um sein ›Vaterland‹ etwas näher kennenzulernen«, verspricht aber, in einigen Tagen zurückzukommen, falls Rosemarie bis dahin einen Termin für einen Bluttest bekommen hat.

Der Termin steht fest, aber der Arzt hat schon vorab Pertti darüber informiert, dass ein nur mit einer Schwester durchgeführter Test möglicherweise nicht aussagekräftig genug wäre. Ein eindeutigeres Ergebnis würde man bekommen, wenn beide Schwestern eine Probe abgeben würden. Aus Kostengründen verzichtet Pertti jedoch zunächst auf das Testen von Brigitte.

Der Test wird am 14. September durchgeführt und das Ergebnis erhält Pertti am 7. November 2005. »Es ist eindeutig«, teilt mir Pertti mit. »Mit 96-prozentiger Sicherheit ist Rudolf mein Vater. Es ist wunderbar, dass diese Angelegenheit wie geplant verlaufen ist«, schreibt mir Pertti. »Sieht ganz so aus, dass mein bisheriges Leben ein glückliches Ende gefunden hat. Ich bin sehr positiv gestimmt. Nun hoffe ich von Rosemarie ein Foto von Rudolf zu bekommen. Ich will das Foto allen Zeitzeugen im Dorf zeigen und sie fragen, ob sie Rudolf gekannt haben. Ich würde so gern herausfinden, wie ernsthaft die Beziehung zwischen den beiden war, möchte Beweise dafür sammeln, dass es sich bei der Beziehung nicht nur um eine flüchtige Begegnung gehandelt hat.«

In Rovaniemi macht Pertti gemeinsam mit seiner Frau eine Flasche Wein und eine Dose Pfälzer Leberwurst auf, die Rosemarie ihm geschenkt hat.

Rosemarie hatte mir Perttis Ergebnis auch in einer E-Mail mitgeteilt: »Jetzt habe ich einen BRUDER! Da ich halbe Sachen noch nie gemocht habe, mag ich das Wort Halbbruder nicht, mir gefällt Bruder besser! Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie glücklich Pertti wohl jetzt ist. Mit 60 Jahren endlich Gewissheit zu erhalten. Ich freue mich für ihn!«

Bald erhält Rosemarie auch Post von der Deutschen Dienststelle. Uns interessiert natürlich brennend, in welchem Jahr sich Rudolf und Sophie getroffen haben. Hatte Rudolf während des Krieges gleichzeitig ein Verhältnis mit zwei Frauen?

Die Deutsche Dienststelle teilt mit, dass Rudolf am 2. August 1942 bei Njato-Wara in Russland durch eine Fliegerbombe verletzt worden war und von Oktober bis Dezember 1942 in jenem Lazarett untergebracht war, von wo aus er auf der Rückfahrt Sophie kennenlernte. Jetzt hatten wir also die Gewissheit: Rudolf hatte Sophie bereits im Jahr 1942 kennengelernt, wie Rosemarie sich richtig erinnerte. Vielleicht hatte Rudolf zunächst keinen Erfolg bei Sophie und begann daraufhin in Finnland ein Verhältnis mit der zehn Jahre jüngeren Saara, die eine große Ähnlichkeit mit Sophie hatte? Vielleicht verliebte er sich in das schüchterne, junge Mädchen, das er dann wegen der Kriegsereignisse aufgeben musste – und wollte, weil er Sophie wiedertraf? Irgendwann hatte Saara Pertti flüchtig erzählt, dass sie der Mutter von Rudolf von Schweden aus geschrieben und sie über die Geburt informiert habe, ohne jemals eine Antwort bekommen zu haben. Wusste Rudolf also nach dem Krieg von der Existenz seines Sohnes? Oder hat seine Mutter ihrem Sohn gegenüber, der am 2. September 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, seinen Sohn verschwiegen?

Pertti glaubt fest daran, dass Rudolf Bescheid wusste, aber seine neue Familienidylle durch einen plötzlich vorhandenen Sohn nicht gefährden wollte. Rosemarie will nicht an diese Theorie glauben, denn sie ist davon überzeugt, dass Rudolf keinen Grund gehabt hätte, die Existenz eines Sohnes zu leugnen. Sophie war eine tolerante Frau, die sicherlich zugestimmt hätte, dass ihr Mann die Verantwortung für einen Sohn übernimmt, den er sich sein Leben lang gewünscht hat.

Rudolf starb an einer schweren Krankheit im Jahr 1992. Rosemarie pflegte ihre schwer gehbehinderte Mutter zu Hause bis zu ihrem Tod neun Jahre später.

Nachtrag

Nachdem Pertti sich seiner deutschen Wurzeln sicher war, überlegte er lange, den Nachnamen seines Vaters zu übernehmen, bis er zu dem Ergebnis kam, dass ihm als äußeres Zeichen seiner Herkunft die deutsche Staatsbürgerschaft viel wichtiger sei. Viele Jahre arbeitete er hartnäckig daran, bis ihm endlich im Juli 2015 in der Deutschen Botschaft in Helsinki die Urkunde zur deutschen Staatsbürgerschaft überreicht wurde.

»Welchen Sinn hat das Leben für ein Kind, das nicht wie ein Menschenkind behandelt wird?«Die Geschichte von Johannes

Irja Wendisch

Im Winter 1948 kam Johannes mit seiner Mutter Rosa aus Hamburg in deren Geburtsort an, dem kleinen Dorf Oikarainen am Polarkreis. Es war kalt und dunkel. Nur kurz ließ sich die Sonne am Horizont blicken, um bald wieder dahin zu verschwinden. Hinter ihm lag eine lange Reise mit dem Schiff quer durch die Ostsee, mit dem Zug Hunderte von Kilometern bis zum Polarkreis, dann mit dem Bus den Fluss entlang bis in die Dorfmitte. Dahin, wo die Fähre im Sommer die Menschen über den Fluss brachte, wo aber jetzt eine Eisstraße den Betrieb der Fähre ersetzte. Nun ging es mit dem Pferdeschlitten weiter, quer über den großen See zu dem Haus, wo sie von Rosas Schwester und deren Mann bereits erwartet wurden. Hier blieben sie bis auf weiteres wohnen.

»Ich sprach als dreijähriger Junge kein Wort Finnisch und wurde deshalb von den Nachbarskindern mit Argwohn betrachtet«, erzählt mir Johannes Jahrzehnte später. »Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich im tiefen Schnee steckenblieb und auf Deutsch nach meinem Rucksack rief. Sehr langsam lernte ich die Sprache meiner Mutter und die in Hamburg gelernte ›Vatersprache‹ verschwand allmählich ganz aus meinem Gedächtnis.