Böse Leute - Dora Heldt - E-Book + Hörbuch

Böse Leute Hörbuch

Dora Heldt

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Beschreibung

Der erste Insel-Krimi der Bestsellerautorin jetzt im Taschenbuch Sylt wird von einer mysteriösen Einbruchserie erschüttert: Nicht die millionenschweren Luxusvillen werden überfallen, sondern die Häuser älterer, alleinstehender Frauen. Die Polizei ist ratlos. Ex-Hauptkommissar Karl Sönnigsen will den ehemaligen Kollegen unter die Arme greifen – und zwar auf seine ganz eigene Art: Mit Freund Onno, Strohwitwe Charlotte und seiner langjährigen Bekannten Inge stellt Karl ein mit allen Wassern gewaschenes Ermittlerteam auf die Beine.

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Zeit:4 Std. 21 min

Sprecher:Dora Heldt

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Dora Heldt

Böse Leute

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Für Joachim Jessen,

den Mann mit dem großen Herzen und den Nerven aus Drahtseilen.

Danke.

Prolog

Die alte Dame schloss umständlich die Haustür ab und verstaute den Schlüssel in ihrer Handtasche. Eine Nachbarin, die gerade mit dem Hund vorbeigehen wollte, blieb stehen. Sie sprachen kurz miteinander, dann gingen sie gemeinsam weiter.

Er wartete, bis beide Frauen samt Hund aus seinem Sichtfeld verschwunden waren, dann stieg er über den niedrigen Zaun und umrundete das Haus, bis er vor der Terrassentür stand. Es war ein Leichtes, sie aufzuhebeln, für ihn ein Kinderspiel. Sekunden später stand er im Wohnzimmer. Es sah aus wie in den meisten Wohnzimmern dieser Generation. Eine überdimensionale Schrankwand, natürlich Mahagoni, mit integrierter Bar und Fernseher. Das gute Geschirr war hinter einer Glastür, die Tischdecken und Kerzen waren in den Schubladen verstaut, in den unteren Fächern bewahrte man Papiere und Fotoalben auf. Er riss alles raus und ließ es auf dem Boden liegen. Neben der Couchgarnitur lagen Zeitschriften, auch hier gab es keine Überraschungen, Klatsch und Tratsch aus den Königshäusern und Hochglanzmagazine vom Landleben. Wen interessierte das? Ihn nicht, achtlos ließ er den Stapel fallen.

Er schlenderte durchs Haus, zog hier und da weitere Schubladen und Schränke auf und fragte sich, wie man so spießig leben konnte. Überall standen Fotos, Hochzeitsbilder, Kinderbilder, Aufnahmen, die vor Ewigkeiten gemacht worden waren, damals, als die Welt noch in Ordnung und das Leben unendlich war. Er fegte eine Reihe Bilderrahmen vom Schrank und hörte zufrieden das Glas zerspringen. In der Küche stand die obligatorische Eckbank, auf dem Tisch lag eine gestickte Decke, darauf eine Schale mit Obst. So, wie die Bananen aussahen, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Fruchtfliegen hier einfallen würden. Auf der benutzten Tasse in der Spüle, weiß mit blauem Muster, prangte vorn der Schriftzug »Gisela«. Er hob sie hoch, sah sie angewidert an und ließ sie auf die Fliesen fallen. Ruhig noch ein paar mehr Scherben.

Als sein Handy klingelte, zuckte er zusammen, wieso hatte er vergessen, es leise zu stellen? Er wurde nachlässig, drückte nach einem Blick aufs Display den Anruf weg und ging zurück ins Wohnzimmer. Er würde gleich zurückrufen, gleich, wenn er wieder draußen war. Hier bekam er vor lauter Spießigkeit kaum Luft. Die Sofakissen hatten eine Brokatbordüre, grauenhaft, er riss sie herunter und feuerte sie in eine Ecke. Er musste hier raus, ganz schnell, es reichte. Sein Blick fiel auf ein paar Geldscheine, die auf der Flurkommode lagen. Die steckte er ein, genauso wie eine teure Sonnenbrille und eine Visitenkarte, die daneben lag. Was wollte die alte Frau mit so einer Brille? Lächerlich. Die Scherben der Bilderrahmen knirschten unter seinen Schuhen, als er durchs Wohnzimmer ging, um das Haus durch die offene Terrassentür zu verlassen. Auf dem Weg durch den Garten zog er die Handschuhe aus. In aller Ruhe, niemand nahm von ihm Notiz.

Ein Freitagmittag Anfang Mai, bei Sonnenschein

Onno Thiele griff nach einem Bierdeckel und schob ihn unter das Tischbein. Prüfend ruckelte er erneut an der Platte, sah zufrieden zu seinem Freund Karl ihm gegenüber und sagte: »Geht doch.«

»Man kann auch das Bein absägen«, war die Antwort. »Das ist doch Pfusch.«

»Wackelt aber nicht mehr.« Onno strich über die Tischplatte. »Du sitzt ja nicht unter dem Tisch und guckst den Bierdeckel an. Was gibt’s Neues?«

»Nichts. Gar nichts, um genau zu sein. Zumindest nicht, was diese drei Einbrüche angeht. Stell dir mal vor, drei Einbrüche in zwei Wochen, und es gibt immer noch keine Festnahme. Das hältst du doch nicht in der Birne aus. Ich weiß wirklich nicht, was die auf dem Revier machen. Kaffee trinken und Kuchen essen vermutlich, aber von Verbrechensaufklärung haben sie keine Ahnung.«

Onno hebelte den Kronkorken der Bierflasche auf und hielt sie Karl hin. »Haben die eigentlich viel geklaut? Weißt du da was?«

Karl hob die Schultern. »Nach dem, was ich gehört habe, ja, ein bisschen Geld. Wirklich, drei Einbrüche in Folge, und alle fanden tagsüber bei Insulanern statt. Anstatt mal die Fenster einer unbewohnten Ferienvilla aufzuhebeln, nein, da nehmen die Einbrecher sich ganz normale Häuser vor und gehen das Risiko ein, erwischt zu werden.«

»Vielleicht üben die noch.« Onno hielt ihm weiterhin die Flasche hin. »Und außerdem haben die großen Luxusvillen alle Alarmanlagen. Das macht so einen Krach. Willst du jetzt ein Bier oder nicht?«

»Doch, danke.« Tadelnd sah Karl über den Tisch. »Von wegen üben. Du solltest das ernst nehmen. Du hast auch ein Haus. Und wohnst allein. Und schläfst wie ein Bär. Du bekommst doch gar nicht mit, wenn sie hier einsteigen. Und auf die Polizei kannst du dich im Moment ja wohl auch nicht mehr verlassen.«

»Ach was, das würde ich garantiert mitbekommen«, entgegnete Onno. »Und ich denke, die kommen am Tag. Da schlafe ich gar nicht. Mach dir mal keine Sorgen, echte Wertgegenstände stehen hier auch nicht rum.«

»Na ja«, Karl sah sich nachdenklich um. Nach einer kleinen Pause sagte er. »Es ist gut, dass Maren kommt. Hier fehlt wirklich eine weibliche Hand. So richtig gemütlich ist deine Küche nicht.«

»Och«, unbekümmert folgte Onno den Blicken. »Gemütlich. Soll ich hier Blümchen hinstellen oder was? Hier wird gearbeitet, das ist eine Küche. Weibliche Hand, du spinnst.«

»Wann kommt das Kind denn jetzt?« Karl stützte sein Kinn auf die Hand und blickte Onno an. »Morgen, oder?«

Onno nickte knapp. »Du weißt es doch.«

»Und?« Karl beugte sich neugierig nach vorn. »Freust du dich?«

Onno zuckte nur kurz die Schultern. »Keine Ahnung. Mal gucken, was sie hier alles durcheinanderbringt. So viel Zeit habe ich auch nicht für sie.«

»Na, ich bin mal gespannt.« Lächelnd lehnte Karl sich zurück. »Auf jeden Fall hat sie sofort genug zu tun. Und wenn sie so arbeitet, wie ich es vermute, dann wird sich das Revier mitsamt meinem feinen Herrn Nachfolger wundern. Die kommen doch überhaupt nicht aus dem Quark. Wie gesagt, Verbrechensaufklärung gleich null.«

Onno blickte ihn nachdenklich an. »Du redest wirklich Unsinn. Maren ist Polizistin und nicht Columbo. Und dein feiner Herr Nachfolger ist ihr Chef. Nur weil du in Pension bist, bricht doch die Polizei in Westerland nicht zusammen. Auch wenn du das gern hättest. Glaubst du eigentlich, dass sie dich wieder zurückholen werden? Und dich zum Ehrenrevierleiter machen? Oder warum stänkerst du immer gegen deinen Nachfolger? Du machst dich noch lächerlich.«

»Ich mache mich nicht lächerlich, ich bin besorgt um den Frieden und die Sicherheit auf dieser Insel. Und ich stänkere nicht gegen meinen Nachfolger, ich halte diesen aufgeblasenen Peter Runge nur für unfähig und eine Fehlbesetzung. So. Da holen die einen Auswärtigen. Von der Ostsee. Der hat doch überhaupt keine Ahnung.«

»Du regst dich schon wieder auf.« Langsam stand Onno auf und nahm die leeren Flaschen vom Tisch. »Denk an deinen Blutdruck. So, ich habe noch einiges zu tun, kann mich nicht den ganzen Tag mit dir unterhalten. Willst du hier sitzen bleiben? Ich muss in den Garten.«

Karl war sofort auf den Beinen. »Wirklich, Onno, du kriegst niemals die Medaille als Gastgeber des Jahres. Das Alleinleben macht dich schrullig und unhöflich. Ich wollte noch …«

»Ja, ja«, Onno war schon auf dem Weg zur Tür. »Bis morgen.«

An den Tisch gelehnt, beobachtete Karl, wie sein ältester Freund durch den Garten ging. Langsam wurde der wirklich komisch. Onno machte nur noch das, was er wollte, ging einfach, wenn es ihm in den Kopf kam, und scherte sich überhaupt nicht darum, was andere von ihm dachten. Karl schüttelte den Kopf. Es wurde wirklich Zeit, dass sich in diesem Haus etwas änderte. Er stieß sich vom Tisch ab, griff nach seiner Mütze und ging. Entgegen seinen alten Gewohnheiten zog er dieses Mal die Tür ins Schloss. Man musste es den Leuten ja nicht zu leicht machen. Und Onno hatte immer einen Schlüssel unter der Fußmatte.

 

Die Bäckerei mit den wenigen Stehtischen lag in der Nähe des Polizeireviers. Sie war ein beliebter Treffpunkt der Kollegen. Auch jetzt hatte Karl Glück, gleich am Eingang stand Benni, ein junger Polizist, der seit vier Jahren auf der Insel war und zu Karls liebsten Mitarbeitern gehört hatte.

»Benni, mein Junge«, erfreut schlug Karl ihm auf den Rücken und Benni verschluckte sich am Eibrötchen. »Zweites Frühstück?«

Benni brauchte eine ganze Weile, bis er zu seiner normalen Atmung zurückgefunden und sich die Eibrocken vom Ärmel gepult hatte.

»Kannst du nicht warten, bis ich den Mund leer habe?« Er rieb sich eine Träne weg. »Meine Güte, ich wäre fast gestorben.«

»Du musst nicht so schlingen. Das ist nicht gesund. Ich hole mir schnell eine Tasse Kaffee, möchtest du auch noch was? Ich gebe einen aus.«

Als Karl mit zwei Tassen zurückkehrte, musste Benni sich zwischendrin immer noch räuspern. Als er endlich wieder bei Stimme war, fragte er Karl: »Sag mal, fällt dir zu Hause die Decke auf den Kopf? Ist deine Frau noch zur Kur?«

Karl nickte. »Ja. Noch vier Wochen. So eine Hüfte dauert eben. Aber ihr geht es gut da, sie mag ja Bayern. Und ihre Schwester wohnt in der Gegend, die fährt öfter hin.«

»Und du besuchst sie gar nicht?« Benni musterte ihn erstaunt. »Du bist Rentner, du hast jetzt Zeit. Fahr doch mal hin und mach dir ein paar schöne Tage.«

»Ach, weißt du«, Karl guckte gequält. »Ich fahre ja nicht so gern Zug, mir wird da schnell übel, und Gerda ist ja in einer Klinik, die liegt noch hinter Nürnberg, das ist von hier aus eine Ewigkeit. Wenn sie entlassen wird, fahre ich hin und hole sie ab. Bis Hamburg mit dem Zug, da treffe ich mich dann mit meinem Sohn, und der nimmt mich mit dem Auto mit. Meine Frau findet das in Ordnung. Sie hat gesagt, ich würde sie da nur stören.«

»Aha.« Benni sah ihn an. »Langweilst du dich?«

»Ich?« Karl lachte. »Also bitte. Ich und Langeweile, ich weiß nicht mal, wie man das schreibt. Ich mache dieses und jenes, vorhin war ich schon bei Onno Thiele, apropos, du weißt, dass seine Tochter bei euch anfängt, oder?«

Benni nickte. »Maren Thiele, das weiß ich, das hat Runge uns schon vor ein paar Wochen erzählt. Sie hat sich aus privaten Gründen hierher versetzen lassen. Und der Kollege Schneider wollte ja wegen seiner Freundin nach Münster. Die haben einfach die Dienststellen getauscht. Was sind denn ihre privaten Gründe? Kommt sie auch aus Liebe?«

»Nein«, Karl schüttelte den Kopf. »Oder im Gegenteil. Sie hat sich vor einem Jahr von ihrem Freund getrennt. Und danach hat sie wohl Heimweh bekommen. Sie ist ein Inselkind, hier geboren, hier aufgewachsen, hier zur Schule gegangen, und jetzt kommt sie zurück. Was will sie auch in Münster? Das ist ja so weit weg vom Meer.«

Schulterzuckend griff Benni zu seiner Tasse und trank den Rest Kaffee aus. »Dafür hat Münster andere Qualitäten. Da ist bestimmt mehr los als hier. So, ich muss los, hab jetzt Dienst. Danke für den Kaffee.«

Bevor er gehen konnte, hielt Karl ihn am Ärmel fest. »Warte mal, Benni. Sag mal: Hier ist doch auch einiges los? Habt ihr schon eine Spur bei den Einbrüchen?«

»Karl«, beruhigend klopfte ihm Benni auf den Arm. »Du bist in Pension, wir kriegen das schon hin.«

»Du kannst doch mal was sagen.«

»Ich darf das gar nicht, Karl, du bist jetzt Zivilist und hast mit den Ermittlungen nichts mehr zu tun.«

»Benni!« Empört ging Karl einen Schritt zurück. »Du beißt gerade in die Hand, die dich gefüttert hat. Ich war dein Chef, und zwar einigermaßen erfolgreich, was hast du nicht alles von mir gelernt? Schon vergessen? Da kann man doch ein kleines bisschen Kooperation erwarten. Ich habe einfach immer noch den viel erfahreneren Blick.«

»Du hast es gerade gesagt: ›Die Hand, die dich gefüttert hat.‹ Wir sehen uns, Karl, ich muss jetzt wirklich los.« Mit einem aufmunternden Klaps auf die Schulter machte Benni sich auf den Weg.

Samstagmorgen in Münster, unter hellem Frühlingshimmel

Der Seehund aus Plüsch hatte nur noch drei Barthaare. Maren überlegte, bei welchen Gelegenheiten er seine anderen wohl verloren hatte. Sie konnte sich nicht erinnern. Behutsam legte sie ihn auf die in Seidenpapier eingeschlagenen Weingläser und verschloss den Umzugskarton. Hier war der Seehund sicher. Der Edding quietschte, als sie das Wort »Küche« auf die Pappe schrieb, dann legte sie den Stift zur Seite und schob den Karton aufatmend an die Wand. Geschafft. Bis auf wenige Kleidungsstücke, die Kaffeemaschine und ein bisschen Frühstücksgeschirr, das sie gleich noch für die Umzugsleute brauchte, hatte sie ihren gesamten Hausstand in Kartons verpackt. Zweiundvierzig Kartons, in denen ihr ganzes Leben steckte. Es sah gar nicht so viel aus.

Maren stopfte den Rest des Verpackungsmaterials in eine Tüte und warf einen Blick auf die Uhr. In fünfzehn Minuten würde der Umzugswagen ankommen, sie hatte mal wieder ein perfektes Timing hingelegt. Zufrieden ging sie durch die leere Wohnung, um noch einmal alles zu kontrollieren, dann griff sie zum Telefon und wählte die Nummer von Rike. »Musst du die Brötchen selbst backen, oder warum dauert es so lange?«

Rikes Antwort klang ein bisschen atemlos. »Beim Bäcker war es voll, lauter unentschlossene Leute, und dann bin ich aus Versehen an deiner Straße vorbeigelaufen. Aber ich sehe schon die Haustür, bin gleich da.«

Rike war Marens älteste Freundin. Sie kannten sich seit ihrer Einschulung, hatten die ganze Schulzeit hindurch nebeneinander gesessen, von der Konfirmation über die Tanzschule bis zum Abitur alles gemeinsam erledigt und ihre Zweisamkeit erst aufgeben müssen, als Maren nach Hamburg zur Polizeischule ging. Fast zwanzig Jahre lang hatten sie dann an unterschiedlichen Orten gewohnt, und sie hatten es trotzdem geschafft, eng befreundet zu bleiben. Jetzt gab es schon wieder einen Ortswechsel, Maren ging zurück auf die Insel, auf der Rike immer noch lebte. Richtig fassen konnte Maren es allerdings immer noch nicht.

Den Karton mit den Brötchen vor sich balancierend, stieg Rike langsam die Treppen hinauf, Maren wartete schon an der offenen Tür. »Der Umzugswagen muss jeden Moment kommen, wenn du dich beeilst, kannst du noch einen Kaffee im Stehen und in Ruhe trinken. Die Stühle sind schon übereinandergestellt.«

»Super«, ohne den Blick vom Brötchenkarton zu heben, lächelte Rike verkniffen. »Morgens, halb acht in Münster. Um diese Zeit fange ich gerade in der Praxis an. Und hier bin ich schon seit Stunden unterwegs. Hast du den letzten Karton zugeklebt?«

»Und beschriftet«, Maren ließ sie vorbeigehen und schloss hinter ihr die Tür. »Die Packer können kommen, wir sind fertig.« Sie hatte den Satz kaum beendet, als es klingelte. »Da sind sie.« Sie legte den Finger auf den Türöffner und sah Rike über die Schulter an. »Jetzt ist es zu spät für einen Rückzieher. Sag mir bitte, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«

Mit festem Blick sah ihre Freundin sie an. »Hast du. Und eigentlich gab es keine Alternative. Oder?«

»Hm«, Maren öffnete die Tür und drückte den Summer. »Ich hoffe es.«

 

Drei Stunden später saßen sie in Marens Auto und fuhren in Richtung Norden. Der Umzugswagen war vor ihnen losgefahren, Maren und Rike hatten die Wohnung abschließend geputzt, mit den Vermietern die Abnahme gemacht und den Wohnungsschlüssel abgegeben, sich unter weitschweifigen guten Wünschen verabschiedet, eine Träne unterdrückt und sich anschließend erleichtert ins Auto fallen lassen. »Lass mich fahren«, hatte Rike gesagt. »Du bist im Moment abschiedsschwer, und ich will nicht zwischen Münster und Osnabrück an der Leitplanke kleben.«

Maren hatte ihr den Schlüssel überlassen und sich erleichtert auf den Beifahrersitz gesetzt. Es war besser so, sie musste erst einmal ihre Gedanken sortieren.

 

Polizeiobermeisterin Maren Thiele zog nach zwanzig Jahren zurück zu Papa. Zurück auf die Insel Sylt, zurück ins Elternhaus, zurück zu ihrer alten Freundin Rike, zurück in den Ort, an dem sie Kind gewesen war. Und das mit achtunddreißig. Ohne Mann, ohne Kind, ohne Haustier, dafür mit einem anständigen Beruf, ordentlich angelegten, wenn auch kleinen Ersparnissen, sehr guten Vorsätzen und jeder Menge Bauchweh. Hätte ihr das jemand vor einem Jahr erzählt, sie hätte sich mit dem Finger an die Stirn getippt und gesagt, dass das nie im Leben möglich sei, aber dann hatten sich ihre bislang klaren Pläne und Vorstellungen innerhalb weniger Wochen verabschiedet. Zunächst in Form von Henry, ihrem Lebensgefährten und Kollegen, der mit Kollegin Sonja nicht nur Streife fuhr. Dabei waren sie auch noch dämlich genug, sich erwischen zu lassen, es gab nicht nur jede Menge Tratsch in der Dienststelle, sondern auch eine lautstarke und äußerst unfreundliche Trennung. Henry zog gleich am nächsten Tag aus, vermutlich zu Sonja, das hatte Maren aber gar nicht so genau wissen wollen. Seitdem hasste sie die Dienste, die sie mit einem oder gar beiden machen musste, diese Abneigung hatte sich in den letzten Monaten auch nicht gelegt. Und dann hatte sie ihren Weihnachtsurlaub bei ihrem Vater Onno auf Sylt verbracht. Seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren war sie nicht mehr für längere Zeit in ihrem Elternhaus gewesen. Und wenn, dann nur für ein paar Tage und meistens zusammen mit Henry. Ihr Vater war früher auf dem Rettungskreuzer tätig gewesen, jetzt war er in Rente und wirkte eigentlich ganz zufrieden. Zumindest erzählte er das Maren, wenn sie telefonierten, was sehr selten passierte, Onno sprach nicht gern ins Telefon, er hörte angeblich nicht gut. Aber in diesen Weihnachtsferien hatte Maren begonnen, sich Sorgen um ihren Vater zu machen. Er hatte zwar einen großen Freundeskreis, aber er lebte jetzt allein und stammte aus der Generation, die damit Probleme hatte. Er konnte wohl ein bisschen kochen und sich leidlich selbst versorgen, aber Maren sah sehr wohl die abgerissenen Hemdknöpfe, das nicht sehr gründlich geputzte Bad, den verwilderten Garten und sein unrasiertes Gesicht. Sie hatte ein paar Mal versucht, mit ihm zu reden, doch Onno hatte nur abgewinkt und gesagt, dass sie sich bloß keine Gedanken um ihren alten Vater machen solle, er käme wunderbar zurecht, er hätte seinen Chor, der sich einmal in der Woche traf, würde den Sommer auf seinem Boot und den Winter beim Doppelkopfspielen verbringen. Und wenn sie das Bad nicht sauber genug fände, dann könne sie das gern ändern, im Haushaltsraum wären genug Putzmittel, um die ganze Insel einzuseifen. Der Eimer stünde oben links. Danach war er in sein Auto gestiegen und zum Hafen gefahren. Allen weiteren Gesprächen war er genauso ausgewichen, irgendwann hatte Maren die Geduld verloren und war zu Karl gegangen. Karl Sönnigsen war Onnos engster Freund. Er war jahrelang der Revierleiter der Westerländer Polizei gewesen und hatte viel Anteil daran, dass Maren immer schon Polizistin werden wollte. Außerdem war er ihr Patenonkel und musste mit ihr über ihren Vater reden. Ob er wollte oder nicht. Er fand zwar ihre Sorgen um Onno übertrieben, räumte aber ein, dass sein alter Freund manchmal tatsächlich ein bisschen schrullig wirke, was vielleicht doch am Alleinsein läge.

»Ich will ja nichts sagen«, hatte er mit einer abwehrenden Handbewegung gesagt, »aber in letzter Zeit vergisst er ab und zu was. Und behauptet, ich hätte ihm das nie erzählt. Na ja, und dann zieht er sich, wie soll ich das sagen … nicht immer so modebewusst an. Aber das ist ganz normal bei Männern, die jahrelang Uniformen tragen mussten. Die haben das ja nie richtig gelernt. Und beim Segeln ist das ja auch egal, Hauptsache man wird nicht nass und kein Wind kommt durch.«

Als Maren zurückkam, saß Onno in einer braun karierten Anzughose und einem gelben Hemd in der Küche und las die Zeitung. »Ach Greta«, sagte er und lächelte. Greta war der Name ihrer Mutter.

Noch heute, über drei Jahre nach ihrem Tod, löste der Name in Maren eine schmerzhafte Sehnsucht aus. Greta war in ihrem ganzen Leben nie krank gewesen, Maren konnte sich an keine Erkältung, keine Kopfschmerzen, noch nicht einmal an ein Unwohlsein erinnern. Die große, blonde, fröhliche Greta war so lebendig, strahlte eine solche Ruhe aus und war immer schon der Inbegriff der guten Laune gewesen. Und dann war ein Rosendorn in ihrem Finger schuld, dass das Leben innerhalb von drei Wochen aus den Angeln gehoben wurde. Greta hatte das Pochen in ihrer Hand zu lange ignoriert, an Blutvergiftung hatte sie nicht gedacht, und sie hasste es, zum Arzt zu gehen. Das alles wäre nicht passiert, wenn Maren oder Onno es mitbekommen hätten, aber Maren war in Münster, und Onno segelte mit seinen alten Kollegen vor Dänemark. Als der Anruf der Nachbarin kam, die Greta bewusstlos im Garten gefunden hatte, war Maren sofort losgefahren. Doch zu dem Zeitpunkt war die Vergiftung schon so weit fortgeschritten, dass die Ärzte im Krankenhaus nur noch hoffen konnten. Greta hatte es nicht geschafft. An die Wochen danach konnte Maren sich kaum erinnern. Sie wusste nicht mal mehr genau, wie lange sie noch bei ihrem Vater geblieben war, es war alles in einem Nebel aus Schmerz und Tränen versunken. Am Tag nach der Beerdigung hatte Onno alle Rosen aus dem Garten gerissen und sie in der hintersten Ecke des Gartens verbrannt. »Ich will nicht darüber reden«, hatte er zu Maren gesagt, die Asche zusammengekehrt und war aufs Boot gegangen. Erst seit einem Jahr konnte er wieder über seine Frau sprechen.

Und nun saß er also in der Küche und sagte »Greta« zu ihr. Auch wenn Onno anschließend gemeint hatte, er hätte sich nur versprochen, in diesem Moment hatte Maren den Entschluss gefasst, ein Versetzungsgesuch zu schreiben. Sie musste sich um ihren Vater kümmern. Und die Nordsee zwischen sich und dem dämlichen Henry haben. Und der noch dämlicheren Sonja. Und das alles hatte tatsächlich geklappt.

 

»Schläfst du?« Rikes Stimme drang durch die Bilder, Maren öffnete sofort die Augen. »Nein. Ich habe nur nachgedacht.«

»Worüber?«

Maren winkte ab. »Über alles Mögliche. Wie das mit meinem Vater läuft, wie wohl die neuen Kollegen sind, wie ich mich einlebe, ob das alles so richtig war, na ja, kleiner Abschiedsblues eben. Fahr doch mal an der nächsten Raststätte raus, ich brauche Schokolade. Und muss aufs Klo.«

»Es ist alles richtig.« Rike warf ihr einen kurzen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es sowieso zu spät, sich Gedanken zu machen. Es ist so, wie es ist, und alles ist gut.«

 

Die Sonne kam gerade aus den Wolken, als Maren und Rike vor der Autobahnraststätte ausstiegen. Sie holten sich Kaffee in Pappbechern und ein paar Schokoriegel und setzten sich damit auf eine Bank.

»Wenigstens wird das Wetter jetzt schön«, sagte Maren und hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne. »Das ist doch vielleicht ein gutes Zeichen dafür, dass ich mich richtig entschieden habe.«

»Ich werde dich jetzt nicht alle zehn Minuten bestätigen«, entgegnete Rike und klang, trotz eines kleinen Lächelns, ein bisschen schroff. »Und jetzt nerv mal nicht rum. Ich freue mich sehr, dass du auf die Insel zurückkommst, die Dienststelle ist vielleicht nicht so aufregend wie Münster, dafür aber Henry- und Sonja-frei. Deine Wohnung in Münster war zwar niedlich, aber im vierten Stock und ohne Balkon. Bei deinem Vater hast du eine schöne Einliegerwohnung und einen großen Garten. Dein Liebesleben war in Münster tot, das ist erst mal auf Sylt dasselbe, ich weiß also gar nicht, warum du dir so unsicher bist. Wärst du lieber nach Hamburg oder Köln gegangen? Wo du niemanden kennst? Oder hättest du in Münster alles so weitermachen können? Was genau ist dein Problem?«

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen sah Maren ihre Freundin an. »Entschuldige, du hast recht. Vielleicht ging das alles nur zu schnell für mein langsames Gehirn. Eine Versetzung klappt normalerweise nie in so kurzer Zeit, damit hatte ich einfach nicht gerechnet. Und ich war immer ein Feigling, das weißt du doch. Jetzt mache ich mir Gedanken, wie das Zusammenwohnen mit meinem Vater wird, welche Kollegen ich bekomme, ob sie mich wohl mögen werden, all solche Dinge.«

»Das ist der Unterschied zwischen uns«, entgegnete Rike. »Ich würde mir Gedanken machen, ob ich die neuen Kollegen mögen würde. Mach dich nicht immer so klein. Du bist eine gute Polizistin, und das schon seit einigen Jahren, dein Vater ist ein netter Mensch, du kennst dich auf der Insel aus, deine beste Freundin wohnt quasi um die Ecke, ich weiß nicht, was ich dir sonst noch sagen soll.«

Maren beugte sich vor und küsste Rike auf die Wange. »Danke«, sagte sie. »Hast ja recht. Ich reiße mich jetzt einfach zusammen und denke positiv.«

»Okay«, Rike stand auf und knüllte den Pappbecher zusammen. »Ich werde dich daran erinnern. Lass uns weiterfahren, wir haben noch einiges vor. Und heute Abend kommt Torben noch, um zu helfen.«

Überrascht sah Maren hoch. »Hast du ihn tatsächlich gefragt? Ich habe doch gesagt, dass das noch Zeit hat.«

»Er hat es angeboten.« Rike streckte ihre Hand aus, um Maren den leeren Becher abzunehmen. »Torben ist immer hilfsbereit, er hat darauf bestanden, dir beim Einzug zu helfen. Er kann alles, du wirst sehen, er arbeitet die Nacht durch, wenn es sein muss, und anschließend steht jeder Schrank, läuft jeder Computer, geht jedes Telefon. Du kannst echt dankbar sein.«

»Ich kenne ihn überhaupt nicht, ich weiß gar nicht, warum er das überhaupt machen will.«

»Weil er nett und gern wichtig ist.« Unbekümmert sah Rike sie an. »Und weil du meine Freundin bist. Und weil er eine furchtbar langweilige und verhuschte Frau hat, der er wohl gern entrinnt. Lass ihn doch. Er ist halt ein eingefleischter Insulaner und kümmert sich gern. Und er mochte mich immer schon, hat er mir sogar mal gesagt. Sei einfach froh, dass er Zeit hat. Er ist ziemlich gefragt auf der Insel. Weil er alles kann. Und nicht nur, wenn ich ihn brauche.«

Maren lachte. Rike war eiserner Single und dabei so attraktiv. Sie war groß und schlank, hatte schulterlange blonde Haare, die sie meistens lässig hochsteckte, hatte ein schönes Gesicht und hielt die Männer, die sich in sie verliebten, auf freundlicher Distanz. Vermutlich gehörte der hilfsbereite Torben einfach zu ihrer Fangemeinde.

Samstagvormittag auf Sylt, bei blasser Morgensonne

Von hinten wie eine Zwanzigjährige«, dachte Inge Müller, die ihren Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarktes schob und dabei Jutta Holler am Kühlregal stehen sah. Altersgemäß war anders. Genau in diesem Moment drehte die Holler sich um und grüßte übertrieben laut. »Frau Müller, so trifft man sich. Wie geht’s?«

Jutta Holler musste um die sechzig sein. Sie trug eine hautenge Röhrenjeans, eine transparente Bluse, durch die ein hellblaues Spitzentop schimmerte, knallblaue Sneakers und eine knappe weiße Lederjacke. Die kurzen Haare glänzten durch blonde Strähnen, ihr Make-up war perfekt, dazu trug sie teuren Schmuck, trotzdem strahlte sie etwas Billiges aus. Inge schluckte, bevor sie ihr die Hand gab, die von Jutta aber ignoriert wurde. Vermutlich fand sie Händeschütteln uncool, aber Inge war ja ein paar Jahre älter. Sie ließ die Hand wieder auf den Einkaufswagen sinken und bemühte sich um ein mildes Lächeln: »Tag, Frau Holler, na, wird das auch ein Großeinkauf?« Sie ließ ihre Blicke über den Inhalt des Wagens wandern, vier Flaschen Champagner, mehrere Pakete mit Tiefkühlshrimps, ein paar Fertiggerichte, verschiedene Zeitschriften.

»Ja, meine Tochter kommt heute, sie muss mal ein bisschen ausspannen, sie hat ja in Hamburg so wahnsinnig viel zu tun. Das kommt davon, wenn man Karriere machen will«, Jutta Holler lachte gekünstelt und fuhr sich mit den langen und perfekt manikürten Fingern durch die Frisur. »Und da braucht sie natürlich auch mal eine Auszeit. Ein bisschen am Strand feiern, dann in die ›Sansibar‹, einen Shopping-Tag mit Mutter, und danach kann Sina sich wieder in den Großstadtdschungel stürzen. Und sonst? Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Ich habe Ihren Mann ja länger nicht gesehen.«

›Das hat ihm bestimmt auch nicht gefehlt‹, dachte Inge. Walter konnte ihre Nachbarin noch nie leiden, er fand sie affig und vermied jede Begegnung.

»Mein Mann ist mit meinem Bruder bei meiner Nichte. Sie baut gerade eine Wohnung um, die sie sich gekauft hat, da helfen die beiden ein bisschen. Und Christine muss arbeiten, da kümmern sich Heinz und Walter um die Handwerker. Und nebenbei besuchen sie noch ein Seminar, bei dem es um Vermögenssicherung im Alter geht.«

»Aha. Interessant«, Jutta Holler legte fettarme Milch in den Wagen. »Dann passen Sie bloß auf, dass bei Ihnen nicht eingebrochen wird. In der Zeitung stand heute, dass mehrere Einbrüche in Häuser älterer Frauen passiert sind.«

Inge hob erstaunt die Augenbrauen. »Wirklich? Haben Sie denn Angst?«

Wieder ein gekünsteltes Lachen. »Frau Müller, die Opfer sind ältere Frauen. Ich kann mich ja wehren.«

›Blöde Ziege‹, dachte Inge, während sie ihre Nachbarin anlächelte. »Ja, dann noch einen schönen Tag, Frau Holler, tschüss.« Sie widerstand der Versuchung, den Einkaufswagen beim Drehen über die knallblauen Sneakers zu schieben.

 

Im Auto sitzend, mit der Hand am Zündschlüssel, überlegte Inge einen Moment, dann beschloss sie, bei Charlotte vorbeizufahren. Sie wollte mal hören, ob ihre Schwägerin auch was von den Einbrüchen mitbekommen hatte. Und ab welchem Alter man zu der Gefahrengruppe »Ältere Frauen« gehörte.

Sie musste dreimal klingeln, bis Charlotte ihr die Tür öffnete. »Hast du geschlafen?«, fragte Inge sie erstaunt, als sie endlich hereingelassen wurde.

»Nein«, entgegnete Charlotte. »Ich habe mit Christine telefoniert. Wollte hören, wie es den Männern geht.«

»Und?« Inge ging an ihr vorbei und nahm den direkten Weg in die Küche.

»Gut«, antwortete Charlotte, während sie die Tür schloss. »Heinz und Walter gehen morgens zu ihrem Seminar, kommen abends zu Christine, fragen anstandshalber, ob sie ihr noch helfen können, und laden sie stattdessen zum Essen ein. Wobei sie gestern Abend tatsächlich Christines Schlafzimmerspiegel angebracht haben. Den musste der Tischler heute Morgen dann wieder abnehmen und neu aufhängen, weil er so schief war. Na ja, das sehen die nicht so gut. Aber von dem Seminar sind sie begeistert, sagt Christine. Sie haben schon eine ganze Menge gelernt.«

»Fein.« Inge ließ sich auf einen Stuhl fallen und sah sich suchend um. »Da bin ich ja gespannt, wie sie jetzt ihre Vermögen sichern wollen, wenn sie zurück sind. Hast du zufällig einen Tee fertig?«

»Ich kann zufällig einen machen.« Während Charlotte mit Wasserkocher und Teekanne hantierte, schlug Inge die Zeitung auf, die auf dem Tisch lag. Nach kurzem Durchblättern hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte. »Hör mal eben zu«, sagte sie, strich die Seite glatt und fing an vorzulesen:

»Morsum. Schreck am Morgen. Die 73-jährige Bewohnerin eines Einfamilienhauses am Wattweg erlebte eine böse Überraschung, als sie am frühen Vormittag von einem Arztbesuch zurückkam. Einbrecher waren durch die Terrassentür in das Haus eingedrungen und haben einige Räume verwüstet. Es entstand beträchtlicher Sachschaden. Die Bewohnerin erlitt einen Schock und musste ärztlich betreut werden. Die Polizei sucht nach Zeugen, die am gestrigen frühen Freitagvormittag am Wattweg in Morsum verdächtige Personen gesehen haben. Hinweise an die Polizei Westerland unter der Nummer …«

Inge ließ die Zeitung sinken und schüttelte den Kopf. »Frühmorgens. Die werden auch immer dreister. Du hast auch mitbekommen, dass es in der Art schon mehrere Einbrüche gab, oder?«

Charlotte stellte Tassen auf den Tisch und die Teekanne auf ein Stövchen. »Ich hab’s gehört. Ich habe neulich Karl in der Sparkasse getroffen und ihm erzählt, dass Heinz und Walter bei Christine sind, und da hat er so einen Scherz gemacht, von wegen, dass wir unseren Schmuck mit zum Einkaufen nehmen sollen. Aber du weißt ja, wie er ist. Unser Polizeichef. Und den hättest du fast geheiratet.«

»Geheiratet?« Inge hielt ihrer Schwägerin die Tasse hin. »Ich hatte eine kleine Liebelei mit ihm, das ist hundert Jahre her, ich war gerade mal Anfang zwanzig. Und Karl ist jünger als ich, das wäre nie was geworden.«

»So viel jünger ist er auch nicht«, stellte Charlotte etwas uncharmant fest. »Er ist gerade erst in Pension gegangen, dann ist er fünfundsechzig, das sind drei Jahre. Das ist doch nichts.«

»Heute vielleicht«, Inge war nicht empfindlich. »Aber damals hat man keinen jüngeren Mann geheiratet. Zumindest nicht in meinem Freundinnenkreis, da sind die Männer alle zwei oder drei Jahre älter gewesen.« Sie rührte gedankenverloren in ihrer Tasse. »Albern, oder? Ob wir geglaubt haben, dass die Jungs dann erwachsen genug waren, um uns zu ernähren und Kinder zu zeugen? Na ja, egal, aber ich mochte schon damals Walter lieber. Nicht nur, weil er drei Jahre älter ist, er war auch lustiger als Karl. Ich glaube, ich habe alles richtig gemacht.«

Zufrieden lächelte sie ihre Schwägerin an. Dann tippte sie wieder auf den Zeitungsartikel. »Was hat Karl denn noch erzählt? Über diese Einbrüche? Kennen wir jemanden von den Opfern? Ich wollte dich das neulich schon fragen, habe es aber immer vergessen. Und jetzt hat mir vorhin im Supermarkt die blöde Holler wieder davon erzählt.«

Charlotte hob die Schultern. »Karl hat nur gesagt, dass es sich um alleinstehende Frauen handelte, aber nicht, um wen. Vielleicht weiß er das auch gar nicht, er ist ja nicht mehr zuständig. Aber die Zeitung macht ja gleich alle verrückt. In großen Städten wird alle zehn Minuten eingebrochen, das ist zwar schlimm, aber eine Tatsache. Böse Leute gibt es überall, nicht nur auf dem Festland. Mach die Fenster zu, wenn du das Haus verlässt, und schließ die Tür ab. Und lass dich nicht nervös machen. Das hat Karl übrigens auch gesagt.«

»Gut.« Inge faltete die Zeitung zusammen und schob sie zur Seite. »Dann wollen wir das mal glauben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie billig diese Jutta Holler wieder aussah. Steht im Supermarkt in Klamotten, die unsere Töchter nicht mehr anziehen würden, weil die dafür zu alt sind. Von hinten sieht sie aus wie ein Teenager, und wenn sie sich umdreht, dann fällt man vor Schreck fast um. Falten bis zu den Ohren und geschminkt wie eine Bardame. Ich stell mir immer vor, dass ihr mal ein junger Mann nachpfeift und dann …«, sie kicherte.

»Inge«, missbilligend schüttelte Charlotte den Kopf. »Jutta Holler kann einem auch ein bisschen leidtun. Sie hat Probleme mit dem Älterwerden, sie ist so früh Witwe geworden, ihre Tochter kommt auch nicht oft nach Hause, leicht hat sie es nicht.«

»Ich bitte dich, Charlotte. Arbeitest du an deiner Heiligsprechung? Jutta Holler ist eine der unangenehmsten Frauen auf der Insel. Sie ist so früh Witwe geworden, weil sie einen Mann geheiratet hat, der viel älter war als sie. Und den hat sie nicht aus Liebe geheiratet, sondern weil er vermögend war. Und der arme Wilhelm hat mit Ende fünfzig einen Herzinfarkt bekommen, das hätte ich an seiner Stelle auch. Und ihre Tochter Sina ist schon genauso affig wie ihre Mutter. Der geht es doch auch nur ums Geldausgeben und darum, dass sie zeigen kann, was sie alles hat. Diese Angeberin.«

Charlotte sah ihre Schwägerin nur stumm an. Inge regte sich schon seit ein paar Jahren über ihre Nachbarin auf, Charlotte fand das übertrieben. Man konnte sich doch aus dem Weg gehen. Aber wenn Inge sich aufregen wollte, dann regte sie sich auf. Das war eben ihr Naturell. Jedes weitere Gespräch über Jutta Holler war sinnlos. Deshalb probierte sie nur ihr heiligstes Lächeln und fragte: »Noch eine Tasse Tee, Inge?«

»Ja«, Inge hielt ihr die Tasse hin, ohne Charlotte anzusehen. »Wattweg in Morsum? Wohnt da nicht Gisela Karlson? Die ist dreiundsiebzig. Nicht, dass sie bei ihr eingebrochen haben! Das wäre ja furchtbar.«

»Ruf sie doch an«, Charlotte stellte die Kanne zurück aufs Stövchen. »Oder warte bis heute Abend. Du gehst doch zur Chorprobe, oder? Dann sehen wir Gisela doch.«

»Vorausgesetzt, sie kommt.« Inge machte jetzt ein besorgtes Gesicht. »Und das tut sie sicher nur, wenn der Einbruch nicht bei ihr war. Ansonsten stünde sie ja noch unter Schock.«

»Falls sie das Opfer war«, sagte ihre Schwägerin. »Ich rufe sie jetzt mal an.«

 

Gisela Karlson hatte gerade die Haustür hinter dem jungen Mann von der Versicherung geschlossen, als das Telefon klingelte. Sie überlegte kurz, ob sie überhaupt rangehen sollte, aber es konnte auch die Polizei sein, die Neuigkeiten hatte. Es war nicht die Polizei.

»Gisela? Hallo, meine Liebe, hier ist Charlotte. Sag mal, ist bei dir alles in Ordnung? Wir haben gerade in der Zeitung gelesen, dass in deiner Straße eingebrochen wurde, das war doch wohl nicht bei dir, oder?«

»Doch«, Gisela bekam schon wieder wackelige Beine und ließ sich mit dem Hörer am Ohr auf die Bank neben der Garderobe sinken. »Doch, Charlotte, das war bei mir. Es ist so furchtbar.« Ihr stiegen sofort wieder Tränen in die Augen. »Ich … ich …« Sie konnte nicht weitersprechen.

Alarmiert drehte Charlotte sich zu Inge um und nickte ihr zu. Dann sagte sie schnell: »Inge sitzt gerade bei mir, wir kommen schnell rüber. Brauchst du noch irgend etwas?«

Gisela räusperte sich und sagte dann: »Nein, danke. Aber es wäre schön, wenn ihr kämt. Es fühlt sich alles so komisch an.«

»Beruhige dich, Gisela, wir sind gleich da.«

Am Vorabend in Hamburg, nach Einbruch der Dämmerung

Sina Holler blieb vor dem Haus stehen und sah sich um. Niemand war zu sehen, beide Autos, der Mini und der Porsche, standen im Carport. Alle Fenster waren geschlossen, so, wie es sich gehörte, wenn man für drei Wochen nach Korsika flog. Verächtlich schüttelte Sina den Kopf und kletterte über die niedrige Hecke. Sie wunderte sich sowieso, dass die Eigentümer keine Sicherheitsvorkehrungen trafen. Jeder Kleinkriminelle konnte sich Zugang zum Haus verschaffen, die niedrige Stelle in der Hecke fand man nach wenigen Minuten. Dr. Uwe Faust und seine liebende Ehefrau Manuela waren unvorsichtig. Oder einfach nur blöde. Sina schob die Hände in die Jackentasche und schlenderte erst mal über das Grundstück. Eine weiße Jugendstilvilla, umgeben von Hortensien und Rosen. Hier ein Türmchen, da eine Säule, dazu eine Terrasse, die nach Sommerfesten in lauen Nächten schrie. Und Manuela Faust mit ihrem faltigen Gesicht und dem hängenden Busen im Abendkleid mittendrin. Widerlich. Sina schüttelte das Bild ab, ging über die Terrasse und blieb an der Terrassentür stehen. Sie legte ihre Hände an die Scheibe und beugte sich vor, um ins Innere zu sehen. Es sah aus wie immer, nichts hatte sich verändert. Wenige Antiquitäten neben schlichtem Design. Sie war lange nicht hier gewesen, Uwe hatte sie nur selten mitgenommen, höchstens dann, wenn seine Frau mal mit einer Freundin im Urlaub war. Meist hatten sie sich bei Sina getroffen – nachdem Uwe ihr die schicke Wohnung in der Hafencity gemietet und eingerichtet hatte.

Wütend knallte Sina jetzt ihre flache Hand auf die Scheibe. Dieser Arsch mit seiner ätzenden Frau. Die saßen hier in Protz und Prunk, während Sina aus der Wohnung ausziehen musste und ohne sein Geld vor dem Nichts stand. Dabei hatte sie – nach sieben Jahren als Geliebte – ein gewisses Recht auf angemessenen Luxus. Aber der feige Sack hatte sie einfach aus seinem Leben geschmissen, weil er Angst bekommen hatte, dass seine Frau ihm auf die Spur kam. Jetzt plötzlich, nachdem sie, aus welchen Gründen auch immer, misstrauisch geworden war. Es war wirklich das Letzte.

Sie wandte sich ab und ging an den zahlreichen Kübeln zurück zum Carport. Bei jedem zweiten Topf riss sie die Pflanzen raus und ließ sie fallen. Scheiß Hortensien. Immerhin war Dr. Faust bislang feige genug gewesen, Sina den Zweitschlüssel vom Porsche abzunehmen. Das war Pech. Sein Pech. Für Sina konnte das nur bedeuten, dass der Wagen ihr noch zustand. Oder glaubte etwa irgend jemand, dass sie mit dem Zug nach Sylt fahren würde?

Der Porsche sprang sofort an, beim Ausparken gab sie sich Mühe, den knallroten Mini Cooper leicht zu touchieren. Nur ein kleiner, ärgerlicher Lackschaden, die dämliche Manuela würde glauben, dass Uwe schlecht geparkt hatte. Und der würde sich hüten, seinen Verdacht laut zu äußern. Und schon gäbe es wieder Streit. Sina grinste und stellte das Autoradio lauter. Mit Dr. Uwe Faust war sie noch lange nicht fertig.

 

Am nächsten Vormittag, kurz nach ihrer Ankunft auf Sylt, musste Sina plötzlich mit aller Kraft auf die Bremse treten. Sie drückte wütend auf die Hupe. Der rote Kleinwagen hatte ihr einfach die Vorfahrt genommen, fast wäre sie mit ihrem Porsche in ihn reingerauscht. Die beiden alten Frauen reagierten überhaupt nicht, erst im letzten Moment erkannte Sina noch die Frau auf dem Fahrersitz: Inge Müller, die Nachbarin ihrer Mutter.

»Senile alte Kuh«, fauchte sie und zeigte den beiden einen Vogel, völlig vergebens allerdings, weil keine in ihre Richtung sah. Man sollte wirklich nicht mehr jeden Rentner Auto fahren lassen. Sina hatte den Wagen bei diesem Bremsmanöver auch noch abgewürgt, und als ihr Hintermann hupte, startete sie den Porsche wieder und fuhr mit quietschenden Reifen los. Alles Idioten auf der Insel, dachte sie und merkte, dass ihre Hände zitterten. Von dem roten Kleinwagen war nichts mehr zu sehen.

Als Sina in die Straße einbog, in der ihr Elternhaus stand, spürte sie sofort wieder einen Anflug schlechter Laune. Das ging ihr immer so. Sie hasste diese Straße, dieses Haus, die Nachbarn. Sie konnte nur lachen, wenn sie an die Reaktion von Leuten dachte, denen sie gesagt hatte, dass sie von der Insel Sylt kam. Die Königin der Inseln, die Perle des Nordens, die Schönen und Reichen, sie sei ja so zu beneiden. Keiner von denen konnte sich vorstellen, wie eng und wie spießig die Insel an einigen Ecken war. Es war ein Dorf, aus dem sie kam, da nützte auch das ganze blöde Gerede nichts. Ein Dorf, in dem jeder jeden kannte und jeder über jeden tratschte. Natürlich gab es auch die Zweitwohnungsbesitzer, die frischen Wind reingebracht hatten, aber die waren nur ein paar Wochen im Jahr da und machten Ferien. Anschließend fuhren sie wieder in ihre schicken Stadtwohnungen und tauchten ins Großstadtleben ein. Und die Einheimischen blieben in den dunklen, regnerischen und kalten Monaten zurück auf der Insel, hockten in ihren alten, zugigen Häusern und träumten vom Urlaub auf den Kanaren, falls sie sich den leisten konnten. Oder sich in ihrer Engstirnigkeit überhaupt trauten, ins Ausland zu fahren. Sie war froh, dieser Provinzhölle entronnen zu sein, der Provinz und auch ihrer Kindheit: Sie müsste eigentlich jeden Tag Champagner aufmachen, um das zu feiern.

Sina verlangsamte das Tempo und betrachtete die Neuerungen in der Straße. Bergmann und Michaelsen hatten ihre Häuser verkauft, das hatte sie schon von ihrer Mutter gehört. Die neuen Besitzer hatten nicht lange gebraucht, um alles Alte zu entsorgen. Statt Jägerzaun ein Friesenwall, Wintergarten statt Wellblechgarage, Buchsbaum statt Blumen, die alten Fenster raus, die neuen Sprossenfenster rein, nach zwei Monaten erkannte man das Haus nicht wieder. Die alten Häuser der Insulaner wirkten dadurch nur noch schäbiger. Sina wandte ihren Blick ab und richtete ihn nach links. Da stand es. Ihr Elternhaus. Eingerahmt von einem wuchtigen Zaun, links und rechts neben der Auffahrt wachten zwei steinerne Löwen, vor denen sie schon als Kind Angst gehabt hatte. Ihre Mutter hatte sie in Italien gekauft und auf die Insel liefern lassen. In Venedig passten sie vielleicht ins Bild, hier sahen sie einfach nur protzig und lächerlich aus. Die Rosen im Vorgarten brauchten dringend Wasser, der Rasen war an einigen Stellen braun, einen grünen Daumen konnte man ihrer Mutter wirklich nicht andichten. Der Wagen ihrer Mutter stand nicht in der Auffahrt, wahrscheinlich war sie wieder shoppen, das lag Jutta mehr als irgendwelche banalen Haus- oder Gartenarbeiten. Mit einem leisen Seufzer lenkte Sina den Porsche auf die Auffahrt und stieg aus. Ihre Mutter könnte ihren Wagen an der Straße parken, Sina hatte keine Lust, dass ihr irgendein Idiot den Außenspiegel abfuhr.

Sie schloss die Haustür auf und betrat das Haus. Das Erste, was ihr ins Auge fiel, war ein knallroter Ledermantel, der an der Garderobe hing. Mit einem abschätzenden Blick fühlte sie die Qualität des Leders. Er war echt. Ihre Mutter kaufte selten Schnäppchen, sie hatte nur leider keinen Geschmack. Nicht nur bei Kleidung, auch bei dem, was alles in diesem Haus herumstand. Während ihr Vater Wilhelm Antiquitäten, ruhige Farben und Bilder geliebt hatte, blätterte Jutta sich durch eine Wohnzeitschrift nach der anderen und tauschte nach und nach die alten Möbel Wilhelms gegen designte und völlig unbequeme Einzelstücke aus. Nichts passte zusammen, das Wohnzimmer sah inzwischen aus wie der Messestand eines italienischen Möbeldesigners. Aber sie kannte jede Firma, jeden Preis, jedes Material und war auch noch stolz darauf. Dieser grausame Ledermantel passte da voll ins Bild.

Kopfschüttelnd stieg Sina die Treppe zu ihrem alten Zimmer hoch. Zimmer war untertrieben, ihre Schulfreundinnen hatten sie früher glühend beneidet. Sina hatte nie ein normales Kinderzimmer, sondern ein Schlaf-, ein Wohn- und ein Spielzimmer gehabt. Jutta hatte alles gegeben, was die Einrichtung betraf. Schließlich sollten nicht nur die anderen Kinder, sondern vor allen Dingen deren Mütter vor Bewunderung und Neid platzen. Dass sie ihrer Tochter damit keinen Gefallen getan hatte, das war Jutta nie bewusst geworden. Die wenigsten Schulfreundinnen kamen wieder, nicht zuletzt, weil deren Mütter nie so ganz begeistert über den Umgang waren. Jutta fand sie spießig und ging dann eben selbst mit Sina ins Kino oder zum Strand. »Was willst du auch mit diesen Hühnern«, hatte sie Sina gefragt. »Sie sind dumm, pummelig und schlecht angezogen. Du wirst sie alle überflügeln, Prinzessin.«

Sina hatte es ihr sogar geglaubt.

Oben angekommen, ging sie den Flur entlang und sah in alle Zimmer. Sie hatte vor ein paar Jahren ihre Jungmädchenmöbel rausgeschmissen und alles schlicht und zurückhaltend möbliert. Zumindest die beiden Zimmer, die sie bei ihren wenigen Besuchen bewohnte. Seit Sinas letztem Besuch vor einem halben Jahr war hier anscheinend weder geputzt noch gelüftet worden. Sina riss das Fenster in ihrem Wohnzimmer auf, lehnte sich weit raus und schnappte nach Luft. Es roch nach Frühling und Heckenrosen, Sina ließ das Fenster weit offen, diese muffige Bude brauchte viel frische Luft. Sie streckte ihren Rücken durch und öffnete die Reisetasche. Sie hatte sich hier einiges vorgenommen und deshalb auch nur schicke Klamotten eingepackt, die jetzt alle aufgehängt werden mussten. In ihrem Schrank gab es nicht genug Bügel, also ging sie über den Flur in Juttas Schlafzimmer und stieß die Tür auf. Sofort hatte sie den Parfümgeruch in der Nase, zu blumig, zu schwülstig, zu viel. Sina atmete flach weiter, warf einen kurzen Blick auf das ungemachte, zerwühlte Bett, die Kleiderhaufen, die zerknittert auf einem Stuhl lagen, die benutzten Gläser auf dem Boden, den vollen Aschenbecher und schüttelte angewidert den Kopf. Ihre Mutter wurde immer schlampiger, es war grauenhaft. Sie öffnete schnell den übervollen Kleiderschrank, in dem sie tatsächlich ein paar ungenutzte Bügel fand, und ging zurück. Dieses Parfüm war kaum auszuhalten. Als sie die letzten Blusen in ihren Schrank gehängt hatte, kam ihr der Gedanke, Torben anzurufen. Dann hätte sie wenigstens für heute Abend eine Verabredung und musste nicht mit Jutta in deren vollgestopftem Wohnzimmer sitzen – das genauso schlimm wie das Schlafzimmer war. Bevor sie die Nummer eintippen konnte, hörte sie die Haustür.

»Sina«, Juttas Stimme war immer noch mädchenhaft, auch wenn sie laut wurde. »Du bist schon da? Du musst ja in aller Herrgottsfrühe losgefahren sein.«

Sina atmete tief durch, schob das Handy in ihre Jackentasche und machte sich auf den Weg nach unten. Ihre Mutter sah ihr vom Treppenaufgang entgegen. »Das ist ja wunderbar. Und, du, sag mal, der Porsche ist schon wieder neu, oder? War der letzte nicht weiß?«

»Hallo, Jutta«, Sina war unten angelangt, beugte sich zu ihrer Mutter und küsste sie flüchtig auf die Wange. Jutta hatte sich das Wort »Mama« verbeten, Sina konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann genau das gewesen war, es musste Ewigkeiten her sein. »Wie geht es dir? Du siehst gut aus.«

Jutta kicherte mädchenhaft und drehte sich im Kreis. »Vier Kilo, meine Liebe. Ich habe wieder sechsunddreißig. Das soll mir mal jemand nachmachen. Was ist denn jetzt mit dem Porsche? Neu? Du könntest mir den Wagen mal leihen, ich habe heute Abend eine Verabredung in Kampen. Oder du fährst mich hin, dann könnte ich ein Glas Champagner mehr trinken.« Sie stutzte, als sie Sinas Gesichtsausdruck sah, und deutete ihn falsch. »Schätzchen, ich konnte mein Date keinesfalls absagen, das ging einfach nicht. Und du kannst dich doch auch wunderbar allein beschäftigen.« Sie strich sich die Bluse glatt und ging ins Wohnzimmer. Sina folgte ihr. »Und? Wie heißt er?«

Entweder hatte Jutta den spöttischen Ton nicht bemerkt oder sie ignorierte ihn. »Karsten. Er sieht überragend aus, kommt aus Berlin, ist Architekt und hat eine Wohnung in Kampen. Vom Feinsten, ich sage es dir.« Sie kickte ihre Schuhe von den Füßen und ließ sich in einen Sessel fallen. Sina blieb stehen.

»Aha. Und wie alt? Verheiratet?«

Jutta streckte ihre Beine aus und schloss kurz die Augen. »Keine Ahnung. Mitte fünfzig? Das ist doch völlig egal. Sei nicht so spießig, ich will nur ein bisschen Spaß mit ihm. Und das auf einem eleganten Niveau, mehr nicht.« Sie setzte sich gerade hin und musterte ihre Tochter. »Du siehst schlimm aus. Was ist los? Hast du zu viel zu tun, um zur Kosmetik und zum Friseur zu gehen? Was ist mit deinen Haaren passiert? Die sind ja total strohig. Mach die Tage bloß einen Termin mit Daniela. Was nützt dir dein Promifriseur in Hamburg, wenn du keine Zeit hast, hinzugehen.«

»Ich hatte viel zu tun.« Sina ließ sich auf die Lehne des gelben Ledersofas sinken und sah sich um. »Im Gegensatz zu dir arbeite ich rund um die Uhr. Sag mal, Jutta, kannst du dir nicht mal einen Gärtner suchen? Der Garten sieht ungefähr so schlimm aus wie meine Haare.«

»Der Garten? Seit wann interessierst du dich denn für die Botanik? Ich hatte einen Gärtner, der hatte aber so einen unmöglichen Ton am Hals, da hab ich ihn gefeuert. Ich bin noch nicht dazu gekommen, einen neuen zu suchen, das mache ich schon noch. Aber du kannst dich auch gern selbst darum kümmern, wenn es dich so stört.« Etwas provozierend sah Jutta sie an. »Ich sehe dich schon Rasen mähen. In High Heels.«

Sie lachte, dann beugte sie sich vor und nahm eine Zigarette aus einem silbernen Etui. »Reich mir mal den Aschenbecher hinter dir. Willst du was trinken?«

Sina schüttelte den Kopf und wedelte den Rauch zur Seite, den Jutta in ihre Richtung blies. »Musst du eigentlich immer hier drin rauchen? Ich kann das nicht mehr ab. Wir können uns doch raussetzen.«

»Sina, bitte«, Jutta schloss genervt die Augen. »Es ist mein Haus, ich kann rauchen, wo ich will. Und wieso willst du dich raussetzen? Ich denke, dich stört der Zustand des Gartens. Ich muss übrigens auch mal wieder zu dir kommen, ich könnte ein paar Tage Großstadtluft brauchen.«

Jutta hatte ihre Tochter in den letzten zehn Jahren genau einmal besucht. Sie schnupperte Großstadtluft lieber in männlicher Begleitung. Sowohl die Großstädte als auch die Männer wechselten regelmäßig, Sina fragte sich, wo ihre Mutter diese Männer dauernd fand. Sie ging einfach über Juttas Ankündigung hinweg. Das war besser so, Jutta kannte nur die Wohnung in der Hafencity, von der sie glaubte, Sina hätte sie gekauft. Es wäre schwierig, Jutta eine Begründung zu liefern, warum ihre so gut verdienende Tochter mittlerweile in einem Eineinhalb-Zimmer-Loch in Barmbek wohnte. Aber die Gefahr bestand nicht ernsthaft. Jutta kam sowieso nie.

»Ich weiß überhaupt nicht, was du noch mit diesem großen Haus willst. Du nutzt doch nur drei Zimmer, wieso suchst du dir keine Wohnung, so eine kleine, schicke, ganz modern, da hast du doch viel mehr davon.«

»Warum?«, mit einer wegwerfenden Handbewegung stand Jutta auf. »Damit die Leute denken, ich kann mir das Haus nicht mehr leisten? Vergiss es. Ich verkaufe nur über meine Leiche. Ich kenne einen Haufen Leute, die sich nach diesem Haus die Finger lecken würden. Meinst du, ich gönne es ihnen? So, und jetzt gehe ich mich umziehen, ich habe noch was vor. Bis später, Schatz.«

 

Als sie die Dusche rauschen hörte, zog Sina das Handy aus der Tasche und tippte eine Nummer ein. Nach nur einem Freizeichen meldete sich eine überraschte Stimme: »Sina? Das ist ja eine Überraschung. Bist du auf der Insel?«

»Ja, heute angekommen. Hast du Lust auf ein Bier?«

Am anderen Ende entstand eine kleine Pause. »Heute? Das ist ganz blöd, ich habe Rike Brandt versprochen, ihr, oder besser, ihrer Freundin heute beim Umzug zu helfen. Ich warte auf den Anruf, dass sie auf dem Autozug sind. Und anschließend wird es dir wahrscheinlich zu spät. Oder?«

»Das kommt drauf an, wie spät ›anschließend‹ ist«, antwortete Sina und bemühte sich um einen neutralen Ton. »Ich habe ziemlich viel Stress gehabt, die halbe Nacht kann ich nicht aufbleiben. Na ja, dann eben nicht. Vielleicht ein anderes Mal.«

»Lass mich überlegen.« Torben dachte kurz nach. »Du kennst doch Rike und Maren, oder? Maren Thiele? Die kennen sich noch aus der Schule, dann kennst du die doch sicher auch. Jedenfalls zieht Maren heute zurück auf die Insel. Du kannst doch dazukommen, ich ruf dich an, wenn wir einigermaßen durch sind. Du kannst einfach dabeisitzen, und dann gehen wir anschließend was trinken. Ich lade nur mit aus, die Technik und den Kleinkram kann ich auch morgen machen. Wenn du Lust hast.«

Sein Ton war betont cool, Sina unterdrückte ein Lächeln. Sie war Torben wichtig, seit Jahren. Das war so sicher wie Ebbe und Flut. Auf einer Party hatte sie mal etwas mit ihm angefangen, damals war sie Mitte zwanzig und auf dem Weg in ein neues Leben in Hamburg. Die Nacht mit Torben war sozusagen ihr Sylter Abschiedsgeschenk gewesen. Seitdem hielten sie losen Kontakt. Wenn sie auf der Insel war, sahen sie sich. An manchen Abenden landeten sie auch im Bett. Sina hatte schon schlechtere Liebhaber gehabt, und für Torben war sie die Göttin schlechthin. Dass daraus mehr würde, war für Sina ausgeschlossen. Ob Torben das auch so sah, wusste sie nicht. Es war ihr auch egal. Sie wusste genau, welche Knöpfe sie bei ihm drücken musste, damit er bei der Stange blieb. Sie konnte sich auf ihn verlassen, er würde sie niemals abweisen. Und genau das brauchte sie gerade jetzt, in diesem großen Haus, mit dieser Mutter, die sich gerade für ihre neueste Affäre auftakelte, und nach den letzten stressigen Wochen in Hamburg. Sie nickte knapp, bevor sie sagte: »Okay, dann sims mir doch bitte die Adresse, ich komme später nach. Bis dann.«

Etwas später, zwei Orte weiter, bei lauer Luft

Maren blinkte und zeigte auf die Auffahrt, damit der Fahrer des Möbelwagens wusste, wo er hinsollte. Kurz vor der Verladestation in Niebüll hatten sie die Jungs überholt, Maren hatte die gelbe Plane mit der Münsteraner Aufschrift schon von Weitem gesehen und sich, ohne genau zu wissen, warum, gefreut. Es hatte sie beruhigt, dass jetzt alles seinen Gang ging. Am Autozug hatten sie sich wiedergetroffen, so hatte sie selbst ihre Sachen in das neue Leben begleitet, es war alles gelaufen wie am Schnürchen. Sie parkte ihr Auto ein Stück weiter an der Straße und sah Rike an. »War das ein Ritt.«

»Wir sind sechs Stunden gefahren«, entgegnete Rike und öffnete ihren Gurt. »Und nur ein kleiner Stau, das war doch nicht schlecht. Jetzt laden wir ruckzuck aus und dann machen wir den Sekt auf.«

»Ruckzuck?«, Maren wurde schon beim Gedanken an den beladenen Lkw müde. »Dann … Oh, hallo, Papa!«

Onno war unbemerkt zum Auto gekommen und hatte sich zum Fenster gebeugt, das Maren jetzt runterkurbelte. »Moin. Da seid ihr ja. Ich wollte euch eigentlich helfen, aber jetzt habe ich gleich Chorprobe. Da muss ich hin, wegen der Aufführung im August. Ihr könnt ja schon mal ohne mich anfangen, du kennst dich ja aus. Also bis später dann.« Er knöchelte dreimal aufs Autodach, stieg auf sein Mofa und fuhr los.

»Dann … viel … Spaß«, Maren hatte den Türgriff immer noch in der Hand und starrte ihrem Vater mit offenem Mund hinterher. »Ja, ich freue mich auch, dass ich wieder da bin.«

Rike lachte. »So ist er«, sagte sie grinsend und stieg aus. »Dein Papa. Jetzt geht er eben singen, weil er immer singen geht. Na, komm, die Begrüßungsfeier machen wir hinterher. Irgendwann hat es sich ja ausgesungen.«

»Tja«, Maren saß immer noch kopfschüttelnd im Wagen. »Wenn ich Glück habe, hat er den Hausschlüssel stecken lassen. Ich habe nämlich keinen.«

 

Der Hausschlüssel steckte, Maren schloss auf und betrat das Haus, gefolgt von Rike und einem Umzugshelfer. »So, dann wollen wir mal sehen«, sagte er. »Wo soll was hin?«

»Alles in die Einliegerwohnung«, antwortete Maren. »Der Eingang ist an der Seite, ich mache auf, muss nur den Schlüssel holen.«

Während der Mann zu seinen Kollegen zurückging, um die ersten Möbel auszuladen, blieb Maren vor der Tür der kleinen Wohnung stehen, die ihre Eltern früher an Feriengäste vermietet hatten. Mit der Hand auf der Klinke schloss sie kurz die Augen und dachte an ihre Mutter. Greta hatte sich um die Vermietung gekümmert, die Wohnung damals eingerichtet, für die Gäste Blumen auf den Tisch gestellt und sich auf jeden Gast gefreut. Die Vermietung war mit Greta gestorben. Onno hatte keine Lust auf fremde Leute. »Weißt du«, hatte er damals traurig gesagt, »deine Mutter mochte das gern. Sie hat sich immer mit den Gästen unterhalten und ihnen manchmal die Insel gezeigt. Das hat ihr gelegen, sie fand das schön, wenn Trubel im Haus war. Aber ich … ich kann das nicht. Ich mag nicht dauernd mit Fremden reden. Und wenn man sich an sie gewöhnt hat, dann ist ihr Urlaub vorbei und sie reisen ab. Und dann diese Abrechnungen und Kurkarten, nee, das ist nichts für mich.«

Maren hatte ihm vorgeschlagen, die Wohnung zumindest dauerhaft zu vermieten. Das hatte Onno auch gemacht. Die junge Frau, die zwei Sommer lang hier gewohnt hatte, war Kellnerin in Westerland und kam nur für die Saison. Onno war froh über die Lösung gewesen. »Sie bleibt nur über den Sommer, und wenn sie anfängt, mir auf die Nerven zu gehen, ist sie im Herbst wieder weg.«

Für diese Saison musste sich die junge Frau eine andere Bleibe suchen. Oder einen anderen Job in einem anderen Ort. An dem es leichter war, eine Wohnung zu finden, die man von einem kleinen Gehalt bezahlen konnte.

Für die Renovierung hatte Maren ihren Urlaub im Januar genutzt. Sie hatte zwei Wochen gebraucht, auch weil Onno sich komplett rausgehalten hatte. Er mochte keine Farben riechen, hatte er gesagt, und er wüsste auch nicht, wie sie es genau haben wolle. Und das abschließende Putzen wäre auch eher was für sie als für einen alten Seemann. Aber er hatte jeden Abend ihre Ergebnisse begutachtet. Und sich dabei immer stolz umgesehen. Entschlossen drückte sie die Tür auf und traute ihren Augen nicht. Mitten im Wohnzimmer stand ein Wäscheständer, auf dem Onnos gesammelte Hemden hingen. Daneben standen zwei Fahrräder und ein Rasenmäher. Aber was Maren aus der Fassung brachte, war der Blumenstrauß auf der Fensterbank. Ein ganzer Arm voller Blumen aus dem Garten, etwas schief drapiert in einem gläsernen Sektkühler. Ohne Wasser zwar, aber man konnte nicht alles haben. Maren hatte das Gefühl, dass Greta ihr zuzwinkerte.

 

»Also, vielen Dank und noch einen schönen Feierabend«, sagte Maren und schüttelte den Umzugsleuten nacheinander die Hand. »Das war alles prima, und: Grüßt mir Münster!« Sie blieb auf der Auffahrt stehen, bis der Lkw das Grundstück verlassen hatte, hob ein letztes Mal die Hand und wandte sich wieder zurück zum Haus. Sina saß neben Torben, der eine Zigarette rauchte, auf einer Stufe zur Terrasse. Maren lächelte sie an und ließ sich neben sie sinken. »Danke für die Hilfe«, sagte sie. »Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen, dass wir dich so eingespannt haben. Das war gar nicht so gemeint. Rike hat doch nur einen Witz gemacht.«

»Geschenkt«, winkte Sina ab. »Die drei Kartons, die ich getragen habe … Und du bleibst jetzt für immer auf der Insel? Ich glaube, ich würde wahnsinnig werden. Gerade, wenn man das Großstadtleben kennt.«

»Och«, Maren hob die Schultern. »Münster ist ja nun auch nicht gerade eine Weltstadt. Und irgendwie freue ich mich jetzt, wieder hier zu sein.«

Torben sah sie zustimmend an. »Und du hast hier weniger Stress im Dienst«, sagte er. »Auf Sylt gibt es höchstens mal ein paar besoffene Urlauber oder Jugendliche, die einer Oma das Portemonnaie klauen. Da ist in Münster bestimmt mehr los.«

»Wieso?« Sina wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger und sah Maren neugierig an. »Was machst du denn? Ich dachte, du seist Arzthelferin.«

»Ich bin Polizistin«, antwortete Maren freundlich. »Rike arbeitet bei Dr. Hansen. Wo ist sie eigentlich?«

»Hier«, kam die Antwort postwendend. Rike kam aus dem Haus und schwenkte einen Korb, in dem Flaschen lagen. »Möchte jemand jetzt ein Bier?«

»Ich … ähm …«, Torben sah Sina an, die nur leicht den Kopf schüttelte und schnell antwortete: »Ich wollte noch was mit Torben besprechen, eigentlich müssten wir deshalb so langsam mal los.« Sie wandte sich an Torben. »Ich meine: Sonst können wir das auch morgen bereden?«

»Nein, nein«, sofort erhob er sich und wandte sich entschuldigend an Maren. »Also, wenn das wirklich okay ist, dann würde ich morgen Nachmittag kommen und dir den Rechner, die Anlage, den Fernseher und den ganzen anderen Kram anschließen und jetzt auch fahren, ja?«