Liebe oder Eierlikör – Fast eine Romanze - Dora Heldt - E-Book
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Liebe oder Eierlikör – Fast eine Romanze E-Book

Dora Heldt

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Beschreibung

Früher war mehr Romantik ...  Ernst Mannsen versteht die Welt nicht mehr. Die sonst so verlässliche Hilke Petersen trägt plötzlich Lippenstift und hat keine Zeit, auf dem Frühlingsbazar Kuchen zu verkaufen. Hella und Gudrun reden von Frühlingsgefühlen und Liebeshormonen und vermuten, dass Hilke eine Romanze hat. Und plötzlich taucht auch noch das Gerücht auf, dass das halbe Dorf sich bei einer Dating-App angemeldet hat, die Liebe oder Eierlikör heißt. Und das, obwohl Ernst schon so viel über Betrüger im Netz gelesen hat. Er vermutet, dass der Lippenstift nur der Anfang der Katastrophe ist, in die Hilke sich begibt, und ist entschlossen, das zu verhindern. Mithilfe seines Enkels Mats und Freundin Hella forscht er undercover nach, nicht ahnend, wie schnell man sich auf einem Date wiederfinden kann …

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Dora Heldt

Liebe oder Eierlikör

Fast eine Romanze

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1.

Irgendwas an Hilke war heute anders. Ernst verharrte an der Tür des Gemeindebüros und runzelte verwirrt die Stirn, während er noch überlegte, was es war. Er trat einen Schritt näher und starrte sie so lange an, bis sie den Kopf hob und plötzlich lächelte. »Moin, Ernst.« Jetzt sah er es: Hilke Petersen trug rosa Lippenstift. Und eine sehr bunte Bluse. Und sie lächelte. Normalerweise lächelte sie nie, zumindest nicht ohne Grund. Und schon gar nicht einfach so zur Begrüßung. Das war nicht ihre Art. Und Ernst konnte das beurteilen, weil er die sonst so spröde Hilke Petersen schon sehr lange kannte, nicht erst seit sie in diesem Gemeindebüro arbeitete und sich um die Belange der Touristen und Insulaner kümmerte, sondern schon als Jugendliche. Also fast ihr ganzes Leben. In dem sie bislang ohne Lippenstift und Lächeln ausgekommen war. Und nie bunte Kleidung getragen hatte.

»Komm doch rein«, sagte sie. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich …«, zögernd trat er näher. »Hast du heute eine Feier? Geburtstag oder so?«

»Nein. Wie kommst du darauf?«

»Die Bluse«, antwortete Ernst schnell und nickte. »Du hast so eine hübsche Bluse an.«

Ernst fand sie viel zu bunt, aber irgendetwas musste er ja sagen. Hilkes Wangen hatten plötzlich dieselbe Farbe wie der Lippenstift.

»Vielen Dank für das Kompliment«, sagte sie etwas verlegen. »Sehr aufmerksam.«

»Das sieht sehr hübsch aus«, setzte Ernst hinzu. »Sehr … hell.«

»Danke«, sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und klaubte ein Haar von der bunten Bluse. »Was wolltest du denn jetzt?«

»Ich … ähm«, die veränderte Hilke hatte Ernst völlig aus dem Konzept gebracht, er musste tatsächlich überlegen, was genau er hier eigentlich wollte. Es fiel ihm wieder ein. »Ich möchte gern die Jahresaufkleber für die Einwohner-Besucherkarten. Bevor die Familie kommt. Jetzt geht die Saison ja langsam los und …«

»Hast du die Karten dabei?« Hilke hatte schon eine Schublade aufgezogen und die Hand ausgestreckt. Sie hatte auch noch ihre Fingernägel lackiert. In Rosa. Den Blick darauf gerichtet fummelte Ernst seine Brieftasche aus der Jacke und zog die Karten hervor. »Bitte schön.«

Sorgsam klebte Hilke die neuen Etiketten über die alten und schob ihm die Karten wieder zu. »15 Euro«, sie sah ihn an. »Dann wollen wir mal hoffen, dass es ein schöner Sommer wird.«

»Ja.« Ernst legte ihr das Geld hin und verstaute die Karten, während er noch nach einer klugen Antwort suchte. »Danke. Mein Enkel Mats kommt ja schon demnächst. Alleine. Er hat ja gerade keine Freundin.«

»Ist doch schön.« Hilke legte das Geld in die Kasse und schob die Schublade wieder zu. »Also, dass euer Enkel kommt. Brauchst du noch was?«

»Nein, nein, vielen Dank.« Ernst schüttelte den Kopf. »Dann gehe ich mal wieder, du hast ja bestimmt noch was Schönes vor. Also, ich meine, wegen der Bluse und so.« Er sah sie abwartend an, sie reagierte nur leider nicht. Stattdessen lächelte sie schon wieder und sagte: »Einen schönen Tag noch.«

»Danke, dir auch«, er hob unschlüssig die Hand, drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Gemeindebüro.

Erst als er draußen vor dem roten Backsteingebäude stand, blickte er sich noch mal um. Er konnte Hilke durch das geöffnete Fenster an ihrem Schreibtisch sitzen sehen. Sie schaute auf ihr Handy und lächelte entrückt. Ernst war jetzt vollends verwirrt. Das passte gar nicht zu ihr. Dieses aufs Handy starren und von der Welt nichts mitbekommen. Das machten doch nur die jungen Leute, die dabei aussahen, als wären sie mit diesem Ding verwachsen. Ernst konnte das nicht leiden. Was um alles in der Welt war denn nur mit ihr los?

»Hast du einen Geist gesehen?«, tönte plötzlich eine weibliche Stimme hinter ihm, die Ernst zusammenzucken ließ. Sofort drehte er sich um und sah Hella Fröhlich vor sich. »Ist was passiert?«

Das Erste, was ihm an Hella auffiel, war ihr knallgelber Mantel. Hella Fröhlich trug meistens bunte Kleidung, ganz im Gegensatz zu Hilke, aber dieser Mantel war sehr gelb. »Du siehst aus wie ein großes Küken«, stellte Ernst fest und musterte sie. »Du leuchtest.«

»Das ist die Absicht«, Hella lächelte ihn breit an. »Ich habe den Frühling eingeläutet.« Sie legte ihren Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken und hielt ihr Gesicht schnuppernd in die Sonne. »Riechst du es auch? Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte. Süße, wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land«, sie sah ihn an und fuhr in normaler Lautstärke fort: »Schön, oder?«

»Nicht so laut«, Ernst runzelte die Stirn und sah sich um. »Muss ja nicht gleich das ganze Dorf hören, wie du Schlager singst. Und hier flattert auch kein blaues Band, sondern nur das rot-weiße an der Absperrung wegen der Kanalarbeiten.«

»Das ist Mörike, mein Bester«, Hella schüttelte den Kopf. »Von wegen Schlager, du hast doch keine Ahnung. Hast du schlechte Laune? Statt Frühlingsgefühle? Was ist los mit dir?«

Ernst musterte sie lange. Hella Fröhlich hatte immer gute Laune. Sie war auch immer bunt und mit Schmuck behängt. Wie ein altes Zirkuspferd. Das hatte sie selbst mal gesagt, schließlich war sie als junge Frau Schauspielerin gewesen und hatte bis vor ein paar Jahren auch noch auf der Insel bei der Laienspielgruppe mitgemacht. Die ihr aber zu unprofessionell gewesen war. Jetzt mischte sie die Gemeindeveranstaltungen auf, sammelte Geld für den Kinder-Club, organisierte die diversen Festivitäten mit und war ständig auf der Suche nach neuen Vergnügungen.

Sie bohrte ihm nun den Finger in die Brust. »Hallo? Was ist los mit dir?«

»Ich …«, Ernst drehte sich wieder um, Hilke saß immer noch mit dem Handy in der Hand am Schreibtisch. Er sah zurück zu Hella und deutete mit dem Kopf in Hilkes Richtung. »Ich habe die Jahresaufkleber geholt. Bei Hilke Petersen. Sie war ganz … wie soll ich sagen? Sie sieht aus … also sie hat Lippenstift aufgetragen. Und Nagellack. Und sie hat was ganz Buntes an. Und lächelte die ganze Zeit.«

»Hilke Petersen?« Hella folgte der Geste. »Unsere graue Maus? Lippenstift und Nagellack? Oha. Dann hat sie wohl auch Frühlingsgefühle. Das wurde ja mal Zeit.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, Ernst schüttelte energisch den Kopf. »Die hat sie nicht gehabt, seit ich sie kenne. Sie war immer ganz normal. Nein, irgendwas ist bei ihr plötzlich ganz anders.«

»Vielleicht ist sie verliebt?«, mutmaßte Hella jetzt und hob die Schultern. »Das soll ja vorkommen.«

»Hilke?«, entgeistert sah Ernst sie an. »Ich bitte dich. Sie ist doch fast fünfzig.«

»Sag mal«, empört trat Hella einen Schritt zurück. »In welcher Welt lebst du denn? Man kann sich in jedem Alter verlieben. Nur weil du mit Gudrun schon ein halbes Jahrhundert verheiratet bist, heißt das noch nicht, dass es nicht andere Menschen in eurem Alter gibt, die noch einen Partner suchen. Dafür ist es nie zu spät. Und Hilke Petersen ist höchstens Mitte vierzig. Und übrigens, du kennst doch dieses ältere Paar, das jetzt zwei Häuser neben Martina Wolf wohnt, oder? Sie heißt Frau Arndt, er heißt, warte mal, ich komme gleich drauf, er heißt irgendwie anders. Egal. Aber die haben sich in fortgeschrittenem Alter im Internet kennengelernt. Und sind ganz glücklich.«

Ernst winkte ab. »Im Internet. Das ist doch auch so ein Unsinn. Anstatt mal auszugehen, hocken die Leute vor dem Computer und geben Kontaktanzeigen auf. Oder beantworten sie. Du weißt doch gar nicht, ob du da gerade einen Verbrecher kennenlernst. Und zack, liegst du tot in den Dünen.«

Hella lachte. »Ernst, niemand gibt mehr Kontaktanzeigen auf, auch nicht im Internet. Das geht heute alles über Apps. Lass dir das mal von deinem Enkel erklären, du verpasst sonst die ganze moderne Technik. Und außerdem musst du nicht immer hinter allem, was passiert, kriminelle Energien wittern. So schlecht ist die Welt auch nicht.«

»Das sagst du so in deinem bodenlosen Leichtsinn«, Ernst hob anklagend den Zeigefinger. »Ich sehe genug Fälle im Fernsehen, da gibt es ganze Serien mit echten Kriminalfällen, ich kenne mich aus. Je moderner die Welt, desto ausgefuchster die Verbrecher. Also, pass gut auf dich auf, ich muss nach Hause, Hecke schneiden. Wiedersehen Hella.«

»Grüß Gudrun. Bis demnächst.«

 

Der Schlüssel steckte von außen, das Holzschild mit dem Schriftzug Bin im Garten baumelte an der Klinke. Kopfschüttelnd öffnete Ernst die Tür und trat ins Haus. Er hatte Gudrun schon vorgeschlagen eine Liste der Wertgegenstände und ihrer Aufbewahrungsorte in den Flur zu nageln, um die Unordnung, die Einbrecher in der Regel hinterlassen, zu verhindern. Aber auf dem Ohr war sie taub. Sie fand, ihr Mann habe zu viel kriminelle Fantasie, was das Ergebnis seines jahrelangen Krimikonsums im Fernsehen sei. Das war natürlich Unsinn, er hatte einfach eine gute Menschenkenntnis und einen realistischen Blick auf die Welt.

Als junger Mann hatte er sich sogar bei der Polizei beworben, sie hatten ihn nur nicht genommen, er konnte bis heute nicht verstehen, warum. Er war sich sicher, dass er ein hervorragender Ermittler geworden wäre, das merkte er auch bei den Kriminalfällen im Fernsehen, bei denen er fast immer sehr früh auf die Lösung kam. Dafür hatte er Talent, das hatten sie nur damals einfach nicht erkannt. Aber dieses Talent hatte er dann bis zu seiner Rente erfolgreich als Zollbeamter eingesetzt. Auch wenn er lieber Mörder anstatt Touristen mit zu viel Schnaps gefasst hätte.

 

Er legte die drei wieder gültigen Besucherkarten in die Schublade, tauschte seine gute Hose gegen die Gartenjeans und schloss die Tür von außen ab. Den Schlüssel ließ er in die Hosentasche gleiten.

Gudrun kniete in ihrem Blumenbeet und zupfte Unkraut. Als sie Schritte hörte, richtete sie sich auf, zog die Handschuhe aus und sah ihren Mann an. »Na? Alles erledigt?«

»Ja. Sonst wäre ich ja noch nicht wieder da.«

»Wo hast du denn die Hornveilchen hingestellt?« Gudrun war inzwischen aufgestanden und sah sich um.

»Welche …«, in diesem Moment fiel es Ernst wieder ein. Minna Paulsen hatte Hornveilchen für Gudrun aus der Gärtnerei mitgebracht, die er bei ihr hätte abholen sollen. »Die habe ich vergessen«, er hob die Schultern und sah seine Frau ratlos an. »Einfach vergessen.«

Sie runzelte die Stirn und stieg langsam über die niedrige Buchsbaumhecke, die das Blumenbeet begrenzte. »Aber du warst doch auf der Gemeinde, oder nicht? Mit den Jahreskurkarten?« Jetzt stand sie dicht vor ihm und musterte ihn. »Oder hast du das auch vergessen? Minna wohnt nur eine Tür weiter.«

»Ja, schon«, Ernst kratzte sich am Kopf. »Und nein, die Karten habe ich nicht vergessen. Aber Hilke hat mich so durcheinandergebracht, wegen dieses Lippenstifts. Und dann kam auch noch Hella. In so einer gelben Jacke, in der sie aussieht wie ein dickes Küken.«

»Ich kenne die Jacke«, nickte Gudrun. »Hat sie letzte Woche in Westerland gekauft. Schnäppchen. Auch wenn ich finde, dass sie etwas zu alt für diese Farbe ist. Aber in der Beziehung ist Hella ja beratungsresistent. Und was meinst du mit dem Lippenstift?«

»Hilke«, Ernst beugte sich vor. »Hilke Petersen hatte ihre Lippen rosa angemalt.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr dann fort: »Rosa. Und nicht nur die Lippen, sondern auch noch ihre Fingernägel. Und sie hatte eine ganz bunte Bluse an.«

»Warum nicht?«, Gudruns Reaktion war eher enttäuschend. »Vielleicht hat sie heute noch was Schönes vor?«

»Sie benutzt nie Lippenstift«, Ernst wurde etwas vehementer. »Es gibt keinen Grund, keine Feier, keinen Geburtstag, das habe ich sie gefragt. Ich kenne sie seit Jahren und sie war noch nie so bunt wie heute. Ganz seltsam. Das passt gar nicht zu ihr.«

»Sie wird dir auch nicht alles erzählen. Vielleicht ist sie verliebt?« Gudrun lächelte. »Jetzt haben doch gerade alle Frühlingsgefühle. Ich habe vorhin eine Umfrage im Radio gehört, die Hormone tanzen, hat da jemand gesagt, es ist gerade die beste Zeit, sich zu verlieben.«

»Doch nicht Hilke Petersen«, entschieden schüttelte Ernst den Kopf. »So eine ist sie nicht. Das hat sie mal ausprobiert und es entsprach nicht ihrem Naturell. Und wo soll sie denn schon jemanden kennenlernen? Sie geht doch nie aus.«

Das genau war es ja, was Ernst an der spröden Hilke Petersen so schätzte. Sie war so ernsthaft und so ordentlich. Er sah sie bei allen Festivitäten, die die Gemeinde veranstaltete. Ob es der Osterbasar, der Weihnachtsmarkt oder die Busausflüge waren, Hilke Petersen war in ihrer unaufgeregten Art immer dabei. Ernst unterhielt sich gern mit ihr, über Bauvorhaben, über die Touristen, über die neuen Hotels auf der Insel und Hilke regte sich über dieselben Dinge auf. Auf sie war Verlass. Sie setzten sich meistens nebeneinander, erst bei der letzten Sitzung des Kinder-Clubs war das so gewesen. Sie gehörte genau wie Ernst zum Vorstand des Vereins, der sich für die Kinder der Insel engagierte. Ernst selbst hatte sie gefragt, ob sie mitmachen wolle, und sie hatte Ja gesagt. Weil sie ja sonst nur ihre Arbeit und kaum Privatleben habe. Und nun trug sie plötzlich Lippenstift und bunte Blusen. Es war verrückt.

»Nun mach dir mal keinen Kopf über Hilke Petersens Lippenstift«, Gudruns Stimme holte ihn aus seinen Gedanken. »Und im Übrigen geht dich das auch gar nichts an. Wenn eine Frau sich plötzlich schön macht, hat sie einen Grund. Freu dich drüber, hol dein Fahrrad aus dem Schuppen und fahr zu Minna, um die Hornveilchen abzuholen. Die will ich nämlich heute noch einpflanzen.«

2.

Hella Fröhlich begutachtete sich zufrieden im Schaufenster der Bäckerei. Sie fand, dass ihr der gelbe Mantel ausnehmend gut stand, es war ein Glücksgriff gewesen. Und dann noch so günstig. Aber das war typisch Ernst Mannsen, er gehörte zu den alten Männern, die keine Ahnung von Mode hatten, auch wenn sie ihn sehr mochte und schon seit Jahrzehnten mit ihm befreundet war. Aber so war Ernst. Altmodisch eben.

Amüsiert dachte sie an sein verstörtes Gesicht und seine Verwunderung über Hilke Petersens Lippenstift. Ernst machte es immer ganz nervös, wenn sich in seinem unmittelbaren Umfeld etwas änderte, was er nicht verstand. Dass Hilke sich plötzlich schminkte, war für Ernst eine fast schon schockierende Veränderung. Hilke war sonst eine graue Maus, sie legte nicht viel Wert auf modische Kleidung oder schöne Frisuren.

Natürlich war Hella sofort, nachdem Ernst weg gewesen war, ins Gemeindebüro marschiert, um sich selbst davon zu überzeugen. Und tatsächlich, Hilke Petersen trug Lippenstift. Die Farbe biss sich zwar ein bisschen mit der sehr bunten Bluse und noch mehr mit dem pinkfarbenen Seidentuch, auf dem auch noch gelbe Herzen waren, aber solche Stilsicherheit konnte man von Hilke nicht erwarten, dazu war sie zu ungeübt in modischer Eleganz.

»Das sieht nach Liebe aus«, hatte Hella ihr unverblümt gesagt und anerkennend genickt. Und Hilke hatte gelächelt, aber nichts erzählt. Was schade war, weil Hella Fröhlich doch Romanzen liebte, die in ihrem Leben leider nicht mehr passierten. Aber gut, irgendwie würde sie noch herausfinden, welchen Frosch Hilke an die Wand geworfen hatte, um sich für ihn schön zu machen. Jetzt wollte sie es wissen, nicht dass Ernst es wieder zuerst herausbekam.

Sie wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und schlenderte weiter. Vielleicht sollte sie Kontoauszüge holen. Dabei könnte sie mit Martina ins Gespräch kommen, der Filialleiterin der kleinen Bank, die außerdem ihre Nachbarin war. Martina war nämlich mit Hilke befreundet, zumindest so was in der Art. Sie waren ja beide graue Mäuse, eine sehr dick, eine sehr dünn, beide alleinlebend, beide unabhängig, beide klug, beide Mitte vierzig, aber manchmal etwas wunderlich. Wenn jemand wüsste, was Hilke zum Lippenstift getrieben hatte, dann war das Martina.

Zu Hellas Freude stand Martina sogar selbst am Kontoauszugsdrucker und legte Papier nach. Hella stellte sich neben sie, wovon die sich gar nicht stören ließ. Sie beendete immer erst eine Arbeit, bevor sie sich um die nächste kümmerte. Als sie die Klappe mit Schwung geschlossen hatte, drehte sie sich um. »Tag, Hella.«

»Hallo, Martina«, Hella trat einen Schritt näher. »Sag mal, weißt du, was mit Hilke Petersen los ist? Die sieht so verändert aus.«

Martina hob eine Augenbraue und sah Hella stumm an. Das hätte sie sich denken können. Martina tratschte nie. Nicht nur, weil sich das so gehörte, sondern auch, weil es sie nicht interessierte. Sie liebte Zahlen, Tabellen und Statistiken, alles, was mit nicht mathematisch kalkulierbaren Dingen zu tun hatte, wollte sie nicht wissen.

»Ernst Mannsen war ganz irritiert«, versuchte Hella es anders. »Er fand Hilke so verändert und macht sich große Sorgen um sie«, sie kreuzte die Finger, ganz so war es ja auch nicht, aber immerhin verlieh das ihrer Frage Nachdruck.

»Braucht er nicht«, entgegnete Martina und bewegte sich langsam zurück zu ihrem Schreibtisch. »Schönen Tag noch.«

»Martina, warte mal«, Hella folgte ihr ungefragt. »Kann es sein, dass sie jemanden kennengelernt hat?«

»Im Gemeindebüro lernt sie dauernd jemanden kennen. Es kommen jeden Tag Gäste.«

»Nein, ich meine privat. Einen Mann.«

Martina blieb stehen. »Warum willst du das wissen?«

»Weil es so romantisch wäre«, Hella hob theatralisch die Arme Richtung Decke. »Die arme, zarte Hilke, die vor fünfzehn Jahren mal wegen einer Liebesgeschichte die Insel verlassen hat und zu diesem jungen Mann nach Kiel gezogen ist. Um nach drei Monaten wieder zurückzukommen. Mit Liebeskummer, weil es schiefgegangen ist. Und seitdem lebt sie nur für ihre Arbeit und hockt allein in ihrer Wohnung. Sie hätte ein spätes Glück verdient.«

»Sie mochte Kiel nicht«, Martina ging langsam zum Kassentresen und umrundete ihn. »Das war alles.«

»Ihr Heimweh war größer als die Liebe?« Hella riss die Augen auf. »Das ist doch nicht zu glauben. Hat sie denn jetzt jemanden von der Insel kennengelernt? Wo denn? Und wer ist es, wie heißt er, was macht er? Ihr seid doch gemeinsam im Kinder-Club für die Finanzen zuständig. Da sprecht ihr doch bestimmt auch manchmal ein privates Wort bei den Sitzungen. Hat sie dir denn erzählt, wo sie ihn kennengelernt hat?«

Martina hob nur den Kopf und sah sie verständnislos an. »Wen?«

Den Blick resigniert an die Decke gerichtet, atmete Hella tief aus. Es war nur ein Versuch gewesen, sie hätte sich denken können, dass sie sich an Martina die Zähne ausbeißen würde.

»Schon gut, Martina«, sagte sie und zog ihr Portemonnaie aus der Tasche, um wenigstens Geld zu holen, wenn sie schon mal hier war. »Ich ziehe die Frage zurück. Vielleicht hat sie sich ja tatsächlich an ihrem Arbeitsplatz verliebt. Da finden ja immer noch die meisten Beziehungen ihren Anfang.«

»Falsch. Im letzten Jahr haben sich 43 % aller Paare im Internet kennengelernt«, korrigierte Martina in einem geschäftsmäßigen Ton. »Vor vier Jahren waren es nur 23 %, der Anteil hat sich durch die Pandemie erhöht. 61 % der Nutzer glauben, dass sie die große Liebe im Netz finden können, über die Hälfte der Befragten bezeichnet diese Art der Kontaktaufnahme als zielführend.«

»So viele?«, erstaunt sah Hella sie an. »Und Hilke macht auch bei so was mit?«

»11 % der Nutzer sind statistisch über sechzig«, Martina rollte ihren Stuhl näher an den Schreibtisch. »Diese hohe Zahl ist durch die Zunahme von altersentsprechenden Portalen zustande gekommen. Und durch regionale Anbieter.«

»Wirklich? 11 % in meiner Altersklasse?« Hella riss die Augen auf. »Das ist ja ein Ding. Vielleicht könnte ich ja so doch noch mal einen netten Mann kennenlernen. Mit ein bisschen Geld und vollem Haar. Weißt du, wie man sich da anmeldet?«

»Mit einem Smartphone. Es gibt eine neue App. Für diese Region.«

»Und das hat Hilke gemacht? Und jemanden gefunden?« Neugierig beugte Hella sich über den Tresen. »Sag doch mal. Ich glaube, ich mache da auch mit. Damit der Sommer ein bisschen mehr Schwung bekommt. Das wäre mal eine ganz neue Perspektive. Ach, Hella Fröhlich im Rausch der Frühlingsgefühle, das sind ja ganz neue Möglichkeiten. Ich habe ein Smartphone. Kann Hilke mir zeigen, wie das geht? Und so ein bisschen was erzählen?«

Martina musterte sie mit unbewegter Miene. »Hilke hat dafür keine Zeit. Aber ich kann dir das einrichten.«

»Du?« Hella lächelte. »Ach, warum eigentlich nicht? Wie gut, wenn man die richtigen Nachbarn hat. Dann komme ich demnächst rüber? Und du zeigst es mir?«

»Von mir aus«, antwortete Martina und zog die Computertastatur näher. »Ruf vorher an. Und jetzt entschuldige mich, ich habe zu tun.«

 

Beschwingt verließ Hella die Bank. Es war zwar nicht das Ergebnis, das sie erwartet hatte, aber zumindest hatte sich gerade eine Möglichkeit eröffnet, mal etwas Leben in die Bude zu bringen. Das war doch eine wunderbare Aussicht. Und vielleicht ergab sich in der privaten Atmosphäre von Martinas Wohnung, dass sie auch etwas über Hilkes Frühlingsgefühle erfuhr. Vor allem damit Ernst sich beruhigte.

Sie überlegte, was sie anziehen sollte, wenn der erste Interessent sich mit ihr verabreden würde. Es musste etwas Frühlingshaftes sein, große Muster, leuchtende Farben, das stand ihr. Und sie musste vorher dringend noch zum Friseur. Und zur Kosmetik. Sie durfte nichts dem Zufall überlassen, es wäre doch zu ärgerlich, wenn die potenziellen Flirtkandidaten ihr Postfach fluten würden und sie stünde ratlos vorm Kleiderschrank oder bekäme ihre Frisur nicht hin. 11 % der Nutzer waren statistisch über sechzig. Da sollte doch wohl ein charmanter Herr für sie dabei sein.

Es war nicht so, dass Hella Fröhlich auf der Suche nach dem Mann fürs Leben war. Das oder besser den hatte sie schon gehabt. Den schönen Hugo, der sie wegen einer Arzttochter verlassen hatte und heute ein furchtbar langweiliges Leben führte. Ganz im Gegensatz zu Hella. Sie kannte auf der Insel Gott und die Welt, war ein gern gesehener Gast in den besten Restaurants und Bars. Schließlich hatte sie selbst mit dem schönen Hugo ein Hotel mit einer mondänen Bar geführt, vor dreißig Jahren, während ihrer Schauspielerinnenkarriere. Damals war sie ein bunter Vogel in der Sylter Gesellschaft gewesen, von diesem Ruf zehrte sie immer noch. Nur so langsam verblasste er doch. Die Bekannten waren entweder weg oder alt, manche sogar schon tot. Und die neuen, glatten, selbstbewussten Schönen und Reichen kannten sie gar nicht mehr. Oder sie hätten altersmäßig ihre Kinder sein können. Außerdem hatten die wenigsten Charme und Stil. Und deshalb war jetzt jeder Sommer ein bisschen langweiliger und ereignisärmer als der vorherige. Es wurde Zeit, dass Schwung in die Bude kam. Und Hella Fröhlich endlich wieder mit einem interessanten Mann bei gutem Essen, Wein und Musik angeregte Gespräche führte. Wobei das erste Treffen besser am Tag stattfinden sollte, ohne Alkohol und Musik. Damit man nicht gleich enthemmt agierte. Für einen langsamen Anfang wäre vermutlich eine Verabredung zu Kaffee und Kuchen besser.

Versunken in ihre aufregenden Gedanken, fand sie sich plötzlich vor dem Friseursalon wieder. Was du heute kannst besorgen, dachte sie und drückte nach einem kleinen Moment die Tür auf. »Guten Morgen«, sagte sie laut und sah im Spiegel ihre Friseurin Sabine an, die Elvira Sander gerade die Haare schnitt. »Hallo Sabine, ich brauche dringend einen Termin, hallo Elvira.«

»Morgen Hella«, Sabine ließ die Schere sinken. »Frau Sander, kann ich den Termin eben machen?«

»Natürlich«, Elvira Sander lächelte freundlich. »Hallo Hella, geht es dir gut?«

»Könnte kaum besser gehen.« Sie stellte sich neben den kleinen Tisch, auf dem Sabines Terminkalender lag, und sah Elvira an. »Ich hab dich ja lange nicht mehr gesehen. Ist bei dir alles in Ordnung?«

»Ja, ja«, sie nickte. »Viel Arbeit im Garten, aber sonst ist alles gut.«

»Übermorgen? 11 Uhr?« Sabines Frage unterbrach das Gespräch. »Passt das?«

»Ja«, Hella sah zu, wie Sabine den Termin auf einen kleinen Zettel schrieb und ihn ihr reichte. »Vielen Dank. Dann kann der Frühling ja kommen. Einen zauberhaften Tag wünsche ich euch.«

Ihre Armbänder klirrten, als sie die Hand hob und im Rausgehen überlegte, wann sie Elvira Sander das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatten sich vor Jahren kennengelernt, als Hella noch bei der Laienspielgruppe in Westerland mitgewirkt hatte. Elvira war für die Kostüme verantwortlich gewesen, Hella hatte die Hauptrollen gespielt. Zumindest so lange, bis die völlig talentfreie Frau des Kurdirektors dazugekommen war und Hella prompt die besten Rollen wegschnappt hatte. Die Einzige, die sich auf ihre Seite geschlagen hatte, war damals Elvira Sander gewesen. Das hatte sie ihr nicht vergessen. Und trotzdem hatte sie sie seit Ewigkeiten nicht mehr angerufen oder besucht. Und jetzt hatte Elvira ein bisschen traurig ausgesehen. Hella würde sich demnächst mal bei ihr melden. Vielleicht brauchte sie auch ein bisschen Frühling und Ablenkung.

3.

»Danke schön«, sagte Sabine und legte die Geldscheine in die Kasse. »Dann bis zum nächsten Mal. Und grüßen Sie Ihre Tochter von mir. Wie lange bleibt sie denn?«

»Ach, nur ein paar Tage«, Elvira Sander berührte vorsichtig ihre geföhnte Frisur, bevor sie ihr Portemonnaie wieder einsteckte. »Sie hatte hier ihr zwanzigjähriges Abi-Treffen. Zum Wochenende fährt sie wieder nach Hause. Es sieht sehr schön aus, vielen Dank. Also, bis zum nächsten Mal.«

Sie verließ den Salon und blieb unschlüssig noch einen Moment vor der Tür stehen. Das Wetter war schön geworden, der Himmel blau, nur ein paar harmlose Wolken zogen vorbei. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne und stellte überrascht fest, dass es schon nach Frühling roch. Die Luft war ganz anders, milder, blumiger, sonniger. Es war eigentlich schade, dass Hella Fröhlich gleich wieder weg gewesen war. Es wäre auch schön gewesen, zusammen noch eine Tasse Kaffee zu trinken, sie hatte die gut gelaunte Hella mit ihren komischen Geschichten immer gemocht. Und so lange nichts mehr von ihr gehört.

Sie überlegte, ob sie trotzdem das kleine Stück zum Hafen spazieren und dort allein ein Fischbrötchen und einen Kaffee bestellen sollte. Eigentlich hatte sie gleich nach Hause fahren wollen, um mit Inken noch ein paar Dinge zu besprechen, aber sie war schon lange nicht mehr am Hafen gewesen und das Gespräch mit ihrer Tochter konnte sie auch heute Abend noch führen. Sie hatte es schon so oft aufgeschoben. Kurz entschlossen gab sie sich einen Ruck und machte sich auf den Weg. Es roch wirklich nach Frühling.

Am Hafen waren die meisten Tische, die in der Sonne standen, bereits besetzt. Die Menschen trugen Sonnenbrillen, einige sogar nur T-Shirts, was Elvira bei 16 Grad Lufttemperatur wirklich übertrieben fand. Aber die meisten Touristen waren an ihrer Kleidung zu erkennen, sie trugen als Erste kurze Hosen und Turnschuhe ohne Socken, aber obenrum dicke Steppjacken und modische Mützen. Es war wohl das angesagte Outfit, wenn man am Meer Ferien machte.

Sie stellte sich in die Schlange und wartete, bis sie dran war. Zwei ungeduldigen Männern dauerte es zu lange, sie schimpften laut, dass es doch unmöglich sei, bei diesem tollen Wetter nur eine Bedienung an den Tresen zu stellen, man könne sich doch denken, dass hier viel los sein würde. Elvira trat einen Schritt zur Seite und ließ sie vor. Die beiden nahmen es an, ohne sich zu bedanken, wenigstens hörten sie auf zu pöbeln.

Als sie endlich an der Reihe war, bestellte sie ein Matjesbrötchen und einen Becher Kaffee, sie rundete die Summe auf, obwohl die junge Frau sie weder angelächelt noch richtig angesehen hatte. Aber sie tat ihr leid, hinter Elvira gab es schon wieder ungeduldiges Gemurre. Die Leute mochten einfach nicht warten. Schon gar nicht im Urlaub.

Ganz an der Seite entdeckte sie einen freien Tisch und steuerte auf ihn zu. Sie setzte sich mit dem Gesicht zur Sonne und dem Blick aufs Hafenbecken und atmete tief durch. Was für ein schöner Moment, dachte sie und biss in das Fischbrötchen. Und was für ein guter Matjes. Sie hatte gerade den ersten Bissen geschluckt, als eine Gestalt ihr die Sonne nahm. Sie sah hoch und direkt in das Gesicht eines sympathischen Mannes, der neben einer kleinen Frau stand, deren Hand er hielt. »Verzeihung, sind hier vielleicht noch zwei Plätze frei?«

»Natürlich.« Elvira hielt sich schnell die Serviette vor den Mund, um etwaige Krümel wegzuwischen. »Nehmen Sie gern Platz.«

»Danke schön«, die kleine Frau setzte sich lächelnd, während ihr Mann stehen blieb und sich umsah. »Ist hier Selbstbedienung?«

»Ja«, Elvira nickte und zeigte auf eine Tür. »Da geht es rein.«

Er nickte, legte seiner Frau sanft die Hand auf die Schulter und fragte: »Krabbenbrötchen und ein kleines Alsterwasser?«

»Gern«, ihre Hand griff nach seiner und drückte sie. »Danke.«

Erst als er hinter der Tür verschwunden war, richtete sie ihren Blick auf Elvira. »Wir haben gar nicht gedacht, dass es so voll ist. Aber es machen ja doch viele Menschen in dieser Zeit Urlaub. Nicht nur wir Rentner.«

»Das stimmt, die Insel füllt sich langsam. Jetzt hat der Frühling begonnen, da wollen wieder alle raus.«

»Wir heißen Schumacher«, die Frau streckte plötzlich ihre Hand aus. »Christa und Johannes Schumacher. Aus Münster.«

»Angenehm«, Elvira ergriff die Hand. »Elvira Sander.«

»Und wo kommen Sie her?« Christa Schumacher warf einen Blick auf den einsamen Kaffeebecher und das Fischbrötchen in Elviras Hand. Sie verstand den Blick sofort.

»Ich bin allein hier«, sagte sie freundlich. »Und ich bin nicht im Urlaub, ich lebe auf der Insel.«

»Wie beneidenswert«, Christa Schumacher sah sie begeistert an. »Eine echte Insulanerin. Haben Sie immer hier gelebt oder sind Sie irgendwann nach den Ferien geblieben? Das haben mein Mann und ich uns ja schon oft überlegt, einfach hierzubleiben, als hätte man immer Ferien.«

»Ich bin hier geboren«, Elvira umschloss den Becher mit beiden Händen. »Und nie weggekommen.«

Als hätte man immer Ferien, hatte sie gesagt. Elvira war immer wieder erstaunt, wie sich die Touristen das Leben auf der Insel vorstellten. Sie hatte seit Jahren keine Ferien gemacht, seit Hans-Georg tot war. Als ihr Mann noch lebte, waren sie im Herbst, wenn die Saison vorbei war, in den Süden geflogen. Nach Gran Canaria, Fuerteventura oder Teneriffa. Dahin, wo das Meer noch warm war, wo man abends im Freien essen konnte, wo man morgens vor dem Frühstück schon schwimmen ging und wo man sich leicht und jung fühlte. Aber nun war sie schon seit zehn Jahren Witwe und hatte niemanden, der mit ihr in die Sonne flog. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn gingen wandern oder machten Städtetouren, sie hielten Strandurlaub für Unsinn, den konnten sie schließlich umsonst im Sommer bei Elvira machen. Dafür bräuchten sie nicht für viel Geld in den Süden zu fliegen. Nur Elvira konnte im Sommer nicht an den Strand, da musste sie sich um ihre Gäste und den Garten kümmern.

»Hier geboren?«, hakte Christa Schumacher jetzt nach. »Wie toll. Mein Mann und ich kommen schon seit dreißig Jahren auf diese Insel. Wir kennen sie natürlich auswendig. Aber es muss doch sehr schön sein, wenn man alle Nachbarn und langjährigen Gäste kennt, weil man immer hier war, oder? In einer Stadt wie Münster ist man viel anonymer.«

Elvira lächelte, weil sie die Begeisterung nicht abwürgen wollte. Aber Frau Schumachers Vorstellungen waren leider falsch. Ihre Antwort erübrigte sich, weil in diesem Moment der Ehemann mit Getränken und Fischbrötchen zurückkam. Er balancierte das Tablett auf den Tisch und verteilte die Getränke. »Bitte schön, mein Schatz, ein Alster und ein Krabbenbrötchen.«

Sie lächelte ihn an und strich ihm über die Wange. Elvira fühlte einen kleinen Stich. Dieses Paar mochte sich immer noch, das war zu sehen. Und Elvira vermisste Hans-Georg in diesem Augenblick sehr.

 

Das Erste, was sie sah, als sie mit ihrem kleinen Auto auf die Garageneinfahrt zufuhr, war ihre Tochter, die auf der Treppe saß und auf ihr Handy starrte. Als sie den Wagen hörte, hob sie den Kopf, steckte das Handy weg und erhob sich langsam, um ihrer Mutter entgegenzugehen, die jetzt den Motor abstellte und ausstieg.

»Wo warst du denn?«, fragte Inken, bevor sie genauer hinsah und anfügte: »Ach, beim Friseur, ich sehe es schon. Hallo Mama, du siehst gut aus.«

»Hallo Inken«, Elvira beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Danke. Und danach habe ich am Hafen einen Kaffee getrunken und bin mit einem Ehepaar aus Münster ins Plaudern gekommen. Das war nett.«

»Das sag ich doch immer«, Inken schob die Hände in die Jeanstaschen und wippte auf den Fußspitzen. »Du musst einfach mal mehr unter Leute, du verkriechst dich viel zu oft im Haus.«

»Apropos«, Elvira zeigte auf die Haustür. »Warum hast du eigentlich auf der Treppe gesessen?«

»Schlüssel vergessen«, achselzuckend sah Inken ihre Mutter an. »Der liegt an der Garderobe. Das fiel mir erst ein, als ich die Tür zugeknallt hatte.«

»Wie lange sitzt du denn schon hier?«

»Nicht lange, vielleicht zehn Minuten. Wer hat eigentlich einen Ersatzschlüssel, wenn mal so was passiert?«

»Niemand«, Elvira ging nach einem kurzen Zögern an ihr vorbei zur Tür. »Ich vergesse meinen Schlüssel nicht. Und außerdem wohnen rechts und links, wie du weißt, Zweitwohnungsbesitzer, die selten hier sind. Da nützt es nichts, wenn ich bei denen meinen Schlüssel hinterlege, außerdem kenne ich die kaum.«

»Und was ist mit Frau Gebauer?«

»Die hat ihr Haus verkauft und ist zu ihrer Tochter nach Flensburg gezogen«, Elvira stellte ihre Handtasche ab und wandte sich zu Inken um. »Habe ich dir doch erzählt.«

»Ach ja«, Inken grinste schief. »Ich habe es vergessen. Na ja, dann hast du wenigstens Ruhe hier und keine Nachbarn, die dauernd klingeln und was wollen. Ach übrigens, ich habe noch was vergessen. Ich kann gar nicht bis Samstag bleiben, ich muss Donnerstag schon wieder zurück nach Bremen. Christophs Chef wird 65 und wir sind eingeladen, ich hatte es wirklich vergessen.«

»Aber wir wollten doch am Donnerstag ins Kino«, entgegnete Elvira enttäuscht. »Ich habe schon die Karten gekauft.«

»Ja, sorry, aber da musst du mit jemand anderem gehen, ich muss schon morgens los.« Inken küsste sie zum Trost auf die Wange. »Ich musste übrigens 3,50 Euro bezahlen, um zum Strand zu gehen, weil ich meine Karte nicht dabeihatte. Dabei wusste der Kurkartenkontrolleur, wer ich bin und dass ich normalerweise eine Jahreskarte habe.«

»Wieso hattest du die nicht mit? Und woher soll er das wissen?«

Inken hob die Schultern. »Herr Sörensen ist der Nachbar von Svenjas Eltern, der kennt mich eigentlich. Und vorgestern habe ich Svenja zum Abi-Treffen abgeholt, da stand er auch im Garten und hat uns gesehen. Aber er hat auf die Karte bestanden und so getan, als wäre ich irgendeine blöde Touristin, um abzukassieren. Ein Idiot.«

»Wenn du nicht immer die Hälfte deiner Sachen vergessen würdest, wärst du gar nicht in die Situation gekommen.« Elvira runzelte die Stirn. »Der Mann kann seinen Job verlieren, wenn jemand mitbekommt, dass er nicht vernünftig kontrolliert.«

»Job«, entgegnete Inken mit einer wegwerfenden Geste. »Der ist schon lange Rentner, der macht das doch nur, um Leute zu schikanieren. Macht ihm wohl Spaß. Ist sowieso ein seltsamer Typ, sagt Svenja, kriegt nie die Zähne auseinander.«

»Ich kenne ihn nicht.« Elvira ging an Inken vorbei nach oben. »Und du solltest aufhören, dauernd was zu vergessen. Und jetzt muss ich in der Ferienwohnung Fenster putzen, dabei kannst du mir eigentlich helfen.«

4.

Peer Sörensen hackte Schnittlauch, als er hinter sich jemanden hereinkommen hörte. Ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, sagte er laut: »Lass die sandigen Schuhe draußen stehen, ich habe hier gesaugt.«

»Die sind nicht sandig. Das riecht gut, was gibt es denn?«

Peer legte das kleine Messer zur Seite und wischte sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab, das er in den Hosenbund gestopft hatte, während er sich zu dem jungen Mann umdrehte und dessen Turnschuhe fixierte. »Ein einziges Sandkorn auf dem Boden und du kannst dir ein Brot schmieren.«

Jannis hob vorsichtig seinen Fuß und sah unter die Sohle, grinste verlegen und zog die Schuhe an Ort und Stelle aus. »Ich hole den Handfeger und die Schaufel. Sorry.«

Kopfschüttelnd wandte Peer sich wieder dem Herd zu. Jannis kam auf Socken zurück und fegte seine Sandspuren zusammen, bevor er sich neben Peer stellte und ihm über die Schulter sah. »Kartoffelsalat mit Fisch. Super.«

»Du kannst den Tisch decken. Bier ist im Keller.« Er wendete gekonnt die Fischfilets in der Pfanne und warf einen kurzen Blick auf Jannis, der sich mit dem Finger eine Gurke aus dem Kartoffelsalat fischte und nickte. »Mittags schon Bier? Wenn das meine Mutter hört.«

»Es ist alkoholfrei, du Kamel. Und du sollst jetzt den Tisch decken. Und zwei Flaschen alkoholfreies Bier aus dem Keller holen. Und zwar zackig.«

Ohne Widerworte verschwand Jannis, kurz danach saßen sich beide am Tisch gegenüber, vor vollen Tellern und zwei Bier.

Jannis hob sein Glas und grinste ihn an. »Da bin ich wieder. Mit dem alten Mann am Meer. Prost.«

Peer hob nur die Augenbrauen und trank, bevor er sein Besteck nahm und sich auf das Essen konzentrierte. Sein Neffe war heute erst angekommen, er hatte sich noch nicht an Tischgespräche gewöhnt.

»Was hast du denn so im Winter gemacht?«, fragt Jannis beiläufig und zog seinen Teller näher. »Bist du mal weg gewesen oder hast du die ganze Zeit wie ein Eremit in der Bude verbracht?«

»Iss«, Peer deutete mit dem Messer auf seinen Teller. »Kalter Rotbarsch schmeckt nicht.«

»Der ist knallheiß«, entgegnete Jannis und schob ein Stück dampfenden Fisch auf die Gabel. »Da verbrennt man sich ja den ganzen Gaumen. Also, was haste denn jetzt so gemacht?«

Peer sah ihn nur kauend an, bevor er seinen Blick wieder auf den Fisch senkte. Seine Schweigsamkeit schien Jannis nicht zu kümmern. »Lass mich raten, du hast zwei Tage in der Woche irgendwo gearbeitet und den Rest der Zeit deinen Keller ausgemistet, die Schuppen winterfest gemacht, deine Küche neu sortiert, Fußball geguckt, einmal im Monat mit alten schweigsamen Männern Karten gespielt und ansonsten mit niemandem geredet. Stimmt das ungefähr?«

Ohne zu antworten, nahm Peer Kartoffelsalat nach und warf seinem Neffen nur einen kurzen Blick zu. Jannis fuhr unbekümmert fort. »Mama hat gesagt, ich solle mal drauf achten, wie verschroben du inzwischen bist. Warum bist du nicht zum Osterbrunch gekommen?«

Nach einem langen Blick auf Jannis schüttelte Peer resigniert den Kopf. Der Junge hatte viel von seiner Mutter, Peers Schwester redete auch ununterbrochen. Ein lautes Piepen und Brummen unterbrachen den Moment der Stille, er sah hoch, sein Neffe reagierte nicht, sondern schob sich gerade eine Gabel voll Fisch in den Mund. Es piepte schon wieder, es war ein fieses Geräusch, erst nach dem dritten Mal legte Jannis die Gabel weg und zog sein Handy aus der Jeanstasche. Lässig wischte er auf dem Display herum, lächelte, dann legte er das Gerät neben seinen Teller. Es piepte wieder und bewegte sich vibrierend ein paar Millimeter nach rechts, Jannis legte seine Hand darauf, am Zeigefinger hatte er noch ein Stückchen Panade, das auf dem Display landete.

»Wir essen.« Peer deutete auf das Handy, das schon wieder piepte. »Das ist doch auch so eine Unsitte, dauernd auf diese Dinger zu starren. Konzentrier dich auf den Fisch und nicht auf dieses unwichtige Zeug. Leg das weg.«

»Das unwichtige Zeug heißt Emma«, Jannis sprach undeutlich mit vollem Mund. »Sie macht hier gerade Urlaub und wir wollen uns heute Abend treffen.« Er schluckte und grinste. »Emma ist eine Frau. Falls du vergessen hast, was das ist, kann ich dir Bilder zeigen.«

»Gott im Himmel«, Peers Teller war leer, er legte sein Besteck weg und lehnte sich zurück. »Wie lange bleibst du eigentlich dieses Mal? Und redest du dann jeden Tag so viel?«

»Bis Ende Juli«, Jannis häufte sich noch Kartoffelsalat auf den Teller. »Es sind dieses Jahr so wenig Rettungsschwimmer da, deshalb haben sie mich gefragt, ob ich auch länger arbeiten kann. Kann ich. Und ich habe dann genug Zeit, dich wieder ein bisschen mit menschlichem Umgang vertraut zu machen. Warum bist du denn Ostern nicht zu uns gekommen? Mama war ziemlich sauer.«

Peers Blick war auf die Panade auf dem Handy gerichtet. Er beugte sich langsam vor und schnipste es weg. »Deine Mutter hatte dreißig Leute zum Osterbrunch eingeladen. Dreißig. Und mich. Und hat geschrieben, dass ich mich ein bisschen schicker anziehen soll. Da konnte ich mir doch schon denken, was da kommt. Schönen Dank auch, ich hatte genug im Garten zu tun, als dass ich Zeit für so einen Unsinn hätte.«

»Sie hatte extra zwei alleinstehende Freundinnen eingeladen«, Jannis wischte das Handy an seiner Jeans ab, die Panade hatte einen kleinen Fettfleck hinterlassen. »Sybille und Regina. Eine verwitwet, eine geschieden und beide machen regelmäßig Urlaub auf Sylt. Die kennen die Gegebenheiten und den Rest hat Mama ihnen bestimmt erzählt. Von wegen attraktiver Bruder, von der Liebe enttäuscht und so. Du hättest sie dir wenigstens ansehen können.«

Abrupt stand Peer auf und nahm seinen Teller vom Tisch. »Das fehlt mir noch. Die soll es lassen, dauernd stellt sie mir irgendwelche Freundinnen vor. Ich bin 67 und durch damit. Bist du fertig?«

»Ja«, Jannis schluckte den Rest runter. »War super. Wie immer. Wenn Mama nur halb so gut kochen könnte wie du, wäre das Leben als Sohn schöner.«

»Dann koch doch selbst«, er trug das Geschirr zur Spüle und stellte es ins Becken. »Nicht immer nur über andere meckern.« Er ließ Wasser über die Teller laufen.