Drei Frauen, vier Leben - Dora Heldt - E-Book + Hörbuch

Drei Frauen, vier Leben Hörbuch

Dora Heldt

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Beschreibung

Die Fortsetzung des SPIEGEL-Bestsellers ›Drei Frauen am See‹ "Was ist mit den Briefen?" "Das sind die Einladungen für Jule, Alexandra und Friederike zum Pfingstwochenende am See …" Ein tiefes Zerwürfnis hatte die drei Freundinnen seit Kindertagen über Jahre getrennt. Erst der Tod der Vierten im Bunde, Marie, ein Jahr zuvor hatte sie schließlich wieder zusammengebracht. Jetzt steht das nächste Pfingsttreffen an. Seit ihrem Wiedersehen ist viel passiert: Alexandra hat gerade ihren Job als Verlegerin verloren. Jules Tochter Pia ist ungewollt schwanger. Und Friederike muss sich nun wohl endgültig von ihrem Lebenstraum verabschieden. Doch ihr Treffen im Haus am See setzt Kräfte frei, die ihrer aller Leben in gänzlich unerwartete Richtungen lenken.

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Zeit:13 Std. 13 min

Sprecher:Katja Danowski

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Dora Heldt

Drei Frauen, vier Leben

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Carola, Katrin, Andrea, Barbara und Susan, es läuft mit euch!

1.

In jedem Job gibt es gute und schlechte Tage. Dieser, dachte Alexandra, schien zu den schlechten zu gehören. Am besten war es wohl, sich jetzt schon damit abzufinden und das Gespräch hier in ihrem Büro ganz schnell zu vergessen. Es würde sowieso nichts ändern.

Sie verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch und sah Sebastian an. Der redete jetzt schon seit einer halben Stunde auf sie ein und geriet dabei immer mehr in Rage. »Ich bin Bestsellerautor – und werde am Set von so einer dicken, dämlichen Praktikantin betreut? Ich wette, die hat noch nie ein Buch von mir gelesen! Und der Herr Regisseur hat gerade keine Zeit. Pah. Keine Zeit! Und dann dieser Pascal Brenner. Hast du den mal gesehen? Ist einen Kopf kleiner als ich, ein alter, schrumpeliger Zwerg und soll die Hauptrolle spielen? In meinem Buch? Wir müssen diesen Film abbrechen, ich will nicht, dass diese Stümper mein Buch so verhunzen. Du musst …«

Das Telefon vor Alexandra klingelte, irritiert starrte Sebastian Dietrich auf den Apparat und schüttelte den Kopf. Den Blick auf ihn gerichtet, nahm Alexandra den Hörer hoch. »Jetzt nicht«, und legte wieder auf, ohne die Antwort abzuwarten. Sie wandte sich wieder Sebastian zu. »Mein Lieber, du hast den Film-Vertrag unterschrieben. Und du hast gewusst, dass …«

Wieder klingelte das Telefon, mit einem Blick aufs Display stöhnte Alexandra auf und nahm ab: »Ulrike, wenn das jetzt nichts Lebenswichtiges ist, lass uns bitte später darüber reden, ich bin ja gerade in einer Besprechung.«

Mit gerunzelter Stirn hörte sie zu, dann hob sie die Augenbrauen. »Ja, Sebastian Dietrich ist gerade hier. Ist es wirklich so dringend?« Während sie die Antwort ihrer Assistentin abwartete, drehte sie sich auf dem Bürostuhl und griff nach ihrem Tischkalender. »Nein, hier steht nichts. Ich weiß von nichts. Keine Ahnung, das wird irgendeinen anderen Grund haben. Wir reden später, okay?« Sie beendete das Gespräch und sah Sebastian wieder an. »Entschuldige, wo waren wir stehen geblieben?«

»Wie nett, dass du dich mal wieder auf mich konzentrierst.« Sebastian presste die Lippen zusammen. »Alexandra, ich habe wirklich ein Problem mit der Verfilmung! Ich bin doch nicht irgendein Praktikant bei euch, ich bin Bestsellerautor, ich hole euch doch die Kohle rein. Du weißt, es gibt genug andere Verlage, die mich umgarnen.« Er lenkte seinen Blick bedeutungsschwer aus dem Fenster. »Abgesehen davon ist euer Kaffee grauenhaft. Hast du keinen Champagner im Kühlschrank? Oder wenigstens einen Weißwein? Ich muss jetzt mal was Richtiges trinken.«

In den vielen Jahren, in denen Alexandra Weise im Verlagsgeschäft tätig war, hatte sie den Umgang mit allen Typen von Autoren gelernt. Nie sah man ihr an, was sie gerade dachte, sie hatte ihren Blick und ihre Gesichtszüge perfekt im Griff, solange ihr Gegenüber im Raum war. Und es wäre ihr im Leben nicht eingefallen, zu sagen, was sie wirklich dachte. Ihre Aufgabe als Verlegerin war es, die Autoren bei Laune zu halten, dafür zu sorgen, dass ihre Texte die bestmögliche Behandlung bekamen – und so viele Leser wie möglich glücklich machten. Nicht mehr und nicht weniger.

Sie lächelte Sebastian an. »Nein, leider nicht. Aber wir können zu Pedro gehen, da ist jetzt noch nichts los und wir können in Ruhe reden. Ich würde nur rasch Bescheid geben, dass ich für heute weg bin, okay?«

Er richtete seinen Seidenschal und fuhr sich mit einer Hand durch die ohnehin schon wirre Frisur, was ihn noch verwegener aussehen ließ. »Na gut«, seufzte er. »Ich habe zwar noch keinen Hunger, aber bitte. Dann trinke ich eben nur was.«

Alexandra biss sich in Gedanken in beide Fäuste, während sie aufstand und zur Tür ging. »Bin gleich wieder da«, rief sie ihm zu und schloss die Tür hinter sich. Draußen lehnte sie sich einen Moment an den Rahmen und atmete tief durch. Was für ein arrogantes Arschloch aus diesem hoffnungsvollen Nachwuchsschriftsteller geworden war, dachte sie, es war kaum auszuhalten. Aber er war eines der Zugpferde dieses Verlages, sie konnten es sich nicht leisten, ihn mit dem nächsten Buch an ein anderes Haus zu verlieren. Auch wenn sie selbst drei Kreuze machen würde, wenn Sebastian Dietrich aus ihrem Leben verschwinden würde. Das war ein Gedanke, den sie sich sofort verbot. Sie war die Verlegerin. Und damit Dienstleisterin ihrer Autoren. Das war im Traditionsverlag der Familie Seltmann ehernes Gesetz, seit jeher. Und die Verlegerin hatte dafür Sorge zu tragen, dass genau das auch umgesetzt wurde.

»Wolltest du noch was?« Ihre Sekretärin Melanie hob den Kopf, als sie ihre Chefin an der Tür sah. »Oder seid ihr fertig?«

»Weder – noch«, Alexandra stieß sich von der Tür ab und ging einen Schritt näher zum Schreibtisch. Mit gesenkter Stimme sagte sie: »Sebastian ist in Hochform, ich gehe jetzt mit ihm zu Pedro, vielleicht ist er nach dem ersten Champagner wieder erträglicher. Falls was ist, schick mir eine SMS, bloß nicht anrufen, er ist heute hochkant genervt. Wenn es so lange dauert, wie ich befürchte, gehe ich anschließend direkt nach Hause. Wir sehen uns morgen.«

Melanie nickte knapp. »Gut. Bis morgen.« Sie war schon wieder auf ihren Bildschirm konzentriert. Alexandra ging zurück ins Büro, um ihre Tasche und ihren Bestsellerautor zu holen.

 

Pedro kam sofort hinter dem Tresen hervor, als Alexandra und Sebastian eintraten. »Hola, Señora Weise«, er strahlte sie an. »Wie schön, Sie zu sehen, Sie sehen wunderbar aus, geht es Ihnen gut?«

»Ja, danke, Pedro, können wir uns an den Tisch am Fenster setzen?«

»Ja, natürlich, nehmen Sie Platz, ich bringe Ihnen die Karte.« Sebastian blieb wie festgetackert stehen.

»Kommst du?« Alexandra berührte ihn leicht am Arm.

Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wir sind ja nicht zum ersten Mal hier, kannst du mir sagen, warum er mich wieder nicht erkannt hat? Was ist das eigentlich für ein Typ?«

Alexandra atmete einmal lang ein, dann wieder aus und schob sich an Sebastian vorbei zu dem kleinen Tisch am Fenster. Von dort hatten sie einen freien Blick auf den belebten Platz vor dem Restaurant. Es war für Ende März eigentlich zu kalt, um draußen zu sitzen, doch die Münchner waren da unerschrocken, sobald die Sonnenstrahlen rauskamen, wurde das Leben nach draußen verlegt, auch wenn die zaghafte Märzsonne noch nicht reichte, um die Jacken auszuziehen. Die jungen Mädchen behielten sogar die Mützen auf, in Alexandras Jugend hatten das nur die alten Frauen in den Cafés gemacht.

Sie lächelte, als sie drei bemützte junge Frauen an einem Tisch beobachtete, die sich vor Lachen kaum halten konnten. Die hatten ihren Spaß. Im Gegensatz zu Sebastian, der nun doch mit verkniffenem Gesicht endlich am Tisch Platz nahm. Und ihr.

»München ist einfach eine Servicewüste«, bemerkte er ohne Übergang, Alexandra konnte sich ein leises Stöhnen nicht verkneifen. Wenn man den berühmten Sebastian Dietrich nicht erkannte, war man tot.

»Die meisten Promis hassen es, wenn man sie in privaten Situationen anspricht.« Diese Spitze konnte Alexandra sich nicht verkneifen. »Pedro kennt das, er hat hier viele prominente Gäste. Jetzt erzähle doch noch mal, was genau dich an der Verfilmung so stört.«

Sebastian wartete kaum Alexandras Bestellung ab – Champagner für ihn, Espresso und Wasser für Alexandra –, dann holte er Luft. Er sprach ja so gern über sich und das Unvermögen der anderen. Während er mit der detailreichen Schilderung seines Besuches am Drehort begann, ließ Alexandra ihre Gedanken schweifen, ohne dass Sebastian das mitbekam. Sie konnte wahnsinnig konzentriert wirken. Und weil sie sein Verfilmungs-Lamento schon einige Male gehört hatte, konnte sie sich diese kleine Auszeit ohne weiteres genehmigen.

Da war sie wieder, die pummelige Praktikantin am Set, und Alexandra überlegte, wann genau Sebastian Dietrich zu einem solch frauenfeindlichen und arroganten Idioten mutiert war. Als sie ihn kennengelernt hatte, war er ein junger, sympathischer Redakteur gewesen, der unsicher und aufgeregt auf ihren Vorschlag reagiert hatte, einen Roman für den Seltmann Verlag zu schreiben. Alexandra hatte einen Riecher für Talente, für Ideen und Stoffe, sie hatte ihm Vorschläge gemacht, ihn bei seinem ersten Roman intensiv begleitet, ihn motiviert, sanft kritisiert und ihn bei allen Unsicherheiten, Zweifeln und Schreibblockaden unterstützt, bis sein Debüt fertig und sofort auf die Bestsellerliste geschossen war. Auch die nachfolgenden Romane waren Kassenschlager, Sebastian Dietrich war nach nur fünf Jahren einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller. Und einer der anstrengendsten, zumindest für Alexandra. Sebastian Dietrich wäre ohne sie und die Kollegen im Verlag niemals da angekommen, wo er heute war. Darüber war er sich nur leider nicht bewusst. Nie käme er auf die Idee, sich bei irgendjemandem zu bedanken, niemanden machte er für seinen großen Erfolg verantwortlich als Sebastian den Großen höchstselbst. Eigentlich sollte Alexandra sich nicht mehr darüber ärgern. Aber es gab Tage, da tat sie es doch. Und manchmal fragte sie sich, ob es daran lag, dass sie schon so lange mit Autoren und ihren Büchern arbeitete und Sebastian Dietrich einfach nur ein großer Tropfen zu viel für das ohnehin schon volle Fass war.

»Hörst du mir eigentlich zu?«

»Selbstverständlich.« Alexandra hob den Blick und lächelte ihn an. »Pascal Brenner trägt in seiner Rolle eine braune Breitcordhose.«

»Breitcord«, wiederholte Sebastian mit einem Anflug von Hysterie in der Stimme. »Niemals würde ich …«

»Bitte sehr, ein Glas Champagner, ein Wasser, ein Espresso, möchten Sie ein paar Tapas, Señora Weise?«

Pedro ignorierte Sebastians gerunzelte Stirn und drehte die Espressotasse vor Alexandra so, dass der Henkel auf der rechten Seite war. Alexandra lächelte. »Danke, Pedro, wir warten aber noch mit dem Essen.«

»Tapas sind kein Essen.« Pedro trat einen Schritt zurück. »Sie sind fürs Gefühl. Ich stelle euch was zusammen.« Er ging, gefolgt von Sebastians giftigem Blick.

»Unverschämt. Platzt schon wieder mitten ins Gespräch.« Die Augen noch auf den renitenten Patron gerichtet, griff Sebastian nach dem Champagner. »München wird immer mehr zur Provinz.«

Alexandra schloss kurz die Augen und atmete in den Bauch. Bleib wohlwollend, befahl sie sich, irgendwann ist auch dieses Gespräch vorbei. Sie stützte ihr Kinn auf die Hand und sah Sebastian an. »Dein Regisseur hat in den letzten Jahren alles an Preisen abgeräumt, was man bekommen kann, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er ausgerechnet bei deiner Verfilmung versagt. Warte doch einfach mal das Ergebnis ab, wir, als Laien, können uns während der Dreharbeiten doch gar nicht vorstellen, was da gerade entsteht.«

Sebastians Zeigefinger schnellte nach vorn. »Du hast bei deiner Verfilmung gesagt, und genau das ist der springende Punkt: Es ist mein Buch, aber dieser eitle Fatzke macht daraus, was er will. Als wäre es seine Verfilmung. Und …«

Pedro kam mit einem Tablett in der Hand an ihren Tisch und stellte ein paar kleine Teller ab. Dieses Mal redete Sebastian einfach weiter. »Und ich kann es auch beweisen, auf Seite 72 im Buch, zum Beispiel, da geht Benjamin in ein Museum, um Julia zu treffen. Ins Museum. Bringen Sie uns eine Flasche Weißwein, aber nicht Ihren Hausfusel.«

Sebastian sah Pedro dabei nicht einmal an, Alexandra lächelte entschuldigend. »Es gibt aber keine einzige Szene, die im Museum gedreht wurde. Nicht eine. Also? Wo soll er sie stattdessen treffen? In einer Pommesbude? Und dann auf Seite 28, da wird sehr genau beschrieben, wie Julia gedankenverloren eine ihrer langen Haarsträhnen um den Finger wickelt. Das ist eine Metapher, eine, die für den Roman extrem wichtig ist. Diese unsägliche Schauspielerin, deren Namen ich schon wieder vergessen habe, die hat aber gar keine langen Haare. Die hat so eine komische Kurzhaarfrisur, grauenhaft. Und sie trägt auch beim Drehen keine Perücke. Diese Szene MUSS raus! Ein anderes Beispiel …«

Alexandra betrachtete das Schälchen, das Pedro genau vor ihr abgestellt hatte. Datteln im Speckmantel. Sie steckte sich eine in den Mund, der Geschmack aus salzig und süß ließ unvermittelt ein Bild in ihrem Kopf aufblitzen: eine Terrasse auf Fuerteventura, Sonne, der Geruch von Salz und Meer und derselbe Geschmack auf der Zunge. Eine helle Stimme: »Die mag ich noch nicht mal an Weihnachten, das ist doch dieses klebrige Zeug. Und ist das Drumherum Speck? Isst man das hier so?« Schiffe am Horizont, braungebrannte Menschen am Strand, über allem eine seltsame Traurigkeit. Alexandra verdrängte den Gedanken und schluckte die Dattel runter. Sie wollte nicht an diesen Moment erinnert werden und schüttelte den Kopf. Sebastian blickte sie fragend an. »Was? Wieso schüttelst du den Kopf?«

»Ich …«, Alexandra räusperte sich und griff zu ihrem Wasserglas. Sie nahm einen Schluck, und erst nach einer kleinen Pause atmete sie tief aus: »Du hast eine Menge Geld für den Verkauf der Filmrechte bekommen, und jetzt gibt es genau zwei Möglichkeiten. Entweder du bleibst den Filmarbeiten fern, redest keinem hinein, gibst, wenn überhaupt, nur freundliche Interviews und zeigst dich geschmeichelt und zufrieden mit der Verfilmung, oder du machst so weiter wie bisher, dann wirst du zum klassischen Stinkstiefel und Besserwisser, der das Geld gern nimmt und dann beleidigt herummeckert. Das ist zum Ersten kein sympathischer Zug und verhindert zum Zweiten, dass jemals irgendjemand ein weiteres Buch von dir verfilmt. Also weniger Presse, weniger Geld, weniger Aufmerksamkeit. Es ist deine Entscheidung. Ich werde mich da nicht einmischen.«

Sebastian fiel die Kinnlade herunter. Bevor er etwas sagen konnte, kam Pedro mit dem Wein. »Ich habe hier einen wunderbaren Verdejo aus der Region Rueda, wer möchte probieren?«

Stumm nahm Sebastian das Glas und trank es in einem Zug aus. »Okay«, sagte er knapp und ließ sich nachschenken. Er wartete, bis Pedro verschwunden war. »Das heißt, du stellst dich nicht hinter mich? Du lässt zu, dass dieser Film mir meine Karriere versaut?«

»Kein Film versaut deine Karriere, deine Bücher haben Millionenauflagen. Wir sollten lieber über deinen nächsten Roman sprechen, als die Zeit mit dieser Verfilmung zu verplempern. Wenn du deine Energien aufs Schreiben statt auf die Dreharbeiten verlegen würdest, wären die ersten Kapitel längst fertig.« Alexandra zog die Weinflasche aus dem Kühler und goss sich jetzt doch ein Glas ein. Normalerweise trank sie höchstens am Wochenende Alkohol, jetzt gerade war es ihr egal. »Du weißt, dass ich immer auf der Seite meiner Autoren bin, Sebastian, aber deine Haltung gegenüber der Verfilmung ist aus meiner Sicht höchst unprofessionell.«

Sebastian schwenkte den Wein in seinem Glas, sein Gesichtsausdruck änderte sich plötzlich, jetzt wirkte er fast gut gelaunt. Alexandra kannte das, seine Stimmungen wechselten im Halbstundentakt. Er sah sie an. »Du solltest dich mal mehr deinem Privatleben widmen, meine Liebe. Du wirkst irgendwie unentspannt. Hast du genug Sex?«

Alexandra lächelte. »Wenn es da Defizite gäbe, wärst du selbstverständlich der Erste, dem ich das mitteilen würde. Aber mach dir keine Sorgen, ich bin gerade sehr entspannt, weil wir dein Problem ja jetzt gelöst haben. Oder?«

»Frau Weise? Oh, und hallo Herr Dietrich, das freut mich aber, Sie zu sehen.«

Alexandra musste zweimal hinsehen, um die junge, zierliche Frau einzuordnen, die in diesem Moment an ihnen vorbeilief und plötzlich stehen geblieben war. »Sophia? Das ist ja eine Überraschung!« Sie stand auf, um sie mit einer flüchtigen Umarmung zu begrüßen, auch Sebastian hatte sich erhoben. Sophia gab ihm etwas schüchtern die Hand. »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Filmvertrag. Wahnsinn, und Markus Rohr führt Regie! Das ist mein absoluter Lieblingsregisseur.«

»Ich …«, Sebastian Dietrich sah sie geschmeichelt an. »Ja, ich denke auch, dass das eine gute Sache wird. Rohr räumt ja einen Preis nach dem anderen ab. Frau … ähm, lassen Sie mich kurz überlegen, Sie mochten doch meine Bücher so gern, oder? Haben wir uns nicht auf dem letzten Verlagsfest getroffen?«

Alexandra sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ihr habt euch auch vorher schon gesehen. Sophia Magnus war im letzten Jahr unsere Volontärin. Eine unserer besten. Und? Gefällt es Ihnen im Verlag an der Alster? Haben Sie sich schon in Hamburg eingelebt?«

Sophia strahlte sie an. »Ja, es ist ganz wunderbar. Ein tolles Haus, ich habe eine schöne Wohnung, nette Kolleginnen, aber das muss ich Ihnen ja nicht erzählen, Sie kommen ja von dort.«

»Ach, das ist schon Jahrzehnte her«, Alexandra lächelte. »Es waren meine ersten Verlagsjahre, bevor ich nach München gegangen bin. Aber es war eine schöne Zeit.«

»Jetzt fällt es mir wieder ein«, Sebastian beugte sich nach vorn. »Sie waren auf meiner großen Premiere im letzten Jahr, stimmt. Zusammen mit Ihrem Vater, der ist doch dieser sehr erfolgreiche Journalist, na, wie hieß er doch gleich?«

Alexandras Magen zog sich leicht zusammen, sie konnte wirklich tagsüber keinen Wein vertragen.

»Mein Vater ist Jan Magnus.« Sophia nickte. »Er ist Chefredakteur vom ›magazin‹.« Sie warf einen verstohlenen Blick auf Alexandra, die so tat, als hätte sie es nicht bemerkt. »Ja«, fuhr sie fort, »wir waren zusammen auf Ihrer Premiere, das war ein toller Abend. Und danach noch in der Bar.«

Alexandra hatte plötzlich die Gesichter des Abends vor Augen, das Ehepaar Seltmann, ihre Assistentin Ulrike, Angelika aus der Presse, Sophia, Sebastian, eine Moderatorin des Bayerischen Rundfunks, deren Name ihr gerade nicht einfiel, und Jan Magnus, der eng neben Alexandra gesessen hatte. Und sie damals allein durch seine Anwesenheit beruhigt hatte. »Grüßen Sie Ihren Vater von mir«, sagte sie jetzt zu Sophia. »Ich hoffe, es geht ihm gut.«

»Ja, danke. Ach, da ist ja schon meine Freundin, ich bin zurzeit bei meiner Mutter und versuche nebenbei, auch noch alle alten Freundinnen zu treffen. Ich habe mich gefreut, Sie zu sehen, vielleicht auf bald mal.« Etwas verlegen gab sie erst Alexandra, dann Sebastian die Hand, lächelte beide an und ging zu einem Tisch an der Ecke, von dem ihr eine junge Frau mit Mütze entgegenlachte.

Sebastian fuhr sich mit den Fingern durch die Frisur und sah ihr nach, auch Alexandras Blick ging in Richtung der beiden Frauen. Bei der lautstarken Begrüßung fragte Alexandra sich, ob sie auch früher so gekreischt hatten, wenn sie sich wiedersahen. Alexandra konnte sich nicht daran erinnern. Sie hatte sich immer mehr nach innen gefreut.

»Gut«, sie wandte sich wieder an Sebastian, »dann sollten wir jetzt …«

Sein Handy vibrierte in der Hosentasche, sofort zog er es raus und nahm das Gespräch an. Auf seinem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, seine Körperhaltung straffte sich, seine Stimme war plötzlich ganz sanft. »Natürlich kann ich mich an Sie erinnern. Was kann ich für Sie tun? … Ja, genau … Je nachdem, ob Sie spontan sind, ich bin gerade in der Innenstadt … Ja, gleich, gern, wo? … Wunderbar, ich bin in einer Viertelstunde da, danke, ich freue mich.«

Zufrieden schob Sebastian das Telefon zurück in die Hosentasche, griff zu seinem Weinglas und leerte es in einem Zug. »Maria Berger«, teilte er Alexandra wichtig mit, machte eine wirkungsvolle Pause und sah sie auffordernd an.

»Aha.« Alexandra sah ihm an, dass er enttäuscht war von ihrer knappen Antwort.

»Maria Berger«, wiederholte er. »Du weißt schon, die ehemalige Kulturchefin des ›Wochenblatts‹, die jetzt beim Fernsehen ist. Sie ist da unter anderem verantwortlich für diese Reihe, in der Kulturgrößen des Landes privat vorgestellt werden. Läuft immer eine Stunde zur besten Sendezeit. Sie wollen das jetzt mit mir machen.« Selbstverliebt lächelte er sie an. »Ist das nicht toll?«

»Toll.« Alexandra knipste ihr professionelles Lächeln an. Kulturgröße, dachte sie. Maria Berger würde vermutlich über die Verfilmung reden wollen. Schließlich finanzierte ihr Sender einen Teil des Films. Aber Alexandra hatte keine Lust, Sebastians gute Stimmung zu verderben. Deshalb nickte sie nur und schwieg. Abrupt zog er seine Jacke von der Stuhllehne und kam um den Tisch, um ihr zwei Luftküsse auf die Wangen zu hauchen. »Maria Berger hat ganz spontan Zeit für die Vorbesprechung. Und wir beide waren ja ohnehin durch. Ich rufe dich an, bis bald.«

Ihre Antwort wartete er gar nicht ab, er hatte das Lokal schon verlassen, bevor Alexandra anfangen konnte, sich wirklich zu ärgern. Wenigstens konnte sie jetzt noch mal ins Büro gehen.

 

»Oh, ich dachte, du wärst für heute weg.« Ulrike sprang auf, als sie Alexandra an der Tür stehen sah. »Das ist sehr gut, dass du wieder da bist, ich wollte dich noch was fragen. Komm rein, setz dich. Wie war es mit Sebastian Dietrich?«

Alexandra winkte ab. »Frag nicht«, sie ging zu einem der bequemen Sessel an dem kleinen Tisch in der Ecke und ließ sich hineinfallen. »Es gibt Menschen, die mit Erfolg nicht umgehen können. Der wird tief fallen, wenn es mal vorbei ist. Und wir müssen ihn dann wieder aufrichten. Na ja, egal. Was meintest du vorhin damit, dass ich einen Termin mit den Seltmanns hätte? Ich habe seit Wochen nichts von ihnen gehört.«

Ulrike war seit über zehn Jahren Alexandras engste Mitarbeiterin. Sie war Anfang vierzig, gut fünfzehn Jahre jünger als Alexandra und in einer Fernbeziehung mit einem ehemaligen Kollegen, der jetzt in Wien arbeitete. Sie und ihr Freund sahen sich nur alle drei Wochen, in der übrigen Zeit arbeitete Ulrike genauso viel wie ihre Chefin. Alexandra konnte sich auf sie verlassen, sie waren gut genug befreundet, um bei der Arbeit miteinander auszukommen, und gleichzeitig eine private Beziehung zu haben. Das gefiel beiden.

Jetzt setzte Ulrike sich auf den anderen Sessel und sah Alexandra an. »Ich hatte heute Morgen einen Zahnarzttermin. Gleich um acht. Die Praxis liegt neben dem Plaza Hotel. Und als ich danach wieder rauskam, sah ich das Ehepaar Seltmann aus dem Hotel kommen. Kommen die heute noch ins Haus? Ist mir da was durchgerutscht? Ich wusste gar nicht, dass sie in München sind.«

Alexandra schüttelte achselzuckend den Kopf. »Ich auch nicht. Vielleicht waren sie einfach privat hier. Weil sie einen Inselkoller hatten und mal wieder in die Großstadt wollten. Sie müssen sich doch bei uns nicht anmelden.«

Veronika Seltmann und Hans Sattler-Seltmann waren die sehr vermögenden Inhaber des Seltmann Verlages, für den Alexandra seit Jahren als Verlegerische Geschäftsführerin arbeitete. Die Seltmanns hatten sich nie um das Tagesgeschäft gekümmert, dafür hatten sie ja Alexandra. Sie mochten Autoren und Bücher, handelten aber auch mit Kunst und Immobilien. Das große Geld hatten sie jedoch mit Hans Sattler-Seltmanns Baufirma gemacht. Er hatte seine Frau finanziell unterstützt, als sie von ihrem Vater den Seltmann Verlag erbte. Dank seiner kontinuierlichen Investitionen und ihrer beider glücklichen Händchen bei der Auswahl der Mitarbeiter hatte sich der Verlag zu einem der erfolgreichsten der letzten Jahre entwickelt. Mittlerweile waren die beiden im Rentenalter, lebten seit mehr als zehn Jahren auf Mallorca, kamen aber noch regelmäßig nach München. Ihr Verhältnis zu Alexandra war vertrauensvoll und freundschaftlich, sie luden sie bei ihren regelmäßigen Besuchen zum Essen ein, reisten zu allen wichtigen Verlagsereignissen an und zeigten sich stets interessiert am Verlag. Es war in der Tat ungewöhnlich, dass sie sich schon seit längerem nicht mehr gemeldet hatten – und jetzt unangekündigt in München auftauchten.

Ulrike beugte sich vor. »Natürlich müssen sie sich nicht anmelden. Ich hoffe nur, dass nicht womöglich einer von ihnen krank ist. Soweit ich weiß, gehen sie ja noch immer zu ihren Münchner Ärzten. Merkwürdig.«

»Jetzt warten wir mal ab.« Beschwichtigend hob Alexandra die Hände. »Vielleicht statten sie uns ja auch noch einen Überraschungsbesuch ab. Und haben irgendwelche privaten Dinge erledigt, die uns ja auch gar nichts angehen.« Langsam stand sie auf. »Das wird sich schon klären. Und jetzt kümmere ich mich mal um das Manuskript von Patricia Bellmann, sie hat gestern Abend abgegeben. Ich freue mich schon darauf, das wird super. Hatte gar nicht damit gerechnet, dass ich heute schon anfangen kann.«

Sie wandte sich zur Tür, als Ulrike noch etwas einfiel. »Ach, vorhin hat jemand für dich angerufen, eine Hanna Herwig. Ist das diese Pianistin? Schreibt sie etwa ein Buch? Sie wollte es auf deinem Handy versuchen, hat sie dich erreicht?«

Überrascht blieb Alexandra stehen. »Ja, das ist die Pianistin. Aber ich …«, sie zog ihr Telefon aus der Tasche. »Ich hatte den Ton abgestellt.« Sie sah aufs Display und entdeckte sofort die Hamburger Nummer. »Stimmt. Sie hat es versucht. Ich rufe sie an, danke dir. Bis später.«

 

Zurück in ihrem Büro schloss Alexandra die Tür hinter sich und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Mussten sich heute eigentlich alle Sorgen um irgendwas machen? Erst Sebastian, dann Ulrike. Es reichte für heute. Jetzt würde sie erst mal Hanna Herwig anrufen, auch wenn die sicher keine Ambitionen hatte, ein Buch zu schreiben. Aber man konnte es ja nie wissen. Viele Menschen wollen ihre Geschichten erzählen. Hanna Herwig hätte zumindest eine bemerkenswerte …

2.

Hanna drehte die Musikanlage leiser, als sie das Telefon hörte, und ging langsam zu der kleinen Konsole. Sie nahm den Hörer ans Ohr. »Herwig.«

»Hallo Hanna, hier ist Alexandra, Sie haben versucht, mich anzurufen. Ich hatte leider mein Handy stumm gestellt.«

»Alexandra«, unvermittelt lächelte Hanna, als hätte sie Alexandra vor sich sitzen. »Danke für den Rückruf, wie geht es Ihnen? « Sie setzte sich in einen Sessel.

»Ach, ganz gut, immer derselbe Wahnsinn, also alles ganz normal. Und bei Ihnen? Haben Sie sich in Hamburg eingelebt?«

»Ich bin dabei.« Hannas Blick ging zum Fenster, sie genoss den atemberaubenden Ausblick auf die Elbe, ein Frachter fuhr gerade an ihr vorbei. »Es ist sehr schön hier, wunderschön. Und mein Anruf hat auch ein bisschen mit dem Einleben zu tun. Sie haben doch neulich erzählt, dass der Lebensgefährte Ihrer Schwester einen Gartenbaubetrieb hat. Kennt er sich auch mit Dachterrassen aus? Ich möchte meine hier nämlich hübsch machen und habe gedacht, dass er das vielleicht übernehmen könnte. Es ist vielleicht noch viel zu früh im Jahr, aber ich wollte wenigstens schon mal planen.«

»Matthias kann alles, was mit Pflanzen zu tun hat«, antwortete Alexandra sofort. »Ich gebe Ihnen gern seine Nummer, rufen Sie ihn an, mit schönen Grüßen von mir. Haben Sie einen Zettel zur Hand?«

Während Hanna die Nummer aufschrieb, brachte Elisabeth Tee herein. Hanna deutete mit dem Kopf zum Esstisch und wiederholte die Nummer. »Richtig? Dann vielen Dank, Alexandra. Wir sehen uns ja spätestens Pfingsten am See. Bis bald!«

Sie legte den Hörer zurück auf die Station und sah Elisabeth an. »So, das wäre dann auch geklärt. Hast du den Kuchen gefunden, den ich gekauft habe? Nein? Dann hole ich ihn schnell. Setz dich, ich komme gleich.«

Als sie mit dem Kuchenteller zurück aus der Küche kam, hatte Elisabeth schon eingeschenkt. »Dabei wollte ich doch abnehmen. Und jetzt kommst du mit dem Kuchen.«

Hanna lächelte, während sie den Kuchenteller auf den Tisch stellte und sich so hinsetzte, dass sie sowohl auf die Elbe als auch zu Elisabeth sehen konnte. Die zog jetzt den Teller näher zu sich und begutachtete die kleinen Törtchen, die aussahen, als wären sie gemalt. Elisabeth schluckte und nahm sich eines. »Ach, ist doch auch egal«, sagte sie mit einem Achselzucken. »Wir sollten diesen Optimierungswahn mitsamt den Diäten den Jüngeren überlassen. Wir haben uns genug gequält.« Erschrocken sah sie hoch. »Entschuldige, Hanna, das war ein blöder Satz. Ich habe dabei nicht an Marie gedacht.«

»Ich auch nicht.« Hanna schüttelte leicht den Kopf. »Bis du es gesagt hast. Marie hätte dir zugestimmt: Das Leben ist zu kurz, um auf Kuchen zu verzichten.«

Elisabeth lächelte und legte ihr die Hand auf den Arm, dann probierte sie das Törtchen.

»Göttlich«, seufzte sie und schloss die Augen. »Was für ein schöner Tag.«

Seit über vierzig Jahren war Elisabeth schon Hannas Assistentin. Sie hatte alle Termine koordiniert, sich um Hannas Büro gekümmert, Presseleute und neugierige Besucher abgewimmelt und alltägliche Dinge wie Post, Bank, Reinigung, Anproben und Einkäufe erledigt. Nach dem Ende von Hannas Karriere war sie trotzdem geblieben, nach Maries Tod hatte sie Hanna getröstet, ihr Suppen und Tee gekocht, die Beerdigung organisiert und ihr angeboten, sich um die Abwicklung des Erbes zu kümmern mit all ihren bürokratischen Herausforderungen. Hanna, die sich plötzlich mit zahlreichen Stiftungen, Immobilien und verschiedenen Bankkonten beschäftigen musste, war dankbar für Elisabeths Organisationstalent.

Hanna war eines dieser berühmten Wunderkinder gewesen, die bereits mit sechs Klavier spielte, als wäre sie dafür geboren. Ihre Mutter, selbst nur mäßig talentiert, hatte sie schon im Alter von vier Jahren zum Klavierunterricht geschickt. Die Klavierlehrerin erkannte ihr Ausnahmetalent und versetzte damit Hannas Eltern in aufgeregte Begeisterung. Hannas Vater arbeitete widerwillig in der Packabteilung einer Schreibwarenfabrik. Er kündigte sofort und widmete sich mit großem Ehrgeiz dem Karriereaufbau seiner kleinen Tochter. Als Achtjährige gewann Hanna den ersten Musikpreis, danach kam sie auf eine Schule, in der ihr musikalisches Talent bestmöglich gefördert wurde. Ihre ehrgeizigen Eltern waren hochzufrieden und fuhren sie in den Ferien zu Klavierkonzerten in allen großen Konzerthäusern. Die Fachpresse bekam sich vor lauter Begeisterung über Hannas Talent und ihre aparte Schönheit kaum noch ein, ihre Eltern sonnten sich in ihrem Ruhm, doch niemand hatte sie jemals gefragt, wie es ihr, Hanna, damit eigentlich ging. Aber Hanna lebte für die Musik, die Welt außerhalb nahm sie kaum wahr. Selbst während ihres Musikstudiums am Konservatorium in Wien beschränkten sich ihre sozialen Kontakte auf ihre Eltern und einige wenige Kollegen, dafür nahm ihre Karriere immer mehr an Fahrt auf. Ihr Vater blieb ihr Manager, der sich um das Geld und die gesamte Organisation kümmerte. Ihre Mutter suchte die Garderobe, die Hotels, die Stylisten und die Frisuren aus, beide gingen ganz in dieser Aufgabe auf. Hanna machte, was sie wollten, außer der Musik waren ihr alltägliche Dinge egal. Zumindest so lange, bis sie sich auf einer Konzertreise in die erste Violinistin des Orchesters verliebte. Ihre Eltern waren erst fassungslos, dann wütend und drohten damit, die Karriere der jungen Musikerin zu zerstören, sollte Hanna diese »widernatürliche Beziehung« nicht beenden. Schließlich stellten sie Hanna vor die Wahl: die Violinistin oder sie. Das war der Moment, in dem Hanna erwachsen wurde und zum ersten Mal bemerkte, dass es außerhalb der Musik auch noch eine andere Welt gab. Damals war sie achtundzwanzig.

Sie hatte sich entschieden. Die junge Beziehung überstand zwar noch nicht einmal diese Konzertreise, weil Hanna die plötzliche Nähe zu ihr bereits nach wenigen Wochen nicht mehr aushielt, aber sie hatte gereicht, um die ohnehin bestehende Distanz zu ihren Eltern so groß zu machen, dass die Ablösung endlich gelang. Hanna war fassungslos, als in der Folge des Zerwürfnisses auch noch herauskam, dass ihr Vater einen großen Teil von Hannas Gagen für den Kauf einer Wohnung, eines neuen Wagens und für private Reisen verwandt hatte, und bereute den Bruch mit ihren Eltern nie. Sie suchte sich mit Hilfe eines befreundeten Dirigenten eine Agentur und stellte Elisabeth als persönliche Assistentin ein. In den nächsten Jahren bereisten sie die Welt, Hanna gab zahllose Konzerte, absolvierte Studio- und Fernsehaufnahmen im In- und Ausland. Sie war zufrieden, sie liebte das, was sie tat, ihre Gagen waren hoch, sie genoss den Erfolg, und sie mochte Elisabeths Anwesenheit, weil die immer gut gelaunte Assistentin Hanna das Gefühl gab, nicht ganz allein zu sein.

 

»Welche von Maries Freundinnen war das gerade?« Elisabeths Stimme holte sie wieder in die Gegenwart. »War das die Verlegerin?«

»Ja«, Hanna nickte, »aus München. Eine sehr schöne Frau, übrigens. Beruflich erfolgreich, aber ihr Privatleben ist eine einzige Katastrophe. Sie tut mir wirklich leid. Ich habe den Eindruck, dass sie nur für ihren Verlag lebt, außerhalb ist sie, glaube ich, ziemlich allein.«

Elisabeth nahm sich ein zweites Törtchen. »Das ist das Schicksal erfolgreicher Frauen. Schau mich an: Ich war immer die weltbeste Assistentin, dafür bin ich zweimal geschieden und lebe nun allein mit meiner Katze. Man kann nicht alles haben. Wir müssen aber kurz noch über etwas Berufliches reden, Hanna.« Sie legte die Kuchengabel auf den Teller und schob ihn zurück, bevor sie Hanna ansah. »Die Leiterin von den Schlossfestspielen hat wieder angerufen, es geht um dein Konzert im August. Sie würden gern wissen …«

»Ich werde nicht spielen.«

»Wie bitte?« Elisabeth sah sie fassungslos an. »Was soll das heißen?«

»Ich werde nicht spielen«, wiederholte Hanna ruhig und verschränkte ihre Hände auf dem Schoß.

»Aber sie haben schon den Vertrag geschickt. Du musst nur noch unterschreiben. Warum willst du denn jetzt nicht spielen?«

Langsam massierte Hanna ihre Finger, einen nach dem anderen. Dann hob sie den Kopf. »Elisabeth, ich möchte keine Konzerte mehr geben. Das letzte ist jetzt fast zwei Jahre her, es ist eine lange Zeit. Eine zu lange Zeit, um nun wieder aufzutreten. Du weißt selbst, dass ich meine alte Form nicht mehr habe. Sag es bitte ab. Aus Termingründen, egal, dir fällt schon was ein. Wir haben wirklich genug mit der Verwaltung und Organisation von Maries Stiftungen zu tun, ich kann einfach nicht.« Sie stand abrupt auf und ging zum Fenster. Elisabeth ging zu ihr. Einen Moment lang standen beide Frauen schweigend nebeneinander, im Hintergrund die leisen Orchesterklänge aus der Musikanlage, durchs geöffnete Fenster das Tuckern der Schiffsmotoren und die Schreie der Möwen.

»Warum?«, fragte Elisabeth schließlich. »Ist es immer noch wegen Marie? Ich weiß, es ist erst ein Jahr her, aber sie hätte es auch gewollt. Und du weißt selbst, dass jemand wie du nicht von einem Jahr aufs andere ›nicht mehr in Form‹ ist. Es ist nur ein kleines Konzert. Schumann. Und Chopin. Du hattest dich doch über die Einladung gefreut.«

Sie musterte Hanna von der Seite. Es gab eine sehr strikte Linie zwischen ihnen, was die Themen betraf, über die sie sprachen. Hanna sprach nie über Privates, die einzige Ausnahme war damals die unmittelbare Zeit nach Maries Tod gewesen. Es hatte nur ein paar Monate gedauert, inzwischen machte Hanna ihre privaten Angelegenheiten wieder ausschließlich mit sich selbst aus. Elisabeth hatte das akzeptiert. Trotzdem hakte sie jetzt nach. »Also: warum?«

»Weil ich es nicht möchte«, antwortete Hanna und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Ich habe darüber nachgedacht und es so beschlossen. Ich habe genug Konzerte gegeben, es wird Zeit, andere Dinge im Leben zu machen.«

Stirnrunzelnd sah Elisabeth nach draußen, eine Elbefähre fuhr an ihnen vorbei in Richtung Hafen. »Ich verstehe das nicht«, murmelte sie unwirsch. »Ich …«

Hanna legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Elisabeth, belass es bitte dabei. Ich werde nicht mehr auftreten, Punkt. Ich habe das nicht zur Diskussion gestellt, es ist meine Entscheidung. Und jetzt können wir uns vielleicht um die Termine für die Stiftung Herzkinder kümmern, ich habe Frau Klein zugesagt, die Liste morgen zu schicken. Hast du die Unterlagen schon ins Arbeitszimmer gelegt?«

Hörbar atmete Elisabeth aus und bemühte sich erst gar nicht, ihr Missfallen zu verhehlen. »Ja. Wir können gleich anfangen. Ich gehe schon mal rüber und schalte den Computer an.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um, Hanna sah ihr nach. Natürlich konnte Elisabeth diese Entscheidung nicht verstehen, Hanna hatte ja tatsächlich zugesagt. Sie seufzte und wandte sich wieder der Aussicht zu. Wasser beruhigte die Seele, sie konnte nur gar nicht so lange hinsehen, wie ihre Seele das gerade brauchte. Deshalb blieb die Angst. Und Hanna wusste nicht, was sie dagegen machen sollte. Aber das hier, das konnte sie nicht mit Elisabeth besprechen. Das hätte sie nur mit Marie gekonnt. Wie sie ihr fehlte. An manchen Tagen so schmerzlich, dass sie sich jede Erinnerung an Marie verbieten musste, um nicht zu verzweifeln.

 

»Gut.« Elisabeth klappte die Mappe zu und verstaute sie in ihrer Tasche. »Ich werfe sie direkt bei der Stiftung ein, ist ja um die Ecke. Hast du sonst noch was? Was ist mit den Briefen da? Soll ich die auf dem Weg einstecken?«

»Das wäre nett.« Hanna warf einen Blick auf die noch offenen Kuverts und nickte. »Ich habe die Einladungen zum Pfingsttreffen am See geschrieben. Der Termin ist zwar fix, aber ich fand so eine Erinnerung noch mal eine gute Idee. Außerdem ist es ein schönes Foto.«

»Darf ich?« Elisabeth hatte ein Kuvert genommen und sah Hanna fragend an. Die nickte, und Elisabeth zog eine Klappkarte heraus, auf deren Vorderseite ein Schwarz-Weiß-Foto glänzte. Vier Mädchen, alle etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, die vor vier Fahrrädern stehen. Jede hat den Arm um die Nebenstehende gelegt, drei lachen ausgelassen in die Kamera, die Kleinste, Zarteste trägt einen Sonnenhut auf den blonden Haaren, daneben eine zierliche Blondgelockte in Shorts und Ringelshirt, das nächste Mädchen hat hüftlange dunkle Haare und ein Gesicht wie gemalt, die vierte ist groß, mit halblangen braunen Haaren und die Einzige, die nicht lacht, sondern nur ironisch grinst. Darunter stand mit schwungvoller Schrift: Auf zu Beermann.

»Hast du das geschrieben?« Elisabeth drehte die Karte um und wieder zurück.

»Nein.« Hanna lächelte und strich über den Schriftzug. »Das hat Marie geschrieben. Sie hat es mit Selbstauslöser fotografiert, ich habe es erst neulich in einem der Kartons gefunden. Und dann gleich diese Karten machen lassen. Das passt doch wunderbar.«

»Sah das Café Beermann damals schon genauso aus wie heute? Oder hat Michael Beermann alles geändert?« Elisabeth sah hoch. »Ich mag den ja irgendwie. Und seine Abrechnungen vom Haus, die er immer schickt, sind so wahnsinnig ordentlich.«

»So ist er«, antwortete Hanna, die manchmal vergaß, um was sich Elisabeth in ihrer unaufgeregten Art alles kümmerte. Sie machte seit einigen Monaten auch die Buchführungsvorbereitungen für die Immobilien, die Marie ihr hinterlassen hatte. Das Haus am See, die Villa in Flensburg, in der Marie und sie in den letzten Jahren gelebt hatten, und diese Penthouse-Wohnung an der Elbe, in die Hanna vor drei Monaten gezogen war.

»Und wer ist da nun wer?« Elisabeth hob die Karte hoch, Hanna tippte mit dem Finger auf die Gesichter. »Die mit dem Sonnenhut ist Marie, daneben Jule Petersen, dann Alexandra Weise und die, die nicht lacht, Friederike Brenner. Sie waren Seelenfreundinnen. 1976 war das, da wusste noch niemand, was das Leben für sie bereithält. Es ist so lange her.«

»Na ja.« Entschlossen schob Elisabeth die Karte zurück in den Umschlag. »Das weiß ja niemand. Und das ist auch gut so. Also dann: ich mache mich mal auf den Weg. Und stecke die Karten gleich ein. Wir sehen uns nächste Woche, wenn du vorher noch was brauchst, ruf an.« Sie stand langsam auf und drückte ihren Rücken durch. Plötzlich hielt sie inne und sah Hanna durchdringend an. »Versteh es bitte nicht als Einmischung, aber diese Freundinnen von Marie, die du Pfingsten im Haus am See triffst, zu denen hattet ihr doch in den letzten Jahren gar keinen Kontakt. Warum kümmerst du dich plötzlich so um sie?«

Hanna sah sie nachdenklich an. »Du weißt doch: Marie hatte unter dem Zerwürfnis sehr gelitten, es zu kitten, war ihr größter Wunsch. Auch aus dem Grund hat sie ihnen ja das Haus am See vermacht. Und für mich sind sie alle ein Teil von Marie, sie haben ihr halbes Leben mit Marie verbracht, zu einer Zeit, als ich Marie noch gar nicht kannte. Diese Treffen mit ihnen geben mir sehr viel. Marie hat mir so viel über sie erzählt, und jetzt sind sie es … die mir so viel von der Marie vor meiner Zeit erzählen können.«

Hanna beugte sich plötzlich nach vorn und legte eine Hand auf Elisabeths Arm. »Die drei haben übrigens nichts mit meiner Entscheidung zu tun. Und ich werde sie dir gern bei nächster Gelegenheit vorstellen. Vielleicht lade ich sie mal zu einem Einweihungsessen hier ein. Was hältst du davon?«

Ein kleines Lächeln flog über Elisabeths Gesicht. »Das ist doch eine gute Idee. Sag mir rechtzeitig Bescheid, ich organisiere uns dann was Schönes. So, ich muss jetzt wirklich los.«

Hanna begleitete sie zur Wohnungstür und wartete, bis Elisabeth ihren Mantel angezogen hatte. »Ich habe doch noch was vergessen«, Elisabeth zog einen Zettel aus der Manteltasche, den sie Hanna hinhielt. »Das ist die Nummer einer Massagepraxis, du solltest da mal einen Termin machen. Ich kann es auch tun, aber du musst sagen, wann du möchtest.«

»Massage?« Hanna runzelte die Stirn und sah auf den Zettel. »Wieso?«

»Weil du in letzter Zeit dauernd Rückenschmerzen hast«, antwortete Elisabeth. »Du gehst ganz steif, das sehe ich schon eine Weile. Mach dir mal ein paar Termine, du bist total verspannt. Also, ich gehe jetzt, bis nächste Woche. Wenn was ist, ruf an.«

Hanna wartete, bis Elisabeth im Fahrstuhl verschwunden war, erst dann schloss sie langsam die Tür. Mit dem Zettel in der Hand ging sie langsam zurück ins Wohnzimmer. Elisabeths Augen blieb nichts verborgen, ihre Schmerzen waren tatsächlich in den letzten Wochen stärker geworden. Vielleicht wäre eine Massage gar nicht so schlecht. Sie könnte es zumindest ausprobieren. Na ja. Als wenn das die Lösung wäre.

Sie überflog die Adresse auf dem Zettel, dann knüllte sie ihn zusammen und ging in ihr Arbeitszimmer. Ihr Adressbuch lag zuverlässig auf dem Schreibtisch, und nach kurzem Blättern hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie setzte sich, nahm den Hörer von der Station und wählte: »Physioteam am Markt, mein Name ist Jule Petersen.«

3.

Jule, schon im Mantel, die Handtasche über die Schulter gehängt, notierte den Termin, klappte das Buch zu und drehte sich zu ihrer Mitarbeiterin um, die gerade aus dem Behandlungsraum kam. »Ach, Tina, kannst du nachher noch eine neue Patientendatei anlegen? Ich habe dir die Kontaktdaten aufgeschrieben, der erste Termin ist Freitag. Ich bin schon auf dem Weg.«

»Mach ich«, Tina stand jetzt neben ihr und nahm den Zettel in die Hand. »Hanna Herwig? Die Pianistin?«

Überrascht sah Jule sie an. »Ja, die Pianistin. Woher kennst du sie? Ich dachte, du hörst nur Popmusik.«

Gespielt entrüstet fasste Tina sich ans Herz. »Unsinn, wer sagt denn so was? Nein, also, ja schon, aber ich hatte mal einen Freund, der Musik studiert hat. Der hat Hanna Herwig angebetet und mich zu ein paar Konzerten mitgeschleppt. Eine tolle Frau. In der Zeit mochte ich sogar Klaviermusik. Wie kommt die denn zu uns?«

»Sie war die Lebensgefährtin von Marie. Ich habe sie aber erst im letzten Jahr kennengelernt.«

»Ach?« Überrascht sah Tina ihre Chefin an. »Marie van Barig war mit einer Frau zusammen? Das wusste ich gar nicht. Und dann noch mit Hanna Herwig? Das ist ja ein Ding.«

»Was ist daran ein Ding?« Jule hob die Augenbrauen. »Dass zwei Frauen ein Paar sind?«

»Nein. Dass sie mit Hanna Herwig zusammen war. Der berühmten Hanna Herwig. Und dass ich das nicht wusste, obwohl ich beim Friseur immer alle Klatschzeitschriften lese.«

»Tina«, Jule schüttelte den Kopf. »Erstens war Marie auch berühmt, zweitens äußerst diskret, und drittens gibt es durchaus prominente Menschen, die nicht bei jedem quersitzenden Pups die Boulevardpresse anrufen. Das nennt sich Privatleben. So, ich muss jetzt aber echt los, in einer halben Stunde kommt mein Heizungsmonteur, wenn ich zu spät bin, ist der wieder weg. Bis morgen.«

»Du hast doch jetzt einen Mann im Haus«, rief Tina ihr noch hinterher. »Warum musst du dich denn um die Handwerker kümmern?«

»Tina«, Jule blieb an der Tür stehen und sah sich noch mal um. »Du redest wie meine Mutter, echt. Tschüss.«

 

Nach zehn Minuten Autofahrt drückte Jule auf die Stopptaste, sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, woher der Ermittler diese Information plötzlich hatte, ihre Gedanken waren nicht beim Krimi, sie waren bei Hanna Herwig.

Irgendwie seltsam, dachte Jule, dass Hanna ausgerechnet bei ihr einen Massagetermin buchte – als gäbe es in Hamburg nicht genügend Physio-Praxen. Na ja, immerhin lag Jules Praxis in Weißenburg ja an der Strecke von Hamburg zum Haus am See, wo Hanna angeblich nach dem Rechten schauen wollte. Und selbst wenn das nur vorgeschützt war: Was war schon dabei, wenn Hanna einfach nur das Bedürfnis hatte, Kontakt zu halten?

Jule kannte sie erst seit einem guten Jahr persönlich, vorher hatte sie zwar gewusst, dass Marie und Hanna befreundet waren, sie hatte aber keine Ahnung gehabt, wie nah sie sich standen. Das war alles erst nach Maries Tod herausgekommen, was nicht nur an Maries Verschwiegenheit lag, sondern auch der Tatsache geschuldet war, dass Jule in den letzten Jahren keinen Kontakt mehr zu Marie hatte. Ganz langsam hatte Jule sich damit abgefunden, versöhnen konnte sie sich damit immer noch nicht. Es war auch ihre Schuld gewesen, sie hatte sich selbst so lange im Weg gestanden, inzwischen konnte sie sich nur vornehmen, einen solchen Fehler nie wieder zu machen. In der Hoffnung, dass sie das dieses Mal schaffte. Plötzlich hatte sie Alexandras Gesicht vor sich, das schöne Gesicht von früher, von sehr viel früher. Jule bremste ab, als sie an die Kreuzung kam.

»Jule, wir hatten das Thema doch abgehakt«, eine Stimme kam ihr plötzlich in den Sinn. Wer hatte das noch gesagt? Vermutlich Friederike. Jule sah erst nach rechts, dann nach links. Sie hatte recht gehabt. Es hatte sich im letzten Jahr so vieles verändert, wie sollte man das alles so schnell verarbeiten?

Die Kreuzung war jetzt frei, Jule setzte den Blinker und bog ab. Der Himmel war blau, die Frühlingssonne schien, obwohl es immer noch kalt war. Vor dem Bauernhaus, an dem sie jetzt vorbeifuhr, blühten Schneeglöckchen, sie bedeckten fast den ganzen Rasen, der Frühling war auf dem Weg. In ihrem Garten waren die Krokusse und Winterlinge in voller Blüte, an jeder Ecke kamen schon langsam die Tulpen aus der Erde, es waren nur noch ein paar Wochen, bis die Natur explodieren würde. Jule liebte diese Zeit, das Leben wurde jetzt wieder so viel leichter. Seit dem letzten Sommer erst recht: seit es Torge gab. Hätte ihr vor einem Jahr jemand gesagt, dass sie sich nach über zwanzig Jahren noch mal verlieben würde, sie hätte nur gelacht. Aber es war passiert. Jule hatte es selbst nicht mehr für möglich gehalten. Es war ja nicht so gewesen, dass sie zu den verzweifelten Frauen gehört hatte, die unbedingt einen Mann suchten. Diese Phase hatte es gegeben, aber nur sehr kurz nachdem ihre Ehe gescheitert war. In den letzten Jahren hatte sie sich mit ihrem Leben versöhnt. Sie hatte einen Beruf, den sie liebte, ein zauberhaftes Haus, das ihr gehörte, einen wunderbaren Freundeskreis und eine mittlerweile erwachsene Tochter, die vor vier Jahren ausgezogen war, aber immer noch oft und gern zu ihr kam. Jules Leben war schön und sie zufrieden gewesen. Natürlich hatte es auch das eine oder andere Intermezzo gegeben, sie war ja nicht aus Holz. Eine kurze Affäre während einer Weiterbildung – aber die gegenseitige Begeisterung hatte nicht für die Mühen einer Fernbeziehung gereicht. Dann eine Affäre mit einem Patienten, doch just, als Jule auf dem Weg war, sich in ihn zu verlieben, bekam sie mit, dass er verheiratet war. Irgendwann hatte sie beschlossen, dass sie auf diese Art von Unruhe in ihrem Leben gut verzichten konnte. Auch deshalb hatte sie mit dem, was dann im letzten Sommer passiert war, wirklich nicht mehr gerechnet.

Die kleine Straße, die zu ihrer Straße führte, war so eng, dass ein entgegenkommendes Fahrzeug am Rand warten musste, um sie passieren zu lassen. Jule erkannte ihre Nachbarin Angela mit der notorisch schlecht gelaunten Tochter. Sie grüßte kurz und fuhr langsam an dem SUV vorbei. Als sie auf einer Höhe waren, sah sie Angela hinter der heruntergelassenen Scheibe gestikulieren. Jule hielt an und kurbelte das Fenster herunter. »Hallo, Angela.«

»Hey, Jule, ich muss Vanessa zum Reiten fahren. Sag mal, habt ihr am Samstag Zeit? Frank will Lamm machen, schön mit Rosmarinkartoffeln, und wir haben einen sehr guten Rotwein.«

»Samstag?« Jule sah sie an. »Ich weiß noch nicht, ich muss …«

»Mama, wir kommen zu spät«, Vanessa zog die Haarsträhne, auf der sie gerade gekaut hatte, aus dem Mund und beugte sich mit mürrischem Gesicht nach vorn. »Können wir weiterfahren?«

»Sofort, mein Schatz.« Angela nickte und wandte sich wieder an Jule. »Frag doch Torge, und dann schreibst du mir eine WhatsApp, okay? Ciao, Ciao.«

Jule lächelte mühsam, legte den ersten Gang ein und fuhr langsam an ihnen vorbei. Im Rückspiegel sah sie die Sandwolke, die der SUV bei seiner Anfahrt aufwirbelte. Ciao, Ciao, sie schüttelte den Kopf.

Angela und Frank hatten das Haus nur unweit von Jules gekauft und mit viel Aufwand renoviert. Sie waren mindestens fünfzehn Jahre jünger als Jule, geschlagen mit einer verwöhnten, pubertierenden Tochter, die jeden Tag die Fahrdienste ihrer Mutter in Anspruch nahm. Vanessa war seit dem Umzug aufs Land beleidigt, sie sah nicht ein, mit dem Schulbus zu fahren, sie wollte ihre Freundinnen sehen, zum Reiten und zum Tanzen gehen, sie hasste die Fliegen im Garten und die Ruhe im Dorf. Also fuhr Angela zur Schadensbegrenzung ihre Tochter durch die Gegend, war dadurch ständig im Stress, erzählte aber jedem, der ihr über den Weg lief, wie wunderbar das Leben auf dem Land war. Angelas anfängliche Begeisterung über ihren nachbarschaftlichen Kontakt hatte sich relativ schnell abgekühlt, als sie begriffen hatte, dass Jule Single war und Frank sie bei jeder Einladung länger musterte, als Angela erlaubte. Irgendwann blieben die Einladungen dann auch aus.

Wenn Torge nicht im Dezember eine Lichterkette an den Tannenbaum im Vorgarten montiert hätte und dabei Angela vor die Flinte gelaufen wäre, hätte auch alles so bleiben können. Aber er hatte tatsächlich die Einladung der vor Neugier fast platzenden Angela zu einem Punsch vor dem nachbarschaftlichen Kamin angenommen. Natürlich brannte sie darauf, herauszufinden, ob Jule nun endlich in geordneten Verhältnissen lebte. Und jetzt also Lamm.

Jule atmete tief aus, als sie auf ihre Einfahrt fuhr, auf der noch kein Heizungsmonteur zu sehen war. Sie fuhr ihren VW-Bus an die Seite und stieg aus. Noch bevor sie an der Haustür war, hörte sie einen Wagen kommen.

»Tach.« Der junge Mann kletterte aus seinem Firmenwagen und kam auf sie zu. »Frau Petersen?«

»Ja.« Jule war stehen geblieben und sah ihm entgegen. »Das ist ja schön, dass Sie so pünktlich sind. Die Heizung spinnt schon wieder. Sie springt zwar an, aber es wird alles nur lauwarm.«

»Dann wollen wir mal sehen.« Er blieb hinter ihr stehen, bis sie die Haustür aufgeschlossen hatte, dann folgte er ihr in den Flur. »Hübsches Haus«, bemerkte er, während er mit seiner Werkzeugtasche den Garderobenständer zum Wanken brachte, den er im letzten Moment festhalten konnte. »Ist aber nicht sehr groß, oder?«

»Der Heizungsraum ist im Keller.« Jule drückte sich an ihm vorbei, der Flur war wirklich eng, und öffnete die Kellertür. »Ich gehe mal vor.«

 

Sie zeigte ihm alles, bevor sie wieder hochging, um erst mal die Jacke auszuziehen. Torges Jacke hing über zwei Haken, sie hängte sie über einen Bügel, damit ihre Jacke danebenpasste. Auch auf dem Garderobenständer war es eng.

Jule und ihr Exmann Philipp hatten das Haus damals eigentlich als Wochenend- und Ferienhaus gekauft, dafür hatte der Platz ausgereicht. Es gab oben drei sehr kleine Zimmer, unten eine große Wohnküche und ein Bad. Das Besondere war der Garten, er war groß, mit altem Baumbestand, alten Rosensorten und jeder Menge Wildblumen, das Grundstück grenzte an einen Bach, es war nicht einsehbar und wunderschön. Jule hatte sich Knall auf Fall in diese Bullerbü-Idylle verliebt. Deshalb war es auch nach der Scheidung für sie völlig klar, dass sie hier leben wollte. Sie war mit der damals fünfjährigen Pia in dieses Haus gezogen – und geblieben.

Jule ging langsam in die Küche und sah sich um. Auf dem langen Holztisch stand noch Torges halbvolle Kaffeetasse, sie kippte den kalten Kaffee in die Spüle und ließ Wasser in die Tasse laufen, bevor sie sie in die Spülmaschine stellte. Die Tasse hatte einen Rand auf dem Tisch hinterlassen, Jule schüttelte unmerklich den Kopf. Früher hatte sie immer eine Tischdecke aufgelegt, was Torge ihr in den letzten Monaten ausgeredet hatte. »Das ist doch echt spießig, Liebes«, hatte er gesagt. »Meine Oma hatte überall Tischdecken, es ist nicht nur unhygienisch, sondern sieht doch ohne auch viel besser aus.«

Ohne zu überlegen, hielt sie das Spültuch unter den Wasserhahn, rieb damit über den Tassenrand, wischte noch die Krümel auf dem Tisch zusammen, schüttelte das Tuch über der Spüle aus und ging zurück zum Heizungsmonteur. Sie hasste Tassenränder.

 

»Das war der Brenner«, der Mann sah zu ihr hoch und kratzte sich am Kopf. »Wenn Sie mich fragen, dann brauchen Sie eine neue Therme. Wie alt ist die? Zwanzig Jahre?«

»Mindestens«, Jule sah ihm über die Schulter. »Was kostet das denn? Also, wenn ich alles neu mache?«

Der Monteur zuckte die Achseln. »Kommt drauf an, was Sie wollen. Geht bei dreitausend los, je besser, desto teurer.« Ächzend kam er aus der Hocke hoch. »Sie können das ja mal mit Ihrem Mann besprechen und sich melden. Erst mal läuft sie wieder.«

»Ich brauche das nicht …, ach, egal.« Jule verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu, wie er sein Werkzeug wieder einräumte. »Ich melde mich bei Ihnen.«

 

Jule sah dem Firmenbus nach, bis er aus der Ausfahrt verschwunden war, bevor sie zurück ins Haus ging. Eine neue Heizung, na prima. Sie schob mit dem Fuß Torges Laufschuhe ein Stück zur Seite und griff nach dem Telefon, das aus unerfindlichen Gründen auf der kleinen Bank im Flur lag. Während sie das Freizeichen hörte, setzte sie sich an den abgewischten Küchentisch.

»Hallo, Mama, ich bin’s, ist Papa in der Nähe?«

Ihre Mutter Gesa hörte sich immer abgehetzt an, Jule fragte sich, was sie eigentlich den ganzen Tag machte, um so atemlos zu sein.

»Warum? Was willst du denn von ihm?«

Jule sah kurz zur Decke und atmete aus. »Ich wollte ihn was fragen. Ist er da?«

»Um was geht es denn?«

»Um meine Heizung. Ich brauche eine neue und will wissen, was für eine Therme ihr letztes Jahr gekauft habt. Und bei welcher Heizungsfirma das war.«

»Ja, Kind, das weiß ich doch nicht. Da hat Papa sich drum gekümmert.«

»Eben«, jetzt stöhnte Jule hörbar. »Deshalb sollst du ihn mir mal geben.«

»Er ist nicht da«, antwortete Gesa. »Er ist zur Post gefahren. Kennt Torge sich nicht mit Heizungen aus?«

»Mama, ich …«, Jule schloss kurz die Augen. »Ich rufe nachher noch mal an. Du kannst es Papa ja sagen, vielleicht kann er die Unterlagen schon mal raussuchen. Also, bis …«

»Jule, warte mal, wie geht es denn Pia?«

Jule stutzte, bevor sie antwortete: »Gut, denke ich, warum?«

»Weil sie sich gar nicht mehr bei uns meldet.« Gesas Stimme klang schon wieder spitz. »Laura ruft regelmäßig an, und am letzten Sonntag war sie mit Fabian zum Essen hier, aber von Pia hören wir gar nichts mehr. Ist was mit ihr?«

»Was soll mit ihr sein?« Jule kannte dieses Muster, trotzdem regte sie sich jedes Mal darüber auf. Gesa spielte gern die Menschen gegeneinander aus, das war schon bei Jule und ihrem Bruder Lars so gewesen. Es gab immer nur einen, der alles richtig machte, und das war Lars. Und es wiederholte sich gerade. Lars’ Tochter Laura war die Gute, ihre Tochter Pia die Böse. Eigentlich langweilig – aber deshalb nicht weniger ärgerlich.

»Sie hat viel mit ihrem Studium zu tun und macht gerade zeitgleich ein Praktikum. Sie hat einfach wenig Zeit.«

»Oder kommt sie nicht mehr nach Weißenburg, weil sie Probleme mit Torge hat?« Jetzt war Gesas Stimme lauernd. »Du darfst das nicht unterschätzen, jahrelang war das Kind allein mit dir, und jetzt zieht plötzlich ein Stiefvater in ihr Elternhaus. Sonst ist sie immer noch bei uns vorbeigekommen, wenn sie bei dir war. Wann war sie denn das letzte Mal bei dir?«

Vor sechs Wochen, dachte Jule, sagte es aber nicht. »Sie kommt ja nicht jedes Mal zu euch, wenn sie hier ist, das weißt du auch. Und sie hat kein Problem mit Torge, du liest zu viele schlechte Bücher. Du, ich muss jetzt was tun, ich ruf nachher noch mal wegen der Heizung an. Tschüss.«

Wütend knallte sie das Telefon auf den Tisch. Man sollte denken, dass es ab einem bestimmten Alter einfacher sei, sich nicht mehr über die eigene Mutter aufzuregen. Jule wartete noch immer auf den Zeitpunkt, bislang ließ sie sich zuverlässig von Gesa zur Weißglut treiben.

Sie nahm das Telefon wieder in die Hand und tippte auf die Kurzwahl ihrer Tochter. Nach vier Freizeichen sprang die Mailbox an. »Hallo, hier ist die Mailbox von Pia Petersen, ich bin gerade nicht zu erreichen, wenn es wichtig ist, bitte nach dem Ton …«

Enttäuscht drückte Jule auf den roten Knopf und stand auf. Noch bevor sie das Telefon da hingelegt hatte, wo es immer lag, klingelte es wieder. Torge.

»Na, Jule, ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.« Er hatte eine dieser warmen, weichen und tiefen Telefonstimmen, in die man sich sofort verliebte.

Jule lächelte. »Gut«, sagte sie. »Ich habe gerade erfahren, dass ich eine neue Heizung brauche, ein typisches Gesa-Telefonat geführt, und wir sind von deiner Lieblingsnachbarin Angela zum Lammessen am Samstag eingeladen. Deshalb ist es schön, deine Stimme zu hören, du darfst gern meine Laune heben!«

Er lachte leise. »Was hast du gegen Lamm?«

»Nichts. Nur gegen die Anwesenheit von Angela und Frank. Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass Angela mich erst wieder einlädt, seit sie dich kennengelernt hat? Und weiß, dass du hier wohnst?«

»Wirklich? Und warum? Hattet ihr Streit?«

»Nein.« Jule setzte sich auf die Armlehne des Sofas und beobachtete zwei Amseln, die sich am Vogelhaus um das beste Korn stritten. »Ich nehme an, Angela hatte Angst, dass ich mich auf Frank stürze. Wie das alleinlebende Nachbarinnen ja so tun, du lädst sie zum Essen ein, und zack, fangen sie eine Affäre mit deinem Mann an.« Sie schüttelte den Kopf, auch wenn Torge das nicht sehen konnte. »Diesen Schmierlappen würde ich für Geld nicht anrühren.«

Sie sah Torge am anderen Ende förmlich ins Telefon grinsen. »Ach, komm, so schlimm sind sie doch nicht.«

»Doch«, Jules Entgegnung kam prompt. »Er ist ein echter Angeber.« Eine dritte Amsel ging draußen bei dem Streit dazwischen, die anderen beiden flogen weg. »Und sie«, fuhr sie fort, »ist sich auch für nichts zu blöd.. Frank hatte mir mal ein schweres Paket rübergebracht, das sie für mich angenommen hatten. Angela kam sofort hinterher und sagte so was wie: Vorsicht sei die Mutter der Porzellankiste. Sie tat so, als meine sie das Paket, ihr Gesichtsausdruck war aber ein anderer. Ich hätte schreien können.«

»Ach, vielleicht hast du das auch missverstanden. Oder meinst du, dass sie ihrem Mann so wenig traut?«

»Nein, nein, das habe ich schon ganz richtig verstanden. Ist ja auch egal. Jetzt, wo ich in festen Händen bin, kann Angie ja wieder entspannt auf fröhliche Nachbarschaft machen. Willst du immer noch zum Lammessen?«

»Jetzt erst recht.« Torge lachte wieder. »Und du solltest dir was Scharfes anziehen und Frank mal ein bisschen anmachen. Natürlich nur, wenn Angela guckt.«

Für genau solche Gedanken liebte sie ihn. »Okay, ich ziehe mein enges grünes Kleid an.« Sie sah auf die Uhr. »Weißt du schon, wann du heute kommst?«

»Gegen halb acht. Spätestens. Also, Küsse und bis nachher, ich freue mich.«

 

Mit wesentlich besserer Laune legte Jule das Telefon weg. Auch wenn es zu Beginn noch einige Holprigkeiten in ihrem Zusammenleben gab und es eine große Umstellung nach den ganzen Jahren des Singlelebens bedeutete, fühlte sich doch trotzdem alles richtig an. Dass sie Torge im letzten Jahr auf Lauras Hochzeit kennengelernt hatte, war das Beste, was ihr seit Jahren passiert war. Als Patenonkel des Bräutigams war er unter den Gästen gewesen –, und zufällig war Torge auch ein Bekannter ihres Bruders. Lars war Rechtsanwalt, Torge Steuerberater, ihre Kanzleien lagen in Hamburg nebeneinander.

Es war nicht gerade Liebe auf den ersten Blick gewesen – Jule hatte Torge auf der Hochzeit zunächst gar nicht so recht wahrgenommen. Zu sehr war sie mit all den anderen Dingen beschäftigt, die das vergangene Jahr für sie bereitgehalten hatte. Doch im Laufe des Abends hatten sie viel Spaß miteinander, und nach der Feier kam Torge immer mal wieder bei Jule in der Praxis vorbei, überredete sie zu Ausflügen oder lud sie zum Essen ein. Seine ruhige, unaufgeregte Art und seine Beharrlichkeit hatten einen nicht unwesentlichen Anteil daran, dass sie schließlich ein Paar geworden waren. Torge hatte zwar noch seine Wohnung über der Kanzlei in Hamburg, schlief mittlerweile aber jeden Abend hier. Und langsam gewöhnte Jule sich daran.

Von einem Motorengeräusch aufgeschreckt, sah sie durchs Fenster nach draußen und erkannte erstaunt das Auto ihres Ex-mannes. Philipp parkte hinter ihrem Bus und stieg aus. Er sah sich kurz um, bevor er langsam zur Haustür ging. Noch bevor er klingeln konnte, riss Jule die Tür auf. »Ist was mit Pia?« Ihr Herz schlug bis zum Hals, ihre Stimme klang heiser.

»Was?« Verblüfft trat Philipp einen Schritt zurück und starrte sie an. »Nein. Wieso? Was soll mit ihr sein?«

Eine Welle der Erleichterung schwappte heftig über sie. »Ich dachte schon …«, Jule sah ihn an. »Du kommst doch sonst nie unangemeldet vorbei, und ich konnte sie vorhin nicht erreichen. Egal, ich werde im Alter offenbar ängstlicher.« Sie schüttelte den Kopf. »Was machst du hier?«

Er schob die Hände in die Hosentasche. »Ich habe mir ein Auto angesehen, hier im Autohaus Falke. Ich will mir ein neues kaufen. Kann ich reinkommen?«

»Gibt es in Hamburg keine Autohäuser?« Sie trat zur Seite, um ihn reinzulassen. »Woher wusstest du überhaupt, dass ich zu Hause bin?«

»Falke macht mir einen guten Preis«, antwortete Philipp, während er vor ihr in die Wohnküche ging. »Auf dem Land bemühen die sich noch um ihre Kunden. Und dass du zu Hause bist, weiß ich von Tina, ich habe in der Praxis angerufen. Und?« Er war mitten im Raum stehen geblieben und sah sich um. »Du hast umgestellt. Sieht gut aus.«