Böses Blut - Arne Dahl - E-Book

Böses Blut E-Book

Arne Dahl

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Beschreibung

Ein schwedischer Literaturkritiker wird auf dem New Yorker Flughafen auf ebenso ungewöhnliche wie grausame Weise getötet. Die Spur des Täters führt zu einer Mordserie, die 15 Jahre zurückliegt. Paul Hjelm und Kerstin Holm von der Stockholmer Sonderkommission stoßen auf einen ungeheuerlichen Fall …

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Seitenzahl: 496

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www.piper.de

Übersetzung aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt

ISBN 978-3-492-95188-3 August 2018

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Ont Blod«, Bra Böcker, Malmö 1998.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2003

Vermittelt durch die Bengt Nordin Agency, Stockholm

Umschlagkonzept: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagfoto: Johan Warden / Link Image Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhaltsverzeichnis

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Guide

1

Wortloser Schmerz, dachte er. Jetzt weiß ich, was das ist.

Lernen fürs Leben, dachte er, und das Gelächter, das sein Galgenhumor ihm eingab, war ebenso wortlos. Lernen für den Tod, dachte er, und statt des Gelächters noch ein stummer Schrei.

Als der Schmerz zu einem neuen Angriff ausholte, wußte er mit einer Art kristallener Klarheit, daß er sein letztes Lachen gelacht hatte.

Der Schmerz wurde nicht mehr schlimmer. Mit einem Gefühl, das er noch als eine Mischung von Erleichterung und Entsetzen ausmachen konnte, spürte er, daß die Intensität ihren Höhepunkt erreicht hatte, und begriff, welcher Prozeß jetzt einsetzte.

Die Talfahrt.

Die Schmerzkurve stieg nicht mehr, sie flachte ab, und dahinter ahnte er den steilen Absturz, der unerbittlich wie eine Rutschbahn ins Nichts führte. Oder – und er sträubte sich gegen den Gedanken – zu Gott.

Die Poren seines Körpers waren weit offen, kleine aufgesperrte Münder, die das große Warum brüllten, das er selbst nicht brüllen konnte.

Und dann kamen die Bilder, er hatte gewußt, daß sie kommen würden. Sie hatten schon eingesetzt, als der Schmerz sich in Dimensionen steigerte, die er sich in seiner wildesten Phantasie nicht hätte ausmalen können. Er war verwundert über diese Möglichkeiten, die all die Jahre in ihm verborgen gelegen hatten.

Das gab es also.

Der Mensch trug also ein solches Intensitätspotential in sich.

Während sein ganzes Wesen in immer neuen Kaskaden explodierte, schien der Schmerz sich von den Fingern, dem Geschlecht, dem Hals zu einem Punkt außerhalb seines Körpers zu verlagern. Es wurde irgendwie ein allgemeiner Schmerz, der sich über den Körper erhob und seine – ja, er mußte dieses Wort denken –, seine Seele okkupierte, und bei alledem versuchte er, klar zu denken. Doch da kamen die Bilder.

Zuerst hatte er gekämpft, um den Kontakt mit der Außenwelt zu behalten, und die Außenwelt war da nichts anderes als gigantische Flugzeugrümpfe, die vor der kleinen Fensterluke vorüberschossen – dann und wann glitt auch die schweigende Henkersgestalt mit ihren todbringenden Werkzeugen vorüber. Allmählich vermischten sich die brüllenden Flugzeuge mit den Bildern, und jetzt begannen auch die Flugzeuge sich in schreiende Höllengeister zu verwandeln.

Er hatte keine Kontrolle über die Bilder, wie sie kamen, ihre Reihenfolge, die Struktur. Er sah das unvergeßliche Interieur des Entbindungssaals seines Sohns, aber er selbst war nicht da, sondern hörte sich, während sein Sohn geboren wurde, wie er sich draußen auf der Toilette erbrach. Aber jetzt war er da, und es war schön, geruchsfrei, lautlos. Das Leben ging in Reinheit weiter. Er begrüßte Menschen, die er als große Autoren erkannte. Er glitt durch ahnenreiche Korridore. Er sah, wie er und seine Frau sich liebten, und ihr Gesichtsausdruck war von einer Seligkeit, wie er ihn an ihr noch nie gesehen hatte. Er stand an einem Rednerpult, die Leute applaudierten wild. Neue Korridore, Begegnungen, Sitzungen. Er war im Fernsehen, und bewundernde Blicke flogen ihm zu. Er sah sich mit glühender Leidenschaft schreiben, sah sich Buch auf Buch lesen, Papierstapel auf Papierstapel. Aber wenn die Schmerzpausen kamen und der Flugzeuglärm ihn zurückholte, merkte er, daß er nur sich selbst sah, lesend und schreibend, nie das, was er las und schrieb. Während der kurzen Atempausen fragte er sich, was das bedeutete.

Jetzt begann die Talfahrt, er spürte es deutlich. Wenn die Stiche kamen, erreichten sie ihn nicht mehr. Er entfloh seinem Quälgeist, er würde siegen. Er war sogar in der Lage, ihn anzuspucken, und die einzige Antwort war ein Knirschen und eine leichte Steigerung des Schmerzes. Aus der Dunkelheit kam ein brüllender Drache, und der wurde zu einem Flugzeug, das einen Schleier über einem Fußballfeld zurückließ, auf dem sein Sohn unruhige Blicke zur Seitenlinie warf. Er winkte ihm zu, aber sein Sohn sah ihn nicht, er winkte wilder, schrie lauter, aber sein Sohn sah nur noch resignierter aus, bis er aus Verwirrung oder aus Protest ein Eigentor schoß. Dann die junge Frau am Bücherregal, die bewundernden Blicke. Sie gehen die große Straße entlang, eifrig ihre generationsübergreifende Liebe demonstrierend. Auf der anderen Seite zwei völlig reglose Gestalten, seine Frau und sein Sohn, und er sieht sie, bleibt stehen und gibt ihr einen langen Kuß. Er joggt, trainiert. Die kleine Nadel dringt in die Kopfhaut ein, wieder und wieder, und endlich ist die üppige Mähne wieder am Platz. Sein Mobiltelefon klingelt während der Debatte auf der Buchmesse, neuer Sohn, die Champagnerkorken knallen, und als er nach Hause kommt, sind sie fort. Und wieder liest er, und in einem letzten Bewußtseinsschub denkt er, daß etwas von all dem, was er gelesen und geschrieben hat, vorüberfliegen sollte, doch das einzige, was er sieht, ist er selbst, lesend und schreibend, und in einer letzten glänzenden Klarheit, die ihm das Gefühl eingibt, in Aufrichtigkeit zu sterben, erkennt er, daß nichts von dem, was er gelesen und geschrieben hat, irgend etwas bedeutet. Er hätte ebensogut etwas ganz anderes tun können.

Er denkt an die Drohungen. »Niemand wird deine Schreie hören können.« Daran, daß er die Drohungen nicht ernst nahm. Weil er vermutete … Ein letzter Schmerzschub löscht den letzten Gedankengang aus.

Dann beginnt das Ende. Der Schmerz verebbt. Die Bilder sind jetzt schnell. Als wäre es eilig.

Er geht im Demonstrationszug, der Polizist hebt den Schlagstock über ihm. Er steht im Sommergarten, das Pferd kommt immer rascher auf ihn zu. Eine kleine Blindschleiche gleitet in seine Gummistiefel und windet sich zwischen seinen Zehen. Der Vater schaut zerstreut auf seine Zeichnung der riesigen Schlange. Die Wolken ziehen über der Kante des Verdecks vorbei, und er meint eine Katze zu sehen, die sich da oben bewegt. Süße Milch spritzt über sein Gesicht. Der dicke hellgrüne Strang weist den Weg, und er treibt durch dunkle, fleischige Kanäle.

Dann treibt er nicht mehr.

Irgendwo denkt es: »Was für eine schäbige Art zu sterben.«

2

Paul Hjelm war davon überzeugt, daß es reglose Vormittage gab. Und er war sich ganz sicher, daß dieser Spätsommermorgen ein solcher war. Kein Blatt regte sich in den verkümmerten Grünanlagen des Innenhofs. Und auch in dem Büro, aus dessen Fenster er hinausstarrte, bewegte sich kein Staubkorn. Außerdem waren unterhalb seiner Schädeldecke nur äußerst wenige Gehirnzellen in Bewegung. Mit anderen Worten: Es war ein unbeweglicher Morgen im Polizeipräsidium auf Kungsholmen in Stockholm.

Leider war es auch ein unbewegliches Jahr gewesen. Paul Hjelm gehörte dem Polizeikommando an, das im Vorjahr mit der Ermittlung der sogenannten Machtmorde befaßt gewesen war, als ein Serienmörder zielbewußt die Elite des schwedischen Wirtschaftslebens auszuradieren begann. Weil die Ermittlung ein Erfolg war, wurde die Gruppe in eine ständige Spezialeinheit beim Reichskriminalamt aufgenommen, als eine Kapazitätsreserve für »Gewaltverbrechen von internationalem Charakter«, wie die offizielle Formulierung lautete. In der Praxis handelte es sich darum, mit der neuen Form von Kriminalität Schritt zu halten, die die Grenzen Schwedens noch nicht ernstlich erreicht hatte.

Da lag auch das Problem. Das Land war im Laufe des letzten Jahres nicht von weiteren ausgeprägten »Gewaltverbrechen von internationalem Charakter« heimgesucht worden, und deshalb richtete sich immer mehr interne Kritik gegen die Existenz der A-Gruppe. Eigentlich hieß sie nicht A-Gruppe, das war nur der Name, auf den man sich in leichter Panik geeinigt hatte, als die Gruppe vor eineinhalb Jahren von heute auf morgen gebildet worden war. Aus formalen und aus Gründen der Existenzberechtigung hieß die Gruppe jetzt »Spezialeinheit beim Reichskriminalamt für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter«, und weil die Bezeichnung unmöglich auszusprechen war, ohne daß man anfing zu lachen, benutzte man inoffiziell weiter den Namen A-Gruppe, der an und für sich nicht weniger komisch war, aber zumindest einen gewissen emotionalen Wert hatte. Und man war jetzt auf dem besten Weg, zu den Annalen gelegt zu werden. Relativ beschäftigungslose öffentlich Bedienstete entsprachen kaum der Tonart der Zeit, und die Gruppe wurde ganz allmählich aufgelöst; sie wurde mit diversem Kleinkram behelligt, und ihre Mitglieder wurden hierhin und dahin ausgeliehen. Obwohl ihr formaler Chef Waldemar Mörner, Abteilungsleiter bei der Reichspolizeiführung, wie ein Verrückter schuftete, schien die Saga der A-Gruppe bald zu Ende zu sein.

Was sie brauchten, war ein robuster Serienmörder. Von robustem internationalem Charakter.

Paul Hjelm starrte unbeweglich in den unbeweglichen Morgen, sah ein kleines Blatt, eins der wenigen gelben, zittern und auf den tristen Beton des Innenhofs fallen. Als sei es die Vorwarnung eines Orkans, zuckte er zusammen, und das Zucken brachte ihn wieder zu sich. Er ging hinüber zu einem abblätternden Rasierspiegel an der Wand des anonymen Büroraums und betrachtete das Mal auf seiner Wange.

Während der Jagd nach dem Machtmörder hatte sich auf seiner Backe ein rotes Mal gezeigt, und ein Mensch, der ihm sehr nahestand, hatte gesagt, das Mal sehe aus wie ein Herz. Das war lange her. Sie stand ihm nicht mehr nahe, und die, die es jetzt tat, fand das Mal vor allem eklig.

Er blickte mit einer Mischung von Wehmut und Unwirklichkeitsgefühl auf die Machtmordzeit zurück. Es war eine seltsame Zeit gewesen, ein verrücktes Durcheinander von beruflichem Erfolg und persönlicher Katastrophe. Und von Erneuerung, quälend, wie Erneuerung immer quälend ist.

Seine Frau Cilla hatte ihn verlassen. Er blieb mitten in einer der wichtigsten Mordermittlungen Schwedens allein mit den Kindern im Reihenhaus in Norsborg zurück. Die Kinder blieben sich selbst überlassen, während er immer tiefer in den Fall hineingesogen wurde und bei einer Kollegin zweifelhaften erotischen Trost fand. Es fiel ihm noch immer schwer, das, was wirklich zwischen ihnen gewesen war, von dem zu unterscheiden, was er sich eingebildet hatte.

Doch mit der Lösung des Falles wechselte der Zug des Lebens wieder zurück auf das Gleis des Gewohnten, wie es ihm in lyrischen Augenblicken zu formulieren gefiel, und ein Wagen nach dem anderen wurde von den Nebengleisen heruntergezogen und wieder aufs Hauptgleis geschoben, bis der alte Zug Hjelm wieder er selbst war. Cilla kehrte zurück, das Familienleben normalisierte sich, die A-Gruppe, und nicht zuletzt er selbst, wurde zu Helden erklärt, die Gruppe wurde zur dauerhaften Einrichtung, er wurde befördert, und ein paar seiner Kollegen wurden enge Freunde, die Kollegin suchte sich einen neuen Mann, die Ruhe kehrte zurück, und alles war Friede, Freude, Eierkuchen.

Die Frage war nur, ob er nicht am Ende eine Überdosis Friede, Freude, Eierkuchen bekam, denn eines Tages, nach dem knappen halben Jahr, das es gedauert hatte, den Machtmordsack zuzuknüpfen und ein Urteil zu ermöglichen, sah er in einer abrupten Zoombewegung die Hauptbahn sich in eine Modelleisenbahn verwandeln, und was er für freie Höhen und endlos weite Himmel gehalten hatte, waren im besten Fall der zementierte Fußboden, die Wände und die Decke eines Hobbyraums, und das rasche Dahingleiten des Zuges war nichts anderes als ein ständiges Fahren im Kreis.

Hatte man erst einmal angefangen, die Existenz der A-Gruppe in Frage zu stellen, fand sich schnell eine ganze Serie von anderen Dingen, die man in Frage stellen konnte. Es kam ihm immer mehr so vor, als sei die Rückkehr in die alten Bahnen nur deren Inszenierung. Als sei das Ganze nur eine Attrappe, ein Gebäude ohne Fundament, das der geringste Windstoß umblasen könnte.

Hjelm betrachtete sich im Spiegel: gut vierzig, dunkelblondes schwedisches Standardhaar mit immer höher werdender Stirn, generell wenig auffälliges Äußeres. Nur das Mal, von dem er gerade einen kleinen Hautfetzen abzog und das er mit Hautcreme einrieb, bevor er ans Fenster zurückkehrte. Der Morgen war noch immer unbeweglich. Das kleine gelbe Blatt lag noch an der Stelle, wo es gelandet war. Kein Windstoß hatte den Innenhof des Polizeipräsidiums aufgesucht, während er sich abgewandt hatte.

Was sie brauchten, war ein robuster Serienmörder. Von robustem internationalem Charakter. Dachte Paul Hjelm und glitt wieder in seine Orgie von Selbstmitleid ab.

Zwar war Cilla zurückgekehrt. Zwar war er selbst zurückgekehrt. Doch nicht ein einziges Mal hatten sie sich darüber unterhalten, was sie eigentlich während der Trennung getan und empfunden hatten. Zunächst hatte er das als ein Zeichen gegenseitigen Vertrauens gewertet, aber dann regte sich der Verdacht, daß es sich um eine Kluft handelte, die sie nie überwinden könnten, es sei denn mit künstlichen Hilfsmitteln. Und was war eigentlich mit den Kindern? Danne war jetzt sechzehn, Tova bald vierzehn, und manchmal, wenn er ihre flüchtigen Seitenblicke auffing, fragte er sich, ob alles Vertrauenskapital aufgebraucht war. Hatte der wunderliche Sommer vor einem Jahr Spuren hinterlassen, die das Dasein von Menschen noch weit über seinen eigenen Tod hinaus verzerren würden? Der Gedanke machte ihn schwindeln.

Auch das Verhältnis zu Kerstin Holm, der Kollegin, schien in eine neue Phase getreten zu sein. Mehrmals am Tag liefen sie sich über den Weg, und jede Begegnung kam ihm angestrengter vor als die letzte. Hinter den Blicken, die sie wechselten, verbargen sich Abgründe, an die auch nicht gerührt worden war, doch es schien immer offensichtlicher, daß dies nicht so bleiben konnte. Nicht einmal das gute Verhältnis zu Jan-Olov Hultin, seinem Chef, und zu den Kollegen Gunnar Nyberg und Jorge Chavez schien unverändert geblieben zu sein. Er sah die kleine Modellbahn in seinem geschlossenen Zimmer unentwegt im Kreis fahren.

Und schließlich der grauenvolle Gedanke, daß das einzige, was sich eigentlich verändert hatte, er selbst war. Denn bei ihm war wirklich manches anders geworden. Er stellte fest, daß er Musik hörte, von der er sich früher ferngehalten hatte, und er verschlang Bücher, deren Existenz ihm bis dahin verborgen geblieben war. Er warf einen Blick zum Schreibtisch, auf dem ein tragbarer CD-Spieler und ein zerlesenes Taschenbuch die Rücken aneinander rieben. Auf der CD war etwas so Mystisches wie John Coltranes Meditations, eine der letzten Aufnahmen des Saxophonmeisters, eine merkwürdige Mischung von wilder Improvisation und stiller Andacht, und das Buch war Kafkas Amerika, der in Schweden am wenigsten beachtete Roman des Autors, doch auf eine gewisse Art und Weise der kurioseste. Die Ereigniskette, die einsetzt, als der junge Karl im Hafen von New York an Land gehen will, merkt, daß er seinen Schirm vergessen hat, und noch einmal zum Dampfer zurückkehrt, würde Paul Hjelm nie vergessen. Er war davon überzeugt, daß es solche Szenen waren, die sich in einem abspulen, wenn man im Begriff war zu sterben.

Manchmal lastete er das Bild der Modelleisenbahn den Büchern und der Musik an. Vielleicht wäre er glücklicher, wenn er auch weiterhin freie Weiten und lange Geraden um sich her sähe.

Sein Blick kehrte zum Innenhof zurück. Das kleine gelbe Blatt lag noch da. Alles war unbeweglich.

Dann plötzlich, ohne Vorwarnung, wurde das Blatt hochgehoben wie von einem spiralförmigen Wirbelwind, weitere Blätter wurden losgerissen, gelbe wie grüne, und führten einen wilden und bunten Tanz zwischen den Fassaden des Polizeipräsidiums auf. Der Tanz hörte ebenso abrupt auf, der einsame Wirbelwind zog unsichtbar weiter, und alles, was zurückblieb, war ein Laubhäufchen auf dem traurigen Zement.

Die Tür wurde aufgerissen. Jorge Chavez kam herein. Die Anwesenheit dieses dreißigjährigen Energiebündels als Banknachbar bewirkte immer, daß Hjelm sich ein Jahrzehnt älter fühlte. Allerdings war er in der Regel bereit, sich damit abzufinden; Chavez war inzwischen einer seiner besten Freunde. Er war vom Polizeibezirk Sundsvall, wo er sich als einziger Kanakenbulle von Norrland bezeichnet hatte, zur A-Gruppe gestoßen. Aber eigentlich war er Stockholmer, Sohn chilenischer Flüchtlinge aus Rågsved. Hjelm konnte sich nie ganz erklären, wie Chavez die Aufnahmeprüfung an der Polizeihochschule geschafft hatte; er war im Höchstfall eins siebzig groß. Anderseits war er einer der cleversten Polizisten im ganzen Land – jedenfalls der energischste, den Hjelm je getroffen hatte. Und er war ein Jazzbassist der Extraklasse.

Die kompakte kleine Gestalt glitt lautlos an ihre Seite des doppelten Schreibtischs, nahm das Achselhalfter vom Stuhl, legte es an, kontrollierte die Dienstwaffe und zog das sommerleichte Leinenjackett darüber. »Irgendwas ist los«, sagte er kurz. »Auf den Fluren tanzt der Bär.«

Hjelm begann ein wenig zögernd, Chavez’ Bewegungsschema zu kopieren. »Tanzt der Bär, wieso?«

»Schwer zu sagen. Aber in weniger als einer halben Minute wird Hultins Stimme zu hören sein, da kannst du sicher sein. Kleine Wette gefällig?«

Paul Hjelm schüttelte den Kopf. Er betrachtete die CD und das Buch auf seinem Schreibtisch, warf einen Blick auf den Laubhaufen im Innenhof, schüttelte seine Lethargie ab und nahm Platz in der Lok. Die Zeit nahm eine neue Gestalt an.

Eine Stimme sprach kurz und bündig aus dem Haustelefon; sie gehörte dem operativen Chef der A-Gruppe, Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin: »Alles zu mir. Besprechung. Sofort.«

Hjelm zog die Lederjacke über das Achselhalfter und war ganz da, hundertprozentig zur Stelle. Gemeinsam hasteten die beiden den Gang hinunter zu dem Raum, der einst zur »Kampfleitzentrale« erklärt worden war und diesen Namen vielleicht – dachte Hjelm hoffnungsvoll – bald wieder bekommen würde. Auf dem Weg den Korridor hinunter flog eine Tür auf, Chavez genau in die Visage. Viggo Norlander tauchte auf, ohne dem Vorfall die geringste Beachtung zu schenken. Vom peniblen Paragraphenreiter der Gruppe hatte Norlander sich inzwischen zu ihrem bad boy gewandelt, die abgetragenen Bürokratenanzüge waren nach den Machtmorden durch trendige Polohemden und Lederklamotten ersetzt worden und der leichte Fettwanst durch ein veritables Waschbrett.

Der Rest der Gruppe war bereits zur Stelle, als Norlander und Hjelm hereinstürmten. Chavez traf kurz danach mit einem Taschentuch vor der Nase ein. Kommissar Jan-Olov Hultin warf ihm vom Katheder ganz vorn in dem anonymen kleinen Vorlesungssaal, in dem er gelangweilt wie ein von der Pensionierungsbehörde vergessener Mittelstufenlehrer saß und vor sich hin brütete, einen skeptischen Blick zu. Die Miniaturbrille saß ihm wie ein vollkommen natürlicher kleiner Auswuchs auf der Riesennase. Keine neu entfachte Glut funkelte in seinen Augen, möglicherweise glomm es ein wenig in den Augenwinkeln. Er räusperte sich.

Der Kern der Truppe war am Platz, alle hatten sich wie üblich früh eingefunden, um früh wieder gehen zu können, keiner war ausgeliehen, keiner zu einer bizarren Strafe irgendwohin abkommandiert. Und das war immerhin etwas. Gunnar Nyberg, Arto Söderstedt und Kerstin Holm saßen schon ganz vorn. Nyberg und Söderstedt gehörten zur gleichen Generation wie Norlander, waren also einige Jahre älter als Hjelm und viele Jahre älter als Chavez, Kerstin Holm lag irgendwo dazwischen. Sie war die einzige Frau in der Gruppe, eine kleine dunkle Göteborgerin mit reichlich Haaren auf den Zähnen; sie war der dritte Zacken in dem Gehirntrio, das sie, wie es allgemein hieß, zusammen mit Hjelm und Chavez bildete. Andererseits hatte sie etwas Wichtiges mit dem gediegensten Kraftpaket der Gruppe gemeinsam, ihrem Zimmergenossen Gunnar Nyberg: beide sangen im Chor und schämten sich nicht, in ihrem Zimmer bei A-cappella-Übungen ertappt zu werden. Nyberg hatte eine schillernde Vergangenheit als brutaler, steroidgewohnter Bodybuilder; nunmehr war er ein furchtsamer Mann in mittleren Jahren, ein schön singender, schlampig gekleideter Fleischberg, der jedoch bei Bedarf die alten Takte aktivieren konnte. Das hatte er in der Machtmordzeit bewiesen, als er sich mit einer Kugel im Hals einen beschleunigenden Wagen vorgenommen und außer Gefecht gesetzt hatte. Söderstedt wiederum war der Ausgefallenste in der ganzen Gruppe, ein echt finnischer, kreideweißer ehemaliger Topanwalt, den sein Gewissen eingeholt hatte; er arbeitete immer ein bißchen für sich, auf ganz eigenen, sonderbaren Spuren abseits der ausgetretenen Wege.

Norlander, Chavez und Hjelm schoben sich in die Reihe hinter dem Trio.

Hultin erhob seine wie gewöhnlich ausdruckslose Stimme: »Ein schwedischer Bürger ist in den USA ermordet worden. Aber nicht irgendwer, nicht irgendwo und nicht von irgend-wem. Ein einigermaßen bekannter schwedischer Literaturkritiker ist vor ein paar Stunden auf dem Flughafen von Newark bei New York umgebracht worden. Er wurde auf bestialische Weise von einem fleißigen Serienmörder gefoltert, dessen Glanzzeit ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Soweit haben wir mit der Sache nichts zu tun.«

Es war an der Zeit für eine von Hultins Kunstpausen, und was folgte, war eine solche. Er ging weiter: »Unser kleines Dilemma besteht darin, daß dieser robuste Serienmörder von robustem internationalem Charakter auf dem Weg hierher ist.«

Wieder eine Portion Schweigen, vielleicht ein bißchen gespannter. »Die Information des FBI läuft darauf hinaus, daß der Mörder den Platz des Literaturkritikers in der Maschine eingenommen hat. In diesem Augenblick befindet er sich auf dem Flug SK 904, der in knapp einer Stunde, also um 8 Uhr 10, in Arlanda landet. An Bord der Maschine befinden sich insgesamt einhundertdreiundsechzig Passagiere, und die New Yorker Polizei hat entschieden, das Bordpersonal nicht von dem Sachverhalt in Kenntnis zu setzen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt schweben wir vollständig im Ungewissen, was die Identität des Mörders betrifft, was an und für sich nicht so erstaunlich ist, wenn man bedenkt, daß er das FBI seit zwanzig Jahren an der Nase herumführt. Man hofft jedoch anscheinend, den Namen, unter dem der Mann reist, vor der Landung der Maschine herauszufinden. Ich habe eine offene Telefonverbindung zu einem Special Agent namens Larner in New York, und wir brauchen also zwei parallele Pläne. Für den ersten gilt: Wir bekommen den Namen rechtzeitig, es besteht die Gefahr, daß es zu einem Handgemenge kommt. Für den zweiten gilt: Wir bekommen den Namen nicht rechtzeitig, was bedeutet, daß wir versuchen müssen, unter den einhundertdreiundsechzig Passagieren einen gerissenen Serienmörder zu erkennen, dessen einzige bekannte Merkmale sind: weiß, männlich, wahrscheinlich älter als fünfundvierzig.«

Hultin stand auf und zog den Reißverschluß seiner alten Sportjacke über den Pistolenkolben im Achselhalfter. Er beugte sich vor. »Die Sache ist eigentlich ganz einfach«, sagte er ruhig. »Wenn es schiefgeht, hat Schweden seinen ersten echten amerikanischen Serienmörder importiert. Laßt uns das vermeiden.«

Er stiefelte davon zu dem wartenden Hubschrauber und gab noch die folgende Weisheit von sich: »Die Welt schrumpft, meine Damen und Herren. Die Welt schrumpft.«

3

Die unermeßliche, unersetzliche Stille, die sich immer einstellte, kam in rhythmischen Wellen von Wohlgefühl. Er wußte, daß er nie aufhören würde.

Draußen erstreckte sich die unendliche Leere, die Erde war nichts als eine belanglose Ausnahme. Ein göttlicher Fliegenschiß auf dem weißen Blatt der großen Perfektion, ein Lapsus im Protokoll, der die uneingeschränkte Göttlichkeit der Gottheit zunichte gemacht haben dürfte.

Eine dünne Plexiglasscheibe trennte ihn von dem saugenden Vakuum des Nichts, an dem der Frieden ihn teilhaben ließ. Er kopulierte damit in göttlich schwingenden Bewegungen.

Die Bilder wurden von der Wolkenschaukel der Stille vertrieben. Sie waren jetzt weit weg. Er konnte sogar an sie denken. Und keinen Moment verschwand das friedvolle Lächeln von seinen Lippen.

Er konnte sogar an den Spaziergang in den Keller hinunter denken. Der bestand jetzt nicht aus Bildern – dann mußte er wegbeschworen werden, mit Opferrauch ausgeräuchert werden –, sondern er war eine Erzählung, eine logisch zusammenhängende Struktur. Und obwohl er wußte, daß diese bald wieder verlorengehen und erneut nach seinem Opferrauch rufen würde, vermochte er ihre jähe, glasklare Vollendung zu genießen.

Er war auf dem Weg.

Er war auf dem Weg die Treppe hinunter, von der er nicht wußte, daß sie existierte, hinunter in den Keller, von dem er nicht wußte, daß er existierte. Die Geheimtür im Kleiderschrank. Die unvergeßliche süßlich-staubige Luft auf der Treppe. Die lautlosen Zementstufen, die zahllos zu sein schienen. Das feuchtkalte Geländer.

Die ganz und gar selbstverständliche Folgerichtigkeit der Initiation. Wenn der Blick gehoben werden und ein Schritt den anderen ablösen konnte auf dem Weg hinunter ins Urdunkel, war die Logik unbestreitbar. Er war erwählt worden.

Ein Kreis mußte geschlossen werden. Das war es, was jetzt getan werden mußte. Dann konnte er ernstlich anfangen.

Die Treppe führte weiter. Jede Spur von Licht verschwand. Er tastete sich voran, Schritt für Schritt.

Er genehmigte sich eine Pause, während die Stille ihn dem befreienden Schlaf entgegenwiegte. Er folgte dem makelbehafteten Schwingen des makelbehafteten Flugzeugflügels hinaus zu dem perfekten Schwingen der Ewigkeit.

Ein anderes Licht wurde sichtbar, ein völlig anderes Licht, und es begleitete ihn die letzten Treppenstufen hinab. Wie ein Ikonenrahmen um ein Dunkel, das heller war als irgendein Licht, schoß das Licht von jenseits der Tür hervor. Eine Glorie, die den Weg wies. Ein goldener Rahmen um ein zukünftiges Kunstwerk.

Das jetzt vollendet werden sollte.

Er schob die Tür des tausendjährigen Reiches einen Spalt weit auf.

Vor dem Fenster glitten der Große Bär und der Kleine Bär zusammen zu einem Noch Größeren Bär.

»Tonight we can offer you the special SAS Swedish-American long drink for a long night’s flight, sir«, hörte er eine weiche, singende Frauenstimme sagen.

Doch da schlief er schon.

4

Um 7 Uhr 23 am Mittwoch, dem 3. September, hob die A-Gruppe von der Hubschrauberplattform des Polizeipräsidiums ab. Die Sieben wurden zu einer Einheit zusammengepackt, die es eigentlich nicht mehr gab. Einen kurzen Moment kam es Paul Hjelm so vor, als imitierten sie eine verschwundene Einheit, doch das Gefühl verflog schnell, und er konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Wie alle anderen.

Er saß eingeklemmt zwischen Gunnar Nybergs leicht hechelndem Riesenkörper und Arto Söderstedts um so dürrerem Gerippe. Ihm gegenüber wurde Kerstin Holms kleiner dunkler Körper zwischen den nunmehr äußerst durchtrainierten Muskeln des Mittvierzigers Viggo Norlander und Jorge Chavez’ jugendlich unberührter Kompaktheit zusammengepreßt. Zwischen den beiden Reihen hockte Jan-Olov Hultin mit einer derart imponierenden Menge von Papieren, wie man sie binnen einer so kurzen Frist eigentlich gar nicht hätte zusammenraffen können, und in einer Stellung, wie sie für einen Mann in den Sechzigern nicht hätte möglich sein sollen, auch wenn er immer noch ein beinharter Innenverteidiger in der Betriebself war.

Er zirkelte die Brille auf seine Monumentalnase, und der Motorenlärm übertönte die Ausdruckslosigkeit seines Tonfalls ein wenig: »Die Sache wird knifflig. Die Arlanda-Polizei und die Kollegen aus Märsta sind bereits vor Ort. Horden von schwerbewaffneten Polizisten sind schon vor einiger Zeit durch die Ankunftshalle gestürmt und haben die Touristen bedroht und eingeschüchtert. Ich glaube, jetzt habe ich die wieder wegbekommen. Wir haben es mit einem Mann zu tun, der vor nichts zurückschreckt, soviel habe ich verstanden, eine gut programmierte Mordmaschine, und wenn er Verdacht schöpft, laufen wir Gefahr, daß es ein Blutbad, ein Geiseldrama und ein allgemeines worst case scenario gibt. Wir müssen also mit größter Vorsicht agieren.«

Hultin blätterte in flatternden Papieren. »In der Maschine sind über einhundertfünfzig Menschen, und wir können sie nicht einfach in einen alten Flugzeughangar treiben und jeden einzelnen kontrollieren. Dabei würden wir wahrscheinlich einige von ihnen umbringen. Also gilt: sorgfältige Paßkontrolle, unter unserer Überwachung natürlich, extreme Wachsamkeit bei allein reisenden Herren mittleren Alters – von denen es auf einem typischen Business-class-Flug einige geben dürfte. Außerdem hat der Zoll uns so was wie Computerkameras zur Verfügung gestellt, mit denen der Paßkontrolleur sämtliche Paßbilder unauffällig fotografieren kann. Der Paßkontrolleur wird jedoch nicht allein an seinem Schalter sitzen, sondern im Hintergrund werdet ihr sein. In der Praxis seid ihr von außen unsichtbar. Ich habe die Anzahl der Paßschalter auf zwei reduzieren können, was einige Störungen beim Ablauf verursachen dürfte; der Clou ist der, daß dadurch der Strom überschaubar wird. In diesen beiden Schaltern sitzen Kerstin und Viggo. Ich empfehle Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Vorsicht. Handelt nur bei äußerst starken Verdachtsmomenten, ansonsten gilt Funkkontakt. Auf der an und für sich kritischen Passage durch die Transithalle vom Gate zur Paßkontrolle, einer geraden Strecke zwischen Läden und Restaurants, sollte das Risiko geringer sein, weil es dort keinen Ausgang gibt. Ich habe die Märsta-Kollegen in der Transithalle unter Artos Kommando gestellt. Du, Arto, gehst also zu dem fraglichen Gate, wo eine Gruppe Märsta-Ermittler wartet. Achte besonders darauf, daß sie unbemerkt bleiben. Ihr habt darauf zu achten, daß sich niemand auf dem Weg zur Paßkontrolle absetzt. Verteile die Leute auf Toiletten, Läden und alle zugänglichen Räume; es sind nicht so viele. Wir anderen sind in der Ankunftshalle und davor verteilt, denn sollte etwas passieren, dann da, dafür spricht alles. Artos Job besteht eigentlich nur darin, die ganze Herde zu den Paßkontrollen zu treiben. Schafhirt.«

»Kommen gleichzeitig andere Maschinen an?« fragte Arto Söderstedt in seinem klingenden, fast übertriebenen Finnlandschwedisch und blickte unschlüssig hinab auf die Flußfurche der E4, der sie wie ein mit Helium gefüllter Donauschleppkahn folgten. »Schwarze Schafe«, fügte er beinah lautlos hinzu. Hjelm hörte ihn und bedachte ihn mit einem giftigen Seitenblick.

Hultin tauchte von neuem in das windgepeitsche Papiermeer ein. »Keine weiteren Landungen in unmittelbarer zeitlicher Nähe, nein.«

»Und die Jungs mit den Maschinenpistolen?« sagte Nyberg.

»Stehen jederzeit zur Verfügung. Aber nur bei Bedarf.«

»Säpo?« fragte Söderstedt.

Arto Söderstedt sagte gern Säpo. Der Tätigkeitsbereich der Gruppe tangierte mit unfehlbarer Präzision den der Sicherheitspolizei, was zu ständigen Überlappungen, Tabuverletzungen und Konflikten führte. Alle hatten die Machtmordalbernheiten noch in frischer Erinnerung, als die Säpo die Ermittlung auf schändliche Weise sabotiert hatte.

»Sie werden wohl da sein«, nickte Hultin mit einem rein visuellen Seufzer. »Aber weil wir nie besonders viel erfahren, agieren wir so, als wären sie nicht da. Nun ja. Wie ihr wißt, gibt es nur einen Ausgang aus der Ankunftshalle, der sich durch die Zollabfertigung gabelt, wie ein T, kurz vor dem Haupteingang. Wir brauchen unmittelbar davor einen Mann auf jeder Seite: Gunnar, Jorge. Paul und ich versuchen irgendwo bei der Gepäckausgabe nicht nach Polizei auszusehen, zwecks Überblick über die Ankunftshalle. Es wird also eine Art Vierphasenkontrolle: zuerst das Gate, Arto mit Mannen, dann die Paßkontrolle, Kerstin und Viggo, dann die Ankunftshalle, Paul und ich, und schließlich der Ausgang, Gunnar und Jorge. Alles klar?«

»Die Struktur ist glasklar«, sagte Hjelm. »Fragt sich nur, wie sie sich bei der Konfrontation mit Hunderten verkaterter Passagiere mit Jetlag bewährt.«

Hultin überging die Bemerkung, ohne mit der Wimper zu zucken. Er fuhr fort: »Alles steht und fällt also damit, daß wir schnell von Plan A auf Plan B umschalten können. Wenn wir den Namen, unter dem unser Mann fliegt, erfahren, bevor die Passagiere die Paßkontrolle erreichen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit ganz auf diesen einen Mann konzentrieren. Dann muß er an Ort und Stelle gefaßt werden, vorausgesetzt natürlich, er hat nicht oben im Flugzeug die Identität gewechselt. Ist das klar? Dann kommt auf Viggo und Kerstin in den Schaltern eine radikal gestiegene Verantwortung zu. Das ist Plan B – aber noch gilt Plan A: daß wir nicht die geringste Ahnung haben, wer zum Teufel der Kerl ist. Wir haben jetzt … 7 Uhr 34, und jeden Augenblick« – sein Mobiltelefon dudelte mit einem kindischen Micky-Maus-Signal, das Hultin mit einem raschen Handgriff verstummen ließ – »wird special agent Larner sich melden. Ja.«

Er nahm das Gespräch an und wandte sich ab. Die E4 glitt jetzt zwischen abgasgedüngten Äckern dahin, die von vereinzelten tapfer kämpfenden Traktoren geziert wurden. Es war ein glasklarer Spätsommertag, durchwirkt von schwer beschreibbaren Einfärbungen der Vorwarnung von Herbst. Der Sommer ist zu Ende, dachte Hjelm schicksalsschwer. Herbst über Schweden, fuhr seine innere Stimme mit pathetischem Beben fort.

Ein äußerst häßlicher Gebäudekomplex türmte sich jenseits der Äcker in der Ferne auf.

»Arlandastad, nicht wahr?« rief Kerstin Holm.

»Unverkennbar«, erwiderte Arto Söderstedt.

»Noch ungefähr fünf Minuten«, sagte Gunnar Nyberg.

»But why?« rief Hultin plötzlich. Dann hörte er eine Weile zu und drückte das Gespräch aus.

»Nein«, sagte er. »Sie kriegen den Namen nicht heraus. Es hat den Anschein, als habe der Mörder im Namen des ermordeten Schweden den Platz abbestellt und kurz danach den freien Platz für sich selbst gebucht, natürlich unter einem falschen Namen. Dennoch ist das der Name, an den wir uns halten müssen, und ich begreife nicht, warum es so verdammt schwer sein soll, den zuletzt gebuchten Namen des Flugs herauszufinden. Bis auf weiteres gilt also Plan A.«

Der Hubschrauber schwenkte von der E4 fort über die Arlandawälder. Er traf vierundzwanzig Minuten vor Flug SK 904 aus New York auf dem Internationalen Flughafen Arlanda ein, und fünf Minuten später hatten sich sämtliche Mitglieder der A-Gruppe auf ihre vorgesehenen Plätze begeben.

Chavez war innerhalb der Türen des Haupteingangs schnell auf seinem Posten. Er pflügte durch eine noch nicht allzu abschreckende Ansammlung ankommender und abreisender Touristen hindurch und ließ sich auf einer Bank neben einem Coca-Cola-Automaten nieder, von der aus er seinen ganzen Verantwortungsbereich, die hintere Hälfte des Ausgangs von der Paßabfertigung an, gut im Blick hatte. Der Falkenblick war eingeschaltet. Das Ambitionsniveau lag wie gewöhnlich unmittelbar oberhalb der Maximalmarke.

Eine halbe Minute nach ihm traf Gunnar Nyberg ein, ein bißchen stärker mitgenommen von der Hubschraubertour. Er ließ sich an einem Cafétisch nieder und wandte das von kaltem und heißem Schweiß bedeckte Gesicht Chavez und gleichzeitig der anderen Hälfte des Ausgangs zu. In einem spürbaren Bedürfnis nach Extraenergie bestellte er eine Dose eines Sportgetränks von einer Marke, die er aus seiner aktiven Bodybuilderzeit kannte, schüttete den halben Liter, ohne abzusetzen, in sich hinein und konstatierte, daß das Getränk heutzutage aus dem zubereitet wurde, was aus den eingesammelten vergessenen Trainingsklamotten sämtlicher Sporthallen des Globus herausgewrungen wurde. Möglicherweise stellte es die Flüssigkeitsbalance wieder her, sicher aber stellte es die Übelkeitsbalance wieder her.

Zwischen den beiden trat danach ein nicht sonderlich schwer zu identifizierendes Quintett gegen den Strom in die Zollpassage ein. Hultin blieb stehen und wechselte einige Worte mit dem sichtlich nervösen Zollpersonal, bevor er sich den übrigen vieren in der Ankunftshalle anschloß. Er stellte sich ans Ende einer gewundenen Schlange vor dem Wechselschalter, mit gutem Überblick über die ganze Halle. Der Rest der Gruppe ging weiter in Richtung Paßkontrolle, bis Hjelm zurückblieb und sich dabei ertappte, wie er auf ein stillstehendes Gepäcktransportband glotzte. Selten hat wohl ein Polizist so sehr nach Polizist ausgesehen, und je mehr er sich anstrengte, nicht wie ein Polizist auszusehen, desto typischer wirkte er. Als er das Blaulicht auf der Kopfhaut kreisen fühlte, gab er das Spiel verloren, und sofort gelang es ihm besser. Er setzte sich auf eine Bank und blätterte in einer Broschüre, deren Inhalt ihm bis an sein Lebensende unbekannt bleiben würde.

An der Paßkontrolle wurden die Kollegen von einem höheren Beamten in Empfang genommen, der Norlander und Holm in je einen Paßabfertigungsschalter schleuste, wo sie auf einem unbequemen Schemel hinter dem Paßbeamten landeten. Ihre Anwesenheit konnte von draußen nur mit größter Mühe bemerkt werden, und falls das der Fall sein sollte, würde sie dennoch nicht ganz abwegig erscheinen. Sie lehnten sich in Erwartung des Ansturms noch einmal zurück.

Dann war nur noch einer übrig. Arto Söderstedt drängte sich durch die Paßkontrolle und lief auf der Rolltreppe Slalom zwischen zerstreuten Nachzüglern hinauf in die Transithalle. Er brauchte die Monitore nicht zu konsultieren, um das richtige Gate zu identifizieren. Eine Ansammlung wie gewöhnlich leicht erkennbarer Herren brachte es fertig, nachhaltig vor dem Gate Nummer 10 zu sitzen und Polizei zu blinken. Söderstedt sammelte die Märsta-Kollegen zusammen und wies ihnen ihre Positionen an. Ein kurzer Rundblick ließ erkennen, daß die Toiletten die einzig wirklich abgetrennten Nebenräume waren. Er setzte pro Toilette einen Polizisten an und sorgte dafür, daß alle Personalräume und ähnliches ordentlich verrammelt wurden. Blieben noch die Tax-free-Läden, Bars und Cafés. Er bekam einen Polizisten namens Adolfsson zu fassen, dem das Kunststück gelang, an der Bar vollkommen deplaziert auszusehen.

Die Transithalle war noch verhältnismäßig menschenleer. Söderstedt nahm vor Gate 10 Platz und wartete. Verstreute Nachzügler von früheren Flügen schlenderten umher.

Eine geringfügige Veränderung des Zustands der Dinge veranlaßte Arto Söderstedt, den widerwärtigen kleinen Ohrhörer in den Gehörgang zu pfriemeln; er hatte immer das Gefühl, daß er tief in den Gehirnwindungen verschwand. Hinter der Bezeichnung »SK 904, New York« auf dem Ankunftsmonitor blinkte jetzt das schicksalsschwangere Wort »Landed«. Söderstedt wandte den Blick nach rechts zu dem großen Panoramafenster und sah den Rumpf des Flugzeugs vorüberrollen.

Er drückt auf einen Knopf auf der Innenseite seines Gürtels, räusperte sich und sagte: »Der Geier ist gelandet.«

Er stand auf, rückte den Schlips zurecht, warf die Tasche über die Schulter und wartete mit geschlossenen Augen. Kinder wuselten zwischen seinen Beinen umher, Eltern schrien, mal herzzerreißend, mal nur grell. Routinierte Uniformträger hielten mit gut eingeübtem Lächeln die Passagiere der Touristenklasse auf Abstand.

Er verhielt sich vollkommen still. Ganz und gar unauffällig. Er zog keine Blicke auf sich. Das hatte er nie getan.

Die Schlange kam jedoch ziemlich schnell in Bewegung. Der Pfropfen löste sich, und er schritt langsam durch den Flugzeugrumpf, dröhnte über die metallenen Meter der Verbindungsbrücke und drang durch den aufwärts führenden schwankenden Gang ein.

Er kam auf festen Boden. Er war da.

Jetzt würde der Kreis sich schließen.

Jetzt konnte er ernstlich anfangen.

Es war interessant zu beobachten, wie viele Gesichter das Gehirn speichern konnte, bevor sie allmählich ineinander verschwammen. Söderstedt fand, daß die Grenze schon bei fünfzig verlief. Am Ende war der Strom der Passagiere aus New York nur noch eine anonyme graue Masse. In der Mehrzahl ohne Zweifel allein reisende männliche Weiße mittleren Alters.

Er konnte keine Zeichen von Abweichungen erkennen. Die Herde bewegte sich ziemlich einheitlich durch die Transithalle. Manche glitten in die Toiletten, kamen aber bald wieder heraus, andere machten einen kurzen Abstecher in die Läden, wieder andere kauften belegte Brote in der Cafeteria, auf daß ihnen an der Kasse der Appetit verginge. Manche blieben an der Bar hängen und versuchten verwundert, mit dem wachspuppengleichen Adolfsson zu plaudern, der im Begriff zu sein schien, aus den Latschen zu kippen.

Eine Touristenattraktion, dachte Söderstedt.

Die ersten Reisenden aus New York näherten sich der Treppe, die zur Paßabfertigung führte.

»Jetzt kommen sie«, sagte er vor sich hin in die Luft und fand, daß er damit der einzige Abweichende war.

Die Worte hallten in Kerstin Holms Gehörgängen wie die Friedenserklärung des Zweiten Weltkriegs. Sie hatte in ihrem Innern schon das Abschiedsgesuch stilistisch geglättet, das von dem heimlich furzenden Paßkontrolleur in der Gaskammer der Schalterkabine diktiert worden war. Das war nicht der Sinn ihrer Anwesenheit. Doch dann blickten die ersten amerikanischen Riechorgane durch die halbmatte Glasscheibe herein und vertrieben alle Geruchsempfindungen. Der Paßkontrolleur führte elegant jeden Paß in eine Kameravorrichtung, die an einen Computer angeschlossen war, und fotografierte ihn unauffällig. Foto und Name wurden unmittelbar gespeichert. Zumindest würden sie ein Bild des Fluggastes haben.

Gesicht auf Gesicht huschte vorbei. Hinter jedem Lächeln und jedem Gähnen versuchte sie, sich einen gewissenlosen Mörder vorzustellen. Es gelang ihm nicht so recht. Ein beharrliches Zucken im Augenwinkel eines Mannes, der nur äußerst widerwillig seine Ray Ban abnahm, zog beinah Hultins Aufmerksamkeit auf sich. Ansonsten begann es äußerst ruhig.

Viggo Norlanders Dasein in der Schalterkabine sah ein wenig anders aus. Er war der einzige in der A-Gruppe, der ein wunderbares Jahr hinter sich hatte. Nach dem Tiefpunkt während der Machtmordzeit, als er Amok gelaufen und von der Mafia in Estland gekreuzigt worden war, hatte sein bleiernes Junggesellenleben eine neue Dimension angenommen. Er hatte angefangen zu trainieren, sich einer Haaroperation unterzogen und sich wieder dem schönen Geschlecht zugewandt; die stigmatisierten Hände waren dabei ein Vorteil gewesen. Da er, im Unterschied zu Kerstin Holm, bei einer jungen Paßkontrolleurin gelandet war, begann er, ihr hemmungslos den Hof zu machen. In dieser Kabine war sie diejenige, die ihre Anzeige wegen sexueller Belästigung bereits klar formuliert hatte, als die Amerikaner eintrafen.

Norlander vergaß sie für eine Sekunde. Er war sofort in höchster Alarmbereitschaft. Adrenalinprall sah er in jedem Reisenden einen Serienmörder, und als er Hultin seinen dritten Verdächtigen meldete, einen kohlschwarzen achtzehnjährigen Rauschgiftsüchtigen, bekam er einen so kräftigen Rüffel, daß er auf heftige Weise mit seiner Vergangenheit konfrontiert wurde und von da an gewissenhafter in seiner Einschätzung wurde, wie er es für sich selbst formulierte.

Er hatte einige Minuten in zerknirschtem Schweigen dagesessen, als ein Mann um die Fünfundvierzig mit selbstsicherem Lächeln der Kontrolleurin seinen Paß reichte, die diesen galant zusammen mit dem Namen Robert E. Norton fotografierte. Da fiel der Blick des Mannes über die Schulter der Paßbeamtin auf Norlander. Das Lächeln verblaßte abrupt, er begann heftig mit den Augen zu zwinkern und unkontrollierte Blicke nach den Seiten zu werfen. Dann schnappte er sich seinen Paß und nahm Reißaus.

»Ich hab ihn«, keuchte Norlander in das unsichtbare Miniaturfunkgerät. »Er haut ab«, fuhr er etwas widersprüchlich fort, stieß die Tür auf und schoß hinter Robert E. Norton her, quer durch die Ankunftshalle. Norton raste wie ein Besessener, und seine Tasche schlug heftig auf seinen Rücken. Norlander lief wie ein noch Besessenerer. Er stieß Damen um, die ihm in den Weg kamen, trampelte auf Kinderfüße, zerschmetterte zollfreie Flaschen. Norton blieb stehen und blickte sich in wilder Verzweiflung um. Hjelm erhob sich von seiner Bank, warf die ungelesene Broschüre fort und stürzte auf Norton zu. Der Anblick der beiden heranstürmenden Polizeibeamten mit offenbar zweifelhafter Vergangenheit war zuviel für den Amerikaner, der anfing, die Tasche über dem Kopf zu schwingen, sich zur Seite warf und zu einem der stillstehenden Gepäcktransportbänder stürzte. Mit einem Tigersprung schoß er durch die Plastikstreifen, die vor der Öffnung des Transportbands hingen. Seinem Tigersprung folgte auf der Stelle der von Norlander. Hjelm machte keinen Tigersprung, sondern schob vorsichtig die Plastikstreifen zur Seite. Im Gepäckraum sah er, wie Norlander Norton zwischen verstreuten Haufen von Gepäck verfolgte. Er kletterte hinein. Norton begann, Koffer nach Norlander zu werfen, der dumpf knurrte, sich auf ihn stürzte, einen Koffer auf die Nase bekam und zurücktaumelte. Norton riß sich los und lief zurück. Während Norlander sich auf zittrigen Beinen erhob, kam Norton immer näher auf Hjelm zu, der vorsichtig hereinkletterte und wartete. Norton lief ihm direkt in die Arme, begann wieder seine Tasche zu schwingen und landete einen Volltreffer. Hjelm wurde zurückgeworfen, hatte aber das Gefühl, sich in der Luft umzudrehen, und war über ihm. Norlander warf sich ins Getümmel, drehte Nortons Arme weiter als physiologisch sinnvoll nach hinten und setzte sich rittlings über ihn, die Knie in seinem Nacken. Die eine Hand an den blutenden Mund haltend, riß Hjelm die Tasche an sich und leerte sie auf den Fußboden. Ein kleines Päckchen Haschisch fiel heraus.

Im selben Moment erklang Hultins Stimme in Hjelms und Norlanders Ohren: »Ich habe jetzt den Namen vom FBI bekommen. Unmittelbar von Plan A auf Plan B umschalten. Unser Mann reist unter dem Namen Edwin Reynolds. Ich wiederhole: Edwin Reynolds. Falls der Mann, der gerade so unauffällig durch die Ankunftshalle gejagt wurde, nicht Reynolds heißt und nichts mit dem Fall zu tun zu haben scheint, laßt ihn auf der Stelle laufen, und kehrt an eure Posten zurück. Vielleicht können wir noch etwas retten.«

Sie ließen Robert E. Norton sofort los. Die Arlanda-Polizei kam und übernahm ihn. Durch eine Nebentür gelangten sie zurück in die Ankunftshalle und kehrten zu Norlanders Schalter zurück.

Hjelm übernahm. Er donnerte die Kontrolleurin an: »Schnell, verdammt: Edwin Reynolds. Ist der durch?«

Mit ein paar raschen Tastengriffen bekam sie die Antwort:

»Nein. Randolph. Robertson. Nichts dazwischen.«

Norlander sank auf seinen Schemel. Hjelm sank auf den Boden. Sie zogen die Tür zu, atmeten tief durch, leckten ihre Wunden. Vielleicht war noch Hoffnung. Erst knapp die Hälfte der Passagiere war durch. Wenn er sich nicht unter denen befand, die Norlander niedergetrampelt hatte, war er noch da drinnen.

So argumentierten die beiden Helden der Schalterkabine und vergaßen in den Testosteronnebeln das Östrogen produzierende Element der Gruppe.

Kerstin Holms Stimme erklang in allen Gehörgängen: »Vor elf Minuten hat ein Edwin Andrew Reynolds unseren Schalter passiert. Unter den allerersten.«

Für ein paar endlose Sekunden war es still. Dann kam Hultins Stimme: »Okay. Macht die Paßkontrollen dicht. Laßt niemanden mehr raus. Verlangt von allen, die ihr in dem verdammten Arlanda seht, den Ausweis. Natürlich diskret. Offiziell jagen wir Drogenschmuggler. Wir setzen jetzt alle verfügbaren Kräfte ein. Los jetzt. Ich sorge für Straßensperren. Kerstin, hast du ein Bild von ihm? Wie sieht er aus?«

»Das, was ich habe, ist sehr schlecht. Möglicherweise ist er blond. Tut mir leid. Miserables Foto.«

»Und weder du noch der Paßbeamte erinnert euch an irgendwas?«

»Nein, leider. Aber in elf Minuten kann er ziemlich weit gekommen sein.«

»Okay. Macht jetzt.«

Irgendwo in sich schien Norlander dennoch aufzuatmen. Sein Mißgriff war nicht ausschlaggebend gewesen. Während Hjelm aufstand, fand er, daß Norlanders Seufzer der Erleichterung beinah verbrecherisch war.

Sie kamen zur gleichen Zeit aus der Kabine wie Kerstin Holm aus ihrer. Ihre intensiv forschenden Blicke vereinigten sich.

Überall standen sie, die weißen Männer mittleren Alters. Sie mußten warten. Die Kollegen von der bewaffneten Truppe quollen aus den Hohlräumen des Flughafens wie Würmer aus einer Leiche und sorgten dafür, daß jeder da stehenblieb, wo er stand.

Hjelm lief durch den Zoll. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Gunnar Nyberg von Pässen einer Traube weißer Männer mittleren Alters überhäuft wurde. Sein ausgebeultes Lumberjack war aufgeknöpft.

Hjelm gelangte ins Freie. Sein Blick erfaßte die überfüllten Gehsteige. Ein Flughafenbus wand sich um die Kehre. Die Taxis schwärmten aus. Ein Überblick war unmöglich.

Er sprintete den Gehsteig entlang. An die zehn potentielle Serienmörder betrachteten seine mittelmäßigen Laufschritte. Sie wiesen sich aus, ohne zu prostestieren. Während er ihre Pässe überflog, war der Verdacht zu einem fertigen Gedanken geworden. Er konnte formuliert werden.

Er hielt inne, um für einen Moment einen vergeblichen Überblick zu gewinnen. Plötzlich stand Hultin neben ihm. Beide lasen ihre eigenen Gedanken im Blick des anderen.

Hjelm formulierte sie. Es war nicht zu vermeiden. »Er ist draußen.«

Hultin hielt Hjelms Blick noch einen kurzen Moment fest. Seinem inoffiziellen Nicken widersprach der barsche Tonfall: »Jetzt gehen wir rein und machen weiter. Steh nicht hier rum und sau die Gegend ein.«

Hultin verschwand. Hjelm blieb noch eine Weile stehen und saute die Gegend ein.

Er befingerte seine Lippen und wunderte sich über das Blut. Dann hob er das Gesicht zum sich verdunkelnden Himmel und hielt es den ersten kühlen Regentropfen entgegen.

Der Herbst war nach Schweden gekommen.

5

Es wurde Nachmittag, bevor es sich lohnte, wieder in der »Kampfleitzentrale« – mit Anführungszeichen, die immer weniger ironisch geworden waren, je länger die Machtmordermittlung dauerte – zusammenzukommen. Die eine oder andere heimliche Hoffnung auf einen vergleichbaren Verlauf zog durch die etwas abgestandene Luft. Im übrigen herrschte eine Art kontrollierter Angst; es bestand kein Zweifel am Ernst der Lage.

Jan-Olov Hultin kam von der Toilette, den Blick in Papiere vertieft, die aussahen, als habe er sie soeben benutzt, aber vergessen, sie mit fortzuspülen.

Er setzte sich in seinem gut eingesessenen Armlehnenstuhl zurecht und ließ seiner Darlegung eine innere Schnelldisposition vorangehen, so daß es zu einer zehnsekündigen Verzögerung kam: »Das Resultat des Arlanda-Debakels ist niederschmetternd. Das einzig Konkrete, was dabei herausgekommen ist, sind drei Anzeigen gegen die Polizei. Zwei betreffen Viggo.«

Norlanders Gesichtsausdruck war eine gelungene Verbindung von Beschämung und Stolz.

»Die erste stammt von der Paßbeamtin«, fuhr Hultin fort, ohne aufzublicken. »Sie fand, deine Annäherungsversuche gingen entschieden zu weit, gibt sich aber zufrieden, sagt sie, wenn ich dir einen Rüffel erteile. Hätten wir nicht Dringenderes zu tun, würde ich mich damit nicht zufriedengeben. Idiot. Die zweite Anzeige betrifft ein kleines Mädchen, das du bei der Jagd auf den kräftig drogenschmuggelnden Robert E. Norton umgerannt hast. Mangelndes Fingerspitzengefühl im Umgang mit dem zarten Geschlecht, kann man vielleicht sagen. Doppelidiot. Die dritte Anzeige ist ein bißchen schwer zu deuten. Einer der Märsta-Polizisten ist wegen, ich zitiere, ›Volltrunkenheit‹ an der Bar der Transithalle angezeigt worden.«

Arto Söderstedt lachte schallend und abrupt. »Entschuldigung«, sagte er nach einer Weile. »Er heißt Adolfsson.«

Weil eine weitergehende Erklärung ausblieb, fuhr Hultin ungerührt fort: »Dann zum Wesentlichen. Ein Edwin Andrew Reynolds existiert nicht. Der Paß war natürlich gefälscht. Und trotz der eifrigen Bemühungen unserer Computertechniker ist das Paßfoto nicht besser geworden.

Er drehte den Monitor auf dem Schreibtisch um und rief die Vergrößerung eines vollkommen dunklen Gesichts auf. Konturen waren vorhanden, vielleicht würde eine Gesichtsform erkennbar sein, vielleicht war er blond. Im übrigen vollkommen anonym.

»Wir wissen nicht einmal, ob er sein eigenes Foto benutzt hat; man akzeptiert ja zehn Jahre alte Bilder, und eigentlich ist es überhaupt kein Problem, ein Foto mit einer nur annähernden Ähnlichkeit einzureichen. Auf jeden Fall ist der Clou mit der Fotoanordnung des Zolls ein Reinfall. Alle Bilder sehen ungefähr gleich aus. Man schiebt es auf die neue Technik und darauf, daß man nicht genug Zeit zur Vorbereitung hatte. Und so weiter. Natürlich sind Hotels, die Bahn, Flughäfen, Fährhäfen, Misthaufen et cetera informiert worden. Ich glaube kaum, daß wir von der Seite mit irgendwas rechnen können, aber natürlich suchen wir weiter. Ein Plus ist, daß die Medien noch nichts wissen, obwohl in Arlanda die Fernsehkameras schnell zur Stelle waren. Ihr dürftet das Ergebnis heute abend sehen. Unser verehrter Chef Mörner erschien und gab eine Erklärung ab, was jedenfalls für eine gewisse Art Qualitätsfernsehen bürgt. Jemand Fragen?«

»Was war eigentlich mit den Straßensperren?« fragte Gunnar Nyberg.

»Das einzige, was wir bewirkt haben, war ein mehrstündiges totales Verkehrschaos auf der E4. Der Verkehr von Arlanda in alle Richtungen ist ganz einfach zu dicht. Außerdem hat es verdammt lange gedauert, sie aufzustellen. Nur ein richtig blutiger Amateur wäre da ins Netz gegangen. Wir versuchen natürlich, alle Taxi- und Busfahrer zu identifizieren, die zum aktuellen Zeitpunkt von Arlanda losgefahren sind, aber wie ihr wißt, hat die Neuregelung den Taxiverkehr in Stockholm vollständig unkontrollierbar gemacht, so daß wir uns in diesem Punkt wohl geschlagen geben müssen. Sonst noch was?«

»Keine Frage eigentlich«, sagte Kerstin Holm. »Nur zur Information. Der Computeraufzeichnung zufolge hat unser Mann als achtzehnter meinen Paßschalter passiert. Ich habe versucht, meine Eindrücke zu ordnen, und mit dem Paßbeamten gesprochen, aber keiner von uns beiden hat irgendeine Erinnerung. Vielleicht kommt ja allmählich noch etwas.«

Hultin nickte und fuhr mit geheimnistuerischer Betonung fort: »Ich habe sicherheitshalber veranlaßt, daß sämtliche polizeilich gemeldeten Todesfälle ab sofort direkt an uns weitergeleitet werden, ebenso jeder Verdacht von Verbrechen an Amerikanern in Schweden; wo auch nur der geringste Verdacht besteht, daß etwas faul ist, müssen unsere Gehirne sofort schalten, und wir müssen uns fragen: Kann dies etwas mit unserem Serienmörder zu tun haben? Es ist jetzt unser Fall, auch offiziell, und es ist unser einziger, und die ganze Gruppe ist dabei, und es ist das toppeste top secret, und niemand in eurer Umgebung darf auch nur den geringsten Wind kriegen von dem Wort amerikanisch-bestialischer-Serienmörder-in-Schweden-auf-freiem-Fuß. Wo ihr geht und steht, müßt ihr euch fragen: Kann der Serienmörder mit der Verspätung dieses Busses zu tun haben? Hat er irgendwelche Verbindung zu diesem Fahrradunfall oder den spastischen Zuckungen jenes Mannes oder dem lauter werdenden Schnarchen eurer besseren Hälfte? Volle Fixierung also!«

Sie verstanden. Es war so deutlich wie ausführlich. Hultin fuhr fort: »Ich habe in ziemlich intensivem Kontakt mit Stellen in den USA gestanden. Special agent Larner hat uns einen detaillierten Bericht über den Ablauf des gestrigen Abends und ein knappes Täterprofil zukommen lassen. Mit Hinsicht auf das Arlanda-Ergebnis werden in den nächsten Tagen weitere Informationen eingehen. So sieht es im Augenblick in großen Zügen aus. Der schwedische Literaturkritiker Lars-Erik Hassel wurde kurz vor Mitternacht schwedischer Zeit in einer Besenkammer auf dem Flugplatz von Newark bei New York zu Tode gefoltert. Er wurde erst nach einigen Stunden gefunden. Er hatte kein Flugticket bei sich, aber ein Flug nach Arlanda am gleichen Abend war in seinem Terminkalender eingetragen. Es war also wahrscheinlich, daß der Mörder sein Ticket an sich genommen hat, aber weil man ja nur unter dem Namen einchecken kann, der auf dem Flugschein steht, haben sie aufs Geratewohl bei SAS nachgefragt, ob Hassels Flugschein storniert worden ist. Warum sonst seinen Flugschein stehlen? Brieftasche und Terminkalender und alles andere waren ja noch da. Und sie hatten Glück, erreichten eine Angestellte vom Ticketschalter, die sich an eine telefonische Abbestellung erinnerte, auf die kurz danach eine späte Buchung erfolgte. Aber dies geschah ja zur New Yorker Nachtzeit, und um den Namen des zuletzt eingebuchten Passagiers herauszufinden, brauchten sie einen Computerexperten, der exakte Buchungszeiten feststellen konnte. Schließlich gelang es ihnen, einen solchen aus den Armen seiner Liebsten zu reißen, und er grub den Namen aus, woraufhin dieser an uns weitergeschickt wurde. Elf Minuten zu spät.«

Hultin machte eine Pause, damit die zur Zeit leicht überlasteten Gehirne der A-Gruppe die Information einsinken lassen konnten.

»Dies stellt uns vor gewisse Probleme. Das wahrscheinliche Szenario ist, daß der Mörder Hassel umbrachte, in seinem Namen anrief und seinen Flug stornierte, wieder anrief und den eben stornierten Flug unter seinem eigenen falschen Namen buchte. Was sagt uns das?«

Weil alle begriffen, daß dies eine rhetorische Frage war, machte auch keiner Anstalten, sie zu beantworten.

Hultin komplizierte die Gesetze der Rhetorik noch um einiges, indem er selbst mit einer weiteren Frage antwortete:

»Die grundlegende Frage ist natürlich: Warum Schweden? Was haben wir Schlimmes getan, um das zu verdienen? Nehmen wir einmal folgendes an: Berüchtigter Serienmörder befindet sich auf dem Flugplatz. Er will aus dem Land fliehen; daher der mitgenommene falsche Paß. Vielleicht spürt er den hechelnden Atem des FBI im Nacken. Doch in der Erregung steigert sich sein Bedürfnis zu töten akut. Er wartet an einer günstigen Stelle, bis ein geeignetes Opfer in seine Nähe kommt. Er begeht die Tat, findet das Flugticket und kommt zu der Erkenntnis, daß es sich um einen günstigen Fluchtort handelt; die Maschine startet ja bald. Aber als er buchen will, zeigt es sich, daß die Maschine ausgebucht ist. Er weiß jedoch definitiv, daß ein Platz frei ist. Er betrachtet das Flugticket, findet den Namen Lars-Erik Hassel sowie eine Buchungsnummer, ruft an und storniert das Ticket, wodurch ein Platz frei wird. Was ist falsch an diesem Bild?«

»Finde fünf Fehler«, sagte Hjelm. Keiner lachte.

»Es ist tatsächlich möglich, fünf zu finden«, sagte Chavez mit einer unbeabsichtigten, doch wenig karrierefördernden Spitze gegen Hultin, der natürlich keine Miene verzog. »Das Entscheidende an deinem Szenario, Jan-Olov, ist ja der Zufall. Wenn es sich wirklich so verhält, daß er erst nach dem Mord auf die Idee kommt, ausgerechnet nach Schweden zu fliegen, kann man sich natürlich fragen, ob er sich tatsächlich solche Mühe machen würde, in ein vollkommen beliebiges Land zu kommen. Der Verkehr nach Newark und von dort weg geht ja ununterbrochen. Warum nicht ebensogut Düsseldorf fünf Minuten später oder Cagliari acht Minuten später?«

»Cagliari?« fragte Nyberg.

»Auf Sardinien«, sagte Hjelm hilfsbereit.

»War doch nur ein Beispiel«, sagte Chavez ungeduldig. »Der Clou ist doch der, daß es ganz und gar nicht den Anschein hat, Schweden sei zufällig gewählt worden. Und das kommt mir noch eine Spur unangenehmer vor.«

»Und dann kann man sich ja fragen«, fügte Kerstin Holm hinzu, »ob er wirklich das Risiko eingehen wollte, erst zum Schalter zu gehen und ein Nein zu hören, ein paar Minuten später aber zum Schalter zurückzukehren, um jetzt ein Ja zu bekommen. Ein Mann, der fast zwanzig Jahre lang das FBI an der Nase herumgeführt hat, würde kaum das Risiko eingehen aufzufallen, und schon gar nicht mit einer Leiche im Kielwasser, die jeden Augenblick entdeckt werden kann.«

Hultin wirkte ein wenig angeschlagen von zwei dermaßen scharfsinnigen Einwänden gegen sein Szenario. Er betrachtete seine Kontrahenten und konterte: »Andererseits gab es in dem, was er tatsächlich tat, ein offensichtliches Risikomoment. Hätte man den Computerexperten elf Minuten früher erwischt, hätten wir ihn geschnappt. Es war alles andere als ein idiotensicherer Plan.«

»Trotzdem sieht es meiner Meinung nach klar danach aus, daß Schweden sein Ziel ist, schon als er zum Flughafen kommt«, hielt Chavez fest. »Aber als er dort ist, zeigt es sich, daß die Maschine ausgebucht ist. Da nimmt sein Plan Form an. Warum nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden? Irgendwie macht er einen allein reisenden Passagier nach Arlanda ausfindig, ermordet ihn auf seine übliche genußvolle Art und Weise und nimmt dessen Platz ein, obwohl das ein gewisses, wenn auch begrenztes Risiko beinhaltet. Das Risiko, entdeckt zu werden, steigert ja andererseits den Genuß des Serienmörders.«

»Und worauf läßt das schließen?« fragte Hultin pädagogisch.

»Daß der Wunsch, nach Schweden zu kommen, so stark war, daß er ein Risiko in Kauf nahm, auf das er sich im Normalfall vermutlich nicht eingelassen hätte. Und wenn das so ist, hat er hier ein ganz klares Ziel.«

»Eiskalte Planung in Kombination mit Impulsivität und Genußsucht. Keine ganz leicht zu knackende Nuß …«

»Gibt es irgendwelche Hinweise auf Schweden in seinem Profil?« wollte Arto Söderstedt mit vorbildlicher Präzision wissen.

»Dem FBI zufolge nicht«, sagte Hultin und blätterte. »Daß er die USA verläßt, paßt überhaupt ziemlich schlecht ins Profil. Die Geschichte sieht folgendermaßen aus: Es begann vor zwanzig Jahren in Kentucky, wo Opfer gefunden wurden, die auf dieselbe grausige Art und Weise umgebracht worden waren. Die Welle breitete sich in den Mittleren Westen aus. In den Medien kam die Sache ganz groß raus, und bald lief der unbekannte Täter unter dem Namen The Kentucky Killer. Im heutigen tief besorgniserregenden Serienmörderkult ist er eine Legende, und er soll viele Nachwuchstäter inspiriert haben. Binnen vier Jahren schaffte er eine Serie von achtzehn Morden, bevor er abrupt aufhörte. Vor gut einem Jahr setzte eine neue Serie mit genau der gleichen Vorgehensweise ein, diesmal in den nordöstlichen USA. Hassel wurde in dieser neuen Serie sein sechstes Opfer, insgesamt das vierundzwanzigste. Das vierundzwanzigste bekannte Opfer, sollte man vielleicht hinzufügen.«

»Eine Pause von … fast fünfzehn Jahren«, dachte Kerstin Holm laut. »Ist es wirklich dieselbe Person und nicht ein … wie sagt man gleich?«

»Trittbrettfahrer«, sagte Hjelm.

»Das FBI hat dies ausgeschlossen. Es fanden sich Details in der Vorgehensweise, die niemals öffentlich bekannt geworden waren und die nur ein paar Verantwortliche im FBI kennen. Entweder hat er seine Opfer während der fünfzehn Jahre gut versteckt, oder er hat aufgehört, sich vielleicht zur Ruhe gesetzt, bevor die Mordgier aufs neue die Oberhand gewann. Das ist jedenfalls das Szenario des FBI. Deshalb wurde nach einem Weißen mittleren Alters gefahndet. Die Wahrscheinlichkeit besagt, daß er kaum jünger als fünfundzwanzig war, als er anfing, und demnach jetzt kaum unter fünfundvierzig sein dürfte.«

»Und ›weiß‹ beruht auch auf einer derartigen Wahrscheinlichkeit, nehme ich an?« sagte der kreideweiße Söderstedt.

»Fast alle Serienmörder sind Weiße«, sagte Kerstin Holm. »Ein äußerst lebhaft diskutiertes Phänomen. Vielleicht ist es eine Art ererbter Kompensation für eine vielhundertjährige Herrschaft, die im Begriff ist verlorenzugehen.«

»Faschismus nach dem Zufallsprinzip«, entfuhr es Hjelm.

Einige dumpfe Sekunden lang brütete die A-Gruppe über die Bedeutung dieses Begriffs nach. Sogar Hultin sah nachdenklich aus.

»Wer waren eigentlich die Opfer?« fragte Chavez schließlich.

Hultins erneutes Blättern ließ Hjelm über die Vorteile des Internets und verschlüsselte E-Mails nachdenken, was er nicht allzuoft tat. Das war Jorges und Kerstins Domäne. Sie waren es auch, die am irritiertesten aussahen, als die Information ausblieb.

»Sehen wir mal nach«, sagte Hultin nach einer etwas zu langen Pause.

Chavez konnte ein leichtes Stöhnen nicht unterdrücken, was ihm einen Blick einbrachte, der leicht gegen ein weiteres Minuszeichen auf der Beförderungsliste eingetauscht werden konnte.

»Die Opfer weisen eine große Streuung auf«, sagte der weise Häuptling schließlich. »Vierundzwanzig Personen unterschiedlicher Herkunft. Fünf Ausländer, Hassel eingerechnet. Hauptsächlich weiße Männer mittleren Alters, aha, was ein aufgeweckter, feministisch gebildeter Polizist leicht als indirekten Selbsthaß interpretieren könnte.«

Ende der Leseprobe