Dunkelziffer - Arne Dahl - E-Book

Dunkelziffer E-Book

Arne Dahl

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Beschreibung

In den dunklen Wäldern des nordschwedischen Ångermanlands verschwindet die 14-jährige Emily spurlos. Zwischen ihr und der blutigen Enthauptung eines Mannes scheint es eine grausige Verbindung zu geben. Das Stockholmer Ermittlerteam um Paul Hjelm und Kerstin Holm stößt auf Spuren, die ins Internet führen – mitten hinein in einen perfiden Kampf zwischen Gut und Böse.

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Seitenzahl: 488

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Übersetzung aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

2. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95169-2

© 2005 Arne Dahl Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Mörkertal«, Albert Bonniers Förlag, Stockholm 2005. Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2010 Umschlagkonzept: semper smile, München Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagfoto: Nathan Griffith / Corbis

1

Schon als er das Skelett zum ersten Mal sah, wusste er, dass etwas Besonderes daran war.

Es war an einem Freitag gewesen, unmittelbar vor Beginn des Wochenendes. Er war allein in der Grube, die Kollegen waren schon hinausgeklettert und unterhielten sich über ihre lichtscheuen Aktivitäten an den freien Tagen. Unter dem Zelttuch über ihm baumelten ihre Beine, als der letzte Spatenstich verklang – es hätte auch der letzte Spatenstich dieser Woche sein sollen.

Das war am Freitag gewesen. Jetzt war jetzt. Und das war etwas ganz anderes.

Fast ein ganzes Wochenende lag dazwischen.

Ein tristes Wochenende.

Ein wahnsinniges Wochenende.

Ein unnötiges Wochenende.

Aber jetzt war jetzt.

Er lenkte den Firmenwagen auf die Stora Nygata, die einen feinen Schnitt durch Gamla Stan legte und den Blick auf die Reiterstatue Karls XIV. Johan bei Slussen freigab. Sie ruhte im fast horizontal erscheinenden Sonnenlicht, als ob die Sonne den großen Zeh vorsichtig in den Mälaren steckte und überlegte, ob sie kurz eintauchen sollte.

Aber das war eine Illusion. Obwohl es Abend wurde, stand die Sonne hoch am Himmel. Dass Stockholm so seltsam verzaubert aussah, beruhte vermutlich auf der doppelten Spiegelung der Sonne in Salz- und Süßwasser, im Saltsjön und im Mälaren.

Er konnte sich nicht freimachen von dem Gefühl, dass das Licht bei Slussen etwas sehr Besonderes war, hier, wo der See ins Meer überging. Gottes eigener Spiegeltrick.

Er riss sich zusammen und richtete den Blick auf Stora Nygata.

Wer läuft an einem frühen Abend mitten im Juni in Gamla Stan herum? Vor allem Japaner, dachte er mit einem schiefen Lächeln. Vielleicht auch mal ein Amerikaner, ein paar Deutsche oder Holländer. Vielleicht eine Familie aus Småland, die sich verlaufen hat. Kaum jemand aus Stockholm.

Kaum irgendwelche Zeugen, die sich noch in der Stadt aufhielten.

Aber er hatte jetzt anderes vor, als an Zeugen zu denken.

Der Firmenwagen glitt langsam zwischen die uralten Hausfassaden; sie schienen sich um ihn zu schließen, einen Pfeil zu bilden, der genau auf ihn zeigte, ihn bezeichnete. Es war ein Gefühl, als ob ganz Stockholm ihn anstarrte.

Aber nach ein paar Sekunden tauchte in der Ferne das Zelttuch auf, wie eine verirrte Sanddüne. Es sah wohltuend unberührt aus. Eine Luftspiegelung.

Nein, keine Luftspiegelung. Eine Oase. Eine Zufahrt in eine bessere Welt.

In ein besseres Leben.

Es gibt eine detaillierte Anweisung für Handwerker, die auf archäologische Funde stoßen. Die Richtlinie des Archäologischen Reichsamtes, Ausgrabungen in Gamla Stan betreffend. Der Boden ist ein Minenfeld der Geschichte. Man kann keinen Spatenstich tun, ohne auf das verborgene Vergangene zu stoßen.

Unter jedem Schritt, den man auf der alten Stadtinsel macht, liegen Welten. Untere Welten, überlebte Welten, unbekannte Welten. Welten, die die jetzige Welt verändern können.

Dunkle Welten.

»Leute, ihr wisst ja, jeder kleine Fund fügt der Geschichte Stockholms ein Puzzlestück hinzu.« Er sah den aufgeblasenen Allhem vor sich, diesen Trottel, wie er seine Nase in das Zelt schob mit dieser pseudokollegialen Ermahnung, die er schon Dutzende Male gehört hatte. Er grub ja nicht das erste Mal in Gamla Stan.

Er war auch nicht zum ersten Mal auf ein Fundstück gestoßen. Bei einer Ausgrabung am Drakens gränd hatte er vor ein paar Jahren ein Silberservice aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert freigelegt, und vor wenigen Monaten erst hatte er einen kompletten mittelalterlichen Frauenschädel aus einem Loch in der Köpmangata geholt.

Der aufgeblasene Allhem war natürlich aufgetaucht und hatte etwas von Totengräbern bei Hamlet getönt.

Jetzt würde er wirklich was zu tönen haben, dachte er, während er den Firmenwagen die Stora Nygata entlanggleiten ließ.

Es kam vor, dass Handwerker auf die Anweisung pfiffen und ein kostbares Gefäß oder einen schwarz gewordenen Ellenbogenknochen etwas tiefer in den Lehm traten und pfeifend weiterarbeiteten, als wäre nichts geschehen. Um die ständigen Unterbrechungen und zeitraubenden Besuche weltferner Archäologen zu vermeiden, deren ganzes Leben sich in einem anderen Jahrhundert abspielte.

Schließlich war ja nichts geschehen.

Er hasste das Wort »Leute«. Es war nichts weiter als eine modernere Art, von einem sehr hohen Ross herab »Untertanen« zu sagen.

Die Kumpel – nicht ›Leute‹, niemals ›Leute‹ – hatten ihre Beine zu ihm hinabbaumeln lassen und davon geredet, wie viel leichter man Weiber aufreißen kann, wenn man sich die Mühe macht, zu einem Tanzlokal außerhalb der Stadt zu fahren.

Rille sagte: »Ein Radius von hundert Kilometern. Da draußen gelten ganz andere Regeln.«

»Stimmt«, sagte Berra. »Sie pfeifen drauf, dass sie verheiratet sind.«

Das war der Moment gewesen, als das, was der letzte Spatenstich der Woche hatte sein sollen, verklungen war.

Dann war das Wochenende gekommen. Es war so blöd, so daneben gewesen. Frauen sind Teufel. Und Engel.

Glaubt man, sie seien Engel, dann sind sie Teufel, und umgekehrt.

Marja. Wenn du es doch zugeben würdest. Sag, mit wem du dich triffst. Erzähl, warum er besser ist als ich. Aber lüg mich nicht an. Ich ertrage keine Lügen mehr.

Ein höllisches Wochenende. Nur Zoff. Schwärzeste Eifersucht.

Stunde für Stunde war ihm das Skelett deutlicher vor Augen getreten. Je tiefer er und Marja in ihrem Morast versackt waren, desto deutlicher war es geworden. Wie ein Weg in ein besseres Leben.

Ein Weg, den ich jetzt betreten habe, dachte er, als der Firmenwagen das Zelt erreichte. Er lenkte die geschlossene Ladefläche so nah wie möglich rückwärts an die Grube heran und sah sich um. Ein paar abendliche Spaziergänger. Ausschließlich Touristen. Auch die üblichen Japaner mit Kameras vor dem Bauch.

Dann sprang er hinaus, kletterte in die Grube, schloss das Zelttuch über sich und knipste die Taschenlampe an.

In dem Augenblick, als Berra gesagt hatte, ›sie pfeifen drauf, dass sie verheiratet sind‹, in dem Moment, als das, was der letzte Spatenstich der Woche hatte sein sollen, verklungen war, da hatte er verstanden: Das hier war etwas anderes als das Übliche. Die Ecke eines Sargs. Er hatte sie eine Weile angestarrt. Während er den Sargdeckel freizulegen begann, hatten Rille und Berra weiter von willigen Nynäshamnerinnen und geilen Weibern aus Enköping geredet. Schließlich verschwanden die Beine hinter dem Zelttuch, und Rille rief: »Was ist, Steffe? Kommst du mit zum Systembolaget?«

»Bevor die Schlange zu lang wird,« ergänzte Berra.

»Ich geh erst nach Hause«, rief er. »Hab ein paar blöde Ölflecken auf der Hose.«

»Armer Kleiner«, schrie Rille.

»Wir sehen uns Montag«, sagte Berra. »Nimm’s nicht so tragisch mit deiner Alten, Steffe.«

»Am besten, wir fahren nach Gimo«, sagte Rille. »Da hat keine Braut ’nen Slip an.«

Er hörte sie weiter reden, immer leiser, bis nichts mehr zu verstehen war. Es wurde totenstill. Vor ihm der freigelegte Sargdeckel. Er zitterte ein wenig, als er fühlte, dass er lose war. Er schob ihn zur Seite.

Aber das war am Freitag gewesen.

Kann sein, dass er den Anblick während des Höllenwochenendes geschönt hatte, doch jetzt – denn jetzt war jetzt – war er sicher, dass ihm schon in dem Augenblick alles klar gewesen war. Gleich beim ersten Anblick.

Er zog die Arbeitshandschuhe an. Im scharf begrenzten Lichtstrahl der Taschenlampe fegte er die dünne Schicht Erde von der Plane, mit der er den Sarg bedeckt hatte. Alles schien unberührt. Intakt. Sollte Freitag- oder Samstagnacht ein Besoffener in die Grube gefallen sein, dann jedenfalls nicht auf den Sarg.

Er zog die Plane zur Seite und schob den Sarg vorsichtig an den Rand der Grube. Dann sprang er auf den Gehweg der Stora Nygata, sah sich um, wartete, bis es ganz ruhig war, und schwang sich auf die Ladefläche des Firmenwagens. Er drehte den Kran über das Zelttuch, sprang hinunter und zog das Seil in die Grube. Bevor er es um den Sarg legte, hielt er inne.

Das war nicht geplant. Es sollte so schnell und reibungslos wie möglich geschehen. Das war der Plan.

Aber er hielt inne. Wie man vor dem Unsagbaren innehalten muss. Wenn man noch am Leben ist.

Er schob vorsichtig den Deckel zur Seite.

Und wieder stand er vor dem Skelett.

Ein Beben ging durch seinen Körper.

Und er glaubte, den Zusammenhang zu erkennen. Die Verbindung mit dem Höllenwochenende. Die Verknüpfung mit der besseren Zukunft. Das neue Leben mit Marja. Das Leben, in dem er besser war als diese anderen, die sie ihm ständig wegnahmen. Und sie sollte endlich nicht mehr lügen müssen.

Alles würde gut werden.

Sein Blick wich vor den Umrissen des Skeletts zurück. Er vermochte seine Bahn nicht zu vollenden. Es war zu unheimlich. Zu bizarr.

Dann schob er den Deckel zurück, befestigte das Seil, sprang auf die Ladefläche, hob den Sarg mit dem Kran in die Höhe und hievte ihn auf den Firmenwagen.

Er machte sich auf den Weg in das bessere Leben.

2

Ich weiß nicht mehr genau, was ich in dem Moment tat, als klar wurde, dass etwas passiert ist, aber ich war auf jeden Fall in der Küche. Ich glaube, dass ich die Arbeit beaufsichtigte. Alma kam rein, bleich wie eine Leiche, und sagte, dass Marcus auf dem Hof mit uns reden wolle, es sei superwichtig. Draußen wimmelte es. Ich gestehe, dass ich sie nicht so gut ertragen kann, wenn sie alle auf einem Haufen zusammen sind, es liegt eine Wolke von verschwitzter Hormonüberproduktion über ihnen, aber sagen Sie das keinem. Marcus hatte sich wie üblich in die Mitte gepflanzt und sah aus wie ein Zirkusdompteur. Es fehlte nur die Peitsche. Aber er trug nicht die übliche maskulin dominante Miene zur Schau, sondern war fast so bleich wie die arme kleine Alma, die die ganze Zeit um ihn herumschwänzelte und ihm den Hintern beschnüffelte wie eine läufige Hündin, aber sagen Sie das keinem. Die Lehrerin – ich vergesse immer ihren Namen, Astrid, Asta, Kurt-Egil – stand da und zitterte. Waschlappige Weiber, eine Schande für das weibliche Geschlecht. Marcus (ich bin inzwischen sicher, dass er schwul ist – nicht die kleinste Reaktion auf meinen neuen Stringbikini) teilte uns in ernstem Ton mit, was geschehen war, und bevor ich mich versah, war ich draußen im Wald und schrie. Wir verteilten uns auf das ganze Gelände. Ein paar gingen auf die Landstraße, ein paar in dieses alberne kleine Kaff, aber die meisten stürmten in den Wald, die Kinder zu zweit, wir Eltern allein (als verfügten wir über einen besseren Orientierungssinn als sie, besonders der Vater von Anton oder wie er nun heißen mag, der scheint ja nicht rechts und links unterscheiden zu können, geschweige denn Norden und Süden). Dieser Scheißwald erstreckt sich ja das ganze Stück von Südwesten nach Nordosten, hundertachtzig Grad Wald, bevor er nach ungefähr einem Kilometer in einem fast perfekten Halbkreis von der Flussbiegung aufgefangen wird. Sie wissen ja, wie es aussieht. Ich ging fast genau nach Norden, wo der Wald natürlich am dichtesten war. Undurchdringlich. Ich habe mir meine neue Jacke zerrissen, von Ralph Lauren – ich geh mal davon aus, dass sie mir aus der Klassenkasse ersetzt wird. Schließlich entdeckte ich einen Pfad, der zum Fußballplatz führte, Sie wissen schon, am nördlichen Rand der Ortschaft. Manchmal sah ich ein paar von den Jungs zwischen den Bäumen. Alle brüllten ›Emily‹, so laut sie konnten mit ihren krächzenden Stimmbruchstimmen. Wer sie genau waren, weiß ich nicht, aber auf einer Lichtung sah ich einen von ihnen – den Großen, diesen Wichtigtuer, ich glaube, Jesper heißt er –, wie er etwas in die Höhe hielt. Ich dachte, dass ich mich damit nicht weiter befassen müsste, also ging ich schnell zur anderen Seite und stieß auf den Pfad. Ich kam mir vor, als wäre ich allein auf der Welt. Als ich fast beim Fußballplatz war, flog ein Schwarm Krähen auf, wahrscheinlich Krähen, mit einem richtigen Knall, ungefähr zehn Meter vor mir. Sie haben mich zu Tode erschreckt. Mit rasendem Herzen trat ich auf den Fußballplatz hinaus und sah mich um. Am anderen Ende tauchte meine hübsche Felicia auf, zusammen mit dieser unerträglich unförmigen Vanja, die sie immer im Schlepptau haben muss. Sie tat, als sähe sie mich nicht. Der Pfad ging auf der anderen Seite des Fußballplatzes weiter, ich folgte ihm und kam kurz darauf an den Fluss. Keine Spur von irgendetwas, nur diese verdammten Mücken und Gnitzen und andere Gottesplagen. Wirklich eine tolle Idee, die Klassenfahrt in diese Walachei hier zu machen, wo Banjospieler mit sechs Fingern an jeder Hand gedeihen. Kann ich jetzt gehen?

Es ist wahrlich nicht einfach, eine Gruppe wie diese im Zaum zu halten, das muss ich schon sagen. Und ich verfüge über einige Erfahrung in der Leitung von Gruppen auf ganz verschiedenen Ebenen. Aber in einem Zusammenhang wie diesem sind unterschiedliche Sprachen für unterschiedliche Gruppierungen notwendig, und eine so ausgeprägte Heterogenität ist nicht leicht zu beherrschen. Dennoch bin ich der Meinung, dass ich auf das Verschwinden sehr schnell reagiert habe. Sie kann nicht länger als eine Viertelstunde fort gewesen sein, als ich die Suche organisiert habe, und ich glaube, dass wir das Gelände ziemlich gut abgedeckt haben. Die Organisation funktionierte über Erwarten gut, Jugendliche und hoffnungslose Fälle unter den Erwachsenen an den unwichtigen Positionen, die Zuverlässigen an den wichtigen. (Ich meine zum Beispiel, wie heißt sie, Lisa, die Mutter von Felicia, es ist schwer vorstellbar, dass überhaupt ein Kind in ihr heranwachsen konnte. Als gäbe es die geringste Spur von Biologie in dem Körper.) Nun gut, ich organisierte es auf jeden Fall so, dass Nils, der Vater von Anton, ins Dorf ging und dort nachforschte, Sven-Olof, der Vater von Gina, musste den westlichen Teil des Waldes übernehmen und Reine, Albin und Alvins Vater, den südlichen, während die zuverlässigsten Jungen, unter der Führung meines Sohns Daniel, den nördlichen Teil übernahmen. Ich selbst habe die Landstraße unter die Lupe genommen, die Reichsstraße 90, und konnte so als mobiler Koordinierungspunkt dienen. Leider musste ich die arme Alma mitschleppen, die nicht zu den selbstständigsten Wesen gehört, weshalb mein Tempo auf ein kümmerliches Niveau gesenkt wurde. Jedenfalls muss ich gestehen, dass meine Beobachtungen sich auf drei vorbeifahrende Autos beschränkten, einen luxuriösen silberfarbenen Volvo S60, einen alten dunkelblauen Opel Astra und einen ziemlich neuen rot-metallicfarbenen Volkswagen Passat, ich bin sicher, dass es ein 1.8T war. Alle Autos hatten schwedische Nummernschilder und fuhren in südliche Richtung. Ich habe mir alle Details dieser Wagen notiert. Hier bitte. Als ich später die Ergebnisse der Suche zusammenfassen wollte, musste ich ganz einfach akzeptieren, dass Emily spurlos verschwunden war. Ich hoffe wirklich, dass ich nicht auch noch Kontakt zu ihrer Mutter aufnehmen soll. Ich kann ja nicht alles selbst machen.

Scheiße, war das eine Quälerei durch den Wald. Was glaubten die denn, was wir finden würden? Emily, die hinter einer Tanne sitzt und plärrt? Oder in den Händen eines Pädophilenarschs mit bluttriefender Motorsäge? Und was, verdammt noch mal, hätte es genutzt, uns zu zweit loszuschicken – zwei Vierzehnjährige gegen einen irren Pädophilenarsch. Marcus hat uns in den Tod geschickt, hat an nichts anderes als an seine, wie heißt es, Autorität gedacht. Es war wirklich ein Scheißjob, sich durch den Wald zu quälen. Ich bin ganz sicher, dass ich und Mara den beschissensten Teil im ganzen Wald hatten, man kam keinen Meter voran, ohne sich überall Verletzungen zu holen. Scheiße, hab ich mir das Gesicht zerkratzt, sehen Sie mal hier, die Schramme. Nein, hier, auf der Stirn. Marcus hat wie immer auf die Mädchen gepfiffen, als er seine »Richtlinien« ausgab – ich weiß nicht, ob sich überhaupt jemand darum gekümmert hat –, also haben wir mit Astrid geredet, ja, unserer Lehrerin, und sie suchte eine Richtung heraus, in die noch niemand gegangen war, und sagte, sie würde ganz in der Nähe bleiben, wir bräuchten also nur zu rufen, falls irgendwas wäre. Ja, die ist echt in Ordnung. Mara hatte ihren kleinen Taschenkompass mit, und wir zogen genau nach Westen, mitten durchs Dornengestrüpp. Dann kamen natürlich Anki und Lovisa und haben sich an uns rangehängt. Was dann auf dem Weg zum Fluss passierte? Nichts Besonderes, glaub ich. Wir sahen Astrid ein paar Mal von Weitem, und dann sah ich Anton, Jonatan und Sebastian ein Stück, was ist das, ja, nördlich von uns, ich erkannte Sebastians bescheuerten militärgrünen Fleecepulli. Dann kamen wir runter zum Fluss. Der rauscht und tobt mit einer Wahnsinnsströmung, da kommt keiner rüber. Aber ich glaube nicht, dass sie sich ertränkt hat, Scheiße, niemals, aber man weiß ja nie, was Emily sich einfallen lässt, sie ist ziemlich, na ja, schwierig. Doch, wir sind schon Kumpel, aber das heißt nicht, dass ich checke, was sie macht. Anki sagt, dass sie sie um zehn vor eins gesehen hat, oben in ihrem Zimmer, und als wir uns sammeln sollten fürs Vorlesen, war es wohl so zehn nach eins, da war sie weg. Sie war nirgends zu finden. Glauben Sie wirklich, dass sie tot ist?

Ich bin seit einem Jahr ihre Klassenlehrerin, ja, die ganze Siebente, und natürlich frage ich mich manchmal, was für ein Leben ich führe. Wenn die Jungen auf den Bänken toben und die Mädchen mit ihren schrillen Stimmen schreien, als wollten sie testen, wie gut sie tragen, kann ich mich ans Lehrerpult setzen und im Vorlesebuch lesen und versuchen, mich daran zu erinnern, was mich eigentlich dazu getrieben hat, Lehrerin zu werden. Schwedisch und Englisch, ja klar, aber in erster Linie war es doch der Wunsch, etwas zu vermitteln, auch dass Wissen Spaß macht. Dass es schön ist, Dinge zu verstehen, statt sich in einer Welt zu bewegen, die einem immer unbekannter erscheint, je älter man wird. Dass die Sprache unser Weg zur Freiheit ist. Dass die Vielseitigkeit der Literatur unübertroffen ist, wenn man etwas über die Vielseitigkeit des Lebens lernen will. Sich selbst ein wenig besser zu verstehen und dadurch andere. Jedes Mal, wenn ich im Vorlesebuch versinke, denke ich daran, dass ich nicht aufgeben will, trotz allem nicht. Also beharre ich auf dem Vorlesen, sosehr sie auch protestieren und es als Kinderkram oder Cyberpunk bezeichnen. Ich sehe in ihren Augen, dass sie eigentlich wollen, aber es gehört eben dazu, auf alles zu spucken, was die Erwachsenenwelt anzubieten hat. Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit einem ziemlich ambitionierten Projekt, wir lesen Herz der Finsternis von Joseph Conrad und sehen uns dazu unterschiedliche Verfilmungen an, angefangen bei sehr texttreuen Sachen wie der Neuverfilmung mit Tim Roth als Marlow und John Malkowich als Kurtz bis hin zu Apocalypse Now. Vierzehnjährigen Apocalypse Now Redux zu zeigen, das klingt vielleicht hochgestochen, aber bedenken Sie, wie anders die Welt für heutige Vierzehnjährige ist. Klar, dass ganz andere Menschen aus ihnen werden. Fragt sich nur, was für welche. Nun ja, verzeihen Sie die Abschweifung, das Projekt dreht sich im Grunde um die Frage, wo die Finsternis eigentlich lebt: außerhalb von uns oder in uns? Es hat ein paar anregende Diskussionen darüber gegeben, das kann ich immerhin behaupten. Zu einer sollten wir uns gestern um ein Uhr sammeln, nach dem Mittagessen. Das gab mir die Möglichkeit, die Kinder zu zählen – man kann nicht behaupten, dass Marcus Lindegrens sogenannte Sammlungen ihre Funktion als Anwesenheitskontrolle erfüllten. Es herrschte jedenfalls kein Zweifel daran, dass Emily wirklich verschwunden war. Wir hatten eine Abmachung getroffen, dass niemand den Garten verlässt, ohne einem der Erwachsenen Bescheid zu sagen, und daran haben sich alle gehalten, auch Emily. Ich war von Anfang an nicht begeistert davon, dass die Klassenfahrt zu einem Hof so dicht am Wald führen sollte, doch es gab einen breiten Konsens bei den Eltern, also hatte man sich zu fügen. Marcus erteilte den männlichen Anwesenden seine Befehle, und ich musste wie gewöhnlich in aller Stille die riesigen Risse in seinem patriarchalischen System verspachteln. Ich ließ die ängstlichsten Mädchen in meiner unmittelbaren Nähe gehen, Julia mit ihrer aufgesetzten müden Art, die kleine Mara und Lovisa und Anki. Dann wanderten wir durch den Wald. Ich kann nicht behaupten, dass ich etwas sah, der Wald war viel zu dicht, aber ich kam zu der Einsicht, dass es dumm von mir war, allein durch einen Wald zu gehen, in dem sich vielleicht wirklich ein Vergewaltiger und vielleicht sogar Mörder verbarg. Und dann erst die zwanzig Kinder. Wie Vogelfutter, das man einer hungrigen Gans hinstreut. Emily hätte nie aus freien Stücken das Haus verlassen. Er muss oben im Haus gewesen sein. Im eigentlichen Herzen.

Ich weiß, dass sie geschieden sind, verdammt, alle sind doch geschieden, aber sie hätten ja nicht mitten bei der Suche zu poppen brauchen. Scheiß-Marcus, Scheiß-Plastiksoldat, der glaubt, er wäre der fucking King, und dann liegt er unter einem Busch an der Straße und bumst die Mutter von Tunten-Johnny, Pimmel-Alma, als Emily verschwunden ist und alles drauf ankommt, dass es schnell geht. Ich hab das nicht selbst gesehen, aber Albin und Alvin, die haben es erzählt. Ich selbst bin in nördliche Richtung gegangen, mit diesem feigen Arsch Daniel, der ganz sicher war, dass hinter jedem Baum ein Pädo steht, um ihm den Lümmel gegen seine vom Weinen zitternden Lippen zu klatschen. Während sein eigener Alter die Wurst in Gay-Johnnys Mutter steckte. Eigentlich ziemlich komisch. Die Zwillinge kamen angesaust und zeigten auf Daniel und erzählten von der Fickorgie seines Alten. Die Schweineschnauze vom fucking Daniel wurde noch käsiger, und er wäre am liebsten selbst in den Wald gelaufen, wenn er nicht so einen Schiss gehabt hätte vor all den Pädoschwänzen dort. Die Zwillinge haben sich angehängt, und dann zogen wir weiter in den Wald, in dem man kaum noch vorwärtskam. Wir schrien nach Emily, und am Ende öffnete sich eine Art fucking Lichtung. An einem Wacholderstrauch oder was es nun war, hing ein Stück von Emilys dunkellila Pulli – eine Spur, verdammt, ich hatte eine Spur entdeckt –, und ich hielt den Fetzen in die Höhe und wedelte damit und brüllte, aber niemand kam, verdammt, Marcus lag in den Büschen und bohrte Dumm-Alma an, und die übrigen Idioten hatten sich wohl im Wald verlaufen. Außer den Pennern, die in der Laube saßen und soffen. Felicias scheißgeile Mutter, die willig ihren Altweiberspeck vor allen Teenagern entblößt, hat uns gesehen, änderte aber blitzschnell die Richtung. Sie hatte wohl Angst, vergewaltigt zu werden, wie alle Weiber, die nie einer vergewaltigen würde, selbst wenn sie auf Knien darum betteln würden. Dann verschwand sie, und wir zogen weiter zum Fluss, aber jetzt wurde es wieder so dicht, Scheißnadeln und Scheißäste und Scheißmücken. Albin oder Alvin schrie auf, ich kann sie nie auseinanderhalten, und sagte, er hätte einen Elch gesehen. ›Es kann kein Elch gewesen sein‹, sagte ich, ›die sind ja riesig, du würdest dir in die Hose scheißen.‹ ›Ich hab ihn auch gesehen‹, sagte Chicken-Daniel. ›Aber ich glaube, es war ein Hirsch, ich hab seinen Rücken gesehen, braungrün, wie ein Rothirsch.‹ ›Haltet die Schnauze, ihr Nullen‹, sagte ich, und da wurde es still. Dann kamen wir runter an die verdammte Flussbiegung. Ein Haufen Krempel schoss vorbei und ein verdammtes blaues Stück Tuch. Dann trieb eine aufgequollene Ratte vorbei, und als einer sie umdrehte, sah man, dass sie ihre Därme ein paar Meter hinter sich herzog. Wie eine verdammt komische Qualle, und da kotzte Albin oder Alvin auf Alvin oder Albin, und sie fingen an, sich zu prügeln. Scheiße, ist das spaßig mit Zwillingskumpeln. Aber Emily ist tot, das schnallt wohl jeder. Sie war wahrscheinlich beleidigt wie immer und ist am Fluss entlanggegangen, alle Mädchen wollen sich ja dauernd umbringen, jedenfalls fast alle, und wer in diesen Scheißpissfluss fällt, ist innerhalb von einer halben Minute tot. Verdammt.

Man kann nicht direkt sagen, dass wir es darauf angelegt hätten, mit den Dorfbewohnern in Kontakt zu kommen. Also war ich nicht besonders erfreut, als mir der Auftrag zugeteilt wurde, mich im Ort umzuhören. Wir kauften im Supermarkt bei Näsåker ein, also hatte ich nicht mal eine Ahnung davon, dass gleich um die Ecke ein kleiner Ica-Laden war. Lebensmittel, Videoausrüstung, Auslieferung für Medikamente und Spirituosen. Und Treffpunkt der Dorforiginale. Drei Alte saßen auf den Parkbänken vor dem Laden und glotzten mich misstrauisch an. ›Ich heiße Nils‹, sagte ich, und das sollte ein Gruß sein. ›Ich wohne mit einer Schulklasse im Gamgården hier drüben, ihr habt uns bestimmt gesehen.‹ Einer der Alten beugte sich vor und sagte: ›Gehört.‹ ›Was?‹ ›Nicht gesehen‹, sagte der Alte, ›sondern gehört.‹ ›Teufel, wie ihr schreit‹, sagte der Alte neben ihm. ›Auch nachts. Nullachter, was?‹ Ich nickte und sagte: ›Ja, wir kommen aus Stockholm. Und jetzt ist einer von unseren Teenagern verschwunden, und ich wollte mal fragen, ob ihr jemanden hier im Dorf gesehen habt.‹ Es ging wie ein Beben durch die drei Alten, kurze, scharfe Blicke wurden ausgetauscht. ›Mädchen oder Junge?‹, fragte der erste Alte, den Blick auf den Boden gerichtet. ›Mädchen‹, sagte ich und begriff nicht, was vor sich ging. ›Dann also nicht Calle‹, nickte der Alte Nummer drei dem Alten Nummer eins zu. ›Schön‹, sagte der Alte Nummer zwei und nickte. ›Weil, wir angeln mit Calle‹, verdeutlichte Nummer eins in meine Richtung. Ich guckte sie der Reihe nach ungeduldig an. ›Ich wollte nur wissen, ob ihr ein Mädchen allein hier habt vorbeigehen sehen‹, sagte ich. Die Alten schüttelten die Köpfe. Es war wie eine einzige träge Bewegung, die sich zwischen ihnen fortpflanzte. Als ich weiterging, hörte ich hinter meinem Rücken: ›Es heißt nicht Gamgården, es heißt Gammgården.‹

Ich weiß nicht, ob man uns wirklich Freundinnen nennen kann, Felicia und mich. Ich weiß, dass alle glauben, ich hänge mich an sie, weil sie so hübsch ist, aber ich weiß inzwischen, dass sie mich viel mehr braucht als ich sie. Ich mag das, was unter dem hübschen Äußeren in ihr ist, das, was ganz und gar zerbrochen und kaputt ist, und wenn man ihre Mutter sieht, dann versteht man, was es ist. Es ist der Mangel an Liebe. Felicias Mutter Lisa hat nie einen anderen Menschen geliebt als sich selbst – und mich hasst sie. Ich weiß, dass sie mich deformiert nennt, obwohl ich nicht begreife, warum. Vermutlich weil alles, was in die Nähe ihres perfekten Schmuckstücks von Tochter kommt, deformiert wirkt. Man kann viel gegen meine Eltern sagen, die Armen, aber Liebe haben sie mir genug gegeben. Deshalb braucht Felicia mich, um Liebe aus mir herauszusaugen. Und das ist ganz okay so, ich hab ja genug davon. Aber ist das Freundschaft? Wenn Astrid laut aus Herz der Finsternis vorliest, dann ist es Felicia – und übrigens auch Emily –, die am stärksten ergriffen zu sein scheint. Als hoffte sie, zumindest das in ihrem Herzen zu finden, ein wenig Dunkelheit, wenn schon nichts Besseres. Ich weiß, dass ich frühreif bin, und ich weiß, dass Sie das denken, Sie brauchen es nicht zu sagen, das haben schon so viele andere getan. ›Vanja ist so frühreif. Sie musste schneller erwachsen werden als die anderen.‹ Na ja, wir fühlten uns schon ein bisschen so wie Marlow an der Mündung des Kongo, als wir aufbrachen, Felicia und ich, am Waldrand entlang in nordöstlicher Richtung. Wir kamen an der verdeckt liegenden Laube vorbei und sahen, wie Sven-Olof, Ginas Vater, und Reine, der Vater von Albin und Alvin, da drinnen saßen und sich jeder ein Bier aufmachten und eine Kippe rauchten. Sie hatten offenbar nicht vor, in den Wald zu gehen. Aber wir. Dort in der Nähe der Landstraße war der Wald nicht ganz so schrecklich dicht, wir kamen also einigermaßen schnell zum Fußballplatz, Sie wissen, der dort am Waldrand. Und da stiefelt Lisa auf den Platz, ihre Ralph-Lauren-Jacke zerrissen, und ich sah Felicia an, dass sie nicht vorhatte, so zu tun, als wäre ihre Mutter da. Ich hatte nichts dagegen. Also sind wir weiter nach Norden Richtung Fluss gegangen. Nein, eigentlich haben wir überhaupt nichts gesehen. Aber wenn Sie mich fragen, dann sage ich, Emily ist abgehauen. Durchgebrannt. Felicia und sie sind Zwillingsseelen irgendwie. Deshalb ertragen sie sich nicht. Sie haben da einen Hohlraum, wo das Herz sitzen sollte, aber es ist einer, der wehtut. Jetzt vielleicht nicht mehr.

Tja, Kollegen, es ist wohl meine Schuld, dass ihr heute hier sitzt und versucht, Fäden zu entwirren. Ihr wisst ja, dass die Kürzungen die lokalen Stationen am härtesten getroffen haben, es gibt hier keine Polizeipräsenz mehr, die nächsten sind wir in Sollefteå. Es wäre jetzt verdammt gut, wenn wir hier einen Ortspolizisten hätten. Saltbacken ist für uns fast so fremder Boden wie für euch. Sobald wir erkannten, dass es eine internationale Verbindung geben könnte, habe ich Kommissar Bengtsson unterrichtet, und der hat den Ball weitergespielt zum Reichskrim. Ein Abteilungsleiter namens Wörner, oder nein, Mörner, hat entschieden, dass es ein Fall für euch wäre. Worin die internationale Verbindung besteht? Mindestens drei baltische Autos – litauische, glaube ich – wurden zum fraglichen Zeitpunkt in der Nähe von Saltbacken gesehen. Ich konnte nicht umhin, an trafficking und geraubte Mädchen zu denken, die in Sexspielzeug verwandelt werden und denen in gesamteuropäischen Bordellen der Unterleib zerfetzt wird. Eine frische Vierzehnjährige wie diese Emily wäre doch ein Juwel in der litauischen Bordellkrone. Salopp ausgedrückt. Sie sieht ja wirklich gut aus. Man kann sich Mädchen in seiner eigenen siebten Klasse mit diesem Aussehen ja überhaupt nicht vorstellen. Ist etwas passiert mit der menschlichen – oder zumindest der weiblichen – Genbank in den letzten zwanzig Jahren? Wir reden von erwachsenen Vierzehnjährigen. Wenn ihr gestattet, meine Damen, so vermute ich, dass nicht einmal ihr, die ihr so jung und frisch wirkt, in der siebten Klasse so ausgesehen habt. Aber was soll’s? Dies ist zwar eine phantastische Gegend, das Flusstal vor allem, aber es ist nicht unbedingt der geeignete Ort für eine Klassenfahrt. Da war Ärger vorprogrammiert. Ihr versteht, worauf ich hinauswill. Nicht nur der Wald, der unmittelbar ans Haus heranreicht, nicht nur der Fluss mit extremem Hochwasser und entsprechend starker Strömung, sondern vor allem die lokalen Sorgenkinder. Ob diese oder die Litauer die Schuldigen sind – es ist jetzt an euch, das herauszufinden. Die Suche durch den Rettungsdienst und die Freiwilligen wird noch einige Stunden fortgesetzt. Aber hiermit lege ich hoffnungsvoll den Fall der verschwundenen vierzehnjährigen Stockholmerin Emily Flodberg in die vielleicht nicht ganz so hoffnungsvollen, aber desto routinierteren Hände der A-Gruppe.

3

»Sind das wirklich die besten Zeugenaussagen?«, fragte Gunnar Nyberg skeptisch.

»Nicht nur die besten«, sagte Lena Lindberg. »Es sind die einzigen.«

»Die einzigen, die die Bezeichnung verdienen«, sagte Sara Svenhagen und sah zum Abendhimmel auf, der nicht dunkel werden wollte.

Reicht die Mitternachtssonne bis hinunter nach Ångermanland?, dachte sie und betrachtete die beeindruckenden Wolkenformationen, die in einem tiefen Orange glühten. Obwohl es windstill zu sein schien, war eine Bewegung am Himmel, unterschiedliche Himmelsschichten, die sich ineinanderwälzten wie zähflüssiges Hexengebräu. Es war ein tiefer, drückender Himmel, der das kleine Dorf gleichsam in eine Kuppel einschließen wollte, ein Stück Universum, abgetrennt vom Rest der Welt.

Sara Svenhagen erschauerte. Sie hätte es auf die Abendkälte schieben können, aber das hätte bedeutet, all dem anderen, was auch in dem Schauder enthalten war, auszuweichen.

Und auszuweichen war nicht ihre Art.

Dagegen erlaubte sie sich eine Reise in die Vergangenheit. Nicht besonders weit, aber ein paar Stunden genügten schon, um das Gefühl zu haben, in einer anderen Epoche zu sein. Da befand sie sich noch in einem relativ beschützten – und relativ beschäftigungslosen – Großstadtleben. Die Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei, besser bekannt als A-Gruppe, hatte in der letzten Zeit nicht gerade Lorbeeren eingeheimst auf internationaler Ebene. Es lief ein bisschen schleppend.

Bis zu dem Augenblick, als ein blühend rosiges Gesicht ins Zimmer der Kriminalkommissarin Kerstin Holm im Polizeipräsidium auf Kungsholmen in Stockholm geschaut und mit unverwechselbarer Wortwahl geprustet hatte: »Jetzt passiert was, meine lieben Mädels. Darauf verwette ich meinen kleinen Schinken.«

Wenn man bedachte, dass Gunnar Nyberg unter den drei Anwesenden war, offiziell der größte Polizist Schwedens, dann war die Anrede vielleicht nicht ganz glücklich gewählt. Anderseits waren glücklich gewählte Worte nicht die starke Seite des Abteilungsleiters Waldemar Mörner. Was tatsächlich seine starke Seite war, blieb sowieso im Dunkeln. Aber er war eben der Chef der A-Gruppe. Eine rein formale starke Seite.

Kerstin Holm dagegen war die operative Chefin, und das war etwas ganz anderes. Sara Svenhagen, die als Vierte im Zimmer war, hatte immer das Gefühl, dass etwas beinahe Magisches geschah, wenn beide Chefs im selben Raum waren. Das Vage und Undefinierte des Daseins wurde plötzlich glasklar und wohldefiniert – zum Beispiel Begriffe wie Qualität und Kompetenz.

Kriminalkommissarin Kerstin Holm betrachtete die blühende Miene mit schmalen Augen und sagte: »So klein ist er nicht.«

»Was?«, keuchte Waldemar Mörner und trat ins Zimmer.

»Der Schinken«, verdeutlichte Holm.

»Außerdem müsstest du zwei haben«, sagte Gunnar Nyberg.

Mörner klopfte sich genüsslich aufs Hinterteil. »Zwei Trainingseinheiten pro Tag, meine Damen.«

»Eine für jeden Schinken«, sagte Nyberg.

»Was passiert denn?«, fragte Kerstin Holm.

»Passiert?«, sagte Mörner und sah von seinen wohlgeformten Schinken auf.

»Du hast gesagt, jetzt passiert was«, verdeutlichte Nyberg.

Waldemar Mörner sah aus, als hätte ihn eine Offenbarung oder auch ein Schlag getroffen; er beugte sich mit bedeutungsschwerer Miene über Kerstin Holms Schreibtisch und sagte: »Ångermanland.«

Die Pause, die folgte, war in Mörners Augen vermutlich elektrisch geladen. Die anderen warteten auf die Fortsetzung. Die kam.

»Ein vierzehnjähriges Mädchen aus Stockholm ist abgängig. Auf einer Klassenfahrt nach Ångermanland. An einem Ort namens Saltbacken, direkt am Ångermanfluss. In der Gegend von Sollefteå.«

»Was heißt abgängig?«, fragte Kerstin Holm.

»Das ist es eben«, nickte Mörner. »Besondere Umstände.«

»Sie müssen sehr besonders sein, wenn der Fall auf dem Tisch der A-Gruppe landet. Verschwundene Personen sind sonst nicht unser Gebiet.«

»Normalerweise nicht«, sagte Mörner. »Aber wir haben dort internationale Präsenz. In der fraglichen Zeit sind in der Nähe mehrere Fahrzeuge gesehen worden, die im Baltikum registriert sind. Aber nicht nur das.«

»Sondern …?«

»In der Gegend halten sich drei aktenkundige Pädophile auf.«

»Drei?«, stieß Gunnar Nyberg aus.

»Drei«, nickte Mörner zufrieden. »Zwei verurteilt, einer angeklagt, aber freigesprochen. Die Kombination mit der baltischen Fahrzeugkolonne lässt nichts Gutes ahnen. Aber du, Kerstin, bist natürlich die operative Chefin.«

Genau, dachte Sara Svenhagen. Das ist die starke Seite von Waldemar Mörner: Er mischt sich selten ein in polizeiliche Entscheidungen.

Kerstin Holm nickte, nahm Block und Bleistift und sagte: »Kontaktperson?«

»Kommissar Alf Bengtsson bei der Polizei in Sollefteå.«

Kerstin Holm notierte Namen und Telefonnummer.

»Ich rede mit ihm und teile dir meinen Beschluss so schnell wie möglich mit.«

Mörner nickte und ging zur Tür. Bevor er auf den Flur trat, blieb er stehen, strich sich über sein roggenblondes Toupet und sagte: »Du solltest berücksichtigen, dass der Reichspolizeichef es begrüßen würde, wenn wir uns des Falls annehmen. Es dürfte bei den Medien gut ankommen.«

»Ich werde es bestimmt berücksichtigen«, sagte Kerstin Holm und lächelte so süß, dass Waldemar Mörner in den Flur zu schweben schien.

Sie wandte sich an Gunnar Nyberg und Sara Svenhagen, die beide in unbequemen Positionen auf ihrem Schreibtisch saßen: »Ein scheußlicher Zufall«.

»Dass ausgerechnet wir hier sind, meinst du?«, sagte Nyberg.

»Genau. Zwei routinierte Pädophilenermittler.«

»Die beschlossen haben, sich nie wieder mit Pädophilie zu befassen«, sagte Sara Svenhagen. »Die völlig ausgebrannt waren, als sie zuletzt damit zu tun hatten.«

»Genau«, wiederholte Kerstin Holm. »Aber wir wissen ja gar nicht, ob es darum geht. Sollte das aber der Fall sein, habt ihr, besonders du, Sara, am meisten Routine.«

»Sag jetzt nicht, dass du uns nach Ångermanland schicken willst«, sagte Gunnar Nyberg beunruhigt.

»Wir könnten drauf pfeifen«, sagte Kerstin Holm stilsicher. »Wir könnten so tun, als ginge uns diese verschwundene Vierzehnjährige nichts an. Wir könnten behaupten, wir hätten genug mit wichtigen Fällen von internationaler Art zu tun. Was meint ihr?«

Besonders die letzte Frage war in ihrer Unschuld ein elegantes Crescendo.

»Böse Frau«, sagte Gunnar Nyberg.

»Packt schon mal eure Koffer«, sagte Kerstin Holm.

In Befolgung dieses Befehls befanden sich Sara Svenhagen und Gunnar Nyberg samt Saras ständiger Partnerin Lena Lindberg jetzt in der Umgebung des kleinen Dorfs Saltbacken, ungefähr auf halber Strecke zwischen Sollefteå und Näsåker im südlichen Ångermanland.

Sara Svenhagen ließ den hexengebräuähnlichen Himmel weiter brodeln und schob sich widerwillig vom Balkon ins Innere des alten Gebäudes, das passenderweise Gammgården genannt wurde. Der alte Hof.

Lena Lindberg saß an einem Tisch im oberen Speisesaal und ließ die Finger durch einen Papierstapel gleiten. Gunnar Nyberg saß neben ihr und beobachtete die schmalen Finger.

»Du hast schöne Hände«, sagte er.

Lena zog die Hand erstaunt zurück und wandte sich dem großen Mann zu, mit dem sie bisher eigentlich nicht besonders viel zu tun gehabt hatte. Sie verspürte einen kleinen Anflug naiver Freude, den sie zu verbergen vermochte, indem sie besonders ausführlich entgegnete. »Eine seltsame Konstruktion, diese Stimmenleser. ASR. Automatic Speech Recognition. Die Dinge geschehen in der Außenwelt. Die Menschen versuchen, Worte zu finden, um, jeder aus seiner begrenzten Perspektive, die Ereignisse zu beschreiben. Ein Mikrofon fängt ihre stockenden Worte auf und verwandelt sie in eine digitale Datei. Einsen und Nullen. Die wandern durch einen Computer, der sie in geschriebene Wörter verwandelt. Fertige, voneinander getrennte Wörter, in denen aber die Pausen, die Betonung, die Phrasierung der Sprechenden nicht enthalten sein können. Oder doch? Der Drucker bringt sie zu Papier, ohne dass wir einen Finger zu rühren brauchen, außer dass wir ein Mikro vor den Sprechenden stellen. Und das hier sind ihre Worte. Die Grenze zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort ist aufgehoben.«

»Sieht es gut aus?«, fragte Sara.

»Tadellos«, sagte Lena.

»Obwohl es reiner Unsinn ist«, sagte Gunnar.

»Das finde ich nicht«, sagte Lena. »Sie haben sich wirklich bemüht, und erstaunlich viele haben eine wertvolle Zeugenaussage produziert.«

»Wertvoll in welcher Hinsicht?«, fragte Gunnar und schnippte an den Papierstapel.

»In der Hinsicht, dass sie Zusammenhang haben«, sagte Lena. »Sie liefern uns die Konturen des gesamten Ablaufs der Ereignisse. Der Rest ist unsere Sache.«

»Kann es sein«, fragte Sara mit Unschuldsmiene, »dass du, Gunnar Nyberg, alt und bitter geworden bist?«

»Ich habe getötet«, sagte Gunnar ohne Zögern. »Es ist doch klar, dass ich bitter bin. Ich habe es Tag für Tag vor Augen und frage mich, ob ich nicht anders hätte handeln sollen. Ob alt, das ist eine numerische Frage.«

»Das glaube ich ganz und gar nicht«, sagte Lena. »Man ist so alt, wie man sich fühlt.«

Gunnar Nyberg war gut über fünfzig – das war eine Vermutung, niemand kannte sein genaues Alter –, und im vergangenen Jahr hatte er, nach einem Leben, das den Weg vom aggressiven steroidstrotzenden Bodybuilder über Ehefrauenmisshandler und büßenden Kirchenchorsänger zum abgespeckten Ersten Liebhaber umfasste, einen Menschen getötet. Und nicht in Notwehr, sondern zielbewusst und kalkuliert. Um eine kleine Chance zum Weiterleben zu haben. Und die Früchte des Glücks zu genießen, das er mit seiner neuen Frau Ludmila erleben durfte.

Das war eine lange Geschichte.

»Ich glaube, du hast völlig recht«, sagte er.

»Wie?«, sagte Lena sehr verwundert.

»Ich nehme meine frühere Aussage zurück. Alter ist keine numerische Frage.«

Gunnar wandte sich an Sara: »Aber du, meine Schöne, wie zum Teufel kommst du auf die Idee, ausgerechnet mich alt und bitter zu nennen?«

»Ich habe nur gefragt«, sagte Sara versöhnlich.

»Das hast du eben nicht. Dass du ein Fragezeichen hinter deine grobe Attacke gesetzt hast, macht sie noch nicht zur Frage.«

»Okay«, sagte Sara. »Der jüngere Gunnar Nyberg hätte keinerlei Probleme gehabt, die vielen Anhaltspunkte zu erkennen. Ich wollte dich nur wecken, Gunnar. Ich weiß, dass zwischen Chios und Saltbacken ein gewisser Unterschied besteht, aber bis zu deinem Urlaub ist noch ein guter Monat Zeit.«

Gunnar Nyberg nickte und musste wiederum zugeben, dass die weibliche Gesprächspartnerin recht hatte.

Aber es war Lena Lindberg, die begann: »Jetzt ist der Tag danach; es ist drei Minuten nach Mitternacht am fünfzehnten Juni. Vor ziemlich genau elf Stunden ist die vierzehnjährige Emily Flodberg von dem restaurierten Bauernhof Gammgård in Saltbacken im südlichen Ångermanland verschwunden. Der Hof gehört einem Bauern aus dem Dorf, Arvid Lindström, der hin und wieder eine Anzeige in die Großstadtpresse setzt. Wie die Entscheidung zustande kam, ist noch nicht ganz klar, jedenfalls fiel eine solche Anzeige einer Gruppe von Eltern ins Auge, die nach einem Reiseziel für die Klassenfahrt der Siebten suchten, wobei der Entschluss Ende März gefasst wurde. Es war in der Gegend also fast zwei Monate bekannt, dass über zwanzig Vierzehnjährige kommen würden.«

»Gefundenes Fressen für die lokale Pädophilenmafia«, sagte Gunnar Nyberg.

»Von der man natürlich nichts gewusst hat«, sagte Lena Lindberg, »und über deren Existenz man auch nicht unterrichtet wurde.«

»Dann sollte man sich fragen«, sagte Sara Svenhagen, »ob man das wirklich eine ›Mafia‹ nennen kann. Es ist noch nicht ganz geklärt, aber im Moment deutet nichts darauf hin, dass sich die drei nicht rein zufällig in diesem Umkreis von hundert Kilometern angesiedelt haben.«

»Die ortsbekannten Sorgenkinder sind also Robert Karlsson, Carl-Olof Strandberg und Sten Larsson«, las Gunnar Nyberg von einem Papier ab. »Keiner der drei war zu Hause, als die lokale Polizei gestern bei ihnen war. Nach allen dreien wird gefahndet.«

»Um 12.50 Uhr wurde Emily zum letzten Mal gesehen«, sagte Lena Lindberg, »und zwar von ihrer Klassenkameradin Anki Arvidsson.«

»Anki – heißt die so?«, fragte Sara.

»Das ist ihr Taufname, ja. Ich habe extra nachgefragt. Kein Mädchen heißt heute noch Ann-Katrin oder so ähnlich. Diese Anki hat jedenfalls gesehen, dass Emily allein auf dem Bett in ihrem Zimmer lag, das sie mit Felicia Lundén und Vanja Persson teilt. Sie schrieb in ein Heft, das Anki für ein Tagebuch hielt. Sie sah, Zitat: ›richtig froh‹ aus. Dieses Tagebuch ist nicht wieder aufgetaucht. Was darauf hindeuten könnte, dass sie es mitgenommen hat. Was wiederum darauf hindeuten könnte, dass sie aus freien Stücken gegangen ist. Aber es ist natürlich zu früh, um dazu etwas Vernünftiges zu sagen. Als die Klasse sich um ein Uhr zum Vorlesen versammelte, fehlte sie, was um 13.08 Uhr festgestellt wurde, worauf die Klassenlehrerin Astrid Starbäck den selbsternannten Leiter der Klassenfahrt, Marcus Lindegren, informierte, der, statt die Polizei zu rufen, alle zu einer Art Suchaktion zusammentrommelte. Die begann etwa um 13.15 Uhr, und um 13.55 Uhr versammelten sich alle wieder auf dem Hof. Erst dann wurde die Polizei verständigt.«

»Wie groß ist eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass drei polizeilich bekannte Pädophile sich ›zufällig‹ am gleichen Ort niederlassen?«, fragte Gunnar Nyberg.

»Leider gibt es ziemlich viele«, sagte Sara Svenhagen.

»Und diese drei, was sind das für Männer?«, fragte Lena Lindberg.

Sara setzte sich in dem dunklen Speisesaal auf den Tisch und hielt ein Papier in das schwache Licht einer Tischlampe. Die hinteren Teile des Raums lagen im Dunkeln. Vermutlich brach vor den Fenstern doch noch eine flüchtige Dämmerung herein. Die Balkontür stand offen und ließ Schwärme von Mücken und Schnaken herein. Das war der Preis, den sie für den kühlen, nach Wald duftenden Wind bezahlen mussten, der es überhaupt nur möglich machte, zu dieser späten Stunde zu denken.

Sara las und fasste gleichzeitig zusammen: »Robert Karlsson ist fünfundfünfzig, Maler, wegen Erwerbsunfähigkeit in Rente. Wohnt dreißig Kilometer nördlich von hier in einem abgelegenen Haus, in das er vor zwölf Jahren fast eine ganze Schulklasse gelockt hat, ein Mädchen nach dem anderen, alle um die acht Jahre alt. Die Polizei – es gab damals eine lokale Polizeistelle – brachte das Kunststück fertig, ihn auf frischer Tat zu ertappen. Allerdings nicht in einer sexuellen Situation, zu eindeutig sexuellen Übergriffen ist es anscheinend gar nicht gekommen. Er wurde wegen Kindesentführung angeklagt, kam aber frei. Seitdem ist er mehrmals nach Thailand gereist, und es ist nicht ausgeschlossen, dass er einer unserer Thailand-Pädophilen ist. Beim Prozess gab es widersprüchliche psychologische Gutachten – die einen behaupteten, er sei ein kaltblütiger Vergewaltiger, die anderen, er stehe mental auf dem Niveau eines Neunjährigen. Eines Neunjährigen von damals, muss man hinzufügen. Er gab ohne Umschweife zu, mit den kleinen Mädchen ›geschmust‹ zu haben. Was das bedeutet, weiß man bis heute nicht genau.«

»Und dieser Carl-Olof Strandberg müsste der Calle sein, der in einer Zeugenaussage erwähnt wird?«, sagte Nyberg.

»Höchstwahrscheinlich«, nickte Sara. »›Doch nicht Calle‹, sagt einer von diesen Dorforiginalen zu einem anderen. ›Wir angeln mit Calle.‹«

»Genau«, fiel Lena Lindberg ein. »Natürlich. ›Calle kann es nicht gewesen sein, er mag keine Mädchen.‹«

»So muss man die Zeugenaussage wohl deuten«, sagte Sara. »Und das stimmt mit seinem Strafregister überein. Er ist erst vor Kurzem in ein Haus am Rand von Saltbacken gezogen. Von Kumla aus, genauer gesagt aus dem Bunker, wo er eine siebenjährige Haftstrafe wegen Vergewaltigung eines dreizehnjährigen Jungen abgesessen hat. Vielleicht erinnert ihr euch an den Fall, er hat ziemlich viel Staub aufgewirbelt. Carl-Olof Strandberg, jetzt vierundsechzig Jahre alt, lebte damals in Stockholm, in Vasastan, als renommierter Kinderarzt und Kinderpsychiater. Mehrere Schulen arbeiteten mit ihm zusammen, weil er so gut mit Kindern umgehen konnte. Nahm sich der schwarzen Schafe an und machte sie zu Menschen, wie man in gewissen Kreisen zu sagen pflegt. Drei Jungen aus drei verschiedenen Schulen verschwanden, und die einzige Verbindung zwischen ihnen war Strandberg. Einem der Jungen gelang es, nach einer Woche zu fliehen, er war aber nicht mehr ansprechbar. Mithilfe von Faserspuren konnte man beweisen, dass er sich in dem isolierten Landhaus des Kinderarztes bei Strängnäs aufgehalten hatte. Man suchte das Grundstück und die nähere Umgebung ab, fand aber keine Spur von den beiden anderen Jungen. Und der Überlebende war körperlich und seelisch derart verletzt, dass er vermutlich nie wieder ein Wort sagen wird. Strandberg weiß, wie man Kinderseelen blockiert. Ein wahres Scheusal, so scheint es. Es gab eine Menge anderer verdächtiger Fälle, aber keiner ließ sich ihm zuordnen. Er ging für die eine Vergewaltigung in den Knast, für nichts anderes. In Kumla hat er die ganze Zeit seine Unschuld beteuert und behauptet, ein Kollege, mit dem er zerstritten war, habe ihn dorthin gebracht.«

»All diese Unschuldigen in unseren Gefängnissen«, sagte Gunnar Nyberg.

»Und schließlich Sten Larsson«, fuhr Sara Svenhagen fort, ohne den lästigen Nyberg eines Blickes zu würdigen. »Ein Mann mit einem anderen Hintergrund. Wie Robert Karlsson eine lokale Größe – sie sind also nicht hierhergezogen, sondern in der Gegend aufgewachsen –, aber ein etwas größerer Verbrecher, wenn es denn Abstufungen in der Hölle gibt. War der doppelten Vergewaltigung von zwei Teenagern aus der Gegend schuldig. Er saß eine fünfjährige Gefängnisstrafe in Härnösand ab, einer Anstalt zweiter Klasse, kehrte dann nach Hause zurück und nahm seine Arbeit als Tischler wieder auf. Er ist achtunddreißig Jahre alt und allen Dokumenten zufolge seit mindestens zehn Jahren völlig sauber.«

Lena Lindberg setzte eine schwer zu definierende Miene auf und sagte: »Sauber … Es gibt ja inzwischen ein ganz anderes Medium, wo man als Pädophiler ungleich schmutziger sein kann, ohne dass es bemerkt wird.«

»Das Internet«, nickte Sara. »Aber in den Pädophilennetzwerken, die in dem ganzen Dschungel bisher aufgedeckt worden sind, taucht keiner der drei Herren auf. Aufgedeckt ist aber bekanntlich nur ein Bruchteil. Manche Netzwerke verfügen immer noch über Methoden, die es ihnen ermöglichen, völlig ungestört im Netz zu arbeiten.«

Gunnar Nyberg betrachtete die beiden Frauen. Nach einem extrem hektischen Tag war es Balsam, sich auf dem Stuhl zurückzulehnen und den Blick im schwachen Licht auf diesen Schönheiten ruhen zu lassen. Da er inzwischen ein durchaus gesetzter Herr war, konnte er sich unter objektiven Kriterien weiblicher Schönheit nähern, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Und diese beiden waren wirklich zwei sehr unterschiedliche Schönheiten. Lena Lindbergs selbstbewusster und manchmal aggressiver Sex-Appeal hatte ihn nie so recht angesprochen. Aber im letzten Jahr war etwas geschehen. Als Gunnar Nyberg wieder einmal zu einem Ringkampf mit seinem Gewissen gezwungen worden war, schien Lena das Gleiche getan zu haben. Sie war nachdenklich und grüblerisch geworden, aber gleichzeitig viel weniger aggressiv. Wenn man sie allein überraschte, war da eine deutliche Falte zwischen ihren Brauen, die sie in den Augen des objektiven Beobachters viel attraktiver machte. Die Zeit war vorbei, da Sara Svenhagen in ständiger Sorge war, die Partnerin könnte Gewalt anwenden.

Sara ihrerseits war wie immer – das liebliche Geschöpf, das ihn einst, als die A-Gruppe vorübergehend aufgelöst worden war, mit behutsamer Hand in das grauenhafte Universum der Kinderpornografie eingeführt hatte. Auch sie hatte im letzten Jahr eine Veränderung durchgemacht. Nyberg ahnte, dass irgendetwas zwischen ihr und ihrem Mann, dem Kollegen Jorge Chavez, nicht ganz stimmte. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ihre Tochter Isabel zwei Jahre alt geworden war. Das war eine kritische Zeit für alle Eltern. Das Stillen und die lange Periode der Veränderungen des weiblichen Körpers war vorüber, und sie mussten sich entscheiden, ob sie das gleiche umwälzende Ereignis wirklich noch einmal erleben wollten.

Da Gunnar Nyberg spürte, dass er sich in seinen objektiven Betrachtungen zu verlieren drohte, raffte er sich zu einer Bemerkung auf: »Ganz instinktiv scheint ja Sten Larsson unser Mann zu sein. Strandberg ist schwul, und Robert Karlsson macht einen recht infantilen Eindruck.«

»Obwohl Karlssons Thailandreisen nicht in das Bild passen«, antwortete Sara Svenhagen. »Und Strandberg ist derjenige, der Kidnapping und vermutlich einen Mord begangen hat.«

»Wir müssen eben die ganze Truppe zu fassen kriegen«, schloss Gunnar Nyberg und lehnte sich schwer auf dem wackligen Sprossenstuhl zurück.

Die Nacht machte eine Pause. Abend- und Morgendämmerung schienen zusammenzufallen, das schwache Leuchten des Himmels war eine seltsame Mischung von Licht, das entstand, und Licht, das erstarb; und es war schwer zu sagen, ob es Zeit war einzuschlafen oder aufzuwachen.

»Schlafen oder arbeiten?«, fragte Nyberg.

Lena Lindberg und Sara Svenhagen sahen sich an.

»Es ist Nacht, und sie ist vierzehn Jahre alt«, sagte Sara.

Damit war es entschieden.

»Außerdem haben wir noch über ein paar Balten nachzudenken«, sagte Lena Lindberg und schlug die Hände zusammen.

In dem Augenblick klingelte Sara Svenhagens Handy mit einem klaren Ton, der die unschlüssige Nacht durchdrang.

4

Der Mann betrachtete seine linke Hand, die auf dem Lenkrad lag. Kein kleiner Finger. Nicht als wäre er bei einem Unfall abgerissen worden, sondern als hätte es ihn nie gegeben. Die Schnittfläche war sehr, sehr exakt. Keine Narbe.

Nur ein Fehlen.

Er sah sich die Hand mehrmals am Tag an. Sie war eine Erinnerung. Eine notwendige, dauerhafte Erinnerung.

Wie eine Schnur um einen Finger.

Die ein bisschen zu stramm gezogen wird.

Er hob den Blick von der Hand und schaute durch die Windschutzscheibe. Da draußen wimmelte es. Er hatte es schon so viele Male gesehen, dieses bunte Gewimmel von Vorschulkindern.

Es gab eine spezielle Form des Wartens. Es kann sich Stunde um Stunde in die Länge ziehen, doch das bedeutet nicht, dass man sich entspannen kann, nicht eine Sekunde. Denn wenn es geschieht, geschieht es blitzschnell.

Inzwischen hatte er es gelernt.

Während er wartete – ohne sich eine einzige Sekunde zu entspannen –, kehrte er zu seiner Überlegung zurück. Er war nicht sicher, ob er je eine Antwort bekommen würde, aber die Fragen reichten weit. Er durfte nie aufhören, sie zu stellen.

Kann man das Leben zurückerobern? Wie viel Schlimmes darf man anderen angetan haben und dennoch weiterleben? Wann ist die Zeit, die unaufhaltsam vergeht, etwas anderes als ein Leben? Gibt es eine Möglichkeit zu sagen, dass man jetzt den Punkt erreicht hat, wo man wieder das Recht hat zu leben? Und hat man dann eine Vorstellung davon, was es heißt zu leben? Kann man, wenn man das Leben einmal verlassen hat, zum Leben zurückkehren?

Es war früher Sommer. Vor seinen Augen wurde gespielt, geklettert, gerannt, geschrien, gesprungen, hinter dem Zaun der Kindertagesstätte. Diese farbenfrohe Bewegung. Dieses Leben.

Dieses aufsprießende Leben.

Sein eigenes Leben bestand nunmehr aus Aufträgen. Die Zeit, die neben den Aufträgen verfloss, war nicht der Rede wert, aber immerhin konnte er inzwischen von sich sagen, dass er lebte, zumindest während der Aufträge.

Ein zwischenzeitliches Leben.

Das war mehr, als die meisten für sich in Anspruch nehmen konnten.

Man kann die Zeit mit einem Strom vergleichen. Oder warum nicht mit einem Fluss? Er fließt. Er fließt immer. Aber manchmal ist Hochwasser, da fließt er schneller. Manchmal ist Niedrigwasser, da fließt er langsamer.

Jetzt war Niedrigwasser. Hochwasser war gestern.

Ein abwechslungsreiches Leben, dachte er und lachte.

Ein Glück, dass niemand das Lachen hörte.

Dann wieder Hochwasser.

Er hatte den Wagen noch nie gesehen, dennoch begriff er sofort, dass es der war, der langsam die Straße entlanggerollt kam. Es war etwas an der Art zu fahren. Eine spähende Art zu fahren.

Es war glasklar.

Er öffnete das Handschuhfach und holte die Schnur heraus. Sie legte sich wie ein Vogelnest in seine rechte Hand. Die linke Hand ruhte noch auf dem Lenkrad.

Er betrachtete sie und dachte: Ich habe einen Teil meines Lebens abgeschnitten. Aber ich muss die ganze Zeit daran erinnert werden, dass ich es getan habe. Wenn ich es vergesse, habe ich alles verwirkt. Und viel, viel mehr dazu.

Als der Wagen anhält, versteht er, dass es so weit ist.

Jeden Moment ist es so weit.

Er nimmt das bunte Gewimmel dort drinnen wahr. All das Leben.

Das Leben in spe.

Er macht trotz allem einen Unterschied.

Eines der Kinder ist vorn am Zaun. Es bewegt sich sanftmütig und neugierig an den Stäben des Zauns entlang. Es flimmert vorbei.

Es ist ein einsames Kind.

Als die Wagentür dort draußen sich öffnet, tritt der Fluss über die Ufer.

Er erreicht die Stromschnellen.

Der Mann nimmt die linke Hand vom Lenkrad, führt sie in das Vogelnest ein und zieht. Zieht mit beiden Händen.

Ein spröder, aber klarer Ton ist zu hören, als die Leine sich zwischen seinen Händen spannt.

5

Sie hätte es einem anderen überlassen können. Sie war ja die Chefin. Es war erlaubt, Aufträge zu delegieren. Sogar angeraten.

Aber in der Kampfleitzentrale – dem kleinen Konferenzraum im Polizeipräsidium – kam sie zu einem Entschluss.

Es war kurz nach vier Uhr nachmittags am Montag, dem vierzehnten Juni. Kriminalkommissarin Kerstin Holm überblickte die restliche Schar der A-Gruppe, die gerade Platz nahm.

Da war Arto Söderstedt, unverändert und unvergleichlich, da war Viggo Norlander, erschöpft vom Hüten kleiner Kinder, da war Jorge Chavez mit diesem neuen, leicht gequälten Gesichtsausdruck, und da war Jon Anderson, freier und froher denn je.

Nein, dachte sie ganz kurz. Ihr taugt nicht dafür. Ihr Kerle.

Wie idiotisch, dass sie die beiden Frauen der Gruppe nach Ångermanland geschickt hatte. Die dezimierte A-Gruppe hatte gerade Platz genommen, das Geplauder verstummte, die Aufmerksamkeit richtete sich auf sie, als sie plötzlich aufstand und sagte: »Nein, so geht das nicht.«

Sie starrten sie an.

»Übernimm du die Runde, Arto«, fuhr Kerstin Holm fort, während sie ihre eben ausgepackten Papiere wieder in die Schultertasche stopfte. »Ich muss nach Hammarby Sjöstad.«

Dann war sie verschwunden.

Was folgte,war eine fast greifbare Verwirrung, eine Handlungslähmung.

Die Katze verschwand, und den Mäusen blieb die Luft weg.

Schließlich räusperte sich Arto Söderstedt und sagte in seinem Finnlandschwedisch, das nicht ganz so rein klang wie sonst: »Welche Runde?«

Worauf sich die Schar zerstreute und nach Hause ging.

Kerstin Holm dagegen versuchte zwischen den neuen Häusern von Hammarby Sjöstad auf der Südseite des Hammarby-Kanals voranzukommen, genau südlich von Södermalm, wo in nur wenigen Jahren ein neuer Stadtteil entstanden war. Es war nicht ganz leicht, sich zwischen den schnurgeraden Hausreihen zurechtzufinden.

Es war ein bisschen peinlich, sich selbst einzugestehen, dass sie schon einmal in Hammarby Sjöstad gewesen war und jetzt genauso desorientiert war wie damals.

Die Zweizimmerwohnung in der Regeringsgata war ein bisschen eng geworden, seit ihr zehnjähriger Sohn Anders immer häufiger Spielkameraden mit nach Hause schleppte. Und die meisten freien Wohnungen in Stockholm gab es eben in Hammarby Sjöstad. Sie hatte sich eine Dreizimmerwohnung angesehen, für die die Kapitaleinlage zwar relativ gering war, was aber durch die monatlichen Kosten allemal kompensiert wurde. Aus dem versprochenen Bauboom in Stockholm war nicht viel geworden, und das Resultat war eine seltsame Mischung von Wohn- und Mietrechten: teils monatliche Kosten, die stark an eine ganz normale Miete erinnerten, teils eine Kapitaleinlage, die hohe Bankdarlehen erforderte. Das Schlimmste aus beiden Welten.

Schließlich war sie am Ziel. Die Babordsgata, ein Stück zum Kanal hinunter. Seeblick, wie es in der Anzeige hieß. Was ungefähr bedeutete: Steht man auf der obersten Stufe einer Leiter und reckt sich über das Balkongeländer, kann man bei entsprechendem Wetter und mithilfe eines Periskops die Spiegelung von Wasser im Fenster eines Nachbarn erahnen.

Kerstin Holm parkte das Auto direkt vor der Haustür und hoffte, dass die Politessen Sommerferien machten. Sie tippte einen Türcode ein. Auf einer Tafel im Flur fand sie den Namen Flodberg und nahm die Treppe mit leichtem Keuchen, was sie daran erinnerte, wie sträflich sie das Joggen vernachlässigt hatte. Dann klingelte sie.

Während sie wartete, dachte sie nach. Die Maschinerie war extrem schnell in Gang gekommen. Zunächst hatte die Polizei von Sollefteå unerwartet schnell auf die Anwesenheit von Pädophilen reagiert, weil sie erst kürzlich einen ähnlichen Fall gehabt hatte. Es war gut ausgegangen, sollte sich aber nicht wiederholen. Dann hatte Waldemar Mörner mit unerwartetem Fingerspitzengefühl reagiert. Und zuletzt hatte sie selbst, Kerstin Holm, sofort einen unwiderruflichen Entschluss gefasst: Der Fall war alarmierend genug, um alle Kräfte darauf anzusetzen.

Außerdem war es eine allgemein bekannte Tatsache, dass die ersten Stunden oft entscheidend waren.

Die Frau, die schließlich die Tür öffnete, war klein und hatte verweinte Augen. Sie schien in den Vierzigern zu sein und machte einen erschöpften Eindruck. Vielleicht hatte sie zwei Jobs, um als alleinstehende Mutter das Geld für die Monatsmiete und das Darlehen zusammenzubekommen. Was mehr war, als Kerstin Holm je würde aufbringen können. Und sie war immerhin Kriminalkommissarin. Emily Flodbergs Mutter war den Angaben zufolge Telefonistin bei Telia.

»Birgitta Flodberg?«, fragte Kerstin Holm vorsichtig. »Ich bin Kerstin Holm und komme von der Polizei. Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«

Birgitta Flodberg musterte die etwas größere und etwas frischere Frau, öffnete die Tür und verschwand in der Wohnung. Kerstin Holm folgte ihr.

Sie fand sie in einem hellen Wohnzimmer wieder, auf einer roten Sofagruppe aus Leder sitzend. Ihr Blick verlor sich im Blauen.

Der Himmel über Stockholm war an diesem Montag im Juni tatsächlich blau. Viel mehr würde der Sommer nicht zu bieten haben. Es sollte der schlechteste Sommer in Schweden seit achtundsiebzig Jahren werden. Aber das wussten weder Birgitta Flodberg noch Kerstin Holm. Bis Mittsommer war noch eine gute Woche Zeit.

Holm setzte sich Flodberg gegenüber und begann. »Es tut mir wirklich leid, was passiert ist«, sagte sie und merkte selbst, wie unpassend das klang. Aber gab es Worte, die irgendeinen Trost enthielten? In solchen Situationen zeigen sich die Worte von ihrer schlimmsten Seite.

»Sie ist gerade erst dreieinhalb Stunden verschwunden«, sagte Birgitta Flodberg mit heller, spröder Stimme. »Es muss nicht unbedingt etwas passiert sein. Sie ist ziemlich selbstständig. Sie ist auch früher mal weggeblieben.«

»Wie – weggeblieben?«, fragte Kerstin Holm.

»Auf dem Schulweg zum Beispiel«, sagte Birgitta Flodberg. »Oder wenn sie nur schnell Milch kaufen wollte. So ist sie, ein bisschen verträumt. Vergisst Zeit und Raum. Grübelt über ihren Platz im Dasein nach. Wie man es als Vierzehnjährige tut.«

Selbstverständlich, dachte Kerstin Holm, aber hier geht es um Wildnis, Stromschnellen, Pädophile, Balten. Aber sie sagte: »Das meine ich auch. Trotzdem müssen wir alles tun, um sie zu finden. Ich muss also möglichst viel über Emily wissen. Wie haben Sie erfahren, dass sie verschwunden ist?«

»Ihre Lehrerin hat angerufen und geweint. Es war schlimm.«

»Asta Svensson?«, warf Kerstin ein.

Birgitta Flodberg blickte mit energischem Gesichtsausdruck auf, wie um zu zeigen, dass sie wusste, wovon sie sprach. »Ihre Klassenlehrerin, ja. Sie ist mitgefahren nach Norrland.«

»Ihre Klassenlehrerin heißt also Asta Svensson?«

»Ja.«

Hm, dachte Kerstin Holm und folgte einer anderen, aber parallelen Spur: »Wie ist Emily in der Schule?«

Birgitta Flodberg schüttelte den Kopf. »Man weiß ja nichts mehr«, sagte sie. »Sie bekommen ja keine Zeugnisse.«

»Aber Sie haben doch sicher Elterngespräche und so etwas gehabt? Kontakt mit der Schule?«

»Ich konnte nicht hingehen. Es hat nie gepasst.«

»Gepasst?«

»Zeitlich. Ich hatte einfach keine Zeit.«

»Und Emilys Vater?«

Birgitta Flodberg lächelte trocken. Ja, es war ein trockenes Lächeln. Nicht bitter, nicht böse, nicht nostalgisch. Eben trocken. »Das kommt kaum infrage«, sagte sie noch trockener.

Kerstin Holm überlegte, ob sie das Thema vertiefen sollte. Nicht jetzt, entschied sie. »Haben Sie so viel zu tun?«, fragte sie stattdessen.

»Nicht unbedingt. Es hat einfach nicht gepasst.«

Was gibt es Wichtigeres, als zu den Elterngesprächen über Teenagertöchter zu gehen?, dachte Kerstin gereizt. Aber zum Glück dachte sie es nur. »Sie arbeiten also als Telefonistin bei Telia?«, fragte sie.

»Stimmt.«

»Was heißt das konkret?«

»Was hat das mit dem Verschwinden meiner Tochter in Norrland zu tun? Wenn die Polizei immer so arbeitet, verstehe ich, dass nie ein Fall gelöst wird. Man kann es ja in der Zeitung lesen, alles landet auf großen Papierstapeln, um die sich keiner kümmert.«

»Stimmt nicht ganz. Einige sehr tüchtige Polizisten versuchen, Ihre Tochter zu finden. Ich bin deren Chefin, und ich muss so viel wie möglich über Ihre Tochter wissen, inklusive Familiensituation. Was bedeutet es also konkret, als Telefonistin bei Telia zu arbeiten?«

Birgitta Flodberg starrte Kerstin Holm an, und ihr Blick war schärfer, als sie bei es dieser kleinen, eingesunkenen Frau erwartet hätte.

»Ich bin die Frau, die antwortet, wenn Sie 9 02 00 wählen«, sagte sie. »Kundendienst.«

»Sie verstehen sich also auf Telefone?«

»Ich verstehe mich darauf zu wissen, wer sich auf Telefone versteht. Und wer sich aufs Internet versteht. Und auf Mobilfunknetze. Und so weiter.«

»Ist das eine volle Stelle?«

»Fünfundsiebzig Prozent.«

»Haben Sie noch andere Jobs?«

»Nein, keine anderen. Jetzt ist es aber genug. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Kerstin Holm. »Kehren wir zu Emily zurück. Hat sie Geschwister?«

»Nein.«

»Wie würden Sie sie beschreiben?«

»Als ganz normale Vierzehnjährige«, sagte Birgitta Flodberg immer noch etwas verärgert. »Sie wissen doch, wie Vierzehnjährige sind?«

»Sie sprechen viel von Vierzehnjährigen, aber mir geht es um Emily. Sie haben doch sicher eine Vorstellung von der Persönlichkeit Ihrer Tochter?«

Zu hart? Hart genug? Immer schwierig zu entscheiden. Aber Kerstin glaubte mittlerweile eine Vorstellung von Birgitta Flodberg zu haben. Einer Frau, deren Arbeit mit typischen Fällen zu tun hatte – dieser muss dorthin, jener hierhin vermittelt werden –, einer Frau, die darauf bestand, über ihre Tochter als typischen Fall zu sprechen. Und die viel souveräner war, als ihr Körper zu erkennen gab. Als wäre die jämmerliche Körpersprache eine Maske oder jedenfalls ein Schutzmechanismus. Um die Leute in die Irre zu führen. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Frau.

»Sie ist eine Grüblerin«, sagte Birgitta Flodberg barsch, »das sagte ich schon. Schwer zugänglich mittlerweile. Als sie kleiner war, konnte ich leichter mit ihr reden. Wenn ich jetzt versuche, an sie heranzukommen, blockt sie ab. Sind Sie jetzt zufrieden?«

»Etwas zufriedener«, sagte Kerstin Holm. »Ich weiß, diese Sache ist hart, glauben Sie mir. Aber je aufrichtiger Sie sind, desto leichter wird es sein, Emily zu finden.«

Birgitta Flodberg sah ihr wieder tief in die Augen. Die seltsame Kraft in ihrem Blick wurde stärker. Aber auch der Schutzmechanismus.

Da war etwas an dieser Frau, was Kerstin Holm wiedererkannte. Es war deutlich. Und gleichzeitig ganz unerreichbar. Wiedererkannte? Wieso wiedererkannte? Von wo?

Von sich selbst?

»Das glaube ich Ihnen«, sagte Birgitta Flodberg, und auch diesen Tonfall erkannte Kerstin wieder. Sie war ihm früher begegnet. Bei diversen Verhören.

»Gut. Wir versuchen es noch einmal. Hat Emily Freundinnen?«

»Mittlerweile nicht mehr viele. Als sie in die Siebte kam, wurden mehrere Klassen zusammengelegt, und ihre besten Freundinnen landeten in einer Parallelklasse. Anfangs fand sie neue Freundinnen. Erst Felicia, dann Julia, aber irgendwie gab es Streit.«

»Wissen Sie, worum es dabei ging?«

»Ich habe versucht, es herauszufinden, aber damals wendete sie sich schon ab. Das begann so richtig um diese Zeit.«

»Ein Freund?«

»Emily? Mein Gott, nein. Sie tut, als existierten Jungs gar nicht. Sie findet sie kindisch.«

»Hat sie irgendwelche Hobbys? Aktivitäten?«

»Meistens sitzt sie vorm Computer.«

»Computer? Internet?«

»Ja. Und Spiele. Auch Videospiele. Playstation. Ich sage immer, die Augen werden viereckig, dann wird sie natürlich wütend.«

»Sonst nichts? Reiten, Schwimmen, Briefmarkensammeln?«

Ende der Leseprobe