Falsche Opfer - Arne Dahl - E-Book
SONDERANGEBOT

Falsche Opfer E-Book

Arne Dahl

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der brutale Mord an einem Stockholmer Restaurantbesucher, ein Zeuge, der nichts gesehen haben will, die unerklärliche Bombenexplosion in einem Hochsicherheitsgefängnis und ein tödlicher Bandenkrieg – nach seinen Bestsellern »Misterioso« und »Böses Blut« gelingt Arne Dahl ein glänzender neuer Fall um seine Ermittler Paul Hjelm und Kerstin Holm.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Übersetzung aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

7. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95176-0

© 2000 Arne Dahl Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Upp till toppen av berget«, Bra Böcker, Malmö 2000. Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2004 Vermittelt durch die Bengt Nordin Agency, Stockholm Umschlagkonzept: semper smile, München Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagfoto: Nick Vaccaro / Getty Images

1

»Ich hab nichts gesehen.«

Paul Hjelm seufzte tief und von Herzen. »Du hast nichts gesehen?«

Er versuchte, den Blick des jungen Mannes zu fangen, doch der hatte die Augen niedergeschlagen und sah verbiestert zu Boden.

Verbiestert? Wann hatte er zuletzt das Wort verbiestert benutzt? Hatte er das Wort überhaupt je in seinem Leben benutzt?

Er fühlte sich alt.

»Also noch mal von vorn«, sagte er beherrscht. »Obwohl hinter dir eine wilde Schlägerei ausbrach, hast du absolut nichts gesehen. Ist das richtig?«

Schweigen.

Hjelm seufzte erneut. Er hob die Knöchel von der Tischplatte, streckte den Rücken und warf einen Blick zu der Kollegin hinüber, die an der tristen Betonwand lehnte.

In dem Moment, da ihre Blicke sich trafen, wurde ihm die Zwiespältigkeit dieses Augenblicks bewußt. Einerseits die Versetzung zur Abteilung für Gewaltverbrechen im Polizeibezirk City mit dieser endlosen Reihe trostloser, alltäglicher Gewalt. Anderseits die Rückkehr seiner Lieblingskollegin Kerstin Holm nach Stockholm.

Und das erste, womit sich das eingespielte Duo nach seiner Wiedervereinigung abgeben mußte, war – eine Kneipenschlägerei.

Paul Hjelm seufzte ein weiteres Mal und wandte sich wieder dem verstockten Zeugen zu. »Und du hast nicht einen einzigen kleinen Blick über die Schulter geworfen?«

Da lächelte der junge Mann schwach, ein etwas blasses, in sich gekehrtes Lächeln. »Nicht einen einzigen«, sagte er.

»Und warum nicht?«

Zum erstenmal begegneten die Augen des Zeugen seinem Blick. Klarblau. Eine etwas unerwartete Schärfe, als sei er im Begriff, etwas ganz anderes zu sagen als das, was er sagte: »Weil ich gelesen habe.«

Paul Hjelm starrte ihn an. »Hammarby hat gerade ein Heimspiel gegen Kalmar gehabt, sie spielen unentschieden, 2:2, und bleiben auf dem letzten Tabellenplatz, und du sitzt in der Stammkneipe der Byenfans und liest? Kvarnen ist brechend voll und laut, und im Gedränge frustrierter Hammarbyer sitzt der zwanzigjährige Per Karlsson allein mit einem Buch? Ein äußerst seltsamer Ort zum Lesen, das muß ich sagen.«

Per Karlsson lächelte wieder, das gleiche milde, in sich gekehrte Lächeln. »Es war ruhig, als ich kam«, sagte er.

Hjelm zog den Stuhl vor und ließ sich mit einem Krachen darauf nieder. »Jetzt bin ich aber richtig neugierig«, sagte er. »Was war das denn für ein Buch, das dich so gefesselt hat, daß du es fertiggebracht hast, nicht nur Schreie und Gebrüll und Gedränge zu ignorieren, sondern auch eine Schlägerei, die damit endete, daß ein Mensch einen Bierkrug auf den Schädel bekam und starb?«

»Starb?«

»Ja, er starb. Er verblutete am Tatort. Mir nichts dir nichts. Er verlor zwei Liter Blut in zwanzig Sekunden. Es schoß nur so aus ihm heraus. Alle Adern öffneten sich sperrangelweit. Er hieß Anders Lundström, kam aus Kalmar und hatte sich aus unerfindlichen Gründen ins Kvarnen verirrt, was wohl für einen Fan der gegnerischen Mannschaft ungefähr gleichbedeutend damit ist, in die Hölle zu geraten. Und tatsächlich töten ihn die Byenfans mit einem Bierkrug. Und von dem allen bekommst du nichts mit, weil du welches Buch gelesen hast? Das interessiert mich wirklich.«

Per Karlsson sah angeschlagen aus. Er murmelte: »Keins, das Sie kennen …«

»Try me«, sagte Paul Hjelm mit New Yorker Akzent.

Kerstin Holm bewegte sich zum ersten Mal, seit Per Karlsson das Vernehmungszimmer betreten hatte. Lautlos glitt sie zum Tisch und ließ sich neben Hjelm nieder. »Der Kollege hier weiß mehr über Literatur, als du glaubst«, sagte sie. »Als wir uns zuletzt gesehen haben, das war vor fast einem Jahr, da hast du, war es Kafka, gelesen?«

»K«, sagte Paul Hjelm mehrdeutig.

Kerstin Holm ließ ein kurzes, ein wenig bitteres Lachen hören.

»K«, bekräftigte sie mit New Yorker Akzent. »So try him.«

Der junge Mann sah verwirrt aus. Die schwarze Kleidung mitten im Hochsommer. Das ungepflegte, zottelige blonde Haar. Ein Intellektueller in spe? Nein, eher nicht. Der flackernde, gleichsam verwundete Blick. Das introvertierte Lächeln. Absolut kein Student von der Uni. Vielleicht tatsächlich ein junger Mann, der nur las, um sich zu bilden.

Eine Rarität.

»Ovid«, sagte die Rarität. »Ovids Metamorphosen.«

Paul Hjelm lachte laut. Er wollte das gar nicht. Per Karlsson zu verhöhnen war das letzte, was er im Sinn hatte. Und doch lief es darauf hinaus. Das passierte ihm immer öfter.

Die Insignien der Bitterkeit.

Verbiestert.

Hjelm verspürte einen kurzen, glücklicherweise rasch vorübergehenden Haß auf sich selbst.

Kerstin Holm sprang für ihn ein. »Es wurde wirklich eine Metamorphose. Für Anders Lundström aus Kalmar. Die ultimative Metamorphose. Die Verwandlung der Verwandlungen. Welche von Ovids Metamorphosen paßt auf das Schicksal von Anders Lundström, Paul? Orpheus?«

»Sicher«, sagte Hjelm gedehnt. »Orpheus, der von den trakischen Bacchantinnen in Stücke gerissen wird.«

Per Karlsson starrte sie an, plötzlich vollkommen außer sich. »Nein«, sagte er. »Nein, nicht Orpheus.«

Hjelm und Holm sahen sich mit einer gewissen Verwunderung an. »Jaja«, sagte Hjelm schließlich. »Wir wissen also, daß dein kleines ›ich habe nichts gesehen‹ eine Lüge ist. Es macht hiermit eine Metamorphose durch. Erzähl jetzt, was du gesehen hast, Per, von Anfang an. Von jetzt ab ist dies ein regelrechtes Verhör. Du heißt also Per Karlsson, bist am 12. April 1979 in Danderyd geboren, bist wohnhaft in Aspudden, hast eine neunjährige Schulausbildung und bist arbeitslos. Ist das korrekt?«

»Ja«, sagte Per Karlsson tonlos.

»Wir haben heute den 24. Juni, es ist acht Uhr dreizehn. Erzähl jetzt alles, was du am 23. Juni, also gestern abend, um einundzwanzig Uhr zweiundvierzig im Restaurant Kvarnen in der Tjärhovsgata gesehen hast.«

Per Karlsson sah ein bißchen blaß aus. Er starrte auf den Tisch und spielte mit seinen Fingern. »Nehmen Sie das hier auf?«

»Alles ist aufgenommen worden, seit du den Raum betreten hast. Und dies hier auch.«

»Ja, also, als ich ins Kvarnen kam, waren nicht viele Leute da. Ich hatte keine Ahnung, daß an dem Abend ein Spiel war, sonst wäre ich bestimmt nicht dahin gegangen. Es war ruhig. Ich las. Dann kamen sie rein. Die ersten Fans kamen kurz nach neun, und von da an wurde es immer voller. Ich versuchte weiterzulesen. Es ging ganz gut. Ich kann mich gut konzentrieren. Ich saß ein bißchen abseits, mit dem Rücken zum Tresen, fast ganz vorne am Fenster, also hörte ich mehr, als daß ich etwas sah. Aber natürlich habe ich mich dann und wann umgedreht.«

»Warum hast du gesagt, du hättest nichts gesehen?« fragte Kerstin Holm.

Paul Hjelm sagte: »Ist es so, daß man automatisch, wenn man mit der Polizei redet, antwortet: ›Ich habe nichts gesehen‹? Ist es schon soweit gekommen?«

»Jedenfalls ist das die häufigste Antwort, die wir bekommen.«

»Soll ich weiterreden?« fragte Per Karlsson verwirrt.

»Selbstverständlich«, sagten Hjelm und Holm im Chor.

Jalm and Halm, das berühmte amerikanische Komikerpaar.

»Eine Gruppe Byenfans von sechs, sieben Mann hörte, wie eine andere Gruppe, vier Jungs vielleicht, småländisch redete. Beide Gruppen standen am Tresen. Die Byenfans fingen mit den Småländern Streit an, die sagten, sie wohnten in Stockholm und wären für Hammarby. Man konnte hören, daß sie Angst hatten. Und daß sie logen. Die Byenfans hörten auch, daß sie logen. Sie wurden immer aggressiver. Zwei von den Småländern konnten sich dünnemachen und zogen Leine. Zwei blieben zurück. Die Stimmung wurde unangenehm. Es kamen noch ein paar Byenfans hinzu und versuchten, die andere Gruppe wegzuziehen. Sie sahen wahrscheinlich, was sich da anbahnte. Schließlich versuchte einer der Småländer abzuhauen. Er gab einem der Hammarbyer im Hintergrund einen Stoß, so daß der hinfiel. Da drückten drei aus der Gruppe den Jungen gegen den Tresen, und der, der hingefallen war, stand auf, riß einen Bierkrug an sich und schlug ihn dem Jungen mit voller Wucht auf den Schädel.«

»Hast du das gesehen?«

»Nein, nicht richtig. Ich hab immer mal wieder hingesehen, mich kurz umgedreht. Aber ich hörte es. Ich habe mich umgedreht, als ich den Schlag hörte. Ein verflucht häßlicher dumpfer Knall. Nicht wie wenn Glas zerbricht eigentlich, ich nehme an, es war der Schädel, der zertrümmert wurde. Scheiße, der Schädel, die Adern. Ich wandte mich genau in dem Moment um, als das Glas getroffen hatte. Es war ein kleiner freier Raum um ihn entstanden. Er hielt die Hände an den Kopf. Und das Blut lief nur so, durch die Finger, die Arme hinunter. Pfui Teufel. Und dann fiel er, sackte einfach zusammen und auf den Boden. Und die Byengang machte direkt ‘nen Abgang. Sie liefen schnurstracks zur Tür und raus. Der es getan hatte, hielt noch den Griff des Bierkrugs in der Hand, vollkommen blutig. Ein ganzer Haufen konnte sich verdrücken, bevor die Türsteher reagierten und die Tür blockierten. Dann kam ziemlich schnell die Polizei. Der zweite Småländer lag auf dem Fußboden und versuchte, mit seinem Pulli das Blut zu stoppen, ein Hammarbyer versuchte zu helfen, glaube ich, aber es war hoffnungslos. Überall war Blut.«

Per Karlsson war weiß.

Hjelm und Holm versuchten, die Informationen zu ordnen. »Dafür, daß du nichts gesehen hast, hast du ziemlich viel gesehen«, sagte Hjelm.

»Regen Sie sich doch deswegen nicht auf«, meinte Per Karlsson mürrisch.

»Ein ganzer Haufen konnte sich verdrücken?« sagte Holm. »Hammarbyer?«

»Hauptsächlich Hammarbyer. Auch ein paar andere.«

»Wie viele?«

»Ich hab vor allem das Opfer angesehen.«

Das Opfer.

Hjelm schauderte es.

Per Karlsson sagte: »An die zehn Hammarbyer haben sich verdrückt, würde ich sagen. Und er als erster. Der Täter.«

Der Täter.

Diese Pseudoterminologie, die in die Sprache einfloß, um das Individuelle zu überdecken. Der Zeuge. Das Opfer. Der Täter.

»Mit dem Griff des Bierkrugs in der Hand?« fragte Holm.

»Ja«, sagte Per Karlsson.

»Diesem hier?« sagte Hjelm und hielt einen Plastikbeutel mit dem Griff eines Bierglases in die Höhe. Er war blutig. Geronnenes Blut klebte an der Innenseite des Beutels.

Per Karlsson rümpfte die Nase und nickte.

»Wir haben ihn ein Stück entfernt in der Folkungagata gefunden. Er muß also um die Ecke gelaufen sein, am Hotel Malmen und am U-Bahneingang Medborgarplatsen vorbei. Die Fingerabdrücke sind nicht in unseren Registern. Es ist also von höchster Wichtigkeit, daß du uns helfen kannst, den … Täter zu identifizieren. Du hast nichts davon gehört, daß darüber geredet wurde, wohin er verschwunden sein könnte?«

»Nein«, sagte Per Karlsson.

»Wir gehen noch mal ein paar Schritte zurück«, sagte Kerstin Holm. »Wie viele haben sich verdrückt, bevor die Türsteher die Tür blockierten? An die zehn Hammarbyer, sagst du, aber auch andere?«

»Das nehme ich an. Ein paar, die an dem Tisch neben der Tür gesessen hatten, waren verschwunden. Und noch ein paar andere.«

»Du verstehst, daß wir Verschwundene suchen, unparteiische Zeugen. Die an dem Tisch gleich bei der Tür saßen, waren also keine Byenfans?«

»Nein, sie waren schon vorher da, als das Spiel noch lief. Aber zwischen da, wo ich saß, und ihrem Tisch standen ein paar Tische. Und die wurden ziemlich schnell besetzt. Es war eine Clique von fünf Mann. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, blieb einer von ihnen sitzen. Einer mit rasiertem Kopf und blondem Schnauzbart.«

»Aber sie verschwanden also nach … der Tat?«

»Ich glaube ja.«

»Wie sahen sie aus. Eine Gruppe von Arbeitskollegen?«

»Vielleicht. Ich habe es nicht so genau gesehen. Sie redeten nicht direkt miteinander.«

»Redeten nicht? Wieso, lasen sie Ovids Metamorphosen?«

»Sehr witzig. Sie haben doch einen von ihnen. Den mit dem rasierten Schädel. Fragen Sie den doch.«

»Okay. Andere? Du hast also am vorletzten Tisch zum Fenster hin und am vorletzten zur rechten Wand hin gesessen, vom Tresen aus gesehen. Diese Gruppe saß ganz links, auf der anderen Seite des Gangs. Und die Tische dazwischen?«

»Wie gesagt, sie füllten sich schon, bevor die Byenfans kamen. Soweit ich mich erinnere, gab es keine Sitzplätze für die Hammarbyer mehr, außer neben mir. Eine Gruppe setzte sich an meinen Tisch. Ein paar von ihnen sind nach der Tat abgehauen.«

»Und vor dem Fenster zur Tjärhovsgata hin? Das war doch die Richtung, in die du geguckt hast, oder?«

»Eine Frauenclique. Sie hatten die beiden Tische ganz in der Ecke besetzt. Junggesellinnenfete, glaub ich. Im Endstadium. Sie waren ziemlich betrunken – und hinterher total geschockt. Von denen kam keine raus. Die konnten ja kaum noch aufrecht gehen.«

»Andere? Direkt neben dir? An der rechten Wand?«

»Weiß nicht. Daran kann ich mich nicht erinnern.«

»Du kannst dich nicht erinnern? Du scheinst dich ansonsten ziemlich gut erinnern zu können.«

»Tut mir leid. Ich weiß es nicht. Es können welche da gesessen haben. Aber in die Richtung habe ich nicht geguckt.«

»Okay. Und in deinem Rücken? Zum Tresen hin? Du hast dich ja ein paarmal umgedreht?«

»An einem Tisch saß ein Mann allein und starrte mich an. Gleich am Tresen. Zwei Meter groß. Um die Fünfzig. Schwuler, würde ich tippen. Aber seinen Namen haben Sie ja. Er blieb da. Und war wohl am allernächsten dran am Geschehen. An die übrigen Tische erinnere ich mich nicht so gut. Eine Clique Sänger- oder Künstlertypen, die dablieben. Zwei Paare mittleren Alters. Und von den Tischen weiter drinnen habe ich keine Ahnung.«

Per Karlsson verstummte. Auch Hjelm und Holm schwiegen.

Schließlich sagte Kerstin Holm: »Also fassen wir zusammen. Wir zeichnen eine kleine Skizze. Der Tatort, die Theke also, befindet sich im Innern des Lokals, an der der Tür gegenüberliegenden Wand. Direkt vor der Theke stehen ein paar Tische, die in den Raum hineinragen. Von denen weißt du nichts, du warst zu weit weg. Nach außen hin sieht es von der Theke gesehen so aus. Gegenüber die Fenster zur Tjärhovsgata. Links die Tür. Neben der Tür ein einziger längsstehender Tisch. Dann der Gang, dann dreimal drei ziemlich große Tische, an dem mittleren ganz außen hast du gesessen, mit dem Blick zum Fenster. Bevor kurz nach neun die Byenfans hereinströmten, waren folgende Personen im Lokal. Die Tischreihe am Fenster: an den beiden Tischen rechts die Junggesellinnenclique. Dann, am Fenstertisch gleich neben der Tür …?«

»Das weiß ich nicht. Es saßen ein paar Leute da, aber wer, kann ich nicht sagen. Sie blieben auf jeden Fall nachher da.«

»Jetzt die mittlere Reihe, die Tischreihe, in der du gesessen hast.«

»Rechts außen weiß ich nicht, wie gesagt. Dann ich – und nach einer Weile sieben, acht Byenfans. Am Tisch links von mir saß eine Gruppe Studenten, glaube ich.«

»Und die Reihe, die dem Tresen am nächsten liegt?«

»Herrgott. Jaja. Der erste Tisch, ganz rechts, unmittelbar am Tresen: diese beiden Paare und der lange Schwule, der mich anstarrte. Am zweiten Tisch: die Künstlertypen, vier Stück. Am dritten Tisch: keine Ahnung. Und dann der allein stehende Tisch neben der Tür: die Gruppe von fünf Mann, von denen vier abgehauen sind.«

»Na dann«, sagte Hjelm. »Kommen wir jetzt zum Täter.« Er verspürte eine gewisse Befriedigung darüber, das Wort ausgesprochen zu haben, ohne vorher eine Pause zu machen.

»Eigentlich fielen mir in erster Linie die Hammarbyhalstücher auf«, sagte Per Karlsson. »Einer hatte auch eine Fahne, eingerollt, grün-weiß kariert. Der Täter hatte halblanges, ziemlich blondes, ziemlich schmuddeliges Haar. Ich habe ihn fast nur von hinten gesehen. Ich glaube, er hatte auch ein kleines Ziegenbärtchen. Ich weiß nicht, Autobastlertyp, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich bin in Danderyd geboren und aufgewachsen, und er war so einer, den man da draußen auf Anhieb als südliche Vororte klassifizieren würde. Typ Farsta.«

Hjelm und Holm starrten ihn an.

»Vorurteile, ich weiß«, sagte er. »Jetzt wohne ich selbst in den südlichen Vororten. Arbeitslos und ohne Ausbildung in den südlichen Vororten. Das sind Vorurteile, aber besser kann ich ihn nicht beschreiben.«

»Nein, noch etwas«, sagte Kerstin Holm. »Komm mit zum Polizeizeichner. Der arbeitet inzwischen am Computer, es geht also ziemlich schnell.«

Sie stand auf. Per Karlsson stand auf. Sie war größer als er, konstatierte Hjelm sinnloserweise.

»Und sonst fällt dir nichts mehr ein, Per?« sagte er.

Per Karlsson schüttelte den Kopf und warf ihm einen versteckten Blick zu. Diese eigenartige, widersinnige Klarheit.

»Also dann. Danke für deine Hilfe.«

Sie verschwanden.

Paul Hjelm verschwand auch. In die schwebende, halbwirkliche Welt der Tagträume. Per Karlsson. Vor zwanzig Jahren in Danderyd geboren. Danderyd, ging aber nicht mal weiter aufs Gymnasium. Arbeitslos, aber saß in einer der bekanntesten und berüchtigtsten Kneipen von Söder und las römische Klassiker. Was mochte geschehen sein? Es war nicht möglich, sich eine Vorstellung zu machen. Außenseiter in der Schule? Aus Vaters Firma gefeuert? Geduckt und gedeckelt, aber im Begriff sich aufzurichten? Aufruhr gegen den Vater? Allgemein rebellisch? Ehemaliger Drogenabhängiger? Schwer von Begriff?

Nein.

Das andere vielleicht, doch dies nicht. Nicht schwer von Begriff. So viel hatte Paul Hjelm gesehen, obwohl er das Gefühl hatte – ja, schwer von Begriff zu sein.

Degradiert zum trostlosen Limbo der Kneipenprügeleien.

Paradise lost.

Nein, nicht schwer von Begriff. Im Gegenteil, ungewöhnlich aufgeweckt. Und jetzt mußte er aus dem Bewußtsein verbannt werden. Jetzt würden sie sich durch betrübliche Katerverhöre hindurchkämpfen, also mußte Per Karlsson auf andere Erinnerungsbänke versetzt werden als die von Hjelm. Nur seine Aussage durfte bleiben.

Hjelm gähnte, seine Gedanken rollten weiter. Die Monate bei der Ordnungspolizei. Die Abteilung für Gewaltverbrechen im Polizeibezirk City. Bergsgatan. Das höchst vorläufige Dienstzimmer, von dem er ebenso vorläufig befreit war. Das eigentlich einem Polizeibeamten namens Gunnarlöv gehörte, der krank geschrieben war und an dessen Telefon er sich immer mit »Apparat Gunnar Löv, Paul Hjelm« gemeldet hatte. Erst als ein alter Kollege von Gunnarlöv, der jetzt in Härnösand stationiert war, hereinkam und nach Ekel-Nisse fragte, begriff er, warum am Telefon immer eine Pause entstand, wenn er sich meldete. Die Leute mußten sich erst von seiner eigentümlichen Aussprache des Namens Gunnarlöv erholen. Er machte große Augen, als er den Namen im internen Telefonverzeichnis nachschlug und ihn dort gedruckt sah: Nichts von wegen »Gunnar Löv«, sondern »Nils-Egil Gunnarlöv« stand da. Ekel-Nisse.

War ein solcher Name überhaupt erlaubt? Gab es nicht Gesetze? War das nicht das gleiche wie ein Kind auf den Namen Heroin zu taufen, was eine Großfamilie in Gnesta vor einiger Zeit versucht hatte, Heroin Lindgren? Aus irgendeinem Grund war der Name abgelehnt worden, und die Familie hatte eine ganze Serie von Leserbriefen in der Lokalpresse geschrieben, in denen sie gegen die Bevormundungsgesellschaft Sturm liefen.

Gunnarlöv war jedenfalls krank geschrieben, weil er sich während seiner Arbeitszeit in der Filiale der Föreningssparbank am Stureplan befunden hatte, als eine hysterische Bankräuberin von vierzehn Jahren mit hocherhobener Tuckerpistole hereinstürmte und, Zitat, »sämtliche Aktien mit hoher Verzinsung auf einem Tablett« verlangte. Gingen Tuckerpistolen nicht mit Starkstrom? dachte Gunnarlöv und trat auf die Bankräuberin zu, um sie in aller Bescheidenheit auf diesen Umstand hinzuweisen, worauf er zu seiner Verblüffung nicht weniger als vierunddreißig Heftklammern ins Gesicht bekam, schön verteilt. Wunderbarerweise traf keine davon seine Augen. Das erste, was er sagte, als er aus der Bewußtlosigkeit aufwachte, war: »Gehen Tuckerpistolen nicht mit Starkstrom?« Seine Frau starrte mit rotgeweinten Augen auf seinen bandagierten Schädel und antwortete: »Es gibt auch welche mit Akku.«

Die Geschichte von Nils-Egil Gunnarlövs Geschicken und Abenteuern.

Ekel-Nisse im Wunderland.

Nun ja, Paul Hjelms Geschichte war auch nicht gerade viel erhebender. Im Gegenteil, weil nämlich die Geschichte von Ekel-Nisse immerhin gewisse bizarre Pointen in sich barg.

Kerstin Holm kam zurück, sie blätterte in einem Notizblock.

»Willkommen in der Wirklichkeit«, sagte Hjelm schroff.

»Die sieht in Göteborg nicht viel anders aus.«

»Schwedens Scheißloch.«

»Sag mal, was quatschst du denn da?« stieß Kerstin Holm in ihrem gutmütigen Göteborger Dialekt aus.

»Nein, Entschuldigung. Nein, nein. Es war nur was, das vor ein paar Wochen durch die Medien ging. Black Armys Anrufbeantworter vor dem Pokalfinale von Göteborg gegen die Blauweißen im Ullevi-Stadion. Stockholmer Überheblichkeit und die Animosität zwischen Fußballfans in einer unguten Mischung.«

»Jaja, und jetzt haben wir es wieder. Stockholmer Überheblichkeit und die Animosität unter Fußballfans. Das gröbere Modell. Hast du ihn gesehen?«

»Anders Lundström aus Kalmar? Ja. Verdammt scheußlich. Der Kopf war ein einziger Matsch. Daß ein Bierkrug so viel Schaden anrichten kann.«

»Aber warum? Was war der Grund?«

Paul Hjelm sah Kerstin Holm an. Die beiden hatten eine gemeinsame Vergangenheit, die bewirkte, daß kein Blick zwischen ihnen unschuldig war.

»Meinst du das ernst?« fragte er, halb im Ernst.

»Ja. Doch, ich mein es ernst. Ich meine es wirklich ernst. Warum eskaliert die Gewalt?«

Er seufzte. »Ja du. Jetzt hat man es jedenfalls mal aus nächster Nähe gesehen. Ein gutes halbes Jahr schon. Die graue alltägliche Gewalt in der City. Es trägt nicht gerade dazu bei, die philantropischen Neigungen zu fördern. Bist du jetzt endgültig wieder hier, Kerstin?«

»Ich war ausgeliehen. Du weißt doch, wie es mit Fußballspielern ist, die ausgeliehen werden. Irgendwas stimmt nicht mit ihnen. Jetzt bin ich nicht mehr ausgeliehen.«

»Für immer also? Und wie war es, wieder zu Hause zu sein im Göteborgischen?«

»Dies hier ist jetzt zu Hause, so viel ist mir klargeworden. Aber das ist wohl auch alles.«

»Aber das Leben ist okay?«

»Genau. Okay. Nicht mehr und nicht weniger. Unter Kontrolle. Ein bißchen mehr könnte es schon sein …«

»Ich verstehe. Bei mir ist es das gleiche. Ich glaube, ich stecke in einer Krise, so um die Vierzig. Sollte nicht noch was kommen? War das schon alles? Du weißt.«

»Ich glaube schon.«

»Aber man muß das Beste daraus machen. Wir sind wieder zusammen, und jetzt werden wir eine perfekte Rundum-Lösung dafür liefern, was in den Medien schon unter der Bezeichnung ›der Kvarnenmord‹ läuft. Oder?«

Kerstin Holm kicherte und schob sich einen Priem unter die Oberlippe.

»Was soll denn das sein?« sagte Hjelm und zeigte darauf.

»Lebenserneuerung«, sagte Kerstin Holm, ohne eine Miene zu verziehen. Dann bog sie auf einen anderen Pfad ein – den der Erinnerung: »Was ist mit den anderen? Mit Gunnar habe ich die ganze Zeit Kontakt gehabt, und ihm geht es ja gut.«

»Ja. Doch, unser Freund Gunnar Nyberg … Er blieb ja als einziger beim Reichskriminalamt. Die Belohnung dafür, daß er sich weigerte, an der Endphase der Jagd auf den Kentuckymörder teilzunehmen. Und so landete er mitten in diesem Pädophilendschungel. Pedo University.«

»Ich kann ihn vor mir sehen«, lächelte Kerstin Holm und blätterte in ihrem kleinen Notizblock. »Er hat gerade den Kontakt zu seinen Kindern und zu seinem einjährigen Enkelkind wiederaufgenommen, und genau in dem Moment bricht die Pädophilenwelt des Internets über ihn herein. Eine Lokomotive unter Volldampf.«

»Bestimmt.«

Zwei Bilder auf zwei Netzhäuten. Sicher zum Verwechseln ähnlich. Ein prustender Riese mit bandagiertem Schädel, der Pädophile mit der Lötlampe jagt.

»Jaja«, sagte Hjelm grimmig. »Wir anderen haben unsere kleinen Strafen bekommen. Böses Blut kehrt wieder.«

»Das wollten wir nie wieder sagen.«

»Recht hast du. Nie wieder.«

»Und die anderen?«

»Seit der Auflösung der A-Gruppe habe ich nicht viel Kontakt zu ihnen gehabt. Ich war ja der einzige, der ausgeliehen wurde und den tristen Weg zur Ordnungspolizei antreten mußte. ›Gunnar Lövs Apparat‹. Bestrafung. Ich glaube, ganz im Innersten hielten sie mich für verantwortlich für die Panne mit dem Kentuckymörder. Aber Jan-Olov wurde der Sündenbock.«

»Hast du mit ihm noch Kontakt?«

»Nein. Er verschwand einfach. Unfreiwillig pensioniert. Der pensionierte Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin. Ich glaube, er hörte sogar auf, Fußball zu spielen. Das Märchen von Holzbein-Hultin ist aus. Söderstedt und Norlander sind bei der Provinzialpolizei gelandet, Abteilung für Gewaltverbrechen. Und Chavez hat sich weitergebildet.«

»Polizeihochschule?«

»Ja. Die Karrierepläne rollen weiter. Gibt es immer noch Kommissarkurse? Falls ja, hat er so einen gemacht.«

»Und unsere Räume? Die ›Kampfleitzentrale‹?«

»Ich glaube, die sind von Verwaltungspersonal übernommen worden.«

Sie schwiegen eine Weile und betrachteten einander. Wirklich alles hatten sie zusammen gemacht … Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Hände in einem flüchtigen Händedruck. Dann mußte es genug sein. Sie hatten viel Arbeit vor sich. Kerstin Holm blätterte ihren Notizblock durch. Paul Hjelm überflog die mediokren Kurzverhörprotokolle des Nachtpersonals. Gemeinsam betrachteten sie die kleine Skizze des Restaurants Kvarnen.

»Sie warten draußen«, sagte Kerstin und seufzte.

»Jaja. Der Nächste bitte«, sagte Paul und seufzte ebenfalls.

2

Himmel.

Wie lange war es her, seit er den gesehen hatte?

In Schweden gibt es fünfundfünfzig Gefängnisse mit über viertausend Plätzen. Sie sind in vier Sicherheitsstufen eingeteilt. Stufe IV sind offene Anstalten, Stufen I bis III geschlossene. Stufe I sind die sichersten Gefängnisse mit den gefährlichsten Gefangenen, und davon gibt es drei in Schweden: Hall, Tidaholm und Kumla.

Und jetzt sah er den Himmel, im Ernst, ohne Gitter. Und er blickte zurück zu den Toren, die sich hinter ihm schlossen, und für einen Moment hatte er das Gefühl, als verließe er seinen Körper und würde eins mit dem Himmel und sähe die ganze Ebene unter sich, die ganze Närke-Ebene mit ihren rechteckigen grünen, braunen, gelben Feldern, und die Anstalt sah aus wie zwei quadratische Felder inmitten aller anderen Felder.

Die Mauern waren gar nicht zu sehen.

Die Perspektive löste sie auf. Dann war er wieder unten.

Auf festem Boden.

Mit den Füßen auf dem Boden.

Er wandte sich noch einmal um. Die Mauern waren vollständig kahl. Nichts dahinter. Nichts, was aufragte. Nur Mauern. Grau. Graue Mauern.

Er setzte sich in Bewegung. Ein Lächeln spielte um einen Mundwinkel.

Er ging zu dem Van. Der dastand und auf ihn wartete. Brummte. Das Geräusch der Freiheit. Die Freiheit in Form eines grünmetallicfarbenen Vans.

Er hielt inne. Blieb einen Moment stehen. Leichter, warmer Sommerwind an seinen frischrasierten Wangen. Die Sonne. Morgendliche Hitze. In der Ferne flimmerte der Asphalt.

Er blickte zu dem Wagen hinüber. Die Hände, die herausgestreckt wurden, winkten. Noch kein Geräusch. Die Geräusche erreichten ihn nicht. Die Bewegungen dort drinnen. Wie ein Embryo. Ein Ei, das ausgebrütet wird. Konservierte Bewegungen. Zukünftige Ereignisse. Viele schnelle Schritte in einem Punkt gesammelt.

Schritt eins. Die Brieftasche heraus. Lumpige Scheine. Dreivierzig pro Stunde als Basislohn. Aber auch eine kleine Platte. Sie sah aus wie ein Taschenrechner im Visitenkartenformat.

Er zog sie heraus. Wog sie in der Hand. Hielt sie in Richtung des Wagens hoch.

Das Winken hörte auf. Das Geräusch verschwand, bevor es ihn erreicht hatte. Die zukünftigen Bewegungen wurden angehalten.

Ein einziger Knopf, leicht erhaben. Rot. Gleichsam leuchtend.

Er drückte darauf, lächelte schwach und kletterte in den Wagen.

Hinter den Mauern schoß eine Stichflamme auf.

Hoch, hoch zum Himmel hinauf.

Nicht mehr nur Mauern im Rücken.

Als der Van beschleunigte, hatte das Geräusch ihn noch nicht erreicht.

3

»Sie sitzen also im Vorstand des Hammarby-Fanclubs?«

Der Mann war um die Dreißig und blinzelte, als blendete ihn das Licht in dem verdunkelten Vernehmungsraum. Hinter der Tätigkeit des überaus aktiven Brummschädels lief indessen eine andere Tätigkeit ab. Die der Wachsamkeit. Das Gefühl, stets und ständig auf der Anklagebank zu sitzen. »Ja«, sagte er schließlich.

»Was sind eigentlich die Byenfans?« fragte Kerstin Holm.

»Auf jeden Fall keine gewalttätige Organisation.«

»Das hat auch niemand behauptet. Ganz und gar nicht. Aber ein Hammarbyanhänger hat in einem bekannten Hammarbytreffpunkt im Beisein mindestens eines Vorstandsmitglieds des Byen-Fanclubs ein schreckliches Gewaltverbrechen begangen. Deshalb ist es vielleicht nicht völlig aus der Luft gegriffen, daß wir fragen.«

Er blickte mürrisch vor sich hin und schwieg. Schaute hinüber zu Hjelm, der versuchte, einen wachen Eindruck zu machen.

»Ich weiß ungefähr, was es ist«, sagte Hjelm. »Eine unabhängige Zuschauervereinigung. Ist Anfang der achtziger Jahre aus dem harten Kern der Hammarbyzuschauer hervorgegangen.

»Genau«, sagte der Mann mit spürbarem Stolz. »Wir organisieren die Fahrten zu den Auswärtsspielen und haben Donnerstagabend und zwei Stunden bis eine halbe Stunde vor den Heimspielen das Clublokal geöffnet. Wir sind diejenigen, die dafür sorgen, daß es nicht ausartet. Wir stehen verdammtnochmal für den einzigen farbenfrohen Karneval in diesem angegrauten Land, und deshalb werden wir unmittelbar verdächtigt.«

»Nicht Sie als Gruppe werden verdächtigt, sondern Sie persönlich, Jonas Andersson aus Enskede, Sie höchstpersönlich. Sie werden verdächtigt, uns die Identität des Totschlägers vom Kvarnen vorzuenthalten.«

»Des Totschlägers vom Kvarnen …«

»Das ist der Name, den Aftonbladet ihm gegeben hat, Sie wissen sehr wohl, wem.«

Jonas Andersson aus Enskede begegnete Hjelms Blick, ohne zu zaudern. »Ich habe verflucht noch mal selbst da gesessen und einen Pulli an den zermatschten Schädel des Jungen gepreßt. Ich wußte gleich, daß wir die Schuld bekommen würden. Jetzt geht die Hetzjagd wieder los.«

»Haben Sie den Täter gesehen?«

»Nein.«

»Wo befanden Sie sich?«

»Mit ein paar Kumpels an der Wand, ein Stück von der Tür entfernt. Es war ein Heidenlärm und brechend voll, und ich habe nichts gesehen.«

»Sie haben nichts gesehen?«

Hjelm hängte die Schuhe an den Nagel. Es war das vierte Mal heute, daß er genau diese Worte sagte. Kerstin Holm sah, wie er das Handtuch warf, und nahm den verlorenen Staffelstab auf.

»Wir machen es uns einfach«, sagte sie und schob Jonas Andersson aus Enskede ein Blatt Papier über den Tisch. »Hier ist eine Skizze des Lokals. Wann kamen Sie, und wo sahen Sie was?«

»Ich stand hier, an derselben Wand wie die Tür, zusammen mit so zehn Leuten, die auf Sitzplätze etwas weiter in der Ecke warteten. Wir kamen gegen Viertel nach neun und waren wohl schon nicht mehr ganz nüchtern. Und wir standen da an der Wand und warteten.«

»Okay, war die Gruppe an der Theke da schon gekommen?«

»Es war wahnsinnig voll an der Theke. Ich weiß es nicht. Ich schwöre, daß ich es nicht weiß. Es war so ein Gedränge, und Lärm, und nur Gelaber. Nebelschwaden von Enttäuschung. 2:2 zu Hause gegen Kalmar. Der letzte Platz zementiert. Alle waren ziemlich gefrustet. Und plötzlich wird es ein paar Sekunden lang total still. Es entsteht sozusagen ein kleines Loch in der Masse. Und er liegt da. Mit zermatschtem Kopf. Ich lief hin und half dem Jungen, den Pulli gegen den Schädel zu pressen. Darunter weich. Verdammt scheußlich. Das einzige, was ich sah, war eine ganze Gruppe, die zum Ausgang stürmte.«

»Eine ganze Gruppe?«

»Bestimmt. Mindestens zwanzig Leute entwischten, bevor die Trottel von Türstehern reagierten. Wahrscheinlich saßen sie da und kifften.«

»Zwanzig Byenfans?«

»Auch andere. Jemand kam sogar noch raus, als die Türsteher am Platz waren. Hat sich wohl rausgeredet. Aber ich hab es nicht richtig gesehen.«

»Was Sie gesehen haben, war also wie eine Sturzflut in Richtung Ausgang?«

»Das kann man wohl sagen. Ein bißchen unerwartet. Man reagiert ja im allgemeinen so wie diese aufgedonnerte Brautclique in der Ecke. Panikschreie und so. Aber es waren ziemlich viele, die direkt einfach hinausstürzten.«

»Okay. Können Sie versuchen, das mal anhand der Skizze zu zeigen?«

Jonas Andersson holte tief Luft und stöhnte. Dann begann er, ein bißchen vage auf der Skizze zu zeigen. Er fing mit der Tischreihe am Fenster an. »Die Junggesellinnenclique an zwei Tischen unten in der Ecke. Drei von ihnen kriegten Panikanfälle. Der dritte Tisch, der Tür am nächsten: eine Gruppe Computerheinis. Sie waren nachher alle noch da. Die nächste Reihe: in der Mitte ein paar Byenfans neben einem kleinen Typ, der dasaß und las. Stur in sein blödes Buch vertieft. Auf der einen Seite, an der Wand, eine Gang Jugos. Auf der anderen Seite, uns am nächsten, eine Gang Studis. Dann, in der Reihe am Tresen: die Steintunte. Zwei Paare, die einen Tisch verstopften, und die Steintunte dazwischengequetscht am selben Tisch. Am Tisch daneben: die Alkis. Zu unserer Seite hin ein bißchen gemischte Gesellschaft. Und dann der Tisch bei der Tür, hier an der Wand, neben uns, ein paar harte Typen, keine Skinheads, aber beinah. Die sind abgehauen. Außer einem.«

»Jetzt wird es kompliziert. Die harten Typen. Wie viele waren das?«

»Wir standen neben ihnen, versuchten, mit ihnen zu reden, aber sie sagten kein Wort, saßen ganz still und drückten uns weg, wenn wir ihnen zu nahe kamen, einer hörte sogar Musik. Allerdings nicht der, der dablieb. Kahler Schädel. Mit Schnauzer. Fünf. Fünf waren sie. Einer blieb.«

»Was noch? Die Steintunte? Die Alkis?«

»Aber die waren hinterher noch da. Die haben Sie. Die Steintunte ist Schwedens mutigste Tunte. Sitzt immer da und hält Ausschau unter den Fans. Wir haben uns dran gewöhnt. Aber diesmal starrte er nur den Kleinen mit dem Buch an. Die Alkis kannte ich nicht, aber sie waren typisch. Alkoholisierte Kulturfuzzis, die ihr Södermalm lieben. Haben bestimmt dreißig Jahre lang nichts Kulturelles geleistet.«

»Und neben dem Leser also ›eine Gang Jugos‹?«

»Ja, drei, vier Jugos. Jugoslawen. Sie redeten. Der Junge mit dem Buch saß genau daneben. Und wurde von den Byenanhängern noch näher an sie rangedrückt.«

»Woher wissen Sie, daß es Jugoslawen waren?«

»Sie sahen so aus. Und sie sind abgehauen. Alle zusammen.«

Kerstin Holm hielt inne. Übergab den Staffelstab.

Hjelm war wieder einsatzfähig. Hatte sich erholt. War wieder dienstwillig. »Die ›drei, vier Jugos‹ stürzten also zum Ausgang, unmittelbar nachdem Anders Lundström den Bierkrug über den Schädel bekommen hatte?«

»Ja, genau. Da war irgendeine krumme Sache am Laufen. Ganz klar.«

»Dafür, daß Sie nichts gesehen haben, haben Sie ziemlich viel gesehen«, sagte Hjelm mit einem leichten Déjà-vu-Gefühl.

»Ich sitze im Vorstand«, sagte Jonas Andersson und blickte auf. »Ich versuche immer, den Überblick zu haben. Es tut mir wirklich verdammt leid, daß ich Überblick über die falschen Sachen hatte. Ich will den Scheißkerl genauso kriegen wie Sie. Er hat Jahre von Goodwillarbeit kaputtgemacht.«

»Die Alkiliga«, sagte Paul Hjelm unbedacht zu vier leicht angegrauten Herren in abgetragenen Cordjacketts und mit wehenden Haarmähnen und weißgrauen Bärten verschiedenen Zuschnitts.

»Wie bitte?« sagte der Rechte.

»Was sagten Sie?« fragte der Linke.

Die beiden in der Mitte sahen aus, als wären sie von einem fröhlichen Amateur in einem Abendkurs ausgestopft worden.

Hjelm riß sich zusammen und rückte die Situation zurecht. »Hat einer der Herren etwas von dem gesehen, was die Alkiliga am Tresen im Verlauf des gestrigen Abends angestellt hat?«

»Leider waren wir zum angegebenen Zeitpunkt und am genannten Ort in absolut Wesentliches vertieft«, sagte der Linke.

»Darf man fragen, worin dieses Wesentliche bestand?«

»Natürlich darf man«, sagte der Rechte. »Was damit bekräftigt sein dürfte.«

»Eine sogenannte rhetorische Frage«, sagte der Linke.

Die beiden in der Mitte neigten sich jetzt bedenklich einander zu, als müßten die Säume gleich reißen, und die Füllung würde herausquellen.

»Jetzt mal im Ernst«, sagte Paul Hjelm.

»Wir sind der ›Kreis der Vreeswijk-Freunde‹«, sagte der Rechte. »Wir hatten unsere Jahreshauptversammlung.«

»Wir versuchen, ein Museum für Cornelis Vreeswijk mitten auf Medborgarplatsen auf die Beine zu stellen«, sagte der Linke. »Wir hoffen, die Muslime dazu überreden zu können, vom Minarett ›Hönan Agda‹ zu singen.«

»›Felicia adjö‹«, platzte der rechte Mittlere heraus.

»›Lasse liten blues‹«, meinte der linke Mittlere.

Daraufhin ging das Duo wieder auf die Bretter.

»Die multikulturelle Gesellschaft«, sagte der Rechte mit visionärem Glanz in den Augen.

»Haben Sie überhaupt etwas gesehen?«

Das Duo in der Mitte erwachte wieder zum Leben.

»Grimassen …«, sagte der mittlere Linke nüchtern.

»… und Telegramme«, vollendete der mittlere Rechte mindestens ebenso nüchtern.

»Sie haben also gestern abend im Kvarnen Grimassen und Telegramme gesehen?« sagte Paul Hjelm und begann, sich gedanklich mit seiner Pension zu beschäftigen. Doch der knallgelb-signalfarbene Umschlag mit Informationen über das neue Pensionssystem, der neulich in seinem Norsborgsreihenhaus durch den Briefschlitz auf den Fußboden geplumpst war, machte diese Gedanken unmöglich. Er hatte sich um einige Tausender im Monat verrechnet. Wie der Rest des schwedischen Volks in seiner Generation.

Das Mittelduo beugte sich synchron über den Tisch vor und unterbrach seine mißlaunigen Pensionsgedanken.

»1966«, sagte der mittlere Linke vertraulich.

»Unübertroffene Platte«, fügte der mittlere Rechte hinzu.

»Mein moralischer Sinn war hoch erfreut, so ambitiöse Pläne für einen Partnertausch zu vernehmen, wie sie am Nachbartisch ventiliert wurden«, sagte der Linke, während das Duo in der Mitte in sich zusammensank, als habe jemand die Fäden losgelassen.

»Und mein moralischer Sinn war ebenso hoch erfreut angesichts des multikulturellen Gesprächs, das am Tisch dahinter stattfand«, sagte der Rechte.

»Darf ich nur einmal dazwischenfragen, ob Sie wissen, warum Sie hier sind?« sagte Hjelm und überlegte, wohin Kerstin verschwunden war. Sich aus dem Staub gemacht hatte, war eine näherliegende Beschreibung.

»Ja, das dürfen Sie.«

»Nur zu.«

»Wissen Sie, warum Sie hier sind?« fragte Hjelm seidenweich.

»Leider nicht«, entgegnete der Rechte. »Wir nehmen es als gegeben hin, dann und wann polizeibehördlicherseits ausgefragt zu werden. Das liegt in der Natur unserer gesellschaftlichen Rolle.«

»Außenseiter«, meinte der Linke todernst und nickte.

»Sie wissen also nicht einmal, daß gestern im Restaurant Kvarnen ein Mensch getötet worden ist?«

Es verschlug ihnen tatsächlich die Sprache. Sie wechselten verwunderte Blicke über die Köpfe des inzwischen vollständig zu Boden gegangenen Mittelduos hinweg.

»Wir werden natürlich alles in unseren Kräften Stehende tun, um Sie bei Ihrer Tätigkeit zu unterstützen. Doch das von Ihnen erwähnte Ereignis ist uns leider entgangen.«

»Unmittelbar neben uns saßen zwei nicht mehr ganz blutjunge Paare, vertieft in eine immer lebhafter werdende Diskussion über einen Partnertausch. Und einen Tisch weiter ging der multikulturelle Austausch vor sich.«

»Darüber hinaus waren wir erfreut zu sehen, daß das Kvarnen an einem späten Mittwoch abend sowohl Platz für das Hören von Musik als auch für Lektüre bereithielt.«

»Ovid. Der blinde König, der seine Ehefrau ermordete.«

»Und dann seine Mutter. Eine bedeutende Gestalt.«

»Ich vermute, Sie meinen Ödipus, beziehungsweise Orest«, sagte Paul Hjelm.

»Ganz genau. Oder Ovid, wie er auch genannt wird.«

»Lokale Varianten.«

»Und wo wurde Musik gehört?«

»Ein ganzer Tisch an der Tür saß da und lauschte genußvoll, möglicherweise einem Jazzkonzert? Einer von ihnen hatte Ohrstöpsel.«

»Ich erkannte die Art des Zuhörens. Aufmerksam. Wie bei Jazz. Oder Chansons. Cornelis.«

»›Brevet från kolonin‹«, fuhr das Duo hoch, um auf der Stelle wieder in sich zusammenzusinken.

Hjelm starrte sie an, einen nach dem anderen, von links nach rechts. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er stöhnte einmal kurz und fixierte seine Notizen. ›Multikultureller Austausch‹ stand da in einer Krakelschrift, die nicht seine zu sein schien. »Warum nennen Sie das Gespräch, das hinter den Partnertauschern vor sich ging, multikulturell?« bekam er heraus.

»Es war eindeutig, daß es sich um einen Schweden im Gespräch mit südländischen Freunden handelte, beispielsweise Türken.«

»Oder Basken.«

»Basken?« entfuhr es Hjelm.

»Oder dergleichen. Indern, vielleicht. Wahrscheinlich Südmongolen.«

»Sie sprachen beide ein gebrochenes Englisch. Gesprächsfetzen drangen an unseren Tisch.«

»Englisch?«

»Und sie saßen direkt neben dem Lesenden?«

»Genau. Allerdings dann verschwanden sie.«

»Als die Tat sich ereignete«, konstatierte Hjelm.

»Was uns leider entging. Aber plötzlich waren sie alle verschwunden. Frauen schrien, meine ich mich zu erinnern. Das Paar kam um seinen Partnertausch herum, weil die Frauen plötzlich hysterisch wurden. Möglicherweise hätten wir darauf reagieren sollen.«

»Möglicherweise«, erlaubte Hjelm sich zu sagen. »Möglicherweise hätte das zu einem Augenblick des Nachdenkens gereichen sollen.«

»Doch, doch, ich habe ihn gesehen.«

Kerstin Holm und Paul Hjelm sahen sich an und wandten dann dem Mann mit dem rasierten Schädel und dem schütteren blonden Schnauzbart einen doppelt prüfenden Blick zu.

»Sie haben ihn gesehen?« sagte Holm. »Das haben Sie gestern abend im Kvarnen nicht gesagt. Zum Nachtpersonal der Södermalmpolizei haben Sie gesagt, ich zitiere: ›Ich habe nichts gesehen‹.«

»Es war spät, ich war müde und ein wenig angetrunken, und wir wollten gerade weiter. Die anderen waren schon draußen auf der Straße. Ich war noch drin und bezahlte. Es war meine Runde. Ich war ein bißchen sauer darüber, daß ich da im Kvarnen hängenblieb, während die anderen weiterzogen zur nächsten Kneipe, und deshalb habe ich nicht klar gedacht. Jetzt habe ich darüber nachgedacht. Und ich habe ihn gesehen.«

Der Kahle war an die Dreißig, trug einen recht eleganten hellen Anzug mit gelbem Schlips und war ein richtiges Kraftpaket. Hjelm fragte sich, ob die Jackenärmel eine Ausstellung von tätowierten Penissen verbargen. Er blätterte in den Papieren und fand den Auszug aus dem Strafregister für Eskil Carlstedt, 700217-1516, geb. in Bromma, Verkäufer, wohnhaft auf Kungsholmen. Es war leer. Nicht einmal das geringste Verkehrsdelikt.

Keine tätowierten Penisse.

»Okay«, sagte Kerstin Holm. »Was haben Sie gesehen?«

Eskil Carlstedt machte eine kurze Pause, saugte Luft ein wie ein Boxer Ammoniak, und legte los: »Wir hatten den Tisch direkt an der Tür. Ich saß mit dem Rücken zur Wand und starrte also auf den Tresen. Wir waren ziemlich früh da, gegen halb acht. Kurz nach neun strömten die Byenfans herein. Ein bißchen sauer, kaum aggressiv. Eine Gruppe bekam die letzten Sitzplätze, neben einem Jungen, der ein Buch las. Eine andere sammelte sich neben unserem Tisch. Dann kam diese Gang rein, sechs, sieben Leute. Die waren ein bißchen anders. Die Aggressionen waren spürbar, will ich mal sagen. Sie stellten sich an die nächste Seite des Tresens, von uns aus gesehen. Noch eine Gruppe kam und stellte sich ans hintere Ende. Zwischen diesen beiden Byengangs standen die Småländer. Vier Mann. Dann griffen sie sie an. Einer drückte dem größten der Småländer eine zusammengerollte Fahne ins Gesicht. Der verkrümelte sich zusammen mit einem Kumpel. Sie kamen raus auf die Straße. Aber zwei blieben da. Es gab einen Tumult. Einer der Småländer schubste einen Jungen um. Er kam langsam wieder hoch. Und plötzlich schlug er einfach zu. Ich bezahlte gerade. Die Kumpel waren ja schon gegangen, und die Kellnerin stand mir ein bißchen im Blick, deshalb konnte ich nicht richtig sehen, wie es geschah. Ich habe ihn gesehen, wie er vorbeilief. Den Griff des Bierkrugs hatte er noch in der Hand. Er hatte eine Jeansjacke an, Byen-T-Shirt, Byentuch, halblanges, schmuddeliges blondes Haar und einen kleinen Schnauzer.«

»Wie Ihrer?« fragte Hjelm.

Eskil Carlstedt starrte ihn gekränkt an. »Nein«, sagte er schließlich. »Überhaupt nicht. Bauernlippenschnauzer. Mechanikerschnauzer. Fieslingsschnauzer, mit Kautabaksaft gedüngt. Hing ein bißchen zum Kinn runter.«

»Würden Sie ihn erkennen, wenn Sie ihn wiedersähen?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Wie viele waren Sie?«

»Fünf.«

»Aber als die Türsteher die Tür blockierten, waren nur noch Sie da?«

»Die anderen waren vorher gegangen. Standen wohl draußen auf der Straße und warteten. Wir wollten zur nächsten Kneipe. Ich war zurückgeblieben, um zu bezahlen. Wie gesagt.«

»Wie mehrfach gesagt, ja«, sagte Kerstin Holm. »Und wer waren die Kumpels?«

Eskil Carlstedt breitete die Arme aus, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und strich sich über den glatten Schädel. »Einfach Kumpels. Eine Verkäufer-Clique. Wir gehen einmal die Woche zusammen aus. Reißen Bräute auf.«

»Und hören Musik«, sagte Paul Hjelm.

Carlstedt stöhnte. »Musik? Hören Sie mal, wie lange soll ich hier noch sitzen? Ich habe ein paar Stunden vor der Tür gewartet und habe noch einen Termin.«

»Uns liegen Zeugenaussagen vor, daß Sie schweigend zusammensaßen und daß mindestens einer von Ihnen Ohrstöpsel trug.«

Carlstedt warf ihm unter nicht vorhandener Stirnlocke einen Blick zu. Nachdenklich. Er überlegte. »Jaja, okay, jetzt verstehe ich. Doch, Kalle macht in einer Rockgruppe mit. Catwalks. Karl-Erik Bengtsson. Wir haben uns eine Demo angehört. Die können richtig gut werden. Haben schon einen Vertrag für eine CD.«

»Und Sie haben alle gehört?«

»Ich verstehe nicht, was das hier mit dem Totschlag zu tun hat.«

»Haben Sie alle gehört?«

»Ja. Wir hatten nur ein Gerät und mußten nacheinander hören.«

»Also gingen die Ohrstöpsel von einem zum andern?«

»Ja. Und das dauerte ein bißchen, also wurde nicht besonders viel geredet.«

»Und die anderen? Können wir die erreichen?«

»Selbstverständlich. Obwohl sie ja keine Zeugen sind. Sie waren ja schon auf der Straße, als es passierte.«

»Wie gesagt. Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?«

»Wie zum Beispiel?« seufzte Eskil Carlstedt und starrte demonstrativ auf seine Uhr.

»Zum Beispiel, wer sonst noch im Lokal war. Wir suchen Zeugen.«

»Aber verflucht noch mal, es war doch brechend voll. Okayokayokay. Ganz ruhig. Die, die standen, waren fast alle Byenfans. Bevor die Fans kamen, saßen alle. An der Theke war es leer, aber alle Sitzplätze waren belegt. Außer neben dem Jungen mit dem Buch. Da setzten sich die ersten Fans hin. Die Brautparty an den Fenstertischen unten. Daneben, auf unserer Seite, ein paar solche Yuppietypen oder Computerheinis. Dann der Junge mit dem Buch. Zwei leicht angegraute Paare, die richtig geil aussahen. Eine Schwuchtel. Ein paar Künstlertypen. Und zu uns hin ein paar gemischte Typen, eine Clique, vielleicht Studenten.«

»Sonst niemand?« fragte Kerstin Holm.

Hjelm betrachtete sie aufmerksam.

»Nicht, soweit ich mich erinnern kann. Aber die Hammarbyfans waren ja an die dreißig Mann. Obwohl die Hälfte von ihnen verschwand, bevor die Türwachen reagierten.«

»Aber Sie sind der Meinung, daß es unter den Hammarbyfans eine Reihe von Zeugen geben muß?«

Eskil Carlstedt lachte leicht. »Mindestens zehn Mann haben zugeguckt. Aber die dürften ja wohl nichts sagen.«

Hjelm stand auf und beugte sich über den Tisch.

»Dann stehen nur noch zwei Dinge aus, bevor Sie zu Ihrem ersehnten Treffen abdampfen dürfen. Erstens: Sie kommen mit zum Polizeizeichner und machen eine Rekonstruktion des Täters. Zweitens: Hinterlassen Sie in der Anmeldung unten in der Halle die Namen und Anschriften Ihrer vier Kumpel. Okay?«

»Okay«, seufzte Eskil Carlstedt und warf einen Blick zur Uhr.

Sie saßen still da, ihre Blicke ineinander verloren. Oder kurz und gut verloren. Vor ein paar Jahren hatten sie miteinander geschlafen. Ein einziges Mal. In Malmö. Während einer intensiven Jagd nach dem sogenannten Machtmörder. Der größte – und bei eingehender Betrachtung einzige – Erfolg der A-Gruppe. Die Medien riefen sie zu Helden aus. Die Gruppe wurde als »Sondereinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter beim Reichskriminalamt« dauerhaft etabliert. Dann kam der Kentuckymörder. Und ihre Affäre ging in Freundschaft über. Ziemlich enge Freundschaft. Sie waren zusammen in den USA. Sie arbeiteten mit dem FBI zusammen und wurden Jalm & Halm genannt, wie ein hölzernes Komikerpaar im Varieté. Es ging gut. Sie knackten ein altes Rätsel. Fingen einen gesuchten Serienmörder. Dann trafen sie eine falsche Entscheidung, und das Märchen der A-Gruppe war aus. Böses Blut kehrt wieder.

Doch das wollten sie nie wieder sagen.

»Wir könnten den Betrieb jetzt zumachen«, sagte Hjelm. »Es ist Mittagszeit. Wir könnten rausgehen in den immer empörteren Warteraum und sagen: Tut uns leid, kommen Sie morgen wieder. Niemand würde uns Vorwürfe machen.«

Er sah ihr in die Augen. Forschend. Versuchte zu sehen, was da vor sich ging. Und sie ließ sich ausforschen. Forschte zurück.

»Nein«, sagte sie.

»Nein«, sagte er.

Und wahrscheinlich gelang es ihnen wirklich zu sehen, worauf die Gedanken des anderen abzielten. Und es ging nicht mehr nur um eine Kneipenschlägerei.

Kerstin Holm drückte auf den Knopf eines internen Telefons, und ein großer schlaksiger Mann um die Fünfzig trat ein. In einem Trainingsanzug, in dem er aussah wie ein Camper, der sich verlaufen hat.

»Stein Bergmark, nicht wahr?« sagte Kerstin Holm und streckte ihm die Hand hin. Er ergriff sie und deutete galant einen Handkuß an. Dann begrüßte er Hjelm etwas männlicher. Absurd männlich, fand der, eine Spur zu spät, als der Schmerz kam.

»Die Steintunte«, sagte Stein Bergmark. »Volltreffer der Byenfans.«

Ihre Blicke mußten einen nicht geringen Teil Verwunderung ausgedrückt haben, denn er fügte hinzu, während er seinen Zweimeterkörper zwischen den Tisch und den Stuhl klemmte: »Sie wissen nicht, daß ich Stein heiße, aber sie finden mich steincool. Zwei Fliegen mit einer Klappe, kann man sagen.«

»Sie gucken sich also unter den Byenfans gern Gesellschaft aus«, sagte Holm. »Und die haben nichts dagegen?«

»Ich nehme an, es spricht ihre latente Homosexualität an. Die unterschwellig immer im Spiel ist, wenn man mit Männern zu tun hat.«

»Haben Sie jemals jemanden abbekommen?«

»Häufiger, als Sie glauben, Frau Polizistin.«

»Aber diesmal suchten Sie nicht unter den Byenfans, nicht wahr?«

Der Lange lachte auf. »Ich muß gestehen, daß mein Begehren diesmal mehr auf intellektuelle Stimulanz ausgerichtet war. Oder zumindest pseudointellektuelle. Wahrscheinlich spürte es, daß der Mangel akut geworden war. Sie wissen natürlich, daß das Bedrohlichste an der Homosexualität durch die Jahrhunderte hindurch ihr klassenüberschreitender Charakter gewesen ist?«

»Sie wohnen auf Östermalm und sind Abteilungsleiter beim Patentamt, ja.«

»Der vor allem mit arbeitslosen Hammarbyfans aus Bagarmossen und Rågsved verkehrt.«

»Wieso übrigens pseudointellektuell?«

»Der Junge mit dem Buch.«

»Aber warum pseudo?«

»Das sah ein bißchen künstlich aus mit diesem Buch. Als wollte er ein wenig mit einer Bildung angeben, die er in Wirklichkeit nicht besaß. Und ich war nicht der einzige, der seine Gesellschaft suchte, wie Sie es so diplomatisch ausdrücken, Frau Polizistin. Er war ein richtiger kleiner Leckerbissen. Sie haben nicht zufällig seine Adresse?«

»Nicht der einzige?«

»Von wegen«, sagte Stein ›Steintunte‹ Bergmark. »Eine Clique Machoschwuler saß die ganze Zeit da und starrte ihn an.«

»Eine Clique Machoschwuler?«

»Im Moment verhalten Sie sich genau wie mein Psychoanalytiker, Frau Polizistin. Fünfhundert Mäuse die Stunde dafür, daß Sie wiederholen, was ich gerade gesagt habe.«

»Mit dem Unterschied, daß ich keine fünfhundert Mäuse die Stunde verdiene.«

»Der Tisch neben der Tür. Wie soll ich sie beschreiben? Skinheads, die die Altersgrenze überschritten haben. Edelschwedische Bodybuilder. Fünf Mann.«

»Und alle starrten den Lesenden an?«

»Drei von ihnen. Die mit dem Rücken zur Wand saßen. Zwei saßen mit dem Rücken zum Lokal. Die starrten nicht. Aus natürlichen Gründen.«

»Sind Sie sicher, daß sie den lesenden Jungen anstarrten?«

»So hat mein konkurrenzbewußtes Begehren es jedenfalls aufgefaßt. Ich wurde eifersüchtig. Wer wählt einen Aal, wenn er fünf Filetsteaks in Reichweite hat?«

»Wer saß noch in der Richtung der Blicke?«

»Aber ich bitte Sie, Frau Polizistin. I only had eyes for him.«

»Versuchen Sie’s.«

Stein Bergmark saß reglos. Vor seinem inneren Auge erstand ein Bild. »Ich saß an dem Tisch direkt vorm Tresen. Neben mir saßen ein paar angejährte Künstlertypen und diskutierten darüber, welches Lied von Cornelis Vreeswijk von der Spitze des noch ungebauten Minaretts gegenüber vom Björnschen Garten gesungen werden sollte. Vor meinen Augen saßen zwei Paare, die sich ziemlich ungehemmt sexuellen Phantasien hingaben. Hinter ihnen, neben unserem Leser und an der Wand, saß eine Anzahl ausländischer Gentlemen und unterhielt sich auf englisch mit einem Schweden, der mir den Rücken zugekehrt hatte. Sie dürften im Blickfeld gewesen sein. Ebenso die Studentengruppe auf der anderen Seite unseres Lesers, den Starrenden am nächsten. Und möglicherweise die überaus angeheiterte Brautpartygesellschaft unten am Fenster.

»Hmm«, sagte Kerstin Holm.

»Hmm«, sagte Paul Hjelm.

Die Steintunte legte die Hände in den Nacken und lehnte sich zurück. »Aber meine edlen Polizeiherrschaften«, stieß er hervor. »Sollten wir nicht einen Todesfall diskutieren?«

4

Arto Söderstedt hatte beschlossen, das Autofahren aufzugeben. Er besaß keinen Wagen, und im Dienst fuhr er äußerst selten. Dennoch hatte er jetzt im Laufe eines Hochsommervormittags, der den schlechten Wetterberichten Hohn sprach, nahezu zweihundert Kilometer zurückgelegt, und als der alte Dienstvolvo jetzt die fruchtbaren Felder der Närke-Ebene hinter sich ließ, mußte er es sich eingestehen.

Es machte Spaß, Auto zu fahren.

Weil er sich in einer Initiative engagierte, die den Autoverkehr in der Innenstadt, besonders auf Södermalm und ganz besonders in der Bondegata, in der er mit seiner großen Familie wohnte, drastisch reduzieren wollte, beschämte ihn dieses Eingeständnis ein wenig.

Er verminderte den Druck aufs Gaspedal, schaltete runter und wandte sich zum Beifahrersitz, auf dem er einen leblosen Sack transportierte.

Er piekte ihn an. Der rührte sich nicht. Er piekte ein bißchen fester. Jetzt kam Leben in den Sack, mit Bewegung zum Achselhalfter und allem.

Viggo Norlander wachte auf.

Ein prächtiger weißer Fleck von erbrochenem Babybrei prangte auf der rechten Schulter seiner Lederjacke.

Arto Söderstedt lachte laut auf. »Fünf Stück habe ich gehabt«, sang er in glockenreinem Finnlandschwedisch. »Fünf Säuglinge haben mir auf die Schultern gespuckt. Und trotzdem habe ich nie, wiederhole nie, so erbärmlich ausgesehen wie du nach der ersten Nacht.«

»Schnauze«, krächzte Viggo Norlander und versuchte sich aufzurichten. Beunruhigende Schallwellen wurden aus seinem großen Körper ausgestoßen.

Er hatte eine äußerst sonderbare Nacht hinter sich. Manisch depressiv. Eine manische Depression im Schnellvorlauf. Abrupte Wechsel von äußerstem Glück und äußerstem Entsetzen.

Zum ersten Mal hatte er eine Nacht allein mit seiner zwei Wochen alten Tochter verbracht.

Es war eine merkwürdige Geschichte. Wie ein Traum. Er war fünfzig und hatte die ersten achtundvierzig Jahre im Zölibat gelebt, abgesehen von einer etwa einmonatigen, schrecklich gescheiterten Jugendehe, die jeden weiteren Umgang mit dem anderen Geschlecht uninteressant machte. Und der Gedanke an das eigene Geschlecht existierte überhaupt nicht in seiner Vorstellungswelt. Er war der denkbar graueste Polizeibeamte gewesen, umgeben und beschützt von einem banalen Regelwerk für Benehmen und Verhalten.

Vorzeitig verschieden, wie er heute von dem früheren Viggo Norlander dachte.

Dann hatte er genug gehabt. Seine verdrängte Seele explodierte, und er begab sich auf einen eigenartigen Feldzug nach Estland, der leider damit endete, daß die dortige Mafia ihn an den Fußboden nagelte.

Das war der beste Augenblick seines Lebens.

Er änderte sein Leben von Grund auf.

Er warf sämtliche grauen Beamtenanzüge fort, hungerte sich den Wanst ab und unterzog sich sogar einer Haartransplantation. Er brachte seine Garderobe auf den neuesten Stand, stylte sich und stürzte sich ins Stockholmer Nachtleben, wo er auch nichts ausließ. Nicht einer einzigen begehrlichen Frau verweigerte er seinen Beistand. Oder seinen Ständer, um es kurz zu machen.

Aber eine dieser Gelegenheiten war außergewöhnlich. Im letzten Herbst, mitten in der laufenden Jagd nach dem Kentuckymörder, trat eine Frau in seinem Alter über die Schwelle seiner Tür in der eindeutigen Absicht, sich befruchten zu lassen. Es dauerte eine Viertelstunde, da war sie schon wieder unten auf der Banérgata. Doch als sie sich auf der Schwelle umdrehte und ihn anlächelte, sah er, ja, sah er es ihr wirklich an, daß sie befruchtet worden war.

Er wurde von fiebergleichen Phantasien verfolgt, wie der Nobelpreissohn seinen greisen Vater im Pflegeheim aufsucht, um ihm für seine nahezu übermenschlichen Verstandesgaben zu danken.

Ganz so lief es allerdings nicht. Neun Monate später stand statt dessen eine Frau mit einem kleinen spuckenden Bündel über der Schulter auf seiner Türschwelle und sagte: »Dies ist deine Tochter.«

Viggo Norlander streckte ihr die Hand hin und sagte: »Viggo Norlander.«

Die Frau streckte ihm ihre Hand hin und sagte: »Astrid Olofsson.«

Darauf sagte Viggo Norlander: »Komm herein.«

Die Frau antwortete: »Danke.«

Und Astrid Olofsson trat nicht nur in seine verwohnte Junggesellenwohnung am ruhigsten Ende der Banérgata ein, sondern auch in sein Leben. Und sie war nicht allein. Ihre vierte Äußerung lautete: »Wie soll sie heißen?«

Bemerkenswerterweise zweifelte Viggo Norlander nicht eine Sekunde daran, daß es wahr war. Statt dessen stellte sich eine unmittelbare, zufriedene Ruhe ein. Er hatte sich dieses befruchtete Lächeln vor neun Monaten nicht eingebildet. Seine wunderlichen Phantasien um den Nobelpreissohn waren kein erstes Zeichen von Altersdemenz gewesen. Er war Vater geworden. Und er hatte es gefühlt, biologisch, wie eine Schwangerschaft auf Distanz.

Außerdem war die kleine Tochter, die er in seinen Händen hielt, ihm so verblüffend ähnlich, daß jede denkbare Spur von Zweifel ausgelöscht wurde. Das gleiche etwas schmale, in die Länge gezogene Gesicht, als sei die Schwerkraft gerade ums Kinn herum besonders stark. Der gleiche schief-einwärts-nach-hinten-Riecher, wie Arto Söderstedt die Sache ein wenig kryptisch bezeichnet hatte.

»Charlotte«, war Viggo Norlanders Antwort.

Er hatte keine Ahnung, woher sie kam.

Das war erst ein paar Wochen her. Seitdem waren sie jeden Tag zusammengewesen. Er fühlte sich wohl in Astrids unerwarteter Gesellschaft. Und stellte fest, daß er unmittelbar abhängig wurde, abhängig im Sinne eines Suchtverhaltens, von dem kleinen Wesen mit dem schief-einwärts-nach-hinten-Riecher.

Er, der bis dahin kaum ein Foto eines Säuglings angesehen hatte.

Und jetzt hatte er zum ersten Mal mit der kleinen Charlotte eine Nacht allein verbracht. Eine Nacht zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Als Abschiedsgeschenk hatte sie ihm eine ordentliche Portion Brei über die Lederjacke gespuckt. Weil er die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, war er unfähig zu irgendeiner Gegenmaßnahme, sondern trat nur hinaus auf die Banérgata und stieg in seinen Dienstvolvo, den zurückzugeben er sich trotz etlicher Aufforderungen weigerte. Ohne sich über Arto Söderstedts Anwesenheit hinter dem Steuer zu wundern, ließ er sich auf dem Beifahrersitz nieder und verwandelte sich umgehend in einen leblosen Sack mit Vogelkacke drauf. Schon auf den ersten Metern schlief er ein.

»In Kumla ist etwas passiert«, sagte Söderstedt. »Wir fahren als Reichskriminale hin. Lange her. Was war das für eine Nachricht, die du reintelefoniert hast? Krankes Kind zu versorgen? Charlotte geht es doch wohl nicht schlecht?«

»Nein, aber mir.«

»Dann fahr ich wohl besser. Eigentlich fahre ich ja nicht Auto.«

»Gute Nacht.«

Also fuhr Arto Söderstedt. Da Viggo Norlander schlief, mußte er das Kartenlesen auch noch übernehmen. Mit der einen seiner aus der Übung gekommenen Hände hielt er das Lenkrad, mit der anderen suchte er die Karte. Er schlug im Register von Motormännens vägatlas över Sverige Kumla nach und bekam ›44 8E 2‹ als Auskunft. Da er sich in einer unberechenbaren Autoschlange am Norrtull befand, kam ihm diese undurchdringliche Kombination von Ziffern und Buchstaben extrem rücksichtslos vor. Als er endlich das System begriffen hatte, zeigte sich, daß er auf ein kleines Kirchdorf südöstlich des Sees Tåkern in Östergötland verwiesen worden war. Weil ihn dies vage an einen früheren Fall erinnerte, begriff er schnell, daß es sich um das falsche Kumla handeln mußte, und zog erneut das Register zu Rate. Damit der in Plastik gebundene Motormännens vägatlas över Sverige nicht zuschlug, sobald er die Seite umblätterte, mußte er das aufgeschlagene Buch mit dem linken Schenkel von unten ans Lenkrad drücken, was ihm gewisse Probleme beim Steuern einbrachte. Aber auch fünf weitere Kumlas. Er seufzte leicht und ging sie eins nach dem anderen durch. Schließlich fand er das richtige. ›61 10F 1‹. Die E 18 über Västerås und Örebro, fand er heraus, gerade als er an Järva Krog und der Abfahrt zur E 18 vorüberfuhr. Er rumpelte weiter auf der E 4 nach Norden und dachte positiv. Nur gut, daß Viggo schlief. Siehe da, was für ein Glück er hatte. Er bog bei Kista ab und verlor nicht besonders viel Zeit. Und keiner hatte etwas gemerkt. Er fühlte sich richtig obenauf. Nichts baut einen so auf wie eine insgeheim korrigierte Peinlichkeit. Eine Folge dieser heiteren Gemütsverfassung war die Freude am Autofahren, und jetzt hielt besagtes Auto am Kontrollschalter des Kumlabunkers.

»Guten Morgen«, sagte die Wache.

Sag jetzt nicht Schnauze, dachte Söderstedt im stillen.

»Schnauze«, sagte Viggo Norlander.

Der Wachmann sah eher überrascht als verärgert aus. Er prüfte ihre Ausweise. »Länskriminalbehörde Stockholm? Wir haben eine eigene Länskripo.«

»Wir sind vom Reichskrim«, sagte Söderstedt. »Ans Länskrim ausgeliehen. Es geht um eure Explosion.«

Der Wachmann führte ein paar Telefongespräche und erhielt die Bestätigung. Die Tore glitten auf.

»Du kannst nicht zu allen, die dich ansprechen, Schnauze sagen«, bemerkte Söderstedt und ließ genußvoll das Kupplungspedal kommen. »Das ist eine unmögliche Lebensstrategie.«

»Schnauze«, sagte Viggo Norlander.

Sie parkten den Wagen auf einem genauestens ausgewiesenen Platz, passierten eine ganze Serie von Sicherheitskontrollen und gelangten ins Innere des Kumlabunkers. Sie wanderten durch Korridore, die bleigrau wirken würden, egal, in welcher Farbe sie gestrichen waren. Sie wurden durch eine Tür zum Büro des Chefs der Anstalt geführt. Er saß in einem ledernen Drehstuhl hinter einem leeren, auf Hochglanz polierten Schreibtisch und sah aus, wie Gefängnisdirektoren auszusehen pflegen. Eine ganz spezielle Kombination aus Beamter, Sozialarbeiter und Berufsoffizier.

Es war zehn Uhr zweiundzwanzig am Donnerstag, dem vierundzwanzigsten Juni, der Tag vor dem Mittsommerabend.

Noch glaubten sie, sie würden ihn feiern können.

Der Anstaltschef erhob sich und begrüßte sie. »Wieviel wißt ihr?« fragte er knapp.

»Nicht besonders viel«, entgegnete Söderstedt ebenso knapp. »Nur, daß es sich offenbar um einen Fall fürs Reichskrim handelt.«

»Es betrifft Gefangene der Kategorie I. Also ist es automatisch eine Sache fürs Reichskrim. Aber wir wissen nicht einmal, ob wir es überhaupt mit einem Verbrechen zu tun haben.«

»Krankes Kind zu versorgen«, dachte Norlander laut.

Der Anstaltschef betrachtete ihn entgeistert und entschied, daß Söderstedt derjenige war, mit dem sich reden ließ. Also redete er nur mit ihm. »Heute morgen explodierte in einer der Zellen eine starke Sprengladung. Der Insasse befand sich in seiner Zelle und mußte anschließend von den Wänden gekratzt werden. Wir haben zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Ahnung, wie es ablief, um was für eine Sprengladung es sich handelte, wie sie gezündet wurde et cetera. Der betreffende Insasse hieß Lordan Vukotic, wenn das bei euch was klingeln läßt.«

Söderstedt dachte nach, Norlander dachte nicht nach.

»Vage«, sagte Söderstedt. »Wir haben die Akte mitbekommen, aber …«, er mußte husten, »… hatten keine Möglichkeit, sie auf dem Weg hierher zu lesen. Aber es geht natürlich um Drogen?«

»Schwere Drogenvergehen und schwere Körperverletzung. Acht Jahre. Drei hatte er abgesessen. Mustergültiger Gefangener. Machte eine Ausbildung zum Wirtschaftsjuristen und sollte in Kürze seinen ersten Freigang bekommen.«

»Vukotic … der Kreis um Nedic?«

Der Anstaltschef nickte vielsagend. »Ganz klar, der Kreis um Rajko Nedic. Einer der führenden Drogenhändler. Aber das hat Vukotic nie zugegeben. Lordan Vukotic hat den Namen Rajko Nedic überhaupt nie erwähnt. Das ist die Art von Loyalität, die zählt, wenn man wieder rauskommt.«

»Nedic hat nie gesessen, nicht wahr?«

»Nie. Und jetzt war er außerdem auf dem besten Weg, sich einen persönlichen Anwalt anzuschaffen. Doch daraus wurde also nichts. Die Reste des Advokaten werden noch immer von den Wänden gekratzt.«

»Was ist passiert? Wurde sonst jemand verletzt?«

»Die exakt begrenzte Schadenswirkung läßt uns an ein sehr gezieltes Verbrechen denken. Eine perfekt berechnete Ladung. Pustete Vukotics Zelle vollständig weg, aber nichts anderes. Die Nebenzellen blieben unversehrt. Da sitzt übrigens ein alter Bekannter von euch, von der A-Gruppe.«

»Die A-Gruppe existiert nicht mehr«, sagte Norlander brummig.

»Es hat sie aber gegeben. Ihr wart verdammt gut, soweit ich das mitgekriegt habe. Die Besten. Allerdings habe ich nie begriffen, was mit diesem Kentuckymörder passiert ist.«

»Nein, wer hat das schon«, sagte Söderstedt leichthin. »Ein alter Bekannter?«

»Er heißt Göran Andersson. Noch ein mustergültiger Gefangener.«

Weder Söderstedt noch Norlander konnten ein kurzes Lachen unterdrücken. Die Verbrechenslandschaft der Vergangenheit … »Der lebt noch?« sagte Norlander.

Dann sagte keiner mehr etwas. Statt dessen folgten sie dem Anstaltschef in den Korridor, wurden von ein paar robusten Wachen in ganz andere Trakte des Kumlabunkers eskortiert und sahen, wie die Wände die Farbe wechselten. Sie wurden grauer und grauer. Und schließlich passierten sie die allerletzte, nachgerade spektakuläre Sicherheitskontrolle und befanden sich im Allerheiligsten. Aber es waren keine Insassen zu sehen. Der lange Korridor war abgesperrt, ein beißender Geruch von verbranntem Gummi, verbranntem Plastik und verbranntem Fleisch breitete sich von der einzigen Stelle aus, an der Leben und Bewegung herrschten. Kriminaltechniker liefen durch die Tür ein und aus. Die massive Tür stand sperrangelweit offen und sah vollkommen intakt aus. Kohlschwarz, aber intakt. Ein fetter Zivilpolizist lehnte an der Wand und rauchte eine schlechtgedrehte Zigarette. Er redete schleppend mit einem gutgekleideten, durchtrainierten Herrn, der Söderstedts Säpo-Warner unmittelbar ausschlagen ließ.

Der Anstaltschef hielt inne und stellte die Herren förmlich einander vor. Männliches Händeschütteln.

»Arto Söderstedt und Viggo Norlander vom Reichskrim. Bernt Nilsson von der Sicherheitspolizei. Und unser eigener Närkekrimmer Lars Viksjö.«

»Erster am Platz«, sagte der Dicke.

»Was habt ihr bisher?« fragte Söderstedt und äugte durch die Türöffnung. Die Verwüstung war unglaublich. Der ganze Raum war pechschwarz. Und alles da drinnen bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Ein makabres Tiefseeaquarium. Möglicherweise war dieser gigantische Lippfisch ein Bett und jene skulpturierte Koralle ein Fernseher. Und möglicherweise waren die Algenbildungen an der Wand tatsächlich Überreste eines Menschen. Die Techniker schabten Lordan Vukotic buchstäblich von den Wänden. Dann wurden seine Überreste in sorgfältig beschriftete kleine Plastikbeutel verpackt und in einem blauen Plastikbehälter mit der enorm witzigen Bezeichnung ›Obduzentenpuzzle‹ verstaut. Söderstedt ahnte den Humor des Gerichtsmediziners Qvarfordt hinter diesem Leichenwitz; bestimmt war er derjenige, der das Puzzle zusammenlegen würde. Nirgendwo zwischen den Beuteln und Kästen fanden sich Bezeichnungen wie ›Sprengstoff‹ oder ›Zündvorrichtung‹.

»Verblüffend wenig«, sagte Bernt Nilsson von der Säpo schließlich. »Nicht einmal die simpelsten Fakten lassen sich so etablieren. Sonst weiß man doch in der Regel sofort, um was für einen Sprengstoff es sich handelt. Aber die Techniker sind ratlos.«

Söderstedt befingerte einen irritierenden Sonnenbrand an seinem kreideweißen linken Arm; das Ergebnis eines Lochs in seinem Hemd. Er vertrug die Sonne nicht so gut.

Dann wandte er sich an einen fieberhaft arbeitenden Techniker, der augenscheinlich ratloswar.

»Keine Neuigkeiten?«

»Nichts«, sagte der und kratzte weiter an der Wand.

Söderstedt wandte sich dem fleischigen Lars Viksjö vom Närkekrim zu. »Habt ihr einen Ablauf?«

Ende der Leseprobe