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Arne Dahl

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Beschreibung

Dag Lundmark war Leiter der rasch und effektiv durchgeführten Razzia. Winston Modisane musste dabei sterben – aber war der Tod des Südafrikaners wirklich unvermeidlich? Paul Hjelm und Kerstin Holm ermitteln in einem Fall, der im Milieu illegaler Einwanderer beginnt und in der trügerischen Idylle eines schwedischen Sommers atemlos endet. Ein Fall, der mehr mit ihnen selbst zu tun hat, als sie wahrhaben wollen …

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Seitenzahl: 475

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Übersetzung aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

3. Auflage 2007

ISBN 978-3-492-95193-7

© 2002 Arne Dahl Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »De största vatten«, Bra Böcker AB, Malmö 2001. Vermittelt durch die Bengt Nordin Agency, Stockholm Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2006 Umschlag / Bildredaktion: Büro Hamburg, Heike Dehning, Charlotte Wippermann, Alke Bücking, Daniel Barthmann Umschlagfoto: Jonathan Kantor /Jupiter Images

1

Sich schwarz ärgern, dachte er und fixierte sein Spiegelbild. Für einen flüchtigen Augenblick ließ ein kaum spürbares Beben die Konturen leicht verschwimmen.

Nur eine Minute später, oben auf dem Dach, würde er denken: Hätte ich nicht schon da reagieren sollen? Hätte ich nicht wachsamer sein sollen? Hätte ich nicht begreifen müssen, daß dieses kaum erkennbare Beben ein Vorbote war?

Dann wäre ich noch am Leben.

Doch das war später. Jetzt beschäftigte ihn etwas anderes. Die versteckten Vorurteile der neuen Sprache nahmen ihn in Anspruch. Sein letzter Gedanke sollte sein: Vielleicht war es genau das, was mich getötet hat.

Aber bis dahin war es noch fast eine Minute.

Er dachte: der schwarze Tod, die schwarze Liste, schwarze Löcher und schwarze Schafe. Er dachte: Schwarzmakler, Schwarzarbeit, Schwarztaxi.

Er dachte: vollkommen schwarz geärgert.

Das bedeutet, daß der Zorn die Vernunft verdunkelt. Und daß man es sieht.

Und er folgte den schwarzen Konturen des Spiegelbilds, immer wieder, bis er seinem eigenen weißen Blick begegnete, und nur fünfzig Sekunden später sollte er denken: Vielleicht war ich wirklich, in dieser kurzen Gnadenfrist, schwarz vor Wut. Vielleicht hat der Zorn in dieser Minute, die Leben von Tod trennte, meine Vernunft verdunkelt. Vielleicht ist in den versteckten Vorurteilen der Sprache ein feiner Determinismus versteckt.

Wie schnell die Gedanken liefen, wenn die Pforte zum Reich des Todes in Sicht war.

Aber das dachte er erst fünfundvierzig Sekunden später.

Jetzt dehnte er ein wenig den Nacken. Kohlschwarz, dachte er. Pechschwarz, dachte er. Rabenschwarz, tiefschwarz, nachtschwarz.

Er drehte sich weg vom Spiegel, dem einzigen Wandschmuck des kargen Raums, und sah zur Küche hin. Ein diesiges Spätsommerlicht schien Staubkörner aufzuwirbeln, als es durch das ungeputzte Küchenfenster der kleinen Zweizimmerwohnung sickerte.

An der Kante des Küchentischs, in beunruhigender Nähe von Sembenes ständig fuchtelndem rechten Ellenbogen, stand ein altmodischer Wecker, dessen Ticken unnatürlich laut klang.

Tick-tack.

Tick-tack.

Oder sollte er das erst vierzig Sekunden später so empfinden?

Wahrscheinlich.

Da saßen sie alle, vollkommen schwarze Gesichter, und sahen nachmittagsträge aus. Nur Sembene war energisch wie immer. Er redete laut und eindringlich. Viermal berührte sein Ellenbogen den Wecker, der immer näher an die Kante rutschte. Und war das Ticken nicht unnatürlich laut? Obwohl Sembene fast schrie, hörte er seine Stimme nicht. Er hörte nur das langsame, immer kostbarer werdende Ticken.

Aber vielleicht kam ihm das Ticken erst eine halbe Minute später kostbar vor, als es schon vorbei war.

Vielleicht sah er erst da jenes letzte Sandkorn durch den verengten Hals des Stundenglases zu den anderen hinabkullern. Das Sandkorn blieb einen Moment in der Schwebe, als wollte es am Rand liegenbleiben, als gäbe es noch eine Chance, eine Öffnung, eine Möglichkeit.

Aber dann fiel es.

Es war am hellichten Nachmittag. Sie konnten nicht aus dem Haus gehen. Ihre Arbeit existierte nicht bei Tage. Schwarzarbeit wurde in der pechschwarzen Nacht ausgeführt.

Er tat ein paar Schritte auf den Tisch zu, und als diese Schritte zwanzig Sekunden später in seinem Innern noch einmal abliefen, war es ganz deutlich, daß sein Herz sich in diesem Augenblick zu einem winzigkleinen Sandkorn zusammenzog, das am Rand des Halses im Stundenglas noch in der Schwebe blieb, bevor es fiel und eine höchst unbedeutende weitere Gestalt mit den unzähligen Toten der Weltgeschichte vereinigt wurde.

Ja, man wird ein bißchen pathetisch in der unmittelbaren Nähe des Todes.

Er zog einen Stuhl heran, um sich an den Tisch zu setzen. Der Wecker tickte. Er tickte laut.

Er sah sich im Wandspiegel und erstarrte zu Eis.

Wieder ließ ein leichtes Beben seine schwarze Kontur verschwimmen. Fünfzehn Sekunden später war ihm klar, daß er genau in dem Moment verstanden hatte. Und da war es viel zu spät.

Das allerletzte Ticken, das der alte Wecker jemals von sich geben sollte, war unglaublich laut.

Tick-tack.

Eine Explosion.

Die Wohnungstür neben dem Wandspiegel flog auf. Splitter wirbelten. Der Spiegel fiel von der Wand und zerbarst auf dem Fußboden. Uniformierte Polizisten quollen herein, rutschten auf Spiegelscherben und Türsplittern aus.

Der erste Polizist kam direkt auf ihn zu und trieb ihn mit seltsamem Zielbewußtsein hinüber zum Schlafzimmer. Er war beleibt, trug einen blonden Schnauzbart und fixierte ihn mit einem eigentümlichen Blick. Auch darauf hätte er reagieren müssen, dachte er dreizehn Sekunden später.

Der Schnauzbartpolizist trieb ihn ins Schlafzimmer und gleich ans Fenster. Es stand offen. Wie immer.

Der Fluchtweg.

Dort blieben sie stehen. Der Schnauzbartpolizist wandte sich zur offenen Küchentür um und wechselte laut ein paar Worte mit seinen Kollegen.

Das war die Chance, die Öffnung, die Möglichkeit.

Und doch überhaupt nicht. Genau das Gegenteil. Aber das erkannte er erst zehn Sekunden später. In ebender Sekunde, in der alles so vollkommen klar war.

Vielleicht war das der Augenblick, in dem er starb.

Der Augenblick des Fehltritts.

Er warf sich durchs Fenster nach draußen und erklomm die Brandleiter hinauf zum Dach. Ein paar Meter unter sich hörte er, wie der Schnauzbartpolizist seinen massigen Körper durchs Fenster zwängte.

Er erreichte das Dach. Er lief ein paar Meter, stürzte zur Speichertür.

Der Fluchtweg.

Die Tür war verschlossen.

Sie war nie verschlossen. Aber jetzt war sie verschlossen.

Er hatte noch fünf Sekunden zu leben, und die Fäden wurden mit furchtbarer Schnelligkeit verknüpft. Er zog die Diskette aus der Innentasche seiner Jacke und hielt sie hoch über den Kopf, hoch zu dem vollkommen klaren blauen schwedischen Sommerhimmel.

Es war der letzte Ausweg. Wenn es keinen Fluchtweg mehr gab. Nicht für ihn. Vielleicht für andere. Für sehr viele andere.

Der Schnauzbartpolizist kam die Brandleiter herauf. Er richtete eine Pistole auf ihn.

Er blickte in die Augen des Polizisten. Darin war die banale Wahrheit.

Er stand da mit der Diskette hoch über dem Kopf und spürte, daß er anbiß, daß er ihn am Haken hatte. Er lachte laut und warf die Diskette in Richtung des Polizisten.

Der Polizist fing sie auf, lächelte bedauernd und schoß.

Einen einzigen Schuß.

Sein Herz hätte zu klein sein sollen, um getroffen werden zu können. Nur ein Sandkorn.

Im Fallen dachte er, daß es vielleicht seine Fixierung auf die versteckten Vorurteile der neuen Sprache war, die ihn tötete.

Und als sein Gesicht auf dem Dachblech aufschlug, sah er – tatsächlich – aus wie einer, der sich schwarz geärgert hat.

2

Das Besondere an der Regeringsgata ist, daß sie nichts Besonderes aufzuweisen hat. Sie verläuft quer durch das Zentrum von Stockholm, und dennoch hat sie nichts Besonderes an sich. Eine ziemlich anonyme Straße ohne besondere Kennzeichen – so könnte ein Polizist sie beschreiben. Und die dunkelhaarige Frau im Trikot, die durch eine zwar recht ansprechende, aber doch anonyme Haustür in den Spätsommermorgen hinaustrat, dachte wirklich – nachdem sie einen schnellen Blick in beide Richtungen der Straße geworfen hatte: ›Ich wohne in einer ziemlich anonymen Straße ohne besondere Kennzeichen.‹

Sie war nämlich Polizistin.

Sie beugte sich noch einmal vor und schaffte es, ohne heimlich allzusehr mit den Beinen einzuknicken, ihre Joggingschuhe mit den Fingerspitzen zu berühren. Dann lief sie los.

Es war bald halb acht, und es war Dienstag, der vierte September. Das Wochenende war überstanden – sie hatte überlebt –, und jetzt sollte das Leben wieder ins normale Gleis zurückfinden. Durch die Arbeit.

Das Wochenende war überwiegend anstrengend gewesen. Besuch mit dem Kirchenchor der Jakobsgemeinde und einem Kammerorchester irgendwo in Medelpad – sie konnte den Namen des Orts nicht einmal aussprechen – und die übliche Anmache seitens ein paar verwirrter Tenöre. Auch das Konzertprogramm war ihr keineswegs spannend vorgekommen; sonst war die Musik das versöhnliche Element derartiger Veranstaltungen. Doch diesmal war es ein Potpourri fader Italiener aus dem achtzehnten Jahrhundert und einiger mittelmäßiger Schweden aus dem neunzehnten Jahrhundert – ohne jedes Gefühl für die innere Dynamik des Kirchenchors. Pflichtsingen.

Und Pflichtsingen kam ihr in etwa so anregend vor wie Pflichtpolizeiarbeit. Will sagen: wie ein weiterer Schritt, der einen dem Tod näher brachte. Ohne daß man irgend etwas zurückbekam.

Die Frau, die jetzt die wenigen Meter zur Treppe an der Kungsgata joggte, hieß Kerstin Holm, war Kriminalinspektorin bei der ›Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter‹ bei der Reichskriminalpolizei, vorübergehend auch als A-Gruppe bekannt, und ging sichtlich auf die Vierzig zu. War jedoch ziemlich fit – wenn sie es selbst hätte sagen sollen.

Doch das tat sie ungern.

Es war ein gräßliches Wort.

Fit.

Slim.

Als würde ein Schwachsinniger über Geschlechtsorgane reden.

Was wahrscheinlich vollkommen korrekt war, wenn man die Herkunft der Wörter bedachte.

In der Regel waren diejenigen, die slim und fit waren – Schwachsinnige. Traurig, aber wahr, dachte sie voller hemmungsloser Vorurteile und legte eine Hand an ihre spielenden Schenkelmuskeln.

Sie kreiselte die wie gewöhnlich nach Urin stinkende Treppe hinunter und unterquerte die Regeringsgata in Höhe der einst vielbeachteten Königstürme. Stockholms Zwillingstürme. Jetzt wußte kaum noch jemand, daß es sie gab. Reste eines Stadtplans aus den fünfziger Jahren. Die Kälte biß ein wenig an den Wangen. Über den Zwillingstürmen kam ihr der vollkommen klarblaue Sommerhimmel typisch schwedisch vor.

Klar und kalt, abgewandt, doch wohlwollend; wohlwollend, doch abgewandt.

Ein sozialdemokratischer Himmel eines abgelaufenen schwedischen Modells.

Sie erreichte Sveavägen. Weil ihr Ampelmännchen grün war, zögerte sie keine Sekunde, in den Wahnsinnsverkehr hinauszustürmen und im Vorbeilaufen mit ihrem Ring leicht über die Fronthaube eines roten Porsche zu kratzen, der diagonal über drei Viertel des Fußgängerüberwegs stand, mit der Schnauze Richtung Yuppie-Reservat Stureplan. Während sie auf der Kungsgata weiterlief, wo gerade der bunte Flickenteppich der Marktstände von Hötorget zusammengenäht wurde, dachte sie, hauptsächlich um zu verdrängen, daß sie soeben ein teures Auto geritzt hatte: Was ist eigentlich aus Porsche geworden? Was ist mit der Automarke passiert, die mehr als irgendeine andere das sozial und menschlich indifferente Streben einer ganzen Generation symbolisiert hatte?

Eigentlich war sie schon mitten in einem Gedankengang, in dem es um ein paar Tenöre ging, die vermutlich nie einsehen würden, daß sie schwul waren, doch jetzt hatte sich die Kombination Porsche/schlechtes Gewissen vorgedrängt.

Die Porscheleute waren Pioniere gewesen. Die Avantgarde des nicht rückgängig zu machenden Geldumschwungs. Jetzt begegnete man ihrer Haltung überall. Jedermann führte sie im Mund.

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.

Doch, so einfach war es. Vor knapp einem Jahr, im Zusammenhang mit dem Fall der merkwürdigen Rachebande, der die A-Gruppe den Namen ›Die Erinnyen‹ gegeben hatte, war Kerstin Holm in eine Sackgasse geraten. Sie war das Gefühl nicht mehr losgeworden, daß ihr eine Erneuerung nottat, eine Form von Metamorphose.

Wie konnte man der unerträglichen Leichtigkeit des Seins entkommen?

Wie konnte man zur ursprünglichen Schwere und Kraft der Existenz zurückfinden?

Wie konnte man zurückfinden zu allem, was einmal wesentlich, brennend und existentiell anrührend gewesen war?

Es klang ein wenig trist, das mußte sie zugeben – aber im Grunde machte es – Spaß. Das war der Clou. Ein Zauberstab von Gleichgültigkeit hatte das Dasein berührt. Alles war gleich dick, gleich grau – aber es gab einen Ausweg. Das war ihre feste Überzeugung. Und damals – irgendwann im vergangenen Jahr – glaubte sie tatsächlich, ihn gefunden zu haben.

Den Ausweg.

Doch dann rollte dieser schwierige Fall über sie hinweg wie eine Lawine und riß das alles mit sich. Der schmale Weg war wieder versperrt. Vielleicht hatte es ihn nie gegeben, vielleicht war er nur eine Halluzination, hervorgerufen von ihrem Willen.

Gott?

Na ja, das wäre wohl übertriebener Optimismus. Man konnte IHN ja nicht einfach durch die Kraft des Willens herbeizaubern. So funktionierte es nicht.

Auf jeden Fall war es ihr erspart geblieben, sich mit den widersprüchlichen Thesen der Theologie konfrontiert zu sehen – dafür hatte eine Bande rachsüchtiger Ukrainerinnen gesorgt.

Die Gedanken lebten ihr eigenes Leben, als liefen sie neben ihr die Kungsgata entlang, als hüpften sie in spielerischen Kreisen um ihre Beine, um mit ihren leichten Schritten zu zeigen, wie schwer ihre eigenen waren.

Wahrscheinlich joggte sie deshalb. Sie ging mit ihren Gedanken Gassi wie andere mit ihrem Hund. Sie brauchte sich dabei nicht einmal zu bücken, um mit der über die Hand gestülpten Plastiktüte die Scheiße aufzuheben. Sie lief dem Gestank einfach davon. Und diese Erkenntnis machte die Schritte der Gedanken so schwer, daß sie ihnen davonlaufen konnte und zu sich selbst zurückkehrte.

Ihre Schritte waren nicht mehr so schrecklich schwer. Das regelmäßige Laufen hatte seine Spuren hinterlassen. Sie war sich noch immer nicht darüber im klaren, ob das Laufen nützlich oder eher gesundheitsschädlich war, aber es fiel ihr auf jeden Fall immer leichter. Vielleicht bedeutete das nur, daß man sich schneller auf den Tod zubewegte …

Was scheuerte da an der linken Hand?

Da traf die Sonne ihre Augen.

Spätsommer. Eigentlich schon Herbst, wenn man ehrlich war. Die Sonne war spürbar verblaßt, und der fächelnde Wind hatte eine neue Kühle.

Plötzlich Stopp.

An der Vasagata war die Ampel rot. Auf der Stelle zu laufen war das Schlimmste, was es gab – nichts sah lächerlicher aus. Grotesker Möchtegernprofessionalismus. Den Schenkelmuskeln zuliebe gab sie jedoch nach und hüpfte auf und ab wie ein Dorfidiot auf der Weide.

Gab es eigentlich noch Dorfidioten?

Hatte gut ein Jahrhundert der Urbanisierung sie nicht ausgerottet?

›Stadtidiot‹ klang eher tragisch als komisch, also blieb es bei ›Dorfidiot‹. Hoffentlich war sie selbst immer noch eher komisch als tragisch. Der Stich der Einsamkeit, der Stich des Älterwerdens in Einsamkeit, biß sich nicht fest in ihr, sondern war nach einer Sekunde verflogen. Nein, dachte sie schroff und wedelte mit den Händen wie ein Marathonläufer kurz vor dem Start. Nein, verdammt, ich bin nicht tragisch. Noch nicht. Noch nicht richtig.

In einem gewissen Alter werden alle Menschen tragisch. Bis dahin gedachte sie zu warten.

Und wieso Weide?

Jetzt scheuerte es wieder an ihrer linken Hand, aber gerade in dem Augenblick wurde dem Verstopften schlecht, wie ihre neunjährige Nichte zu sagen pflegte (das rote Männchen wurde grün), und sie folgte dem noch mäßigen Menschenstrom über die Vasagata. Von Norra Bantorget, auf der Höhe der Vasa, schwankten lärmend die Übriggebliebenen einer Junggesellenfete herunter, und sie legte einen Schritt zu. Denn sie zog die Spätsommersonne vor, die ihr draußen auf Kungsbron entgegentreten würde. Und so war es auch. Die Sonne hüllte Klara Strand in einen zauberhaften Morgenschimmer, der die Illusion erzeugte, Schwedens verkehrsreichstes Stück Straße sei ein Schärenidyll.

Der Zauberer Herbst mit seinen leicht durchschaubaren, aber lebensnotwendigen Illusionsnummern.

Es war ein ungewöhnliches Frühjahr gewesen. Mit faszinierender Regelmäßigkeit brachte das Frühjahr der A-Gruppe einen neuen Fall. Es schien, als hielte das ›internationale Verbrechen‹, auf das sie ein Auge haben sollten, seinen Winterschlaf – um im Frühjahr mit frischen Kräften aus der Höhle zu kriechen und, durch die winterliche Untätigkeit maßlos geworden, seine grauenvollsten Taten zu begehen.

Doch in diesem Jahr war es anders gekommen. Die A-Gruppe wartete und wartete, das Frühjahr verlief ohne größere Zwischenfälle, und der Sommer hatte nichts als eine Episode von internationalem Verbrechen in Form von Steine werfenden Deutschen und schießfreudiger Polizei beim EU-Gipfeltreffen im Juni in Göteborg zu bieten.

Jetzt war der vierte September, und das EU-Gipfeltreffen konnte als das mit Abstand unangenehmste Ereignis des Jahres verzeichnet werden. Das Polizistendasein wurde schwieriger. Die Ordnungsmacht hatte mit einer noch nie erlebten Härte zugeschlagen. Sie hatte sich einer Front von Steinewerfern gegenüber gesehen, wie man sie in Schweden noch nicht erlebt hatte. Aussage stand gegen Aussage. Anzeigen gegen Polizeibeamte strömten herein, und es war schwierig, ein klares Bild davon zu gewinnen, was eigentlich geschehen war. Klar war jedenfalls, daß es am Morgen des vierzehnten Juni begann, als die Polizei das Hvitfeldtsche Gymnasium umstellte, wo eine Menge Demonstranten einquartiert waren. Man riegelte die Schule mit Transportcontainern ab. Kurz nach zwei Uhr begannen die Demonstranten, die berittene Polizei mit Steinen zu bewerfen. Im unmittelbar benachbarten Vasapark gingen die Konfrontationen weiter. Danach wurde eine Einsatzhundertschaft damit beauftragt, im Gymnasium die Personalien der Demonstranten zu überprüfen. Es war gewissermaßen eine militärische Operation, die von Hunderten von Polizisten, einem großen Aufgebot von Pferden und Hunden und von Hubschraubern durchgeführt wurde. Die Zeugenaussagen über das, was in der Schule eigentlich passiert war, gingen auseinander.

Als hätte das nicht gereicht, wiederholten sich die Ereignisse – nur noch schlimmer – am Tag darauf im Schiller-Gymnasium. Das Gymnasium wurde gestürmt, die Menschen wurden nach draußen getrieben und mußten stundenlang auf dem regennassen Schulhof ausharren.

Und dabei handelte es sich nicht um das, was für die A-Gruppe gewöhnliche ›Gewaltverbrechen von internationalem Charakter‹ waren, weit gefehlt. Die Frage war, ob es die Steinewerfer waren, die für ›Gewaltverbrechen von internationalem Charakter‹ standen, oder die Polizei, und diese Frage war zutiefst unangenehm. Manche aus der A-Gruppe waren bereits in den Ferien, der Rest saß ein bißchen distanziert da und betrachtete das Schauspiel, und die allerwaghalsigsten erlaubten sich wirklich, die leichter zu definierenden Widerwärtigkeiten zu vermissen.

Kerstin Holm mußte zugeben, dieser wenig illustren Schar angehört zu haben.

Sie verließ das Festland und bewegte sich hinüber auf diejenige von Stockholms Inseln, die den Namen Kungsholmen trägt und auf der neben vielem anderen das Polizeipräsidium zu Hause ist. Es war nicht mehr richtig wie früher.

Als sie mit immer noch ziemlich leichten Schritten in die Fleminggata einbog und die bleiche Sonne hinter sich zurückließ, scheuerte es wieder an ihrer linken Hand.

Unter dem glatten Ring an ihrem Ringfinger schauten ein paar rosenrote Farbsplitter hervor.

Nein, nicht rosenrot.

Porscherot.

Sie wurde beinah – aber nur beinah – rot, als sie die stark befahrene Fleminggata hinunterlief und sich der polizeilichen Behörde näherte, als deren Teil sie sich genaugenommen zu betrachten hatte. Obwohl es ihr nicht richtig so vorkam. Auf ihrer Schulter saß nämlich – ja, natürlich war er es – Jiminee Grille und zirpte ihr ins Ohr: ›Dürfen Polizisten wirklich die Autos von Mitbürgern ritzen, so daß sich Farbsplitter lösen?‹ Sie antwortete, und dabei schwoll ihre Nase schon ein bißchen an: ›Aber er ist bei Rot gefahren! Er stand quer auf dem Fußgängerüberweg!‹ Und da sah Jiminee Grille sie nur an, und mit dem Blick war nicht zu spaßen. Dann verschwand er.

Plopp.

Mit kläglicher Feinmotorik versuchte sie – im Laufen – die Porschefarbe vom Ring zu polken. Was gar nicht so einfach war. Nach einer Weile konnte den obengenannten eine weitere Farbnuance zugefügt werden, nämlich ›blutrot‹.

Göteborg, ja … ihre Heimatstadt.

Sie blickte auf den Ring. Daß sie ihn nicht abnahm. Es war der Verlobungsring von einer vor undenklichen Zeiten abgebrochenen Verlobung. Dag. Dag Lundmark. Der Kollege in Göteborg, der die Nächte damit verbrachte, sie – ganz unbewußt – zu vergewaltigen. Er glaubte ganz einfach, daß es so sein müsse. Ich nehme, du wirst genommen. Mann, Frau. Ein sehr sonderbares Verhältnis.

Dag, ja, dachte sie und drehte ein wenig am Ring. Es tat weh. Er saß fest. Deshalb hatte sie ihn nicht abgenommen. Sagte sie sich. Mehrmals. Viel zu oft.

Dann, mit der unbarmherzigen Logik der Detektivin: Und wieso hat dann die Porschefarbe Platz darunter gefunden?

Weg.

Heck, meck, Katzendreck, wie Paul Hjelm zu sagen pflegte, wenn er einen Sonnenstich hatte. Was dann und wann vorkam.

Aber nein. Dag. Was ist aus Dag geworden? Totaler Bruch. Keine Kinder. Keine Verbindung. Plötzlich war man verschwunden aus dem Leben des anderen.

Ihr waren Gerüchte zu Ohren gekommen. Er hatte damals schon zuviel getrunken. Dann war er wegen Trunkenheit im Dienst suspendiert worden. War es nicht so? Nein, sie wußte es nicht. Sie erinnerte sich aber sehr deutlich daran, wie er ihr den Ring über den Finger gestreift hatte. In diesem rosenroten kleinen Ecklokal in Haga. Die rosenroten Wände. Die Rose in der Hand. Doch, bestimmt war er auf die Knie gefallen. Das konnte sie nicht geträumt haben. Und diese Worte, die …

Eine Schlagzeile auf einem Aushänger vor einem Seven Eleven – genau da, wo die Fleminggata die Scheelegata kreuzt – unterbrach sie in ihren Gedanken.

Nicht schon wieder.

›Extrameldung. Polizei erschießt Asylbewerber. Tödliche Schießerei in Flemingsberg.‹

Es muß schon einiges passieren, um Kerstin Holm aufzuhalten, wenn sie zur Arbeit joggt, aber jetzt blieb sie tatsächlich stehen. Abrupt. Ließ die lautstarken Proteste ihrer Beinmuskeln ungehört. Es war so trostlos. Eine Gewaltspirale ohne Ende. Die Gewalt gegenüber der Polizei nahm auffalllend zu. Und gemäß einer unabhängigen Untersuchung hatte die Polizei nach den Polizistenmorden von Malexander eine spürbare Neigung an den Tag gelegt, zur Waffe zu greifen. Gar nicht davon zu reden, wie sie plötzlich gegen die Demonstranten in Göteborg losgeschlagen hatte. Die Migrationsbehörde trug aktiv dazu bei, für Asylbewerber auf der Flucht Fallen aufzustellen, und vor gar nicht langer Zeit war an einem anderen Ort in Schweden ein Flüchtling auf ähnliche Art und Weise erschossen worden.

Also wieder einmal.

Sie seufzte tief und versuchte, die Beinmuskeln wieder in Schwung zu bringen. Sie hatten schon nachgegeben. Sie konnte richtig spüren, wie die Mikrofasern wie Gummibänder gedehnt wurden, um beim geringsten kleinen Fehltritt zu reißen. Mit den vorsichtigen Schritten eines Minenräumers lief sie die letzten Meter die Scheelegata hinunter zum Rathaus, das zum immer noch klarblauen Septemberhimmel aufragte. Es war, als berührte sie kaum den Boden. Elfengleich schwebte sie am Polizeipräsidium entlang die Kungsholmsgata aufwärts bis zu dem Punkt, wo die Straße an der östlichen Grenze des Kronobergsparks ein Ende mit Schrecken fand. Erreichte die Polhemsgata und den Eingang der Reichskriminalpolizei. Als sie durch die schwerbewachten Türen eintrat und Schweiß über die polizeilichen Korridore verspritzte, wurde ihr klar, daß sie auf dem gesamten Weg keinen einzigen kleinen Wolkenzipfel gesehen hatte.

Dennoch wurde es eindeutig Herbst.

Sie stieß die Tür zum Umkleideraum der Frauen auf. Da stand ihre jüngere Kollegin Sara Svenhagen, den Kopf in ihrem Spind. Über den Jeans war ihr Oberkörper nackt. Sie warf sich rasch ein Handtuch um. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Kerstin Holm die Kollegin von der Seite. Das genügte.

Die kleine Wölbung des Bauchs war unverkennbar.

Und Sara sah, daß sie es sah. »Sag nichts«, bat sie ein bißchen verlegen und sah aus, als wäre sie mit den Fingern in der Keksdose ertappt worden.

Kerstin Holm nahm Sara Svenhagen in den Arm und drückte sie lange. Als sie dann ein wenig zurücktrat und sie betrachtete, kam es ihr vor, als wäre Sara von einem verklärenden Licht umhüllt.

Einem Spätsommerlicht.

»Wie weit bist du denn schon?« platzte Kerstin schließlich heraus.

»In der vierzehnten Woche«, sagte Sara.

»Und hast nichts gesagt!«

»Und werde auch nichts sagen. Und du auch nicht.«

»Nein. Nein. Nein. Ich auch nicht.«

Kerstin ließ Saras Arme los und fand keine Worte. Sie verstand eigentlich nicht, warum sie so überwältigt war. Übertrieb sie nicht ein bißchen?

»Ich frage mich, ob ich nicht vielleicht auch duschen muß«, lachte Sara.

Kerstin hob den Arm und roch. Die Frage war zweifellos berechtigt. Sie lachte kurz und ging zu ihrem Spind an der gegenüberliegenden Wand.

Sara warf das Handtuch in den Spind und zog sich einen sackartigen Pulli von der bauchverhüllenden Sorte über. »Hast du die Schlagzeilen gesehen?« fragte sie pulligedämpft.

»Mach jetzt nicht diesen Morgen kaputt«, rief Kerstin zurück, während sie ihre Joggingsachen auszog und sich der Dusche zuwandte.

Das Wasser war so kalt, daß sie sich wunderte, nicht von Eiszapfen durchlöchert zu werden. Während sie auf das warme Wasser wartete, steckte Sara den Kopf herein und zeigte auf die Uhr: »Vier Minuten und dreiundvierzig Sekunden.«

»Verschwinde, du Scheusal«, sagte Kerstin Holm.

Zuerst glaubte sie, ihre Periode bekommen zu haben, doch das Datum stimmte nicht. Das rosenrote Wasser, das in den Abflußwirbel der Dusche gesogen wurde, hatte eine andere Quelle. Sie schaute auf den linken Ringfinger, und tatsächlich zog sich von dort ein dünnes rotes Rinnsal abwärts, um immer farbloser zu werden und im glucksenden Abfluß zu verschwinden.

Wie lange sollte sie noch an ihr mangelndes Urteilsvermögen erinnert werden? Es war wie eine sich zäh in die Länge ziehende und ein wenig lächerliche Strafe. Schande als Strafe.

Sie versuchte, den Ring abzudrehen. Er saß an und für sich nicht besonders fest, aber jeder Versuch, ihn zu bewegen, war wie ein Schnitt mit dem Messer.

Schließlich war sie es leid, ihn abdrehen zu wollen, und zog statt dessen mit Gewalt. Lieber ein kurzer, intensiver Schmerz als ein in die Länge gezogenes Grummeln.

Sie bekam ein mikroskopisch kleines rotes Fitzelchen zu fassen und riß es aus der Haut. Ein Blutstrom im Miniaturformat quoll hervor.

Wie Wasser durch aufbrechendes Eis quillt.

Ihr Blick fiel auf den Ring. Die Inschrift. Sie hatte sie lange nicht angesehen. ›Auch viele Wasser löschen die Liebe nicht.‹

Und da kniete er wieder in diesem rosenroten Restaurant. Dag. Dag Lundmark. Und auf einmal waren die Worte ganz deutlich: ›Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz und wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie ertränken. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so gälte das alles nichts.‹

Das Hohelied.

Dag …

Sie schloß die Augen. Der Gang der Zeit. Alles, was danach geschehen war …

Aber damals, genau da, war es unwiderstehlich gewesen. Er konnte die Worte auswendig, wie ein sprudelnder Quell. Er kniete in diesem rosenroten Restaurant und hatte sich die ganze Mühe gemacht. Ihretwegen. Der Liebe wegen. Das lange, verzwickte Zitat, der Ring mit der Gravierung, die roten Rosen, das Knie auf dem Fußboden der Stammkneipe. Schwer zu vergessen. Unmöglich zu verdrängen.

Und jetzt? Warum jetzt? Aufgrund eines rücksichtslosen Porsches? Wohl kaum.

Kaum deshalb.

Sie schüttelte den Kopf und schob den Ring wieder auf den Finger.

Wie ein Pflaster. Auf die Wunde.

Dann trocknete sie sich ab und zog sich an. Die Zeit war ihr nicht gnädig, sie würde ein paar Minuten verspätet erscheinen. In der Kampfleitzentrale, dem total fehlbenannten kleinen Konferenzraum, in dem die A-Gruppe sich zu ihren morgendlichen Sitzungen zu treffen pflegte.

Sie rannte durch die Korridore und die Treppen hinauf und gelangte auf sicheres Gelände. A-Gruppen-Gelände. Die Tür der Kampfleitzentrale war nur angelehnt. Davor stand eine keineswegs unbekannte Gestalt und zeigte albern auf eine nicht vorhandene Uhr am Handgelenk.

Diese dämliche Geste.

Besonders bei Paul Hjelm, der in seinem ganzen Leben bestimmt noch nie eine funktionierende Uhr am Handgelenk hatte.

Er massierte sein unerwartet gut rasiertes Kinn. Als wisse er, was ihnen bevorstand. Als habe er einen Insidertip bekommen.

Der Scheißkerl.

Aber das dachte sie erst eine Minute später.

»Wir sollen zu Hultin rein«, sagte er nur.

»Wer wir?« sagte sie.

»Du und ich«, sagte er.

»Was du nicht sagst«, sagte sie.

»Nicht wahr?« sagte er.

»Und die anderen?« sagte sie.

»Die nicht«, sagte er.

Es war mit anderen Worten ziemlich ätzend.

Sie traten an die Tür von Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin. Sie war geschlossen. Sie klopften.

Und traten ein.

Hultin saß hinter seinem Schreibtisch und sah aus wie immer. Alles andere hätten sie auch als schockierend empfunden. Nicht wie immer war dagegen, daß noch jemand anwesend war.

Es war selten jemand außer Jan-Olov Hultin in Jan-Olov Hultins Büro. Und wenn andere Personen anwesend waren, handelte es sich meist um Mitglieder der A-Gruppe. Oder – ein bißchen weniger willkommen – um Waldemar Mörner, den formellen Chef der A-Gruppe, den Reichskasper. Der Mann, der neben dem Schreibtisch stand und stramm aussah, gehörte keiner der genannten Kategorien an. Er war ungefähr in Pauls und Kerstin Alter, vielleicht etwas über vierzig, verfügte jedoch über etwas, was ihnen fehlte – und sie wußten, daß es ihnen fehlte. Einen autoritären Blick.

Und natürlich einen dunklen Anzug.

Kerstin warf einen Blick auf Paul. Er stand wie versteinert.

Hultin befingerte seine Nase. Weil sie ziemlich umfangreich war, dauerte das eine ganze Weile. Nachdem dieses Projekt abgeschlossen war, sagte er neutral: »Paul, du kennst ja Kommissar Niklas Grundström.«

Niklas Grundström streckte die Hand aus, Paul Hjelm tat das gleiche, wenn auch mit erkennbarem Widerwillen. Kerstin streckte ihre Hand aus. Sie fühlte sich ein wenig außen vor.

»Niklas Grundström hat jetzt die Abteilung für interne Ermittlungen unter sich«, fuhr Hultin fort.

»Ich hatte schon vermutet, daß es so kommen würde«, sagte Paul Hjelm.

»Er will eure Hilfe.«

Da ging Kerstin ein Licht auf. Vor Urzeiten. Paul war wegen Regelwidrigkeiten im Zusammenhang mit einer Geiselnahme in Hallunda angeklagt gewesen. Der damals die Klage geführt hatte, war kein anderer als Niklas Grundström. Und es war Jan-Olov Hultin, der ihn damals gerettet hatte.

»Hilfe?« fragte Paul Hjelm skeptisch. »Er will unsere Hilfe?«

»Wie wäre es, wenn du mit ihm selbst redest«, sagte Hultin grantig.

Grundström fuhr sich durch sein blondes Haar – das bedenklich schütter geworden war, dachte Paul mit Genugtuung.

Das nahm Kerstin auf jeden Fall an.

Grundström räusperte sich und sagte: »Habt ihr heute schon die Schlagzeilen gelesen?«

Kerstin seufzte. Na gut denn. Sie sollte nicht darum herumkommen.

»Was ist passiert?« fragte Hjelm kurz.

»Wir wissen es nicht sicher«, sagte Grundström. »Wir hoffen, daß ihr es für uns herausfindet.«

»Personalmangel?«

»Er weigert sich, mit unseren Leuten von der Internabteilung zu reden.«

»Das hat euch doch nie gehindert.«

Niklas Grundström machte eine kleine Pause und blätterte sinnlos in einem Papierstapel. »Seit ich die Abteilung übernommen habe«, sagte er, »versuchen wir, eine neue Strategie umzusetzen. Die Anzahl der Ermittlungen ist höher denn je, das wißt ihr, und in dieser Lage müssen wir eine funktionierende Arbeitssituation aufrechterhalten können. Die Existenz der Abteilung für interne Ermittlungen insgesamt ist in Frage gestellt. Immer öfter werden Forderungen nach unabhängigen Ermittlungen gegen angeklagte Polizeibeamte laut, wie im Fall Osmo Vallo. Dann wird es bedeutend härter als heute, Polizist zu sein. Und es ist schon hart genug. Ich habe die wasserdichten Schotten zwischen uns und euch abbauen wollen. Deshalb brauche ich eure Hilfe.«

Paul und Kerstin wechselten Blicke.

Glaubwürdig? Tja, vielleicht. Aber mit Einschränkungen.

»Warum gerade unsere?« fragte Kerstin Holm.

Niklas Grundström seufzte tief und biß in den sauren Apfel: »Weil es heißt, daß ihr die Besten seid.«

»Die Besten worin?« fragte Paul, um noch einen weiteren Biß ins Saure zu provozieren.

»Die besten Vernehmungsleiter. Bist du jetzt zufrieden?«

Kerstin sprang ein: »Erzähl schon.«

Grundström holte ein Blatt Papier heraus, auf das er während der folgenden Darstellung keinen einzigen Blick warf: »Gestern nachmittag wurde die Stadtteilpolizeiwache Huddinge tätig aufgrund eines Hinweises, daß fünf zur Abschiebung verurteilte afrikanische Flüchtlinge sich in einer Wohnung im Ortsteil Flemingsberg versteckt hielten. Vier Polizeiassistenten trafen …«

»Aufgrund eines Hinweises?« unterbrach Hjelm tonlos.

»Eines Hinweises«, bekräftigte Grundström sinnlos.

»Eines anonymen Hinweises?« fuhr Hjelm ebenso tonlos fort.

Grundström wand sich ein wenig. »Der Hinweis kam von der Migrationsbehörde. Darf ich weitermachen?«

»Aber selbstverständlich.«

»Vier Polizeibeamte begaben sich zu der angegebenen Wohnung und sammelten die Flüchtlinge ein. Einer von ihnen, ein Winston Modisane aus Südafrika, konnte jedoch durch ein Fenster aus der Wohnung fliehen und gelangte über die Brandleiter auf das Dach des Hauses. Einer der Beamten verfolgte ihn. Auf dem Dach angekommen, schoß Modisane auf ihn. Der Beamte erwiderte das Feuer – mit einem einzigen Schuß. Er traf direkt ins Herz. Winston Modisane war auf der Stelle tot. Es gelang uns, den Vorfall bis heute früh aus den Medien herauszuhalten. Gewisse gewiefte Blätter haben es jedoch in der Frühausgabe gebracht.

Paul und Kerstin sahen sich an, doch es war Hultin, der sagte: »Aber das hört sich ja nach einer regelrechten Schießerei an …«

Grundström schnitt eine Grimasse und sagte: »Es gibt gewisse erschwerende Umstände …«

»Wie zum Beispiel?«

»Wie zum Beispiel, daß die Einsatzgruppe die Tür einschlug, ohne vorher zu klingeln. Wie daß der betreffende Beamte erst kürzlich nach längerer Suspendierung wieder in Dienst getreten war. Nach menschlichem Ermessen hätte er entlassen werden müssen, aber irgendwo hat irgendwer Gnade vor Recht ergehen lassen. Ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse.«

Etwas in Kerstin Holm geriet in Bewegung. Ein tiefes und unmittelbares Unbehagen. »Warum war er suspendiert?« fragte sie mit einer so eigentümlichen Stimme, daß Paul Hjelm sie entgeistert anstarrte.

»Wegen Alkoholproblemen«, sagte Niklas Grundström kristallklar.

Und das tiefe und unmittelbare Unbehagen wurde rosenrot.

Grundström fuhr erbarmungslos fort: »Er heißt Lundmark. Dag Lundmark.«

3

Mitten im Zentrum von Flemingsberg, genauer gesagt im Diagnosväg, nicht weit von der Post, ragte Giottos im dreizehnten Jahrhundert entworfener Campanile zum Himmelsgewölbe empor. Auf der anderen Seite von Hälsovägen erstreckten sich am Ufer des Arno die Uffizien, vollgehängt mit Botticellis, Raffaels, Michelangelos und Leonardo da Vincis. Und unten am Huddingeväg, gleich diesseits der roten Ampel, lag der Dom mit Brunelleschis mächtiger roter Kuppel.

Oder auch: Arto Söderstedt hatte Sehnsucht nach Italien.

Viggo Norlander hatte diesen Zustand wirklich reichlich satt. Er lag wie ein Schleier vor den Augen des Kollegen, und Viggo meinte zu sehen – wie in einem kitschigen Reklamefilm –, wie die toskanischen Szenerien einander auf diesem Schleier ablösten. Und das war äußerst anstrengend. »Verdammt, Arto«, schnauzte er. »Das da ist die total triste Kirche von Flemingsberg. Das da ist das noch tristere Krankenhaus von Huddinge. Und dies hier ist Södertörns Hochschule. Nichts anderes.«

Arto Söderstedt betrachtete ihn mit himmlischer Geduld. »In deiner Welt vielleicht«, sagte er und streckte sich.

Sie standen auf einem Hausdach zehn Stockwerke über Flemingsbergs Zentrum und blickten über den sonnenbeschienenen südlichen Vorort, der die vielleicht allerunerträglichsten Bauwerke des Millionenprogramms umfaßte. Vor wenigen Jahren noch hatte Flemingsberg den schlechtesten Ruf von allen Stockholmer Vororten – sogar noch schlechter als Tensta und Alby, Fittja und Rinkeby –, doch seit einiger Zeit besserte sich dieser Ruf. Das lag vor allem an Södertörns Hochschule, die sich über das gesamte Zentrum hinzog. Eine Hochschule, die auch die Desillusioniertesten wieder an eine Zukunft für das schwedische Universitäts- und Hochschulwesen glauben ließ. Obwohl sie mit haarsträubendem Verlust geführt wurde. Sie war eine Prüfung für die Regierenden. Alle liebten diese Hochschule, und wenn sie meilenweit über den Rand des Konkurses hinaus betrieben wurde – niemand würde es wagen, sie zu schließen.

Vielleicht waren derartige Machtmittel vonnöten.

»Ich verstehe dich nicht«, klagte Viggo Norlander. »Du wärst beinah hops gegangen da unten in Italien. Sie haben dir eine Pistole in die Fresse gedrückt, daß die Zähne nur so flogen. Alle deine Illusionen vom Paradies sind ein Scherbenhaufen. Und trotzdem sehnst du dich jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde zurück.«

»Sieh mal da«, sagte Arto Söderstedt und zeigte auf etwas.

»Na gut, wenn du nicht antworten willst«, sagte Norlander beleidigt und folgte dem Zeigefinger des Kollegen hinüber zum Nachbardach, auf dem blau-weiße Plastikbänder im Wind flatterten, als wollten sie die Krähen verscheuchen.

Dann seufzte Viggo Norlander tief.

»Sie sind alle ziemlich gleich«, sagte Söderstedt mit Engelsgeduld und wandte sich um. Er ging zur Tür des Raums, der wie ein kleines Haus auf das große Haus gesetzt war; dahinter führte eine Treppe zum Dachboden.

Norlander ging grummelnd hinterher.

Es war das dritte Mal, daß sie das falsche Haus erklommen hatten.

»Aber jetzt sind wir dicht dran«, sagte Söderstedt aufmunternd.

Viggo Norlander fühlte sich nicht aufgemuntert.

Obwohl der grummelnde Viggo Norlander inzwischen hauptsächlich eine Maske war – sie entsprach dem, was man von ihm erwartete, und aus reiner Freundlichkeit hielt er daran fest. Im Grunde war er ein glücklicher Mensch, frischgebackener Vater einer zweiten mirakulösen Tochter in ebenso vielen Jahren. Im Alter von zweiundfünfzig. Er bewegte sich im Kreis zarter Mädchen wie unter Engeln. Er war schon im Paradies, also brauchte er sich nicht danach zu sehnen. Und folglich erschien ihm die ständige Sehnsucht seines Kollegen als ziemlich – läppisch, ganz einfach. Kindisch.

Anderseits hatte er nie richtig begriffen, was mit Arto Söderstedt in Italien eigentlich passiert war.

Ein beträchtlicher Teil des letzten großen Falls der A-Gruppe hatte sich in Europa, vor allem in Italien abgespielt, außerhalb der Reichweite aller, nur nicht von Söderstedt. Und er hatte nicht mehr erzählt, als was rein professionell gesehen von ihm verlangt wurde.

Aber etwas fehlte.

Puzzleteile.

Er hatte behauptet, seine Frau sei schwanger, aber als sie wieder nach Hause kamen, war davon keine Spur zu sehen.

Er hatte ein Vermögen geerbt, aber jetzt tat er, als hätte es nichts dergleichen gegeben.

Er war als Europol-Polizist erfolgreich gewesen, hatte aber nicht einen Augenblick daran gedacht, Kapital daraus zu schlagen.

Er hatte mindestens einen Kriegsverbrecher aus dem Zweiten Weltkrieg zur Strecke gebracht, aber kein Wort darüber verloren, wie es eigentlich zugegangen war.

Der heimgekehrte Arto Söderstedt war ganz einfach ein Wunder an Zurückhaltung.

Doch damit mußte Viggo Norlander zu leben lernen. Söderstedt schloß sich wie eine Muschel, und entweder war er dabei, eine Perle herzustellen – oder er wurde gerade gargekocht.

Fressen oder gefressen werden, dachte Norlander verwirrt und zwängte sich in den nach Urin stinkenden Aufzug, nur um sich daran zu erinnern, daß der außer Betrieb war. »Wir lassen es an Effizienz mangeln«, sagte er zum Aufzugspiegel.

»Du jedenfalls«, sagte Söderstedt, öffnete die Aufzugtür von außen und vollführte eine galante Geste hin zur langen und wenig einladenden Treppe.

Norlander war overdressed. Ihm gefiel das Wort, nicht aber die Sache. Er meckerte vor sich hin, während sie Stockwerk um Stockwerk nach unten kreisten. Ich bin overdressed. Ich bin overdressed.

Was ganz einfach bedeutete, daß er eine viel zu dicke Jacke trug, genauer gesagt eine schwarze Steppjacke vom denkbar plumpesten Modell. Wie üblich war er völlig unfähig gewesen, das Wetter richtig einzuschätzen. Er hatte am Morgen einen Blick aus dem Fenster und dann aufs Thermometer geworfen und – das Falsche gewählt. Dünne Sachen bei Kälte, warme Sachen bei Wärme. Das war unfehlbar.

Die Jacke war als Arbeitskleidung gänzlich ungeeignet, weil es eine halbe Minute dauern würde, aus allen krausen Falten die Pistole herauszufummeln. Zum Glück hatte er es nie ausprobieren müssen. Und morgen würde die Steppjacke im Flur bleiben. Egal, wie das Wetter war.

Und heute hatte er nicht die Absicht, die Waffe zu ziehen.

Sie gelangten nach unten und traten auf die Straße. Söderstedt blieb eine Weile stehen und richtete den Blick zum klarblauen Himmel. Norlander hatte nichts dagegen. Er legte die Hände an die Knie, beugte sich vor und atmete aus.

Und das ihnen, die gar nicht hier hätten sein sollen.

Die Morgensitzung in der Kampfleitzentrale war eingestellt worden. Statt dessen hatte Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin sie in sein Büro gerufen und sie in inoffiziellem Ton gebeten, sich in Flemingsberg eine Wohnung anzusehen. »Ihr sollt nur mal die Lage peilen«, hatte er gesagt.

»Nur mal die Lage peilen?« hatte Norlander in extrem vielsagendem Ton erwidert.

Was mit großer Akkuratesse ignoriert wurde. »Ja«, antwortete Hultin neutral.

Das also hatte es damit auf sich.

Zum Glück funktionierte der Aufzug im Nachbarhaus. Ansonsten unterschieden sich die Häuser in keinem einzigen Detail. Sie waren ganz einfach identisch.

Es war zu vermuten, dachte Norlander, daß so die Hölle aussah. Alles identisch. Nichts hob sich heraus. Man bewegte sich von Ort zu Ort, von Höllenfeuer zu Höllenfeuer, und alles war genau wie alles andere.

Im neunten Stock hielt der Aufzug. Es war nicht schwer, die Wohnung zu finden. Die letzte Tür im Flur war ziemlich demoliert und wurde außerdem von einem gelb-schwarzen Aufkleber und einem kleinen blau-weißen Plastikband geziert.

Leider war die Tür offen.

Im Wohnungsinnern waren Bewegungen zu erkennen.

Norlander seufzte.

Er dachte an seine Schicht um Schicht in Daunenpolster eingebettete Dienstwaffe. Er dachte an das gerade erst geleistete Versprechen – ›heute hatte er nicht die Absicht, die Waffe zu ziehen‹. Er dachte an das alte Versprechen, das er seiner Lebensgefährtin Astrid und seinen Töchtern Charlotte und Sandra gegeben hatte: Nein, ich werde nicht sterben. Dann begann er, am Reißverschluß zu fummeln.

Die Mühe hätte er sich sparen können. Der Mann, der ihn durch den Türspalt anschaute, war anständig gekleidet und hielt ihnen einen Polizeiausweis entgegen. »Verschwinden Sie«, sagte er forsch. »Polizei.«

»Hier auch«, sagte Arto Söderstedt, hielt seinen Polizeiausweis dagegen und fuhr fort: »Arto Söderstedt und Viggo Norlander, ›Spezialeinheit beim Reichskriminalamt für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter‹.«

Der Mann betrachtete sie mißtrauisch. Dann sagte er: »Die A-Gruppe?«

»The one and only.«

»Das hier ist unser Fall.«

»Ich nehme an, ihr seid von der Abteilung für Internes?«

»Dann begreifst du auch, warum ihr wieder gehen müßt.«

»Nein«, sagte Söderstedt mit einem engelgleichen Lächeln.

Zum Teufel auch, dachte Viggo Norlander und betrachtete seinen vollkommen weißen Kollegen, der von hereinfallendem Sonnenlicht umhüllt war. Er sieht tatsächlich aus wie ein Engel.

»Euer Chef, Kommissar Niklas Grundström, hat uns um Hilfe gebeten«, verdeutlichte Söderstedt.

Der Mann wurde nachdenklich. Er war gute fünfzig und gehörte zweifellos zur alten Garde interner Ermittler. »Das zu glauben fällt mir sehr schwer«, sagte er, aber es war ihm anzusehen, daß er es glaubte, es war ihm anzusehen, daß er seinen Chef verfluchte, und es war ihm anzusehen, daß es nicht das erste Mal war.

Das fand auf jeden Fall Viggo Norlander und kam sich scharfsinnig vor.

»Du kennst doch sicher eure neue Politik?« sagte Söderstedt und streute mit einem Wedeln seiner Engelsflügel Salz in die Wunden.

Der Mann sah maßlos vergrätzt aus, tat eine Weile so, als überlegte er, und ließ sie dann herein.

Das erste, was ihnen begegnete, war ein Spiegel. Er begegnete ihnen von unten. Norlander war froh, daß er overdressed war. Die dicken Winterstiefel hielten den Scherben stand. Und da Arto Söderstedt den Boden nicht berührte, sondern darüber schwebte, kam auch er nicht zu Schaden.

Der anständig gekleidete Kollege sah ein wenig enttäuscht aus. Ein bißchen Leiden hätte ihnen wohl nicht geschadet. Den Eindringlingen.

»Bist du hier … zur Bewachung?« fragte Norlander.

»Ich schließe unsere Untersuchung ab«, sagte der Mann.

»Wie heißt du?«

»Åke Danielsson.«

»Du schließt also eure Untersuchung ab, Åke? Und was bedeutet das?«

»Hör auf«, sagte Åke Danielsson.

Während dieser stimulierende Wortwechsel vor sich ging, nahm Arto Söderstedt die Gelegenheit wahr, sich einen Eindruck von der Wohnung zu verschaffen, in der fünf afrikanische Flüchtlinge sich vor dem Gesetz versteckt gehalten hatten. Aus dem mikroskopisch kleinen Flur kam man direkt in die Küche. Es war eine Zweizimmerwohnung, spartanisch möbliert, der Fußboden übersät mit den Überresten der Zerstörung. Türsplitter, Spiegelscherben – und ein alter Wecker. Er hob ihn vom Küchenfußboden auf und betrachtete ihn. Er zeigte Viertel nach vier. Der Todesaugenblick. Oder fast der Todesaugenblick.

»Rührt nichts an«, sagte Åke Danielsson, allerdings jetzt fast ein wenig bittend. Seine Forschheit war wie weggeblasen.

»Warum nicht?« sagte Söderstedt, ohne den Blick von dem kaputten Wecker zu wenden. »Habt ihr vergessen, eine Tatortuntersuchung zu machen?«

Aber ihm war nicht danach, zu sticheln. Er legte den Wecker dahin zurück, wohin er offenbar gehörte. Auf den Fußboden. Dann ging er in das angrenzende Zimmer. Es war ein Schlafzimmer. Zwei Betten und drei zusammengerollte Matratzen. Kahle Wände. Durchgangswohnung. Kein Grund, sich häuslich einzurichten. Nichts, was einem leid tat, wenn man sie in aller Eile verlassen mußte. Nichts, woraus man vertrieben werden konnte.

Arto Söderstedt kannte das Gefühl.

Wenn auch auf einer wesentlich privilegierteren Ebene.

Auch er war vertrieben worden. Aus dem Paradies.

Doch das war eine andere Geschichte.

Vor dem nächstliegenden Fenster führte eine Brandleiter aufs Dach. Ein blau-weißes Band versperrte den Zutritt. Söderstedt wandte sich zu Danielsson um und machte eine kleine Geste zum Fenster hin. Danielsson antwortete mit einer hilflosen Grimasse, und Söderstedt riß das Fenster auf.

»Das stand also offen?« fragte er.

Danielsson trat ans Fenster und nickte. »Vermutlich stand es ständig offen«, sagte er. »Ein vorbereiteter Fluchtweg.«

»Und wie würdest du bis hierhin den Ablauf des Geschehens rekonstruieren?«

Danielsson tippte sich mit den Fingerspitzen an die Stirn. Es sah aus, als versuchte er, die Töne der Rekonstruktion auf der Tastatur des Großhirns zu improvisieren. »Fünf Flüchtlinge am Küchentisch. Kaffeebecher. Sie tranken Kaffee, als vorschriftswidrig die Tür eingeschlagen wurde. Der Spiegel fiel von der Wand, der Wecker vom Tisch. Chaos. Der Flüchtling, der dem Fenster am nächsten ist, faßt den Fluchtweg ins Auge.«

»Winston Modisane«, sagte Söderstedt.

Danielsson nickte und fuhr fort: »Er stürzt zum Fenster und springt raus. Der Kollege folgt ihm, ohne zu wissen, daß Modisane bewaffnet ist.«

»Dag Lundmark«, nickte Söderstedt und zeigte zum Fenster. »Wollen wir auch mal ihren Spuren folgen?«

Åke Danielsson vollführte eine unwillige Geste zum Fenster hin. Söderstedt glitt hinaus. Danielsson ächzte hinterher. Norlander ebenso.

Die Brandleiter, die aufs Dach führte, war alles andere als solide und bog sich unter der gesammelten polizeilichen Last.

Sie stiegen über die nächste Sektion blau-weißen Plastikbands und betraten das Dach. Hier oben war nichts außer einem kleinen Aufbau, der wie ein kleines Haus aus dem großen herauswuchs. Söderstedt ging hin. Er faßte an die Türklinke, und die Tür öffnete sich. Er schloß sie wieder.

Dann nickte er und ging eine Weile auf dem Dach umher. »Okay«, sagte er. »Warum haut Winston Modisane ab? Natürlich um weiterzufliehen, in die Freiheit. Wenn man sich vorstellt, daß das Fenster da unten immer offengestanden hat, als Fluchtweg, wie du gesagt hast, Åke – warum, zum Teufel, bleibt er dann hier auf dem Dach und schießt auf den Polizisten, der ihn verfolgt? Warum läuft er nicht einfach weiter? Hierhin? Und durch die Tür zum Dachboden?«

»Nach unserer Einschätzung«, sagte Danielsson, »gibt es zwei Möglichkeiten: erstens, daß er ganz einfach in Panik gerät und wild zu schießen anfängt …«

»Wieviel Schuß hat er abgegeben?«

»Zwei Kugeln fehlten im Magazin, was zu Marklunds Aussage paßt.«

»Lundmarks. Und was haben die anderen gesagt? Haben sie auch zwei Schüsse gehört?«

»Einerseits haben wir noch nicht mit ihnen sprechen können, anderseits besteht keine Veranlassung, es zu bezweifeln. Zwei Schuß fehlen. Alles deutet darauf hin, daß sie abgefeuert wurden. Die Zahl stimmt.«

»Okay … Und die andere Möglichkeit? Wenn es nicht – Panik war?«

»Daß Lundmark ganz einfach zu nah war. Dem Afrikaner wurde klar, daß er nicht mehr weglaufen könnte. Statt dessen schoß er.«

Söderstedt nickte. Norlander betrachtete ihn. Dieses Verhalten war ihm vertraut. Das war der alte Arto. Arto-vor-Italien. Der richtige Arto.

»Wo lag er?« fragte der richtige Arto.

»Wo du stehst.«

Arto Söderstedt blickte sich nach allen Seiten um. Er stand an der Dachkante, vom Abgrund durch ein niedriges und anscheinend wackliges Gitter getrennt. Ein paar mickrige Meter rechts von ihm kam die Brandleiter hoch. Ebenso viele Meter schräg links von ihm endete die Speichertreppe mit der Tür in dem kleinen Extraaufbau. Dahinter nach links erstreckte sich noch viel Dach.

»Und wo lag Modisanes Pistole?« fragte Söderstedt.

»Genau neben ihm«, sagte Danielsson.

»Und durch diese Speichertür geht es wohin?«

»An den Speicherverschlägen vorbei und ein Stockwerk tiefer ins Treppenhaus. Zum Aufzug.«

Söderstedt ging eine Weile auf und ab. Er schnupperte in die Luft, als versuchte er, die Atmosphäre aufzunehmen. Dabei rieb er die Fingerspitzen aneinander. »Nein«, sagte er schließlich. »Das hier stimmt nicht.«

Åke Danielsson starrte auf Viggo Norlander, offenbar in der Hoffnung, bei einem Generationsgenossen Rückhalt zu finden. Aber Norlander war nur dem Anschein nach Generationsgenosse, er war ein wie neugeborener Papa kleiner Mädchen und hegte großen Respekt vor seinem nur wenig jüngeren Partner. Keine Blicke, die besagten ›Großer Gott, was für Zeiten stehen uns bevor‹, konnten ihm etwas anhaben.

»Was stimmt denn nicht?« fragte Åke Danielsson gereizt.

Arto Söderstedt betrachtete ihn engelgleich. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er sanft.

4

Der leicht ergraute Polizeibeamte mit dem blonden Schnauzer blickte in sein Spiegelbild, und man sah ihm an, daß er wußte, was sich dahinter befand: eine Bande prüfender interner Ermittler. Direkt vor seiner Nase. Und ein gewisses Maß an Ironie ließ sich von seinem Lächeln denn auch ablesen.

Es gefiel Paul Hjelm nicht, was er da sah. Allzu selbstsicher. Allzu unberührt. Es würde sehr, sehr schwer werden, ihm beizukommen.

Wenn es denn das war, worauf sie aus waren.

Obwohl er eigentlich nicht so sehr an den Polizeiassistenten Dag Lundmark dachte. Er dachte mehr an den Anlaß dafür, daß er ihn betrachtete.

Und der Anlaß stand neben ihm in dem kleinen Kabuff. Der Anlaß wirkte vollkommen unberührt.

Hjelm hatte wirklich gehofft, Niklas Grundström nie wieder zu begegnen. Nach den traumatischen Ereignissen im Gefolge der Hallunda-Schießerei war er nur noch einmal auf ihn gestoßen. Und zwar vor gut einem Jahr, im Anschluß an eine andere Schießerei, in einem Hotelzimmer in Skövde.

Hjelm befand sich wegen einer Schußwunde am Arm im Kärn-Krankenhaus in Skövde. Die Begegnung war vollkommen problemlos verlaufen. Als ob Grundström darauf aus war, sich Meriten zu verschaffen. Und kurz darauf war er also Chef der gesamten Abteilung für interne Ermittlungen geworden. Ein Karrierist wie aus dem Bilderbuch. Aber durchaus nicht ohne Kompetenz: eine Art klarer, ungetrübter, gänzlich gefühlsneutraler Fähigkeit.

Niklas Grundström hätte für jedes Regime arbeiten können. Das war es wohl, was ihn unangenehm machte.

Und er würde Paul Hjelm nie, wirklich nie um Hilfe bitten, wenn er dabei nicht einen Hintergedanken hatte.

Nach diesem Hintergedanken suchte er in Dag Lundmarks leicht verfetteten Gesichtszügen, denen die Schwerkraft merklich zusetzte.

Und Kerstin? Was war mit ihr los? Sie war sehr bleich und verhielt sich ganz generell eigenartig. Wie hypnotisiert starrte sie den fettlichen Schnauzermann an, der allein im Vernehmungsraum saß und sie betrachtete, ohne sie zu sehen.

Hjelm konnte sich keinen Reim darauf machen.

Er sollte eigentlich in der Lage sein, sich einen Reim darauf zu machen, aber es gelang ihm nicht. Grundström verwirrte ihn. Grundströms Hintergedanken. Wohin war die gute alte, die voraussetzungslose Polizeiarbeit entschwunden? Bei der es darum ging, die Wahrheit zu suchen, und nichts als die Wahrheit?

Sich aus Jan-Olov Hultins Miene eine Antwort zusammenzureimen war wie üblich aussichtslos. Der Alte stand nur da und warf unergründliche Blicke durch den Blindspiegel.

Die ganze Situation war äußerst irritierend.

Er schaute Kerstin wieder an. Gegen Ende des letzten großen Falls der A-Gruppe waren ihrer beide Gehirne eins geworden. Sie dachten die gleichen Gedanken. Und jetzt? Nein, sie war unerreichbar.

Was war los mit ihr?

Er erhielt ziemlich umgehend eine Antwort.

»Nein«, sagte Kerstin. »Nein, ohne mich.«

»Was?« stieß Hjelm hervor.

Hultin und Grundström betrachteten sie mit ihrer jeweiligen Form von Neutralität. Sie waren auf merkwürdige Weise wesensverschieden.

»Das ist keine Anfrage«, sagte Hultin. »Das ist ein Befehl.«

»Ich bin befangen«, sagte Holm. »Ich kann Dag Lundmark nicht verhören. Wir waren verlobt. Ich habe noch seinen Verlobungsring.«

Drei Augenpaare richteten sich auf ihre linke Hand. Danach wanderten sie aufwärts zu ihrem bleichen Gesicht.

»O verdammt«, sagte Paul Hjelm. »Der?«

Jetzt richteten sich zur Abwechslung drei Augenpaare auf ihn.

»Ja«, sagte Kerstin Holm und sah bedrückt aus. »Der.«

Und Szenen vertraulicher Intimität zogen in Paul Hjelms Kopf vorüber. Wie Kerstin von dem Kollegen in Göteborg erzählt hatte, der sie gewohnheitsmäßig, ohne je darüber nachzudenken, Nacht für Nacht vergewaltigt hatte. Sein Blick kehrte zurück zu dem blinden Spiegel und dem fettlichen Schnauzbartträger. Und die Bilder paßten nicht zusammen.

Die Bilder paßten nicht zusammen.

Kerstin und – der da? Nein.

Doch die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen.

Jetzt gab es nur noch ein neutrales Augenpaar in dem kleinen Kabuff, und das war das von Jan-Olov Hultin. Niklas Grundström war nachdenklich geworden. Offenbar grübelte er erstens über Informationslücken des internen Archivs nach und zweitens über logistische Maßnahmenpakete.

Er fragte sich mit anderen Worten, wie zum Teufel ihm dies hier hatte entgehen können und was zum Teufel er jetzt tun sollte.

Allem Anschein nach war er schon zu einem Entschluß gekommen, als er sagte: »Ich brauche nicht eure Hilfe.«

Einen Moment herrschte Schweigen im Kabuff. Sogar Hultin zog eine Augenbraue hoch.

Grundström fuhr fort: »Ich brauche einen operativen Chef.«

Hjelm warf einen Blick auf Dag Lundmark. Der mit einem schiefen Lächeln dasaß, als hörte er genau, was hier im Kabuff vor sich ging. Diese billige Farce.

»Du brauchst einen operativen Chef«, sagte Hjelm kühl, wandte sich um und zeigte auf Hultin. »Und du bist also einverstanden?«

»Ja«, sagte Hultin. »Und ich habe auch Empfehlungen ausgesprochen.«

Grundström sagte: »Wir sprechen von einem Führungsposten als Kommissar in der Stockholmer Sektion der Abteilung für interne Ermittlungen. Chef der Stockholmer Interna. Ungefähr zwanzigtausend mehr im Monat, als ihr jetzt habt. Vielleicht noch etwas mehr.«

»Der Posten ist wie für einen von euch beiden zugeschnitten«, sagte Hultin.

Hjelm und Holm sahen ihn an. Dann sahen sie einander an. In einer anderen Situation hätten sie angefangen zu lachen. Wenn nicht auf der anderen Seite des Spiegels Dag Lundmark gesessen hätte.

»Wir können den Job teilen«, sagte Hjelm.

Grundström beobachtete ihn. Nach kurzer Denkarbeit sagte er: »Irgendwo unter dieser schlampigen Oberfläche lebt wohl trotz allem ein kleiner Karrierist, Hjelm. Einer, der nichts dagegen hätte, gegen alle Wahrscheinlichkeit und gegen massiven Widerstand zu kämpfen. Einer, der nichts dagegen hätte, gewisse kranke Stellen aus dem Polizeikorps zu entfernen. Einer, der nichts dagegen hätte, sich ein paar Reisen nach Paris oder New York im Jahr leisten zu können, jetzt, wo die Kinder das Nest verlassen. Berichtige mich, falls ich mich irre.«

Paul Hjelm betrachtete ihn. Lange.

Er berichtigte ihn nur in einem einzigen Punkt: »Ich bin kein Karrierist«, sagte er leise.

»Das habe ich auch nicht behauptet«, entgegnete Grundström. »Ich habe gesagt, daß irgendwo unter dieser schlampigen Oberfläche wahrscheinlich ein kleiner Karrierist lebt. Das ist etwas ganz anderes.«

Paul Hjelm schwieg. Okay, schwieg notgedrungen.

Niklas Grundström wandte sich an Kerstin Holm. »Alles, was ich zu Hjelm gesagt habe, gilt auch für dich, Holm. Alles, außer der schlampigen Oberfläche.«

Das war wohl das höchste, was Niklas Grundström an Kompliment zuwege brachte.

»Und außer den Kindern«, sagte Hjelm.

Kerstin Holm stand da und drehte ihren Ring. »Ich bin trotzdem befangen«, sagte sie nur.

Grundström setzte an. »Es ist ein Grenzfall«, sagte er. »Es dürfte an die sieben, acht Jahre her sein, daß eure Beziehung zu Ende gegangen ist. Es müßte nicht unbedingt Befangenheit vorliegen. Wenn nicht dieser Ring da …«

Wieder wandten sich alle Blicke Kerstin Holms linker Hand zu.

Sie hörte auf, den Verlobungsring zu drehen. »Er sitzt fest«, sagte sie.

Grundströms Miene ließ erkennen, daß er noch etwas in der Hinterhand hatte. »Sieh ihn dir an«, sagte er und nickte zur Spiegelrückseite hin. »Man sieht doch klar, daß da irgend etwas nicht stimmt?«

Sie betrachteten Dag Lundmark durch den blinden Spiegel. Und nickten. Alle drei. Auch Hultin.

»Ich wende den Braten noch einmal«, fuhr Niklas Grundström fort. »Ich benötige wirklich eure Hilfe. Auch. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen will ich sehen, wie ihr arbeitet, will live sehen, ob ihr für eine so ungewöhnlich verantwortungsvolle und exponierte Stellung geeignet seid. Zum anderen will ich tatsächlich, daß ihr durch diese Maske da dringt. Ich habe nicht den geringsten Beweis, ja nicht einmal den Hauch eines Hinweises, daß bei der Schießerei in Flemingsberg etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Auf ihn wurde geschossen, und er erwiderte das Feuer. Nichts spricht dagegen. Außer …«

»Witterung«, sagte Kerstin Holm.

Grundström betrachtete sie, und vermutlich glaubte er, Zeuge des Kampfs zu sein, der sich in ihrem Innern abspielte. Des Kampfs zwischen dem beruflichen und dem privaten Leben. Welches war das richtige?

»Witterung«, nickte er.

Hjelm dachte in anderen Bahnen: »Sollen Kerstin und ich also da drinnen sitzen und miteinander konkurrieren? Und du stehst hier draußen wie ein Punktrichter beim Kunstspringen und hältst neun Komma fünf und acht Komma null in die Höhe?«

»So funktioniert es nicht«, sagte Grundström ernst. »Ich will mir nur ein allgemeines Bild davon machen, wie ihr denkt. Ich weiß, daß es schwierig wird, aber ihr müßt versuchen, meine Anwesenheit zu vergessen.«

»Deine Anwesenheit im Spiegel«, sagte Hjelm. »›Sieh in dein Herz, Hjelm‹, erinnerst du dich? Ich hatte den Kosovoalbaner Dritëro Frakulla gerettet, indem ich ihn in die Schulter schoß. Und du bist davon ausgegangen, daß ich aus rassistischen Motiven gehandelt habe. ›Sieh in dein Herz‹, my ass. Warum sollte dein Urteilsvermögen jetzt besser funktionieren?«

Grundström begegnete seinem Blick. Vielleicht sprach aus dem eigenen ein klein wenig Schmerz. Ein klein wenig Scham. »Mir ist eine Fehleinschätzung unterlaufen«, sagte er. »Und ich bedaure es.«

Er blickte sich im Kabuff um und konterte. Alles andere wäre undenkbar gewesen. Grundström war kein Mann, der auch die andere Wange hinhielt. »Es war dennoch ein Nichts verglichen mit dem Kentuckymörder, oder etwa nicht?«

Hultin räusperte sich und starrte ihm kalt in die Augen. »Dafür haben wir einen hohen Preis bezahlt«, sagte er im frostigsten Ton der Neutralität. Die Abteilung wurde geschlossen, und ich wurde entlassen. Vielleicht erinnerst du dich. Welchen Preis hast du für deine Fehleinschätzung bezahlt?«

Hjelm befürchtete eine Sekunde lang, daß Hultin im Herbst des Alters die frühere Unsitte wieder annehmen wollte, per Kopfstoß Augenbrauen zu zerschmettern. Doch dann erlosch Hultins Blick und wandte sich wieder dem blinden Spiegel zu. Er war gealtert. Und akzeptierte es widerwillig.

Grundström schwieg. Okay, schwieg notgedrungen.

Dann sagte Kerstin Holm: »Es ist trotzdem Befangenheit.«

Grundström machte die Augen zu und brachte seine Gedanken wieder auf Kurs: »Wie ging eure Beziehung zu Ende?« fragte er.

»Wie meinst du das?« fragte sie zurück.

»Ist sie im Zorn auseinandergegangen? Gab es böses Blut?«

»Böses Blut kehrt wieder«, sagten Paul und Kerstin im Chor. Obwohl sie das nie wieder sagen wollten.

Sie sahen einander an und brachen plötzlich in ein Lachen aus, das möglicherweise befreiend genannt werden konnte.

Grundström wartete.

Und schließlich faßte sich Kerstin Holm: »Nicht direkt«, sagte sie. »Da war viel Wut und Zorn in der eigentlichen Beziehung, doch das Ende ergab sich wie von selbst. Es war vorbei, und wir wußten es beide.«

»Hat er nach eurer Beziehung angefangen zu trinken?«

»Nein, er trank schon damals heftig. Es war einer der Gründe, warum es auseinanderging. Und er war schon versoffen genug, um sich nicht besonders viel daraus zu machen, daß ich ihn verließ. Er merkte es vielleicht nicht einmal. Er hatte eine andere Liebe. Die Flasche.«

»Hast du mit jemand darüber gesprochen?«

»Mit unseren Vorgesetzten. Aber sie waren Kumpel.«

»Kommissar Victor Lövgren, ja. Der Mann, der für ihn bürgte und dafür sorgte, daß er degradiert wurde und im Entzug landete, statt gefeuert zu werden.«

»Ich verstehe nur nicht«, sagte Kerstin Holm, »was er hier tut. Er ist Göteborger durch und durch. Was macht er in Stockholm?«

»Unter solchen Umständen wird man nach der Suspendierung versetzt«, erklärte Grundström sachlich. Dann wechselte er die Richtung: »Was ich hingegen nicht verstehe: Warum findet sich nichts über eure Beziehung in unseren Unterlagen?«

»Wir hielten uns sehr bedeckt. Lövgren war gegen weibliche Polizisten im allgemeinen und gegen Beziehungen zwischen Polizeibeamten im besonderen.«

Grundström reichte ihnen je einen flachen Papierstapel. Er selbst schien der Typ zu sein, der nie Unterlagen zu Rate zog. Hatte er ein Papier einmal angesehen, reichte das für alle Zeiten. Hjelm fand, daß das eine ganze Menge über seine Persönlichkeit aussagte.

»Dag Lundmark ist vor kurzem fünfzig geworden«, rezitierte Grundström denn auch entsprechend. »Er schloß 1975 die Polizeihochschule ab und wurde Ordnungspolizist in Göteborg, wo er blieb. 1978 heiratete er Anna Högberg, 1987 wurde er zum Polizeiinspektor, später zum Kriminalinspektor befördert, 1992 wurde er geschieden. Sie hatten keine Kinder. Danach sind keine Beziehungen registriert. Ein paar Rügen wegen tätlicher Übergriffe: 1979, 1987 und dreimal 1999. 1998 gab es die erste Anzeige wegen Trunkenheit im Dienst, zwei weitere folgten 1999. Es war offenbar ein kritisches Jahr. Im Juli vorigen Jahres wurde er schließlich wegen seines Alkoholproblems suspendiert und landete in der Entzugsabteilung von Rudhagens Privatklinik in Mälardalen. Ende Juni dieses Jahres kehrte er in den aktiven Polizeidienst zurück, und zwar als Polizeiassistent im Wachdistrikt Huddinge. Er war also erst seit knapp zwei Monaten wieder im Dienst, als es zu der tödlichen Schießerei kam. Eine kurze Zeit.«

»Unser Verhältnis begann im Frühjahr 92«, sagte Kerstin, »und endete im Sommer 94. In dieser Zeit war er häufig betrunken im Dienst. Von tätlichen Übergriffen ganz zu schweigen.«

»Lövgren hat ihm wohl kräftig Rückendeckung gegeben?«

»Ja. Sie haben zusammen Badminton gespielt.«

»Badminton?« fragte Hjelm und äugte zu dem etwas dicklichen Lundmark hinaus. »Ist das nicht ein ziemlich anstrengender Sport?«

»Man kann das Tempo variieren«, sagte Grundström überraschend.

»Man kann auch behaupten, man spiele Badminton, wenn man eigentlich in die Kneipe geht und sich vollaufen läßt«, sagte Holm bissig.

»Es gibt also nichts mehr, was dich noch mit Dag Lundmark verbindet?« fragte Grundström.

»Nein«, antwortete Kerstin Holm und drehte am Ring.

»Dann kann ich nicht erkennen, daß formal gesehen eine Befangenheitssituation besteht. Außerdem möchte ich folgendes behaupten. Du kannst es als eine Prüfung betrachten. So ähnlich werdet ihr euch als interne Ermittler fühlen – hier ist es lediglich auf die Spitze getrieben. Wir ermitteln gegen Leute wie wir selbst, Menschen, zu denen wir vielleicht ein direktes oder indirektes Verhältnis haben, Menschen, in deren Lage wir uns ohne die geringste Schwierigkeit versetzen können. Man kann sagen, daß wir die ganze Zeit, Hjelm, in unsere eigenen Herzen blicken.«

Grundström machte eine Pause und fuhr dann fort: »Nun, was sagt ihr?«

»Für mich gibt es kein Problem«, sagte Hjelm.

Und Kerstin Holm nickte kurz. »Okay«, sagte sie. »Versuchen wir’s.«

Einen Augenblick war es still in dem engen Kabuff. Hjelm bemerkte, daß es nach Schweiß roch. Achselschweiß. Kalter Schweiß.

Dann sagte Hultin: »Nur eins noch. Wie verfahren wir ansonsten mit dem Fall? Kann ich die A-Gruppe für die Vernehmungen von Polizisten und Afrikanern einsetzen?«

»Das hatte ich gehofft«, nickte Grundström.

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