Opferzahl - Arne Dahl - E-Book + Hörbuch

Opferzahl Hörbuch

Arne Dahl

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Beschreibung

Bestsellerautor Arne Dahl lässt das A-Team in ihrem neunten Fall ermitteln. Ein Bombenanschlag in der U-Bahn fordert zehn Tote. Kerstin Holm und ihr A-Team ermitteln – der Verdacht fällt auf die islamistische Vereinigung »Siffins heilige Ritter«. Um 0.45 Uhr explodiert ein Waggon der grünen U-Bahn-Linie in der Station Fridhemsplan. Zehn Menschen sterben, der Terror kommt nach Schweden. Rasch glaubt man, die Täter gefunden zu haben – »Siffins heilige Ritter«, eine geheime islamistische Vereinigung. Doch dann werden die »heiligen Ritter« einer nach dem anderen ermordet. Kommissarin Kerstin Holm greift auf die Erfahrung des pensionierten Kollegen Jan-Olof Hultin zurück. Denn ihr A-Team gerät in eine fatale Hetzjagd nach den wahren Tätern, deren Verbindungen bis ins Herz der Stockholmer Polizei reichen. – »Opferzahl« lässt den Atem stocken vor so viel Raffinesse und menschlichem Abgrund. Arne Dahl gehört seit Langem zu den besten Kriminalautoren Schwedens.

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Zeit:6 Std. 3 min

Sprecher:Alexander Simon

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Übersetzung aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt

© dieser Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2019 Titel der schwedischen Originalausgabe: »Efterskalv«, 2006 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2011 Covergestaltung: Cornelia Niere, München Covermotiv: Elspeth Ross / THE BRIDGEMAN ART LIBRARY Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.   In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Guide

1

Etwas drängte in den Sommer.

Er konnte es nicht benennen, aber irgendetwas war da – ein eisiger Windstoß vielleicht, eine unerwartete Kraft in den durch die Nacht segelnden Spätsommerwolken, eine neue Schwere, die sich von dem grau melierten Himmel herabsenkte – oder vielleicht lag es nur daran, dass er zu spät war.

Zu spät …

Das Schlimmste war, dass er wusste, weshalb er zu spät dran war. Er hatte auf dem ganzen Weg gezögert, hatte sich Zeit gelassen, sich unsicher durch Raum und Zeit bewegt.

War dies wirklich die Richtung, die sein Leben nehmen sollte? Hatte alles auf diesen Punkt hingezielt, all die Mühe, die Anstrengung, der ganze Einsatz, den das Leben nun einmal bedeutete? Hatte er wirklich an diesen Punkt gelangen sollen?

An diesen heiklen Punkt?

Er hätte laufen müssen, um rechtzeitig zu kommen. Warum tat er es nicht? Wollte er nicht rechtzeitig dort sein? War es so einfach? Wollte er morgen früh zu sich sagen: Ich habe die U-Bahn verpasst. Deshalb ist nichts daraus geworden.

Nächstes Mal, vielleicht.

Nächstes Mal.

Aber natürlich würde er auch sagen können: Es hat am Licht gelegen. Es lag am Stockholmer Nachtlicht dieser ersten Augusttage. Eigentlich ist es stockdunkel, seit fünf, sechs Wochen raubt die Nacht dem Tag mehr und mehr Zeit. Aber es scheint, als habe der Tag das nicht recht verstanden, als finde ein Kampf statt zwischen einem sterbenden Tag und einer Nacht, die Morgenluft wittert. Das passiert immer nur in diesen frühen Augusttagen, wenn der Tag und die Nacht ihr tatsächliches Kräfteverhältnis zueinander offenbar noch nicht begriffen haben.

Ebenso hätte er auch sagen können: Es lag an den Düften. An den Düften, die immer noch glauben, es sei Sommer. Düfte, die von einer städtischen Natur, vielleicht in Todesahnung, ausgesandt werden, einer Natur, die sich weigert, die kurze Dauer ihrer Blütezeit zu akzeptieren.

Und deshalb habe er die U-Bahn verpasst.

Aber jetzt lief er wirklich. Vielleicht nicht ganz überzeugend, nicht mit jener Kraft, die sich weigert, zu spät zu kommen, und daher um jeden Preis und mit jeder Muskelfaser alle widrigen Umstände überwinden und das Unmögliche wahr machen will. Nein, so schnell lief er nicht – es waren eher die stolpernden Joggingschritte eines Siebzigjährigen.

Aber er lief.

Er hatte sich für diese U-Bahn-Station entschieden, um nicht erkannt zu werden. Was für idiotische Dinge wir tun, um unseren Ruf zu schützen, dachte er, als er das U-BahnSchild in großer Distanz auftauchen sah.

Denn darum geht es hier ja wohl?, dachte er. Um den Ruf.

Der Toten Tatenruhm.

Leider war es noch eine ziemlich lange gerade Strecke bis zur Station, und dass sie bereits zu sehen war, machte den Weg über die Brücke fast unerträglich. Aber das war keine Frage von physischer Kraft.

Es war ein moralischer Widerstand.

Gegen die eigene Schwäche.

Gegen den eigenen Verrat.

Denn sicher war Schwäche ein Verrat. Diese Art von Schwäche.

Er warf schnell einen Blick auf die Armbanduhr. Eine Minute. Es könnte immer noch reichen. Es war noch immer möglich.

Er entschloss sich und lief mit ausgreifenderen Schritten.

Jetzt, zum Teufel, werden wir diese verfluchte U-Bahn erreichen.

Während der Sekunden seines Sprints nahm er die Stockholmer Nacht noch einmal bewusst wahr. Seine Schlussfolgerung:

Es lag Tod in der Luft.

Nur wenige Menschen waren unterwegs. Es hätten mehr sein müssen, fand er. Mehr Menschen hätten diese Spätsommernacht genießen sollen. Und vor allem hätten ihn mehr Menschen sehen sollen. Ganz Stockholm hätte ihn anstarren und mit dem Finger auf ihn zeigen sollen. Er hatte erwartet, dass alle seine schmählichen Schritte auf dem gesamten Weg zum Tatort beobachtet und dokumentiert werden würden, aber so war es nicht.

Als hätten die Stockholmer plötzlich beschlossen, dass der Herbst hereingebrochen war.

Was geschieht bloß in unserem Leben?, dachte er. Warum sind wir nicht imstande, über uns selbst hinauszublicken? Warum ist die Perspektive so drastisch eingeschränkt?

Dass er selbst älter geworden war, reichte nicht als Erklärung.

Es kam sehr überraschend. Er war nicht mehr als fünfzehn Meter von der Treppe zur U-Bahn hinunter entfernt, als es passierte. Später – unter sehr starkem und sehr unangenehmem Druck – würde er versuchen, sich an jedes einzelne, mikroskopische Detail zu erinnern, das die allerletzten Schritte begleitete.

Die allerletzten Schritte, bevor er umkehrte.

Aber jetzt, in diesem Moment, war es sehr schwer, überhaupt etwas genau wahrzunehmen. Und irgendetwas zu verstehen.

Es war eigentlich nur ein Beben, anfangs völlig lautlos. Und obwohl keine größere Kraft in dem Beben lag, begriff er unmittelbar, dass etwas passiert war. Etwas sehr Außergewöhnliches. Das Beben glitt ihm gleichsam unter die Füße, ungefähr wie diese afrikanischen Würmer, die unter die äußere Haut des Menschen kriechen und ihr parasitäres Leben zwischen unseren Hautschichten entfalten. Genau so empfand er dieses Beben: Wie einen Wurm, der sich direkt unter die Oberfläche des Asphalts schob.

Und schon in diesem Moment verstand er – nein, wusste er, dass auf dieses leichte, leise Beben ganz andere Phänomene folgen würden.

Dass es Folgen haben würde.

Nachbeben.

Dann kam das Geräusch, schneidend, schreiend. Eine Kakophonie, die gleichsam aus dem Loch geschleudert wurde, wo sich die Rolltreppe nach oben wälzte. Obwohl ihm dazu später viel zu viel Gelegenheit gegeben wurde, sollte es ihm nie gelingen, das zu beschreiben. Nicht konkret. Nicht mit richtigen, eigenen Worten. Nur mit Bildern, Vergleichen, Analogien. Es war eine Art prähistorischer Laut des Zusammenbruchs.

Ein Gebrüll aus den Eingeweiden.

Danach kam der Rauch. Er wurde aus dem U-Bahn-Eingang gestoßen wie aus einem frischen Vulkankrater.

Und war beinahe so heiß.

In diesem Augenblick kehrte er um.

Auf der anderen Straßenseite zersplitterte das Leuchtschild der U-Bahn und fiel wie ein Sternenregen zu Boden.

2

AUS DER ONLINEAUSGABE DER ABENDZEITUNG,

Freitag, den 5. August, 1.18 Uhr

Nun ist der Terrorismus also auch nach Schweden gekommen. Was wir alle befürchtet, worauf wir alle gewartet haben, ist eingetreten.

Heute Nacht, um 0.59 Uhr, ereignete sich in einem U-Bahn-Wagen der blauen Linie zwischen Stadshagen und Fridhemsplan eine starke Explosion. Der Zug befand sich im Moment der Explosion kurz vor der Einfahrt in die U-Bahn-Station Fridhemsplan. Die Explosion löste im U-Bahn-Netz ein Chaos aus. Im Augenblick scheint der gesamte U-Bahn-Verkehr zum Erliegen gekommen zu sein. Wir werden Sie auf dieser Seite regelmäßig informieren. Und wir hoffen, Ihnen so bald wie möglich aktuelle Augenzeugenberichte liefern zu können. In diesen dramatischen Stunden in der Geschichte unseres Landes wird unsere Onlineausgabe ständig aktualisiert.

Polizeiberichten zufolge hat es bei der Explosion Todesopfer gegeben, aber noch gibt es keine genaueren Angaben über die Zahl der Toten und Verletzten, doch es können Hunderte sein. Auf den Bahnsteigen und in den Tunneln der U-Bahn spielen sich kaum vorstellbare Szenen ab. Als das Inferno ausbrach, kam es zu allgemeiner Panik.

Sollten Sie von Personen wissen, die vorhatten, mit der blauen Linie der U-Bahn zwischen Stadshagen und Fridhemsplan zu fahren, benachrichtigen Sie bitte die Polizei, falls Sie die Personen nicht erreichen können. Die Nummer des Krisentelefons für Betroffene finden Sie am Ende dieses Artikels.

Da seit der Tat nicht mehr als zwanzig Minuten vergangen sind, sind alle hier gemachten Angaben unbestätigt, aber die Redaktion arbeitet unter Hochdruck daran, weitere Informationen zu beschaffen. Augenzeugenberichte und Fotos von betroffenen Passagieren oder Angehörigen nehmen wir zu den üblichen Honorarsätzen gerne entgegen.

 

Den bisher vorliegenden Meldungen zufolge werden gegenwärtig Verletzte in die verschiedenen Stockholmer Krankenhäuser transportiert, doch auch dort ist die Lage völlig unübersichtlich.

Noch liegt keine offizielle Stellungnahme zu der Tat vor, und auch das Gerücht, dass im gesamten Land der Ausnahmezustand erklärt werden soll, ist bislang unbestätigt. Die Polizei rät den Stockholmern jedoch, heute Nacht ihre Wohnungen nicht zu verlassen.

Im Folgenden finden Sie Links zu unseren früheren Artikeln über den internationalen Terrorismus und die Bedrohungslage für Schweden.

Diese Seite wird im Laufe der Nacht regelmäßig aktualisiert.

Es gibt keinen Anlass zur Panik.

 

 

AUS DER ONLINEAUSGABE DER MORGENZEITUNG

Freitag, den 5. August, 5.04 Uhr

Vier Stunden sind vergangen seit dem größten Terroranschlag in der Geschichte Schwedens – auch wenn erste Angaben in den Medien dazu tendierten, seine Dimension zu übertreiben. Mittlerweile – nach der chaotischen Berichterstattung der letzten Stunden – ist es möglich, die Lage zu überschauen.

Heute Nacht um (genau) 0.45 Uhr explodierte ein U-Bahn-Wagen der grünen Linie, nicht der blauen, wie teilweise gemeldet, zwischen Fridhemsplan und St. Eriksplan. Die Bahn hatte gerade die Station Fridhemsplan verlassen. Experten am Tatort zufolge handelte es sich um eine heftige Explosion. Zehn Personen erlitten schwerwiegende Verletzungen, jüngsten Zahlen zufolge starben mindestens fünf Menschen. Die Angaben variieren noch.

Allem Anschein nach handelt es sich bei diesem Anschlag um einen einzelnen Vorfall, nicht um eine konzertierte Aktion wie sie sich vor einem Monat in London ereignet hat. Es wurde landesweit keine weitere Tat gemeldet, ein Bekennerschreiben ist bisher nicht eingegangen.

Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegt noch kein eindeutiger Beweis dafür vor, dass es sich um eine terroristische Tat und nicht um einen Unglücksfall handelt. Die Polizei hat für 9.30 Uhr eine Pressekonferenz im Stockholmer Polizeipräsidium angekündigt. Der Polizeisprecher wollte bei dieser Ankündigung über die Explosion als solche allerdings noch keine Angaben machen.

Gewisse Streckenabschnitte der grünen U-Bahn-Linie werden den ganzen Tag über gesperrt sein, dort werden Busse eingesetzt. Das Gleiche gilt am Vormittag für einzelne Sektionen der blauen Linie, die durch die Explosion ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dies bedeutet, dass am heutigen Freitag nur die rote Linie fahrplanmäßig verkehrt. Folgen Sie dem unten stehenden Link, um sich über die Situation im öffentlichen Nahverkehr zu informieren.

 

 

AUS DER ABENDZEITUNG,

Morgenausgabe, Freitag, den 5. August Kolumne von Veronica Janesen

Heute ist kein gewöhnlicher Tag für eine Kolumne. Denn heute ist einer von jenen Tagen, an denen man eigentlich nicht schreiben kann. Ich will es dennoch versuchen. Weil wir über das, was geschehen ist, sprechen müssen.

Wir haben darauf gewartet, haben es gewusst. Manche von uns waren vielleicht sogar in London, als es dort geschah. Wir wussten, genau wie die Londoner, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es geschehen würde. Und wir müssen darüber sprechen, dass es nicht unlogisch ist. Nicht einmal unmoralisch.

Auch wir leben in einer Zeit, die auf Werten aufbaut, deren Ursprung weit in der Vergangenheit liegt. Bilden wir uns nicht ein, wir seien besser als andere mit ihren uralten Werten.

Genug der geheuchelten Gefühle. Geben wir es unumwunden zu: Die altersgeile abendländische Gesellschaft verdient es, in die Luft gesprengt zu werden. Es ist sowieso nicht mehr als ein Tritt in den fetten Arsch. Überall sitzen die alten Säcke mit ihrer hässlichen Feistheit und tun so, als fühlten sie. Eigentlich wollen sie nur ficken und weitermachen. Sich entleeren und vergessen. Vielleicht ist eine Bombe in den Arsch genau das, was wir brauchen, damit wir unsere Verachtung in die richtige Richtung lenken.

Männer sind tatsächlich Tiere.

Schwanzfechter.

Mir steht die Konsensgesellschaft bis zum Hals. Und ich habe es zum Kotzen satt, dass auch diejenigen, die am radikalsten wirken, sagen, sie meinten eigentlich nichts Böses. Männer seien genau genommen nicht so schlimm, im Allgemeinen. Aber das ist falsch, sie lügen. Es ist glasklar, dass auch sie die Erhöhten von den Sockeln stoßen und in den Dreck trampeln wollen. Es ist klar, dass sie den aufgeblasenen Ballon der Kulturelite anstechen und zum Platzen bringen und die Ekelsäcke mit einem Wahnsinnsknall zu Boden sinken lassen und auf ihre wahren, kleinen Proportionen reduzieren wollen.

Wir brauchen eine härtere und schonungslosere Debatte. Wir müssen uns kritischer miteinander auseinandersetzen – oder aber mit all dem, was wir nur inoffiziell von uns geben, an die Öffentlichkeit gehen. Wir müssen hart gegen hart setzen. Anfangen, so zu reden, wie wir denken, ein wenig freier zu hassen. Die Bombe in der U-Bahn ist vielleicht ein Anfang.

Die fetten, mittelalten weißen Männer unterdrücken alle. Es liegt seit zweitausend Jahren in ihren Genen. Ihr müsst kapieren, wie grundlegend das ist. Die glasklare Einsicht in einen Unterdrückungsmechanismus, der so in die allerfeinsten Kapillaren der Gesellschaft eingesickert ist, muss am Ende zu einer Sturzflut führen.

In der U-Bahn starben, den letzten Angaben zufolge, heute Nacht sieben Männer und zwei Frauen. Ich frage mich, warum.

Warum die Frauen sterben mussten, also …

3

Die Stille.

Diese absolute Stille, der Raum der Ruhe, ehe alles in Gang kommt. Darin befinde ich mich jetzt. In der Zeit hat sich ein Loch geöffnet. Die Zeit vorher und die Zeit danach werden sehr verschieden sein.

Und doch kam es so plötzlich. Irgendwo in mir wusste ich ja, dass es geschehen würde, dass ich eine latente Bedrohung bin. Aber es ist tatsächlich eine Lehre fürs Leben: Wenn es eintrifft, ist man trotzdem immer unvorbereitet. Wenn es wirklich passiert.

Außerdem hatte ich von dieser Variante nichts ahnen können. Dass sie immer noch zu Überraschungen fähig sind. Der Bereich, der außerhalb des Gesetzes liegt, ist unendlich viel größer als der innerhalb der Gesetzesgrenzen. Der erscheint so klein und verletzlich. Ein kleiner zitternder Nerv, eingebettet in einen großen Körper von Krebszellen, die alles tun, um wachsen zu können.

Man agiert, als wäre man allein. Man hat keine Angst. Man kommt selbst zurecht. Man denkt, man sei eine Insel, von nichts als Meer umgeben. Man vergisst, dass man seine Nächsten Gefahren aussetzt.

Seine Lieben …

Gott. Ich habe jahrelang nicht »Gott« gedacht, ich weiß. Aber jetzt musst du mir wirklich helfen. Ich habe nicht vor, im Staub zu kriechen, denn wenn du überhaupt irgendeinen Sinn hast, dann hilfst du mir. Das tust du. Wenn du je einem Menschen helfen musstest, dann jetzt. Sonst müsstest du endgültig abgeschafft werden.

Seltsam, dass ich schreibe.

Warum schreibe ich? Ich habe sehr lange nicht geschrieben. Wann war das letzte Mal?

In Zeiten existenzieller Krisen, vermute ich. Als ich ein neues Leben begann. Dann schreibt man vermutlich – wenn man niemanden zum Reden hat. Oder vielleicht eher, wenn das, was man zu sagen hat, in einem einfachen Gespräch keinen Platz findet oder nicht verstanden werden kann. Wenn man mehr ausdrücken will.

Wenn es einen fast zerreißt.

Ich kann mir vorstellen, dass dies die Schwierigkeit für einen Schriftsteller ist: weiterzuschreiben, wenn man jemanden zum Reden gefunden hat. Über alles. Warum soll man dann schreiben?

Und dann der andere Grund, vermute ich – der, den ich gerade angeführt habe. Dass das Schreiben die Angst ableitet. Sie für einen Augenblick wegnimmt.

Jetzt ist sie wieder da. Mit ganzer Wucht. Jesus Christus. Was habe ich getan? Ich hätte es nicht tun müssen. Hätte es sein lassen können, hätte die Tage ihren Lauf nehmen lassen, die toten Winkel des Systems akzeptieren können. Ich hätte an die Nächsten und Lieben denken können. Hätte darauf verzichten können … sie zu opfern …

Jesus Christus.

Was habe ich getan?

Aber das wäre ein Fehler.

Ja, es wäre ein Fehler.

Es muss ein Fehler sein. Sollte irgendjemand im Universum in der Lage sein, den galoppierenden Wahnsinn zu stoppen, muss es einer sein wie ich. Indem er Stopp! sagt. Verfluchte Pest, dass ihr so selbstverständlich die Oberhand gewinnt. Einfach, indem ihr rücksichtsloser seid.

Verfluchte Pest, dass so die neue Weltordnung aussehen soll.

Nein, nicht ich habe etwas getan.

Du warst es. Du Teufel.

Ich werde dich bekämpfen. Werde Widerstand leisten.

Aber es muss unsichtbar sein. Ich muss ein phantastisches Doppelspiel spielen. Es wird meine ganze Kraft in Anspruch nehmen, und es darf nicht zu sehen sein. Kein anderer als du, mein Text, darf auch nur das Geringste ahnen. Ich werde im Stillen siegen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.

Wenn ich an das denke, was geschehen ist, an das, was uns droht, was über uns schwebt – und vor allem über dir, meine Arme –, dann erfasst mich die schlimmste Angst, die man sich überhaupt vorstellen kann. Ich glaube, es gibt nichts Schlimmeres. Sicher liegen viele höllische Dinge auf gleichem Niveau – es gibt eine ziemliche Ansammlung infernalischer Dinge in der Welt –, aber schlimmer kann nichts sein.

Jedenfalls hast du gut gezielt, du Teufel.

Aber auf die falsche Person.

Wenn du mit mir auf die Reise gehen willst, Gott, dann sei willkommen. Wenn du weiter den Anspruch erhebst, eine positive Kraft zu sein. Denn jetzt, verflucht, haben wir es mit dem Teufel persönlich zu tun. Kein anderer als du selbst entscheidet darüber, wie kraftlos du sein willst.

Ich gedenke jedenfalls nicht, kraftlos zu sein.

Ich gedenke zu zeigen, wie wahrer Widerstand aussieht.

4

»Es ist wie immer: Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Aber ich tue, was ich immer tue: Ich stelle mir vor, du könntest es. Ich bin ziemlich sicher, dass du es kannst. Ich sage es jedes Mal, wenn ich hier bin, und ich werde es weiter sagen: Ich habe Zeichen wahrgenommen, ich weiß nicht wie, aber ich habe Schwingungen von Einverständnis gefühlt, obwohl du liegst, wie du liegst. Ich habe gespürt, dass du weiterleben willst. Ich will dafür sorgen, dass du es kannst. Wenn nicht, musst du versuchen, es mir auf irgendeine Art und Weise mitzuteilen. Ich kann mir in meiner wildesten Phantasie nicht vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man so eingeschlossen ist. Aber ich hoffe, dass meine Besuche wenigstens eine gewisse Linderung bringen.

Ich sehe, dass der Fernseher läuft. Wie üblich ist er wohl den ganzen Vormittag gelaufen, sie foltern dich, du Ärmster – ist es in Ordnung, wenn ich den Ton ein wenig leiser stelle? So. Das bedeutet an und für sich, dass du wohl weißt, was passiert ist? Dann weißt du ja auch, was um halb zehn geschieht. Wir können ja hin und wieder zum Fernseher hinüberschauen, damit wir nichts verpassen. Ich möchte schon gern wissen, wen sie diesmal als Frontfigur vorschicken …

Aber bis jetzt weiß man wahrlich nicht viel. Die Säpo, die schwedische Sicherheitspolizei, hat das Ganze sofort an sich gezogen. Sie haben uns alle überfahren.

Möchtest du, dass ich dir erzähle, was bisher geschehen ist? Es wäre vielleicht gar nicht verkehrt, wieder Kontakt zu jener Welt aufzunehmen. Und sei es nur, um zu genießen, dass man verschont geblieben ist …

Stell dir vor, wie viel wir trotz allem gemeinsam gemacht haben, beruflich und …privat …

Ja …Was sagt man …?

Verdammt, ich will jetzt nicht weinen.

Weißt du noch, wie ich zu dir gesagt hatte, dass ich dich liebte?

Es kommt mir vor, als wäre es unendlich lange her.

Auf jeden Fall …Ich war eingeschlafen. Waldemar Mörner rief mich um halb zwei in der Nacht an. Er war ziemlich angesäuselt, sodass nicht ganz klar war, was er sagte. Aber wann war es das je …Nun, du weißt ja, wie er ist. Ich bekam auf jeden Fall den Eindruck, dass höchste Eile geboten war, ins Präsidium zu kommen, also ging ich hin.

Ich kam wohl eine gute Stunde, nachdem es geknallt hatte, dort an. Noch nie im Leben habe ich ein derartiges Chaos gesehen. Man würde meinen, dass man für einen Fall wie diesen gut vorbereitet wäre, es ist ja kein gänzlich unerwartetes Szenario. Aber ich hatte noch nie ein solches Bedürfnis verspürt, das Wort ›Tohuwabohu‹ zu benutzen. Dummerweise schnappte der Chef der Sicherheitspolizei es auf, als er gerade vorbeilief. Du kennst ihn ja, ein arroganter Arsch. Er stoppte, fragte, wer ich wäre und was ich dort täte.

Die Sicherheitspolizei ist ja hauptverantwortlich, wenn es um Terrorismus geht. Du hast das ganze Geschwafel darüber ja mitbekommen, dass Schweden seine Abwehrbereitschaft gegen die neue Form des Terrorismus stärken muss. Vielleicht erinnerst du dich an diese Untersuchung vor zwei Jahren, derzufolge das Militär auch in Friedenszeiten eingesetzt und unter den Befehl der Polizei gestellt werden sollte. Und seitdem wittern der militärische Nachrichtendienst Must und die Sonderschutzeinheit SSG Morgenluft. Der Must ist auf einmal richtig öffentlich geworden. Im Frühjahr wies ein Bericht des Forschungsinstituts der Gesamtstreitkräfte darauf hin, dass Schweden auf einen größeren Terroranschlag im eigenen Land nicht ausreichend vorbereitet sei. Im Moment haben wir dafür nur die Sicherheitspolizei.

Jedenfalls betrachtete mich der Sicherheitschef von oben herab und sagte: ›Keine Sekretärinnen in der Führungszentrale.‹ Es war ein erhebender Augenblick. Das Komische war, dass ich nicht in erster Linie auf die ›Sekretärin‹ reagierte, sondern fragte: ›Welche verdammte Führungszentrale?‹ Und dann erntete ich diesen Blick, du weißt schon, wie singende Orang-Utans im Ballkleid.

Ich versuchte, im Lauf der Nacht Kontakt zu Mörner und zur Führung der Reichskrim zu bekommen, aber weder unser neuer Reichskrim-Chef noch Mörner waren zu erreichen. Vielleicht saßen sie in der geheimen Führungszentrale. Die einzige Auskunft, die ich erhielt, war die, dass die Dienste der A-Gruppe wohl kaum erwünscht wären. Ich glaube nicht, dass die Sicherheitspolizei überhaupt weiß, was die Sondereinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei ist. Angesichts des Charakters dieser Tat sollte man es vielleicht doch wissen.

Dagegen stieß ich auf den Pressesprecher der Stockholmer Polizei, der auf dem Weg zu einer improvisierten Pressekonferenz war. Er sagte, dass es wirklich eine Führungszentrale gebe, aber die sei woanders. Damit meinte er natürlich, dass sie in der Domäne der Sicherheitspolizei zu finden sei. Ich sah seine Miene.

Er ist ein zuverlässiger Mann, und ich hatte den Eindruck, dass die Stockholmer Polizei ein wenig gegen die Sicherheitspolizei kämpft. Wir werden sehen, wie es weitergeht. Ich bezweifle, dass sie einen ihrer eigenen Leute als Frontmann einsetzen. Es wird sich zeigen, es sind noch ein paar Minuten bis zur Sendung.

Jedenfalls konnte ich in der Nacht nicht viel mehr in Erfahrung bringen. Wir werden wohl nicht mit der Sache befasst werden. Keiner will uns auch nur mit der Zange anfassen, aber das weißt du ja alles. Ich sage es jedes Mal, wenn ich hier bin, tut mir leid, wenn ich dir auf die Nerven gehe. Ich nehme an, es ist eine Art Therapie.

Das Ansehen der A-Gruppe ist nach den Ereignissen im letzten Sommer leider den Bach runtergegangen. Wir kamen noch einmal davon, wenn auch nur um Haaresbreite – vielleicht nur, weil das ganze Bemühen letztlich darauf gerichtet war, den großen Showdown draußen im Industriegebiet von Segeltorp für die Öffentlichkeit zu frisieren, bei dem du ja eine Hauptrolle gespielt hast.

Oh Mann.

Das Wichtigste war auf jeden Fall, dass die Presse nicht erfuhr, was genau passiert war. Ich weiß nicht, ob ich dir erzählt habe, wie die Schuld verteilt wurde: Jorge Chavez und Jon Anderson erhielten Goldplaketten und ehrenhafte Erwähnungen für ihren heroischen Einsatz – die Befehlsverweigerer. Arto Söderstedt und Viggo Norlander wurden beide wegen Schusswaffengebrauchs mit Todesfolge von deinen Freunden bei den internen Ermittlungen gehörig in die Mangel genommen, aber freigesprochen. Gunnar Nyberg, Sara Svenhagen und Lena Lindberg landeten ja auch bei ihnen – im Zusammenhang mit der Ermittlung wegen eines Selbstmords in der Untersuchungszelle auf der Polizeiwache in Sollefteå. Auch sie wurden nicht für schuldig befunden – es ließ sich nicht herausfinden, was den Pädophilen Carl-Olof Strandberg letztlich zum Selbstmord veranlasst hatte –, also ist die A-Gruppe weiterhin intakt. Intakt, aber zusammengestaucht. Am schlimmsten erging es mir – denn im Grunde war natürlich alles mein Fehler. Die Chefin, die das Ganze nicht im Griff hat und alles aus dem Ruder laufen lässt. Ich bekam einen kräftigen Rüffel und wurde für ein halbes Jahr vom Dienst suspendiert. Nun bin ich wieder zurück, immer noch Chefin, aber einen weiteren Fehlgriff kann ich mir nicht mehr leisten.

Jetzt fängt die Übertragung an. Ich stelle es ein wenig lauter.«

Szene auf dem Fernsehschirm:

Ein überfüllter kleiner Konferenzraum. Eine Reporterin versucht, zwischen zwei entschieden größeren Männern hindurchzublicken, die mit dem Rücken zur Kamera stehen und nach Leibwachen aussehen. Als sie zu sprechen beginnt, kommt kein Ton. Nach ungefähr zehn Sekunden setzt er ein:

»…einen viel zu kleinen Raum für die versammelte Weltpresse gewählt. Aber sonst wissen wir praktisch nichts. Wir wissen nicht, wer zu uns sprechen wird, wer verantwortlich ist, wer die Leitung der polizeilichen Ermittlung übernimmt, die sicher zu den größten in der Geschichte Schwedens gehören wird. Es ist halb zehn, und ich glaube, jetzt tut sich etwas hinter mir …«

Zwei Personen treten ein und setzen sich an das Katheder auf dem Podium. Die Tür schräg hinter ihnen bleibt offen. Die Stimme der Reporterin wird hörbar, sie flüstert fast:

»Wenn ich mich nicht irre, sind dies der Sprecher der Stockholmer Polizei und der Chef der Sicherheitspolizei …«

Sie wird von der versammelten Weltpresse angezischt und verstummt. Der ältere Mann auf dem Podium räuspert sich und ergreift das Wort.

»Willkommen zu dieser Pressekonferenz. Wir wollen Ihnen die Lage kurz erläutern. Wie Sie sehen, hat die Sicherheitspolizei in Zusammenarbeit mit der Polizei Stockholm die Situation in die Hand genommen. Ich repräsentiere die Letztere, mein Kollege hier die Erstere. Wir sind indessen zu der Übereinkunft gelangt, die Leitung der Ermittlung einer unabhängigen Instanz zu übertragen, nämlich Kommissar Jan-Olov Hultin von der Reichskriminalpolizei.«

Ein älterer Mann mit einer auf einer sehr großen Nase balancierenden Eulenbrille tritt durch die Tür ein und schließt sie hinter sich. Er lässt sich zwischen den beiden Würdenträgern nieder, schiebt die Eulenbrille eine ansehnliche Strecke hinunter bis zur Nasenspitze und blickt unbewegt über die versammelte Weltpresse. Nach einigen Sekunden sagt er:

»Ich gebe Ihnen eine kurze Lagebeschreibung. Anschließend haben Sie Zeit für Fragen. Ich bitte Sie, mich vorher nicht zu unterbrechen.

Heute Nacht um 0.45 Uhr explodierte ein Waggon der grünen U-Bahn-Linie, also der Linie 19, kurz nach dem Verlassen der U-Bahn-Station Fridhemsplan in Richtung St. Eriksplan. Durch die Explosion wurde vor allem der letzte der drei Waggons beschädigt. Sämtliche Toten und Schwerverletzten befanden sich in diesem Wagen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt beläuft sich die Zahl der Todesopfer auf neun, die der Verletzten auf zwei. Sieben der Toten sind Männer, zwei sind Frauen. Der Zustand der zwei Schwerverletzten, beides Männer, ist kritisch. Ganz vorn in besagtem Wagen wurden fünf Personen leicht verletzt. Sie sind vernommen worden, ebenso eine große Anzahl weiterer Augenzeugen.

Die technische Untersuchung ist noch im Gange, aber wir können so viel sagen, dass es sich tatsächlich um eine Bombe handelte. Wir haben es also mit einem Bombenanschlag zu tun. Der Umfang ist jedoch so begrenzt, dass wir vorerst kaum von Terrorismus sprechen können, ein Wort, das in den Medien allzu oft und unreflektiert benutzt worden ist. Wir wissen nichts über den Zweck der Tat, und bisher hat sich keine Gruppierung dazu bekannt.

Die Ermittlung wird von einer Führungsgruppe geleitet, in der die Sicherheitspolizei die Federführung innehat, in der aber auch die Reichskriminalpolizei und die Polizei Stockholm mitwirken. Dies ist fürs Erste alles. Fragen dazu?«

Eine exaltierte Männerstimme:

»Aber eben waren doch nur die Sicherheitspolizei und die Polizei Stockholm verantwortlich?«

Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin:

»Es existiert in einem Fall wie diesem keine vorgegebene Aufgabenverteilung. Wir wissen wie gesagt noch nicht genau, wie wir das Verbrechen einstufen sollen. Deshalb haben wir uns nach ausgiebiger Diskussion für die Lösung einer Zusammenarbeit auf breiter Basis zwischen den polizeilichen Instanzen entschieden.«

Der Chef der Sicherheitspolizei:

»Aber die Hauptverantwortung liegt natürlich bei der Sicherheitspolizei.«

Eine gefasste Frauenstimme:

»Wird das Militär nicht hinzugezogen?«

Jan-Olov Hultin:

»Selbstverständlich nicht.«

Der Chef der Sicherheitspolizei:

»Es gibt politische Diskussionen über derartige Lösungen in der Zukunft. Aber gegenwärtig nicht.«

Die Fernsehreporterin:

»Sind alle Toten identifiziert?«

»Nicht alle, nein.«

Die Fernsehreporterin erneut:

»Können Sie schon etwas über die Identität der Toten und Verletzten sagen?«

Jan-Olov Hultin:

»Zu gegebener Zeit. Erst müssen sämtliche Angehörigen benachrichtigt werden.«

Die exaltierte Männerstimme, durch Mineralwasser, vermutlich kohlensäurehaltiges, gefiltert:

»Aber Sie müssen doch eindeutig mehr über die Bombe selbst sagen können …«

Der Chef der Sicherheitspolizei:

»Formulieren Sie Ihre Fragen als Fragen. Sonst werden sie nicht beantwortet.«

Jan-Olov Hultin:

»Nein, darüber gibt es im Moment nicht mehr zu sagen. Wir warten noch auf das erste Teilergebnis einer sehr umfassenden technischen Untersuchung.«

Eine aufgeregte norwegische Frauenstimme:

»Aber wen verdächtigen Sie? War es ein Selbstmordattentäter?«

Jan-Olov Hultin:

»Wir haben im Moment keine Verdächtigen. Und wir sind weit davon entfernt, Aussagen darüber machen zu können, ob es sich um einen Selbstmordattentäter handelt. Aber die Möglichkeit ist nicht auszuschließen.«

Wieder die exaltierte Männerstimme:

»Sind die Grenzen des Landes geschlossen worden?«

Jan-Olov Hultin:

»Wir sehen keinen Grund, wegen dieser allem Anschein nach isolierten Tat, das Land hermetisch abzuriegeln. Wir sehen auch keinen Anlass für die Vermutung, dass dies der Anfang einer Anschlagserie ist. Falls weitere Taten folgen, können wir eine Schließung der Grenzen diskutieren. Ich halte dies jedoch im Moment für übereilt.«

Der Chef der Sicherheitspolizei:

»Aber natürlich stellt sich die Sicherheitspolizei diese Frage.«

Jan-Olov Hultin ruhig:

»Natürlich.«

Der Sprecher der Polizei Stockholm:

»Ich denke, hiermit kann diese Pressekonferenz als beendet angesehen werden. Wir danken für Ihr Interesse und werden eine weitere Pressekonferenz anberaumen, wenn die Lage es erfordert. Vermutlich heute Nachmittag, der genaue Zeitpunkt wird im Laufe des Tages mitgeteilt.«

»Da sieht man es. Still going strong. Nicht zu glauben. Oder vielleicht doch, genau betrachtet. Es muss unglaublich schön sein, Hultin einschalten zu können, den Mann, der Öl auf alle Wogen gießt. Man kann sich ungefähr vorstellen, was für ein Chaos hinter der Maßnahme steckt, wieder einmal den Schwanz einzuziehen und einen so vielfach pensionierten Pensionär einzuberufen.

Aber du bist ja abgerutscht. Warte, ich zieh dich ein wenig hoch. So. Besser jetzt?

Tja, das bedeutet wohl, dass wir doch mehr Chancen haben, mit dem Fall befasst zu werden. Wenn Jan-Olov sich in den letzten Jahren nicht radikal verändert hat, wird er, glaube ich, alles tun, um die A-Gruppe in die Ermittlungen einzubeziehen. Ich fahre gleich hin und rede mit ihm.

Das bedeutet, dass ich dich jetzt allein lasse.

Ich hoffe wirklich, dass du verstehst, was ich sage. Und verdammt, wie ich mir wünsche, ich könnte eine Methode finden, mit dir zu reden. Ich bin es nicht gewöhnt, Monologe zu halten.

Ich komme wieder, sobald ich kann. Das hängt natürlich ein bisschen davon ab, wie nun die Ermittlungen laufen sollen.

Ich hoffe, du findest eine Art Frieden in deinem Inneren.

Ich muss jetzt los. Tschüss dann, Bengt. Mach’s gut.«

5

Es war wie abstrakte Kunst. Dieses unvergleichliche Spiel von Form und Farbe, ungefähr wie Action-Painting. Jackson Pollock. Furiose Farbbehandlung.

Oder avanciertes Geschmiere. Tags und Graffiti in munterer Mischung.

Wie nannten sie das noch? Wenn eine ganze Bande von Sprayern einen U-Bahn-Wagen entert und ohne jede Hemmung mit ihren Spraydosen loslegt?

Ja, genau: einen U-Bahn-Wagen »bombardieren« …

Der Ausdruck erschien in der jetzigen Situation ein wenig geschmacklos.

Und bei näherem Hinsehen waren die Bilder auch nicht besonders abstrakt. Eher sehr konkret, äußerst grafisch, irdisch und wirklichkeitsgetreu.

Und ganz unerträglich.

Der Mann vor den Bildern war gezwungen, den Blick abzuwenden und eine Pause einzulegen. Er dachte an U-Bahnen. Er dachte zielbewusst an alles, was er über U-Bahnen gelesen hatte, diese sonderbaren Erfindungen, die offensichtlich eine umgekehrte Parallele zum Flugzeug waren. Die U-Bahn ist eine typisch städtische Konstruktion, bei der alles darauf ankommt, Fläche einzusparen. Also eher eine Parallele zu den Wolkenkratzern – der Kunst, eine Stadt vertikal zu bauen.

Die erste U-Bahn war die Metropolitan-Linie in London, eröffnet im Jahr 1863. Sie verlief in unmittelbarer Nähe zur Ebene der Straße, und die Züge wurden von Dampfloks gezogen. Erst mit der Elektrizität wurden U-Bahnen in größerem Umfang gebaut, um die Jahrhundertwende zum Beispiel in Budapest, Paris und Berlin. Heute gibt es die größten U-Bahn-Netze in New York, London, Paris, Moskau und Tokio.

In Stockholm wurde die erste U-Bahn-Linie, Slussen-Hökarängen, am ersten Oktober 1950 eingeweiht. Die Wagen der U-Bahn erhielten alle Bezeichnungen mit C. Der erste Wagen wurde folglich C1 genannt. Während das U-Bahn-Netz in den Fünfziger- und Sechzigerjahren expandierte, wurden die Wagen modernisiert, und 1967, als »Stockholms Spårvägar« (mit der unglücklichen Abkürzung SS) in »Stockholms Lokaltrafik« umbenannt wurde (mit der neutraleren Abkürzung SL), gab es bei der U-Bahn sechshundertfünfundsechzig Wagen, vom Typ C1 bis C5. Kurz darauf kam die neue Generation vom Wagentyp C6, und in den Siebziger- und Achtzigerjahren erweiterten sich die Wagennummern bis C15.

Der letzte Generationswechsel fand 1997 statt, als der neue Wagen C20, auch Wagen 2000 genannt, in Betrieb genommen wurde. Heute umfasst das U-Bahn-Netz hundertzehn Kilometer Schienen. Die U-Bahn wird täglich von einer halben Million Passagiere benutzt, und ein großer Teil der insgesamt achthundertsechzig Wagen ist vom Typ C20. Und man hat den Wagen individuelle, persönliche Namen gegeben. Wagen 2013 heißt zum Beispiel Ludmila, es gibt Janne, Sara oder Gunnar. Außerdem hat man auch etwas familiäre Namen wie Mama, Papa und Kleiner Bruder gewählt.

Kein Wagen heißt Paul, dachte der Mann kurz.

Und keiner heißt Kerstin.

Der letzte Wagen des Zuges, der die U-Bahn-Station Fridhemsplan in der Nacht zu Freitag, dem 5. August, um 0.45 Uhr verließ, hieß Carl Jonas und trug die Wagennummer 2255.

Den gab es nun nicht mehr.

Jeder U-Bahn-Wagen vom Modell C20 ist bedeutend länger als die alten C-Modelle, genauer gesagt sechsundvierzig und einen halben Meter. Drei C20-Wagen entsprechen acht älteren Wagen, was dadurch ermöglicht wird, dass der Wagen in drei gegliederte Sektionen unterteilt wird. Die mittlere Sektion hat sechs Türpaare, und die beiden Sektionen vorn und hinten haben je vier. An jedem Ende befindet sich auch eine Fahrerkabine. Der Wagen soll den technischen Angaben zufolge Platz für vierhundertundvierzehn Personen bieten, davon einhundertsechsundzwanzig auf Sitzplätzen und zweihundertachtundachtzig auf Stehplätzen.

Glücklicherweise waren sie heute Nacht nicht alle besetzt gewesen.

In dem Wagen hatten sich sechzehn Personen befunden.

Aber das waren mehr als genug. Der Mann hatte jetzt genügend Gleichgewicht wiedergefunden, um den Blick erneut auf die Fotos zu richten.

Das erste Bild zeigte die Sicht nach vorn vom zweitletzten Türenpaar des Wagens aus gesehen, zu Beginn des durch Gummifalze abgetrennten letzten Drittels des Wagens. Links war viel Platz nach vorn – zwei Drittel des Wagens, und er schien umso weniger stark beschädigt zu sein, je weiter man nach vorne sah, abgesehen davon, dass sämtliche Fenster im Wagen herausgeflogen waren. Aber dort lag ein Arm. Das heißt: Man konnte sehen, dass es ein Arm gewesen war, wenn man sich sehr anstrengte, teils um überhaupt etwas zu erkennen, teils um den Mageninhalt bei sich zu behalten. Bei dem gegenüberliegenden, total zerstörten Türpaar, war nichts. Aber rechts, am unteren Bildrand, war etwas zu erkennen. Es hatte eine sehr diffuse Form, war aber so beunruhigend, dass der Mann, der es betrachtete, ein deutliches Unbehagen verspürte, ehe er zum nächsten Bild griff.

Dieses war direkt mit Blick auf den zweitletzten Sitzplatzbereich des Wagens aufgenommen.

Und es zeigte ein einzigartiges Spiel von Form und Farbe – wie Action-Painting.

Der Mann vor den Bildern nahm sich zusammen und verengte den Blick. Das war nie seine Stärke als Polizist gewesen, und es wurde mit den Jahren immer schwieriger. Trotzdem war es hin und wieder notwendig. Um sich nicht übergeben zu müssen. Um nicht daran denken zu müssen, was für ein Gefühl es gewesen war. Um nicht weinen zu müssen. Und um die Fakten zu fixieren.

Und so sahen die Fakten aus: Ein einzigartiges Spiel von Form und Farbe, ungefähr wie Action-Painting.

Weiter konnte man nicht kommen.

Und länger konnte man es nicht betrachten.

»Wieso hast du die?«

Der Mann vor den Bildern wandte sich von dem zerbombten U-Bahn-Wagen ab und sah sich nach dem anderen Mann um. Dem Mann, der in sein großes Dienstzimmer gekommen war und ihn angesprochen hatte.

»Weil ich Polizist bin«, sagte Paul Hjelm. »Weil ich immer noch Polizist bin.«

»Aber das da ist doch wohl nicht deine Aufgabe«, sagte Niklas Grundström streng.

»Die Aufgabe hat mit der Sache nichts zu tun«, erwiderte Paul Hjelm und wandte sich seinem Chef zu, der im Übrigen Chef der Abteilung für interne Ermittlungen in der gesamten schwedischen Polizei war.

Paul Hjelm selbst war nur der Chef der Stockholmer Abteilung dieser Instanz.

Niklas Grundström war wie immer tadellos gekleidet und machte einen eleganten und kraftvollen Eindruck. Er schwenkte eine Mappe und kam ein paar Schritte näher, den Blick auf die Reihe vermutlich abstrakter Kunstwerke gerichtet.

»Genauer besehen ist es gut, dass du dich mit dem Fall befasst.«

»Auweia!«, sagte Paul Hjelm.

Grundström hielt mitten in der Bewegung inne und sah ihn an.

»Auweia?«, wiederholte er.

»Du willst doch nicht sagen, dass ein Polizist die U-Bahn gesprengt hat.«

Grundström gab ein Schnauben von sich – meist war das die Vorstufe zu seinem völlig überraschenden, hellen Jungenlachen. Aber dieses Mal ließ er es dabei bewenden.

»Was glaubst du?«, fragte er stattdessen und zeigte auf die Bilder an der Bürowand.

Hjelm schüttelte eine Weile den Kopf. Dann sagte er:

»Weiß nicht.«

»Aber irgendetwas arbeitet in diesem Schädel«, sagte Grundström und zeigte mit der Mappe auf Hjelms Kopf. »Das habe ich gelernt zu sehen.«

Hjelm schnaubte und sagte:

»Ich versuche mir vorzustellen, wie es normalerweise aussieht, wenn elf Personen in einem dieser neuen, großen U-Bahn-Wagen sitzen. Unregelmäßig verteilte Menschen, einige paarweise, vielleicht eine Gruppe. Aus irgendeinem Grund pflegt man in der U-Bahn Gesellschaft zu meiden. Irre ich mich?«

»Nicht direkt«, sagte Grundström. »Ich suche immer die freien Plätze.«

»Ja, ich auch«, nickte Hjelm. »Aber wie haben die hier sich hingesetzt?«

Niklas Grundström betrachtete die Reihe der Fotos genau und nickte ebenfalls.

»Ich sehe«, sagte er. »Nahe beieinander, aber doch jeder für sich. Wie eine widerwillig versammelte Gruppe. Und trotzdem ist es reiner Zufall. Natürlich.«

»Natürlich?«

»Einer von ihnen ist ein Selbstmordattentäter«, sagte Grundström und deutete auf ein Bild. »Der da.«

»Sieht so aus«, gab Hjelm zu. »Von ihm geht die Explosion aus, und von ihm ist am wenigsten übrig. Vermutlich hatte er die Bombe am Körper. Aber was hat das mit der Platzierung der Passagiere zu tun?«

»Er ist ein Selbstmordattentäter«, wiederholte Grundström und zuckte die Schultern. »Er setzt sich so nahe wie möglich zu den Menschen, denen er Schaden zufügen will. Das ist alles. Und vor allem sollst du deine Aufmerksamkeit nicht darauf richten.«

Hjelm seufzte und fragte diplomatisch:

»Und worauf soll ich meine Aufmerksamkeit richten?«

»Auf die Straße draußen.«

»Ach ja?«

Grundström nickte, dann sagte er:

»Komm mit zu den Arrestzellen.«

Und er zog seinen Chefkollegen mit sich aus dessen Zimmer.

Sie wanderten durch die Korridore. Wenn sie nebeneinander gingen, waren es immer Grundströms rasche, geschmeidige Schritte, die das Tempo bestimmten. Das war ein wenig störend, aber daran war nicht viel zu ändern.

Grundström sagte:

»Es geht also um diesen Fall. Wenn auch indirekt.«

Dann schwieg er.

Bis sie die Flure mit den Arrestzellen im Stockholmer Polizeipräsidium erreichten. Dem war ein langer Weg quer durch das Innere des Polizeigebäudes vorausgegangen, von den Korridoren der Reichspolizeidirektion an der Polhemsgata bis zu Kronobergs Untersuchungsgefängnis an der Bergsgata. Die beiden Polizeichefs gingen nebeneinander durch ein ganzes Universum potenzieller Straftäter. Die Blicke der Kollegen, die zu kontrollieren und zu durchleuchten ihre Aufgabe war, waren teils ängstlich, teils respektvoll, teils argwöhnisch, teils hasserfüllt, und als das Duo das düstere und immer sehr überfüllte Arrestlokal erreichte, hatte es mehr als die normale wöchentliche Ration an Standardreaktionen erlebt.

Es war nicht leicht, das schlechte Gewissen der Ordnungsmacht zu sein.

Anderseits war es das, wofür sie bezahlt wurden.

Niklas Grundström blieb an einer Tür stehen, die sich von den anderen unterschied, und wartete auf einen Wärter. Dieser kam wie auf Bestellung, schloss auf, ließ die beiden Ermittler hinein zu einem einsamen Schreibtisch, verschwand wieder und kehrte mit einem Mann mit fliegender gelbweißer Mähne zurück, alt und ungepflegt.

Der Wächter platzierte den Mann nicht ohne eine gewisse, gleichsam angeborene Rohheit auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. Der Mann sah sich um, als sei er gerade erwacht. Der Blick, der sie erreichte, kam zweifellos aus einem anderen Universum.

Grundström warf Hjelm schnell einen Blick zu und sagte dann mit großer Deutlichkeit:

»Guten Morgen, Arvid. Wie geht es heute?«

Der gelbweißbärtige Mann betrachtete ihn eingehend, mit einer Mischung aus großer Skepsis und großer Unschuld. Schließlich sprach er mit lauter Stimme, ungefähr so, wie man sich Jehova im Gespräch mit Moses vorstellt, während die Gesetze in die Tafeln eingemeißelt wurden.

»Über deinem Kopf ist eine schwarze Wolke, mein Freund.«

»Können Sie sich erinnern, was Sie heute Nacht gemacht haben, Arvid?«

»Sie wird dichter. Sie konzentriert sich auf das rechte Ohr. Sie wird bald platzen, mein Freund. Du hängst einem bösen Glauben an.«

»Versuchen wir, uns auf die Ereignisse der Nacht zu konzentrieren, Arvid? Ich will Ihrem Gedächtnis ein bisschen auf die Sprünge helfen. Sie haben in einem Hauseingang an der St. Eriksgata auf der Treppe gesessen, in der Nähe der Kreuzung zur Fleminggata, und haben sechsundneunzigprozentigen Krankenhaussprit gesoffen, der kurz zuvor im Sankt Görans Krankenhaus gestohlen worden war. Was ist dann passiert?«

»Wenn die Wolke sich so konzentriert, breitet sich Böses im Körper aus, mein Freund. Es macht sich bereit. Du musst mit ihr sprechen. Sonst öffnet sich die Wolke, und der Blitz zerspaltet dir das Haupt.«

Paul Hjelm betrachtete Niklas Grundström ein wenig amüsiert, wie der nur kurz den Kopf schüttelte und sich auf die Sachfrage konzentrierte. Er zog ein Papier aus der Mappe und sagte:

»Als man Sie heute Morgen um 1.13 Uhr in Gewahrsam nahm, haben Sie hier im Arrest mit dem Wachhabenden gesprochen. Erinnern Sie sich, was Sie gesagt haben?«

»Das Land der Farne«, sagte Arvid Gelbweiß träumerisch.

»Nein, das haben Sie nicht gesagt, Arvid. Sie haben gesagt, Sie hätten eine Wolke gesehen …«

»Um deinen Kopf, mein Freund. Ich sehe sie jetzt. Die Wolke wird sich im Laufe des Tages öffnen, und es wird dir leidtun. Denke an meine Worte, mein Freund. Die Äpfel werden fallen. Gelbrote – weißt du, welche ich meine? Das sind die besten. Es gibt die Roten, mit diesem etwas mürben Fleisch, es gibt die Grünen mit dem harten, saftigen Fleisch, und es gibt die Gelben, mit dem weichen, süßen Fleisch. Und dann gibt es die Gelbroten. Die sind am besten.«

»Und warum werden sie fallen?«, fragte Paul Hjelm ernst, und erntete den obligatorisch versteinerten Blick von Grundström, der sich weiter unverdrossen an des Pudels Kern heranarbeitete.

»Sie haben gesagt, Sie hätten eine Wolke gesehen, die aus dem Eingang zur U-Bahn kam. Erinnern Sie sich? Das U-Bahn-Schild zersplitterte auf der anderen Straßenseite – wissen Sie noch?«

»Ich erinnere mich.«

»Gut, Arvid. Woran erinnern Sie sich noch?«

»An eine andere, schönere Welt. Wo niemand eine schwarze Wolke um den Kopf hat. Ich bin dort gewesen. Sie heißt Kongo. Dort wohnen nur die Toten.«

Niklas Grundström war in Sachen Konzentration das Phänomen der Stockholmer Polizei, das wurde allgemein anerkannt. Er war in der Lage, Verhöre unter den anstrengendsten Umständen durchzuführen, und er besaß eine geradezu phantastische Fähigkeit, bei der Sache zu bleiben und sich von keinerlei äußeren Dingen beeinflussen zu lassen. Deshalb fand Paul Hjelm es sehr interessant, Grundström unter den gegebenen Umständen zu beobachten. Es ging nicht darum, ohne einen Schweißtropfen auf der Stirn den Teufel im Vorhof der Hölle zu verhören oder sich in einem Graben in Sarajevo vor verirrten Kugeln zu ducken, während man gleichzeitig versucht, einem verschreckten Kind die Position des Heckenschützen zu entlocken. Nein, hier ging es darum, wie Niklas Grundström sich gegenüber mentalen Randzonen verhielt.

Paul Hjelm lachte.

Innerlich.

Äußerlich wirkte er beinahe so ungerührt wie sein Chef.

»Sind Sie im Kongo gewesen?«, fragte er.

»Ja«, sagte Arvid und richtete seinen überirdischen Blick zum ersten Mal auf ihn. Es fühlte sich an, als wollte er ihn aufspießen.

»In Katanga vielleicht?«, fuhr Hjelm fort. »Anfang der Sechzigerjahre?«

Der gelbweiße Arvid sank irgendwie in sich zusammen.

»Es waren Neger«, sagte er.

Grundström sah ein bisschen erregt aus. Er verpasste seinem Untergebenen eine Kaskade von Blicken, jedoch ohne größere Wirkung.

»Und dort wohnen nur die Toten?«, fragte Hjelm weiter. »Wie viele Neger haben Sie getötet? Und warum?«

Arvid richtete sich auf und sah wieder hoch. Sein Blick war jetzt ein bisschen kaputter, hatte aber immer noch eine gewisse Schärfe.

»Du hast auch eine Wolke um den Kopf gehabt, mein Freund«, sagte er heiser. »Sie war viel schwärzer als die von meinem anderen Freund, aber jetzt ist sie weg. Du hast sie weggekriegt. Wie hast du das gemacht?«

»Wie groß ist deine eigene Wolke, Arvid?«, fragte Hjelm.

Zum ersten Mal lächelte Arvid Gelbweiß. Ein fast zahnloses Lächeln. Dabei wäre totale Zahnlosigkeit besser gewesen als diese Ruine von Zahnreihen, die auf unergründliche Weise erhalten geblieben war.

»Sie ist groß«, nickte er. »Sehr groß.«

»Klar erinnerst du dich an dies und das, Arvid. Du erinnerst dich an das U-Bahn-Schild, das auf die Straße fiel. Du erinnerst dich sicher an das Splittern, als es kaputtging.«

Und an die kleine Geste, mit der er nun das Wort an Niklas Grundström übergab, würde sich Paul Hjelm immer als an einen der Höhepunkte in seinem Berufsleben erinnern.

Innerlich.

Grundström musste tatsächlich ein wenig blinzeln – fand aber schnell das Gleichgewicht wieder und übernahm.

»Was hast du gesehen, Arvid, als das Schild kaputtging? War da ein Mann?«

Arvid sah ihn nicht an. Er starrte geradewegs durch ihn hindurch. Und durch die Wand, durch die Mauern des Polizeigebäudes, hinauf in den verstecktesten Winkel des Himmels. In die schwärzesten Wolken.

Und sagte:

»Da war ein Mann.«

Grundström rümpfte kurz die Nase.

»Erzähl uns von dem Mann.«

»Er ging zur U-Bahn. Und dann, als die Wolke kam, drehte er sich um und ging weg.«

»Und das war alles?«

»Er haute ab.«

»Haute ab?«

»Verduftete. Verzog sich.«

»Vielleicht hatte er nur Angst? Die Welt explodiert, und er läuft weg.«

»Nein, er haute ab. Er haute vor der Wolke ab. Aber das geht nicht. Man kann nicht vor seiner Wolke abhauen. Er hatte eine große, schwere, schwarze Wolke über dem Kopf, viel größer als deine, mein Freund. Deshalb möchte ich wissen, wie du deine losgeworden bist, mein anderer Freund. Wie hast du das gemacht?«

»Lass uns versuchen, die verschiedenen Wolken auseinanderzuhalten«, schlug Grundström ohne ein Zeichen von Ungeduld vor. »Halten wir uns an die Wolke, die aus dem U-Bahn-Eingang kam. Da war noch etwas mit diesem Mann, oder? Etwas Besonderes?«

»Seine Wolke war groß. Vielleicht ein Zehntel von meiner.«

»Aber du hast ihn wiedererkannt? Du hattest ihn schon mal gesehen?«

»In seiner Wolke brannte ein Feuer. Das habe ich noch nie gesehen. Wie Gasplaneten im Universum. Wie die Sonne. Protuberanzen.«

»Wie was?«, entfuhr es Grundström.

»Protuberanzen.« Hjelm konnte sich nicht verkneifen das Wort zu wiederholen. »Gasbeulen auf der Sonnenoberfläche, die zuweilen, wenn sie aktiv sind, ziemlich weit hinausgeschleudert werden. Bis um ein Vielfaches des Erdballs.«

»Danke«, sagte Grundström mit Grabesstimme.

»Es können sich auch Teile ablösen«, fuhr Hjelm fort. »Kleine Stücke der Sonne, die ins Universum geschleudert werden.«

»Danke«, wiederholte Grundström wie zuvor. »Was wollen Sie damit sagen, Arvid.«

Arvid starrte sie an und sagte:

»Unter der Wolkendecke brodelte Magma.«

»Und Sie haben ihn also wiedererkannt?«

»Ich wollte Astronom werden«, sagte Arvid mit kreisrunden Augen. »Ich wollte das riesige Universum verstehen. Interessiert man sich nicht für Menschen, wenn man sich für das Universum interessiert? Das haben sie gesagt, als sie mich schlugen.«

»Wer hat Sie geschlagen?«, reagierte Grundström ganz automatisch. »Im Streifenwagen? Hier im Arrest?«

»Im Kongo«, sagte Arvid. »Dort war es hart. Wir haben getötet. Ich habe getötet, weil sie böse zu mir waren. Sie fanden, ich sei ein Trottel, weil ich Astronomie studierte. ›Du bist ein Idiot, Arvid. Es gibt genug schwarze Löcher in Afrika.‹«

»Hat man 1960 schon von schwarzen Löchern gewusst?«, fragte Paul Hjelm.

»Jedenfalls von denen in Afrika«, sagte Arvid.

Und dann wiederholte Paul Hjelm seine kleine Geste gegenüber Grundström und spürte, wie die Süße des Triumphes durch seinen Kreislauf rann und sich Wohlbehagen in seinem Körper ausbreitete.

»Haben Sie den Mann auf der St. Eriksgata wiedererkannt?«, fragte Grundström.

»Ja«, sagte Arvid glasklar.

»Wer war es?«

»Es war ein Polizist.«

»Danke«, sagte Grundström. »Wissen Sie, wer es war?«

»Es war ein Polizist, der schlimmste von allen. Er hieß Hans-Jörgen. Ich fand, dass es deutsch klang. Und er war genauso wie ein Nazi. Er kam nie auf die Idee, dass Neger Menschenwert haben könnten.«

»Jörgen ist ein skandinavischer Name«, sagte Paul Hjelm. »In Deutschland würde er Jürgen heißen.«

»Aber in Dänemark heißen sie Jørgen«, sagte Arvid.

»Das stimmt«, gab Hjelm zu.

»Es war also ein Polizist, den Sie vor der Rauchwolke fliehen sahen?«, fragte Grundström mit versteinerter Stimme.

»Er und seine Leute haben mich mit Lederriemen gefesselt. Und dann haben sie mich geschlagen. Ich glaube, sie haben zum Fesseln die Trageriemen der Gewehre genommen. Dann schlugen sie mich, bis ich versprach, mehr Neger zu töten als sie. Dann haben wir gesoffen. Das Saufen habe ich im Kongo gelernt. Hans-Jörgen hat mir das Saufen, Töten und Ficken beigebracht. Er war Polizist in Södertälje. So war das.«

»Sah der Polizist, den Sie gestern gesehen haben, wie Hans-Jörgen aus?«, fragte Grundström tapfer weiter und zeigte auf sein Papier. »Haben Sie das gemeint, als Sie sagten, Sie hätten ihn wiedererkannt? Denn so steht es hier, genau das haben Sie zu den Kollegen vom Arrest gesagt: ›Er ist Polizist, und ich weiß, wer er ist. Wenn ihr mich gehen lasst, sage ich, wer er ist.‹ Das ist ein direktes Zitat aus dem Polizeibericht.«

»Er war der Teufel«, sagte Arvid. »Ich verstehe erst jetzt, dass er der Teufel in Person war. Der echte Teufel. Er muss natürlich die Gestalt eines Menschen annehmen, wenn er auf der Erde etwas ausrichten will.«

»Meinen Sie jetzt den Polizisten auf der St. Eriksgata?«, fragte Grundström beherrscht.

»Da ist die Wolke.«

»Wir konzentrieren uns jetzt auf das, was heute Nacht passiert ist.«

»Die Wolke um uns wird größer. Die schwarze Wolke. Wir können sie bekämpfen. Wenn auch nur bis zu einem gewissen Punkt – dann schließt sie sich um uns und überwältigt uns. Sie dringt in uns ein, damit wir sie nicht loswerden können. Niemand wird böse geboren.«

»Ist der Polizist auf der St. Eriksgata böse?«, versuchte es Grundström, aber Hjelm hörte an seiner Stimme, dass er aufgegeben hatte. An der Veränderung in den Nuancen.

Der Blick, mit dem Arvid Gelbweiß zu Niklas Grundström aufsah, war abwesender denn je.

»Und du, mein Freund, musst aufpassen. Die Wolke wird größer. Sie bedeckt schon fast die ganze rechte Gesichtshälfte.«

»Okay, Arvid. Dann wird es wohl eine Weile dauern, bis Sie hier herauskommen. Wir sehen uns bald wieder.«

»Ich will mit ihm reden«, sagte Arvid und zeigte auf Hjelm. »Er kann sagen, wie man die Wolke verschwinden lässt. Es war das erste Mal, dass ich das sehe. Aber jetzt muss ich schlafen.«

Sie ließen ihn allein. Der Wärter erschien im Korridor, und sie gingen schweigend an der langen Reihe der Zellentüren entlang. Hjelm sah von Zeit zu Zeit verstohlen zu Grundström hinüber, der wieder sein normales, strammes Ich war.

Äußerlich jedenfalls.

Schließlich sagte Grundström ausdruckslos:

»Ja, wie wird man die schwarze Wolke los, verdammt?«

Paul Hjelm konnte nicht leugnen, dass ihn die Frage während des ganzen Gesprächs mit Arvid Gelbweiß beschäftigt hatte. Aber er hatte doch nichts Besonderes getan? In der letzten Zeit war in seinem Leben nichts Außergewöhnliches passiert. Oder doch? Atmete er nicht ein wenig leichter? Ging er dem Tag nicht mit etwas mehr Zuversicht entgegen? Aber das war ja nichts wirklich Neues – die einzige wirklich umwälzende Kraft, an die Paul Hjelm glaubte, war die Liebe, und die war vor einem Jahr gescheitert, sehr handgreiflich, in Form eines Nadelstichs in den Nacken im Parkhaus des internationalen Flughafens Arlanda. Vielleicht war er doch ein anderer gewesen, als er aufgewacht war? Vielleicht hatte ihm die merkwürdige und sehr zwiespältige Frau mit Namen Christine Clöfwenhielm doch eine positive Kraft injiziert? Er wusste es nicht. Und das sagte er.

»Ich weiß es nicht.«

Grundström wechselte ohne sichtbare Anstrengung das Thema:

»Er ist tatsächlich Astronom geworden. Sein Name ist Arvid Lagerberg, und, er war eine Zeit lang ein international anerkannter Forscher. Schwedischer Vertreter an einem Observatorium namens Keck – du als Bildungssnob kennst das sicher. Dann ging es abwärts. Wie bist du auf den Kongo gekommen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Hjelm stillvergnügt. »Es ist ein dunkler Fleck in der schwedischen Geschichte. Schwedische UN-Soldaten sind kürzlich wieder in den Kongo gegangen, vierzig Jahre später. Was dort beim vorigen Mal passiert ist, liegt immer noch im Dunkeln. Ich habe mich ein wenig für diese Zeit interessiert. Ein Haufen naiver junger Schweden wurde in eine wahre Pesthöhle geschickt, und dort wurden sie zu Monstern. Niemand wollte sie da haben. Weder die kongolesische Armee noch die Katanga-Milizen, schon gar nicht die noch anwesenden belgischen Offiziere und auch nicht die widerlichen Söldner aus Südafrika. Alle lehnten die UN-Truppen ab.«

»Was du alles weißt«, sagte Grundström mit Marmorstimme.

»Ich weiß noch was«, sagte Paul Hjelm kühl. »Der Terminus Schwarzes Loch wurde erst 1968 von dem Physiker John Wheeler geprägt.«

»Tüchtiger Junge. Und was hätte das zu bedeuten?«

»Dass Arvid auf diesen Witz mit den schwarzen Löchern in Afrika vermutlich selbst gekommen ist. Oder ihn sich zumindest angeeignet hat. Was wiederum bedeuten würde, dass er ein bisschen direkter, als er behauptet, an einer Reihe von Vergewaltigungen beteiligt gewesen ist. Und vielleicht ist er auch diesem Polizisten Hans-Jörgen begegnet. Dem Teufel.«

»Nun mal langsam«, sagte Grundström. »Es war Krieg, und außerdem ist es über vierzig Jahre her. Was kann das in unserem Zusammenhang für eine Rolle spielen?«

»Es ist entscheidend für seinen Charakter«, antwortete Hjelm und zuckte die Schultern. »Denn ich vermute, dass du bei dieser ganzen Sache daran gedacht hast, dass ich mich seiner annehme?«

»Aber er ist doch total versoffen. Er hat keinen Charakter. Der ist geistig völlig weg. Da ist nur Chaos. Das Land der Farne, Scheiße. Es geht nur darum, ihn zum Reden zu bringen.«

»Wie du da drinnen vermutlich gemerkt hast, gehört dazu etwas mehr als sonst«, sagte Hjelm trotzig. »Aber die Grundfrage ist: Warum so viel Energie darauf verwenden? Spielt es wirklich irgendeine Rolle? Wenn da tatsächlich ein Polizist auf der St. Eriksgata gewesen ist – kann man dann nicht verstehen, dass er sich aus dem Staub gemacht hat? Vielleicht hatte er etwas getrunken, vielleicht begriff er, dass da etwas Großes passiert war, das viel Arbeit machen würde, und wollte nicht involviert werden? Was sollte das mit der Explosion selbst zu tun haben?«

»Scheißen wir also drauf?«

Das war eine ungewöhnlich direkte Frage aus dem Mund von Niklas Grundström. Paul Hjelm blieb auf dem Flur stehen – und brachte Grundström tatsächlich dazu, ebenfalls stehen zu bleiben. Sie sahen sich an.

»Nein«, sagte Hjelm schließlich. »Dieser Mann hat etwas Wichtiges gesehen. Davon bin ich überzeugt. Trotz allem. Da ist etwas in seinem, ich weiß nicht, in seiner Energie …?«

»Gut«, sagte Grundström bestimmt und setzte sich wieder in Bewegung. »Ein paar Grundinstinkte haben wir jedenfalls gemeinsam. Und ihr habt euch ja gut verstanden. Arvid und Paul.«

Hjelm holte ihn im Laufschritt ein, und sie gingen eine Weile schweigend durch die Flure. Erst als sie wieder im Inneren des Präsidiums waren, sagte Grundström, ohne stehen zu bleiben und ohne seine Miene zu verändern:

»Aber ein bisschen unheimlich war es doch.«

Hjelm merkte, dass er die Augen aufriss.

»Wieso?«

»Elsa und ich haben uns heute morgen gestritten.«

Zu seiner Verwunderung spürte Paul Hjelm, dass sich seine Brauen ein paar weitere Millimeter hoben.

»Ach ja?«, sagte er vorsichtig.

Grundström sagte:

»Sie hat mir eine Ohrfeige verpasst. Mein rechtes Ohr tut immer noch weh.«

6

Eine Regenwolke glitt über die Stadt und ging über den Einwohnern nieder. Es war eine jämmerliche kleine Regenwolke, ein windgetriebener Scheuerlappen, den der Zufall gerade über dieser kleinen Großstadt auswrang, die seit siebenhundertfünfzig Jahren Stockholm genannt wurde. Und die ärmlichen, wenig dauerhaften Individuen, die der gleiche Zufall – oder ein anderer – genau an diesem Punkt in dem vierdimensionalen Puzzle namens Menschheit platziert hatte, ließen die Rinnsale an ihren Gesichtern herablaufen und stellten beim Anblick der gleichen Rinnsale in den Gesichtern der anderen eine gewisse Erleichterung an sich selbst fest. Als ob sie trotz allem irgendwie zusammengehörten. Als ob sie eine Erfahrung teilten.

Vielleicht war etwas Außergewöhnliches vonnöten, um dies einzusehen, nämlich, dass es eine ganze Menge gibt, was uns verbindet.

Ein großer Mann unbestimmten Alters und in einem überraschend modischen Jackett begriff dies, als er am Slussen aus dem Bus aus Nacka stieg und sich auf seine tägliche Wanderung entlang des Söder Mälarstrand und weiter zur Västerbro begab. Er hieß Gunnar Nyberg und konnte sich tatsächlich darüber freuen, dass die Störungen des U-Bahn-Verkehrs ihn nicht betrafen. Er lief weiter als nötig, während die Regentropfen ihm ins Gesicht klatschten. Erst als er weitgehend durchnässt war, spannte er den Schirm auf und erkannte, dass Stockholm neue Formen bekommen hatte.

Eine blonde Frau in kaputten Jeans und einem Strickpullover, der hartnäckig über ihren gepiercten Bauchnabel nach oben rutschte, begriff es, als sie von ihrer neuen Wohnung auf halber Höhe von Götgatsbacken auf die Straße trat und die wenigen Schritte zur U-Bahn gehen wollte. Stattdessen blieb sie stehen und spürte, wie die Tropfen sich an den Haarwurzeln sammelten und, wenn sie groß genug waren, am Scheitel abwärtsglitten. Sie hieß Lena Lindberg, und als sie schließlich zu dem erwarteten Durcheinander von Ersatzbussen am Slussen hinunterschlenderte, fühlte sie sich teilhaftiger an der Menschheit als nur wenige Sekunden zuvor.

Erst auf dem U-Bahnsteig kam einem älteren Mann in Lederjacke die gleiche Einsicht. Außerdem erkannte er, wie nass er war. Obwohl er die ganze Fahrt von Karlaplan bis T-Centralen dafür brauchte. Er hieß Viggo Norlander und fragte sich, ob er ungewöhnlich dickhäutig oder ungewöhnlich wirklichkeitsentrückt war. Und es dauerte mindestens ebenso lange, bis er begriff, warum der Bahnsteig der blauen Linie nach Rådhuset menschenleer dalag. Schließlich landete er in einem proppenvollen Ersatzbus. Er trocknete sich mit einer Gratiszeitung ab, woraufhin die Mitpassagiere folgenden Schriftzug auf seiner hohen Stirn lesen konnten: »benanschlag in U-Bahn!« Allerdings spiegelverkehrt.

Ein kleiner dunkelhäutiger Mann von knapp vierzig Jahren begriff es, als er in seinem viel zu dünnen Leinenjackett die Polhemsgata hinaufwanderte. Sein Name war Jorge Chavez. Er hielt einen kurzen Moment inne, als der Regen heranwehte, blieb auf dem Bürgersteig stehen und ließ sich durchnässen. Es ging ihm nicht besonders gut. Er vollführte langsam eine Drehung um sich selbst – zuerst sah er den Kronobergspark, der im Schatten des Regens wie ein wahrer Dschungel aussah, dann sah er das Polizeipräsidium. Einen Moment lang fragte er sich, welche Seite der Polhemsgata eigentlich die wildere war.

Ein überaus weißer Mann begriff es erst in dem Augenblick, als eine Putzfrau seine Lieblingstoilette besetzte und er in ihrem Gesicht dieselbe Regennässe sah wie in seinem. Sie sah aus, als komme sie aus Südamerika, und sie schien geradewegs von der Straße in seine Herrentoilette gestiefelt zu sein. Er hieß Arto Söderstedt, und seine schlechte Angewohnheit, jeden Morgen einen Liter Apfelsinensaft zu trinken, machte den langen Spaziergang von Södermalm zu einem Kampf gegen die Zeit. Eine blockierte Toilette konnte leicht schicksalsschwere Folgen haben. Er wusste, wie weit es bis zur Nächsten war, und zu laufen war in seinem Zustand keine gute Idee. So erschütterungsfrei wie möglich bewegte er sich die Treppe hinauf.

Als die kurz geschorene blonde Frau mit einem knappen »Hej« auf der Treppe an ihm vorbeistieg, fragte sie sich einerseits, ob er im Begriff war, den Geist aufzugeben wie ein alter Motor, anderseits nahm sie die Rinnsale wahr, die ihm in die Stirn liefen. Und damit überkam sie die Einsicht, dass uns alle trotz allem eine ganze Menge verbindet. Ihr Name war Sara Svenhagen, und als sie neben dem Weißen innehielt, wurde sie hastig weggewinkt und stieg weiter die Treppe hinauf. Als sie schließlich ihr Gesicht in ein geschmeidig hervorgezaubertes Papiertaschentuch drückte, war sie praktisch schon vor der ihr wohlbekannten Tür angelangt.

Dort stand bereits ein sehr großer, schlanker Mann von knapp dreißig Jahren und las eine mit Tesafilm befestigte Mitteilung. Als er Sara sah, erkannte er, dass er nicht der Einzige war, dem die Rinnsale beharrlich über die Stirn liefen. Er hieß Jon Anderson, und er war verblüfft über die Verwunderung in seiner Stimme, als er sagte:

»Die Kampfleitzentrale ist geschlossen.«