Braut wider Willen - Jen Turano - E-Book

Braut wider Willen E-Book

Jen Turano

5,0

Beschreibung

New York, 1882: Lucetta Plum ist eine erfolgreiche Schauspielerin. Doch ein aufdringlicher Verehrer zwingt sie, bei Nacht und Nebel die Flucht zu ergreifen. Lucettas mütterliche Freundin Abigail ist davon ausgesprochen begeistert, bietet ihr das doch eine Gelegenheit, die junge Frau mit ihrem Enkel zu verkuppeln, auf dessen Anwesen sie Zuflucht findet. Bram Haverstein ist ein sehr wohlhabender, aber auch etwas exzentrischer Gentleman. Er ist schon seit Jahren insgeheim in Lucetta verliebt. Die junge Frau ist allerdings alles andere als begeistert, als sie erkennt, dass auch Bram zur Schar ihrer Verehrer gehört ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 441

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (2 Bewertungen)
2
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über die Autorin

Jen Turano wuchs in der Kleinstadt St. Clairsville, Ohio, auf und lebt heute mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Denver. Mit dem Schreiben begann sie, als ihr kleiner Sohn ihr erzählte, dass er die Geschichten, die sie sich selbst ausgedacht hatte, genauso sehr mochte wie die in den Büchern.

Jen liebt es, humorvolle Geschichten mit skurrilen Charakteren und spannenden Verwicklungen zu verfassen – und sie schreibt historische Romane, weil sie diese schon als Teenager selbst gern gelesen hat. Von ihr bislang auf Deutsch erschienen: „Die falsche Gouvernante“, „Zwei wie Katz und Hund“, „Eine Dame außer Rand und Band“, „Braut auf Zeit“ und „Ein Kindermädchen zum Verlieben“.

Für Gretchen

1

Oktober 1882 – New York City

Entschuldigen Sie, Miss Plum, aber draußen ist ein Mann, der Sie unbedingt sprechen will. Er behauptet, er sei Ihr Vater.“

Miss Lucetta Plum, die ihren abendlichen Bühnenauftritt beendet hatte und gerade dabei war, sich abzuschminken, hielt inne. Verwirrt drehte sie sich zu Skukman herum. Der einschüchternd wirkende riesige Mann, den sie angestellt hatte, damit er sie vor aufdringlichen Bewunderern schützte, stand im Türrahmen ihrer Garderobe. „Das ist ja interessant, Mr Skukman. Mein Vater ist schon vor Jahren gestorben.“

Skukman zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch. „Das ist tatsächlich interessant.“ Mit diesen Worten ließ er sie wieder allein und zog die Tür hinter sich zu. Einige Sekunden später hörte sie durch die geschlossene Tür, dass es draußen ein Handgemenge gab.

„Das ist wirklich unerhört!“, schimpfte eine Männerstimme. „Ich verlange, dass Sie mich augenblicklich loslassen!“

Lucetta erkannte die Stimme sofort. Sie erhob sich langsam von ihrem gepolsterten roten Schminkhocker und bahnte sich einen Weg durch das Chaos in ihrer Garderobe. Sie schritt über ein Paar hochhackige Schuhe, die sie von ihren Füßen geschleudert hatte, sobald der Beifall des Publikums verklungen war, atmete tief ein und öffnete die Tür.

Abneigung begleitet von einer großen Portion Wut regte sich in ihr, als ihr Blick auf den Mann fiel, den Skukman jetzt gewaltsam durch den engen Flur Richtung Ausgang schob.

Da sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, diese unerfreuliche Begegnung hinauszuzögern, hob Lucetta das Kinn. „Sie können ihn loslassen, Mr Skukman.“

Der Angesprochene blieb abrupt stehen und warf ihr einen raschen Blick zu. Dann stieß er ein Knurren aus, das ausgesprochen bedrohlich klang.

Lucetta zuckte kaum mit der Wimper. Sie hatte Skukman zwar wegen seines einschüchternden Auftretens und seiner Ausstrahlung eingestellt, bei der erwachsene Männer vor Angst erzitterten, aber sie wusste mittlerweile, dass sich hinter dem bedrohlichen Äußeren ein charmanter und einfühlsamer Mann verbarg. Dieser Mann las gern romantische Gedichte und rezitierte sie in einem sanften, aber trotzdem theatralischen Tonfall, wenn er glaubte, niemand würde ihn hören.

„Verzeihen Sie, Miss Plum, aber ich denke nicht, dass es gut für Sie wäre, wenn ich diesen Mann loslasse“, warf Skukman ein. „Er ist ein ausgesprochen unangenehmer Zeitgenosse, und ich weiß, dass Sie mit unangenehmen Männern so wenig wie möglich zu tun haben wollen.“

„Da haben Sie recht. Er ist wirklich sehr unangenehm, Mr Skukman, aber –“

„Ich bin dein Vater!“, schrie der Mann jetzt.

„Du bist nicht mein Vater, Nigel“, widersprach Lucetta ihm und hob die Hand, als der Angesprochene den Mund öffnete und augenscheinlich weiter darüber diskutieren wollte. „Du bist zwar offiziell mein Stiefvater, aber seit du versucht hast, mich im Alter von sechzehn Jahren zu zwingen, dir bei deinen schändlichen Betrügereien zu helfen, bist du für mich nicht länger Teil meiner Familie. Du bist lediglich ein unangenehmer Mensch, den meine Mutter dummerweise geheiratet hat.“

Nigel Wolfe befreite sich aus Skukmans eisernem Griff und zog die Jacke über seinen vorstehenden Bauch. Obwohl er früher einmal einen jungenhaften Charme besessen und attraktiv gewesen war, hatten durchzechte Nächte mit zu viel Alkohol und reichhaltiges Essen inzwischen deutliche Spuren hinterlassen. Nigels fleischige Wangen hingen herab und er hatte eine eher teigige Gesichtsfarbe. Die dunklen Säcke unter seinen Augen verrieten, dass er offensichtlich seit Tagen nicht richtig geschlafen hatte. Seine braunen Haare, die jetzt mit grauen Strähnen durchzogen waren, waren zerzaust, und sein insgesamt ungepflegtes Aussehen konnte nur eines bedeuten:

Er hatte wieder gespielt.

„Ich muss unter vier Augen mit dir sprechen. Es geht um eine Sache von sehr großer Dringlichkeit“, erklärte Nigel.

Lucetta verkniff sich ein Seufzen. „Natürlich.“ Sie nickte Skukman zu und tat, als bemerke sie den ungläubigen Blick nicht, mit dem ihr Leibwächter sie bedachte. Dann drehte sie sich auf ihrem bestrumpften Fuß um und kehrte wieder in ihre Garderobe zurück. Sie setzte sich auf den Schminkhocker und beobachtete Nigel im Spiegel, während Skukman die Tür anlehnte und dann davor Stellung bezog.

Ein galliger Geschmack erfüllte ihren Mund, als Nigel durch den Raum schritt, sich auf ein Sofa fallen ließ und dabei die Perücke zerdrückte, die sie kurz zuvor abgenommen hatte. Er begann sofort, sich neugierig umzusehen.

„Über welche Sache von großer Dringlichkeit willst du mit mir sprechen?“, war sie schließlich gezwungen zu fragen, da Nigel vergessen zu haben schien, warum er gekommen war, und weiterhin den Raum musterte.

„Sind das echte Diamanten?“ Er deutete mit dem Kopf zu einer Halskette, die an ihrem Spiegel hing.

Sie nahm eine Cremedose, tauchte einen Finger hinein und tupfte die Creme kräftiger als nötig unter ein Auge. Als sie sich dabei unabsichtlich kratzte, verzog sie das Gesicht. „Ich denke schon, aber da Mr Skukman diese Kette noch heute Abend einem gewissen Mr Dover zurückgeben wird, spielt das keine Rolle.“

„Du gibst die Kette zurück?!“

„Da ich nicht die Absicht habe, den Preis zu zahlen, den Mr Dover zweifelsohne erwartet, falls ich dieses Zeichen seiner Zuneigung behalte, gebe ich sie selbstverständlich zurück.“ Lucetta nahm ein Taschentuch und begann, das Auge zu betupfen, das jetzt zu tränen begonnen hatte.

„Das ist unglaublich dumm von dir, meine Liebe. Damit lässt du dir eine erstklassige Gelegenheit entgehen, dir ein Vermögen zu sichern.“

Lucetta legte das Taschentuch weg und fuhr herum. „Ich kann mir zwar nichts Reizvolleres vorstellen, als mit dir über meine Verehrer und ihre unangebrachten Geschenke und Erwartungen zu sprechen, aber sag mir lieber, was du in New York machst. Und wo ist Mutter?“

„Sie ist zu Hause in Virginia auf Plum Hill und mit den Vorbereitungen für eine Abendgesellschaft beschäftigt, die sie morgen gibt.“

„Weiß sie, dass du hier bist?“

„Wer, glaubst du, hat darauf bestanden, dass ich dich aufsuche, nachdem ich in eine etwas peinliche Lage geraten bin?“

Etwas, das sich verdächtig nach Schmerz und Verletztheit anfühlte, regte sich in Lucetta. Sie hatte nie eine enge Beziehung zu ihrer Mutter gehabt, da sie ihrem Vater schon immer ähnlicher gewesen war, aber –

„Wenn du einfach so freundlich wärst, mir die Eigentumsurkunde für Plum Hill auszuhändigen, lasse ich dich wieder in Ruhe.“

Der Schmerz verflog schlagartig.

„Entschuldige, Nigel, aber du hast mich doch nicht wirklich um die Eigentumsurkunde für Plum Hill gebeten, oder?“

„Es schmerzt mich zwar zutiefst, dass ich dich darum bitten muss, da diese Urkunde im Grunde von vornherein in meinem Besitz hätte sein sollen, aber ja: Ich habe dich um die Eigentumsurkunde für Plum Hill gebeten. Und ich brauche sie noch heute Abend.“

„Sag jetzt nicht, dass du schon wieder versucht hast, die Plantage zu verspielen!?“

„Ich habe es nicht nur versucht, meine Liebe, leider ist es mir dieses Mal auch gelungen.“

„Falls ich dich daran erinnern muss: Plum Hill gehört dir nicht und du kannst die Plantage deshalb nicht verspielen.“

„Das ist mir sehr wohl bewusst, aber als ich die Eigentumsurkunde für Plum Hill als Einsatz beim Kartenspiel anbot, hatte ich nicht die Absicht zu verlieren. Ich war mir absolut sicher, dass ich mit dem Blatt, das ich auf der Hand hatte, gewinnen würde, aber …“

Nigel erschauerte leicht, dann zog er eine Taschenuhr heraus, warf einen Blick darauf und erschauerte erneut. „Ich stehe ein wenig unter Zeitdruck. Wenn du mir die Eigentumsurkunde also bitte einfach holen würdest, wäre ich dir sehr dankbar. Und auch deine Mutter, die mich, wie ich noch einmal betonen möchte, ermutigt hat, dich aufzusuchen.“

Lucetta kniff die Augen zusammen. „Wenn Mutter so erpicht darauf war, dich dazu zu ermutigen, sie obdachlos zu machen, warum hat sie dich dann auf deiner Fahrt nach New York nicht begleitet?“

Nigel begann, seine Taschenuhr zu inspizieren. „Ich habe dir doch gesagt, dass sie morgen eine Abendgesellschaft ausrichtet. Außerdem weißt du ganz genau, dass es Susannah nicht gefällt, mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass ihre Tochter ihren Lebensunterhalt als Theaterschauspielerin verdient.“

„Mutter gefällt es bestimmt auch nicht, mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass sie in ihrem eigenen Haus keine Abendgesellschaften mehr ausrichten kann. Da stellt sich doch die Frage, ob sie dich wirklich ermutigt hat, mich aufzusuchen.“

Nigels Kopf fuhr hoch. „Gibst du mir jetzt die Eigentumsurkunde oder nicht?“

„Nein, das werde ich nicht. Und das war dir wahrscheinlich von vornherein bewusst, aber selbst wenn ich völlig den Verstand verloren hätte und dir die Urkunde geben wollte, könnte ich es nicht, weil sie nicht länger in meinem Besitz ist.“

„Du hast Plum Hill verkauft, ohne dich vorher mit mir zu beraten?“

„Sei nicht lächerlich. Glaubst du wirklich, ihr könntet weiterhin auf Plum Hill wohnen, wenn ich die Plantage verkauft hätte? Wie du dich sicher erinnerst, habe ich meinem Vater auf dem Sterbebett versprochen, dass ich mich immer um Mutter kümmern werde. Wenn ich Plum Hill verkaufen und ihr damit ihr Zuhause rauben würde, würde ich dieses Versprechen brechen.

Nur zu deiner Information: Mr Everett Mulberry hat die Eigentumsurkunde, aber er bewahrt sie lediglich sicher für mich auf. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme für Situationen wie diese hier. Und ich habe ihm ausdrückliche Anweisungen in Bezug auf die Urkunde gegeben. Er weiß, dass er die Urkunde nur herausgeben darf, wenn ihm jemand meinen sehr kalten, sehr toten Körper präsentiert.“

Nigel bedachte sie mit einem alles andere als freundlichen Lächeln. „Das ließe sich einrichten.“

Es kostete sie viel Selbstbeherrschung, ihr Temperament zu zügeln. „Ich kann mir denken, dass dir die Vorstellung, ich wäre tot, manchmal sehr reizvoll erscheint, Nigel. Aber selbst wenn du ein unglaublich unsympathischer Mann bist, glaube ich trotzdem nicht, dass du den Mut hättest, einen Mord zu begehen.“

Nigel lehnte sich auf dem Sofa zurück. „Wahrscheinlich nicht, aber …“ Plötzlich leuchteten seine Augen auf. „Dieser Mr Mulberry ist nicht zufällig einer der New Yorker Mulberrys, oder?“

„Doch. Aber bevor du weitersprichst und mich mit deinen nächsten Worten zweifellos beleidigst, musst du wissen, dass er nur ein Freund ist, der mit einer meiner besten Freundinnen verheiratet ist. Er bewahrt die Eigentumsurkunde für mich auf, weil er mir einen Gefallen schuldet.“

„Ist dieser Gefallen groß genug, dass er bereit wäre, deinem Stiefvater ein größeres Darlehen zu gewähren?“

„Nein.“

Nigel faltete die Hände über seinem Bauch und betrachtete sie einen Moment lang. „Das ist wirklich schade, aber zu unserem Glück haben wir ja noch eine andere Möglichkeit, um mich vor dem Gefängnis zu bewahren oder zu verhindern, dass man mich zusammenschlägt, was noch wesentlich schlimmer wäre als eine Gefängnisstrafe.“ Er atmete tief ein, dann wieder aus und noch einmal ein, während sich Schweißperlen auf seiner teigigen Stirn bildeten.

Lucettas Magen zog sich langsam zusammen. „Ich bin nicht sicher, ob es mir gefällt, wenn du sagst, dass wir noch eine andere Möglichkeit hätten. Dass du beim Kartenspielen etwas verloren hast, das dir gar nicht gehörte, ist nicht mein Problem.“

„Aber wir sind eine Familie und als solche tragen wir unsere Probleme gemeinsam.“ Nigel wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Ich wünschte wirklich, ich müsste auf diese Option nicht zurückgreifen, denn dir wird kaum gefallen, was ich zu sagen habe. Aber wie du selbst gerade gesagt hast, hast du deinem Vater versprochen, dich um deine Mutter zu kümmern. Aus diesem Grund und da du weißt, dass Susannah untröstlich wäre, wenn ich ins Gefängnis gesperrt oder wenn mir irgendetwas zustoßen würde, spreche ich es trotzdem an.“ Er räusperte sich. „Du musst wissen, dass ich mich nie an diesen Kartentisch gesetzt hätte, wenn ich die leiseste Ahnung gehabt hätte, dass sich die Dinge so entwickeln würden.“

„Unsinn, du lässt dir nie eine Gelegenheit entgehen, mit Freunden eine Runde Karten zu spielen“, korrigierte Lucetta ihn.

Nigels Gesicht nahm eine leichte Grünfärbung an. „Das waren keine Freunde“, erwiderte er zögerlich. „Ehrlich gesagt hatte ich die Herren noch nie zuvor getroffen. Aber als sie betonten, dass sie von meinem Ruf als Spieler gehört hätten, konnte ich ihre freundliche Einladung doch nicht ausschlagen.“

Lucetta runzelte die Stirn und beugte sich zu ihm vor. „Warum in aller Welt hast du dich auf ein Kartenspiel mit Männern eingelassen, die ganz offen zugaben, dass sie davon gehört haben, du würdest immer verlieren?“

Nigel rümpfte die Nase. „Unsinn! Sie hatten gehört, dass ich ein sehr geschickter Kartenspieler bin.“

„Was du aber nicht bist. Vor allem dann nicht, wenn du dabei eine ganze Flasche Brandy trinkst, was, wie leider allgemein bekannt ist, an den meisten Abenden der Fall ist.“

„Ich habe die Einladung nach ihren ausgesprochen schmeichelhaften Worten sehr gern angenommen“, fuhr Nigel fort, ohne Lucettas Worten Beachtung zu schenken. „Und es lief auch recht gut, aber dann wurde ich leider ein wenig zu gierig und habe mit einem einzigen Blatt alles verloren. Zu meiner Erleichterung war Mr Silas Ruff sehr großzügig. Als er erkannte, dass ich möglicherweise gar nicht im Besitz der Eigentumsurkunde von Plum Hill bin, hat er mir eine andere Möglichkeit angeboten, meine Schulden zu begleichen.“

Lucetta hatte plötzlich das Gefühl zu ersticken. „Du hast mit Silas RuffKarten gespielt?“

„Ah, wunderbar! Du kennst ihn.“ Nigel lächelte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine Augen blutunterlaufen waren. „Er hat mit großer Bewunderung von dir gesprochen, meine Liebe, und jetzt, da ich weiß, dass du mit ihm bekannt bist, fällt es mir viel leichter, es dir zu sagen.“

„Mir was zu sagen?“

„Dass Mr Ruff gern bereit ist, anstelle der Eigentumsurkunde von Plum Hill etwas anderes zu akzeptieren. Etwas, das er offenbar sehr gern haben möchte: nämlich dich.“

2

Einen kurzen Moment lang glaubte Lucetta, sich verhört zu haben. Doch dann wanderte Nigels Blick unruhig durch den Raum, als habe er nicht den Mut, sie anzusehen. Da begriff sie, dass sie richtig gehört hatte.

Dieser abscheuliche Mann, der gerade auf ihrem Sofa herumlümmelte – und der leider mit ihrer Mutter verheiratet war –, glaubte augenscheinlich, es wäre völlig akzeptabel, seine Spielschulden zu tilgen, indem er seine eigene Stieftochter gewissermaßen verkaufte, um so seine Haut zu retten.

Lucetta unterdrückte nur mühsam den Drang, diesen Mann zu erwürgen. Sie stand auf und deutete zur Tür. „Hinaus!“

Nigel verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. „Sei doch nicht unvernünftig, Lucetta. Silas Ruff ist ein wohlhabender und einflussreicher Mann. Überleg doch nur, was er dir alles bieten kann. Er könnte dir helfen, die Lower East Side endlich hinter dir zu lassen.“ Ihr Stiefvater nickte vielsagend. „Wenn du mich fragst, tue ich dir sogar einen Gefallen.“

Der Wunsch, ihrem Gegenüber den Hals umzudrehen, verstärkte sich zunehmend. „Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass du das tatsächlich glaubst. Aber ich habe nicht die Absicht, meine Prinzipien über Bord zu werfen, nur um von der Lower East Side fortzukommen.“

„Prinzipien garantieren dir keine nette, gemütliche Wohnung weit weg von den Verbrechern, die, wie ich genau weiß, die Straßen in der Gegend unsicher machen, in der du lebst.“

Lucetta öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, beschloss aber zu schweigen. Schließlich lebte sie nicht länger in der Lower East Side, auch wenn nicht viele Menschen davon wussten. Dank der Großzügigkeit von Abigail Hart wohnte sie jetzt in einem ehrbaren Sandsteinhaus im Herzen des Washington Square bei Abigail und ihren Angestellten.

Abigail Hart war eine angesehene, einflussreiche Frau, eine Matrone der New Yorker Gesellschaft, und hatte aus irgendeinem unerklärlichen Grund beschlossen, dass es in ihrem fortgeschrittenen Alter ihr größter Wunsch war, jungen Frauen zu helfen, die in schwierigen Umständen lebten. Sie hatte vor Kurzem Lucetta und ihre zwei besten Freundinnen Hannah und Millie eingeladen, zu ihr in eine ehrbare Wohngegend zu ziehen. Da Abigail ihre Einladung zu einem Zeitpunkt ausgesprochen hatte, als Hannahs Leben in Gefahr gewesen war, hatten die jungen Frauen die Einladung dankbar angenommen. Doch auch wenn Hannah und Millie mittlerweile verheiratet waren, wohnte Lucetta nach wie vor bei Abigail am Washington Square.

Dass Abigail eine ausgesprochene Schwäche dafür hatte, sich in das Leben ihrer Mitmenschen einzumischen – oder um es anders zu sagen: sie verkuppeln zu wollen –, machte Lucetta manchmal das Leben schwer. Aber da es Abigail erfolgreich gelungen war, Hannah und Millie unter die Haube zu bringen, hoffte Lucetta, dass die alte Dame endlich zufrieden und ihr – Lucetta – eine Verschnaufpause vergönnt war.

Lucetta war fest entschlossen, Abigail ein für alle Mal zu verstehen zu geben, dass kein Grund bestand, sie irgendwelchen heiratsfähigen Männern vorzustellen, da die junge Frau im Moment keine Verwendung für Männer hatte. Sie war sehr wohl in der Lage, für sich selbst zu sorgen, und voll und ganz damit zufrieden, das auch in nächster Zeit zu machen. Außerdem hatte sie noch keinen Mann kennengelernt, der sich die Mühe gegeben hatte, hinter ihr ungewöhnlich schönes Gesicht und ihre wohlgeformte Gestalt zu schauen und –

„Ich will dich ja nicht hetzen, meine Liebe, aber dir sollte bewusst sein, dass Silas im Foyer auf uns wartet. Und wie du sicher weißt, sind Männer wie er nicht gerade erfreut, wenn man sie warten lässt.“

Lucetta riss sich von ihren Gedanken los und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Nigel. Er war inzwischen aufgestanden und versuchte tatsächlich, sie anzulächeln. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um Haltung zu bewahren. Die junge Frau hob das Kinn, schritt entschlossen zur Tür, öffnete sie und nickte Skukman zu. Ihr Leibwächter lächelte sie grimmig an, ließ seine Fingerknöchel knacken und marschierte unverzüglich auf Nigel zu.

Ohne den Protesten ihres Stiefvaters Beachtung zu schenken, packte Skukman ihn am Arm und schob ihn schleunigst aus dem Zimmer.

„Was soll ich denn jetzt Silas Ruff sagen?“, rief Nigel ihr über die Schulter zu, während er vergeblich versuchte, sich aus Skukmans Griff zu befreien.

„Das ist ganz allein deine Sache.“ Lucetta schloss die Tür, wischte sich die Hände ab und ging wieder auf die andere Seite ihrer Garderobe. Sie setzte sich auf den Schminkhocker und schlüpfte in die hochhackigen Schuhe, die auf dem Boden lagen, ohne sich um das große Loch in ihrem linken Strumpf zu kümmern, durch das ihre große Zehe ragte. Dann nahm sie einen dunkelblauen Hut, der auf ihrem Schminktisch lag und perfekt zu ihrem blau gestreiften Kleid passte, und setzte ihn auf. Noch bevor sie ihn mit Hutnadeln feststecken konnte, wurde die Garderobentür wieder geöffnet und Skukman erschien.

„Wir müssen Sie schleunigst von hier fortbringen.“

Lucetta neigte den Kopf zur Seite. „Warum habe ich das Gefühl, dass mir das, was Sie mir gleich sagen werden, nicht gefallen wird?“

Skukman half ihr auf die Beine und führte sie eilig zur Tür. „Silas Ruff macht im Foyer eine Szene. Er hat erklärt, dass er erst gehen wird, wenn Ihr Stiefvater seine Spielschulden beglichen hat, und wir wissen beide, was er damit meint.“

„Nigel hat ihm also gesagt, dass ich nicht bereit bin, ihm zu helfen?“

„Allerdings hat er das. Und dann hat er eilig das Weite gesucht. Damit weiß ich alles, was ich über Ihren Stiefvater wissen muss.“ Skukman steckte den Kopf durch die Tür, schaute nach links und nach rechts und zog Lucetta dann aus ihrer Garderobe. „Miss Hickley hat sich bereit erklärt, Silas abzulenken, damit ich Sie unbemerkt von hier fortbringen kann.“

„Das war sehr nett von ihr“, sagte Lucetta. Sie stolperte ein wenig, da Skukman sie viel zu schnell durch den Flur zog.

„Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie das wirklich nur aus Freundlichkeit getan hat. Immerhin ist sie Ihre Zweitbesetzung und hat sicher erkannt, dass Sie angesichts des Aufruhrs, den Silas im Moment veranstaltet, vielleicht für eine Weile die Stadt verlassen müssen.“

Lucetta blieb abrupt stehen. „Die Stadt verlassen? Also wirklich, Mr Skukman! Das ist doch vielleicht ein bisschen übertrieben. Die Theatersaison hat gerade erst begonnen und der Kartenverkauf läuft sehr gut. Außerdem weiß jeder, dass Mr Grimstone, der ach so geheimnisvolle Autor von ,Die Dame im Turm‘, ausdrücklich verlangt hat, dass ich die Rolle der Heldin übernehmen soll. Er wird bestimmt nicht erfreut sein, wenn ich die Rolle an Edna abtrete, bevor die Saison überhaupt erst richtig begonnen hat. Er und auch das Theater könnten große Verluste erleiden.“

„Selbst wenn es Verluste geben sollte, hat Mr Grimstone in dieser Sache kein Mitspracherecht, Miss Plum. Angesichts seiner offensichtlichen Wertschätzung für Sie und Ihre Schauspielkunst kann ich mir außerdem gut vorstellen, dass es ihm lieber ist zu hören, dass Sie untergetaucht sind, als dass Sie tot sind.“

„Silas will mich doch nicht umbringen, Mr Skukman. Er will mich für sich haben.“

„Wir wissen beide, dass Sie das nie zulassen werden, und nach dem, was ich gerade im Foyer gesehen habe, scheint dieser Mann kurz davor zu stehen, den Verstand zu verlieren. Der Blick in seinen Augen hat mir überhaupt nicht gefallen. Deshalb setze ich Sie jetzt in ein Hansom Cab und Sie fahren nach Hause zu Mrs Hart. Sobald Sie wohlbehalten dort angekommen sind, müssen Sie Ihre Koffer packen. Ich werde so schnell wie möglich nachkommen und Sie abholen.“

„Ich soll nicht in meiner eigenen Kutsche zu Abigail fahren, sondern mir ein Gig nehmen?“

„Natürlich. Es ist nicht wirklich ein Geheimnis, dass Sie jetzt bei Mrs Hart wohnen. Silas Ruff wird es also nicht besonders schwerfallen herauszufinden, wo Sie sich aufhalten, wenn er erfährt, dass Sie nicht mehr in der Lower East Side leben. Ich werde versuchen, ihn auf eine falsche Fährte zu locken. Dadurch gewinnen wir hoffentlich wertvolle Zeit, sodass Sie untertauchen können.“

Bevor Lucetta Gelegenheit hatte, gegen seine Pläne zu protestieren, saß sie schon in einem stickigen Hansom Cab, das mit schneller Geschwindigkeit über den Broadway fuhr. Diese Geschwindigkeit war der Extrasumme geschuldet, die Skukman dem Fahrer in die Hand gedrückt hatte.

Nach einer Weile war ihr ein wenig übel, da der Kutscher offenbar kein Schlagloch ausließ. Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie durch das Fenster in die dunkle Nacht hinausschaute, aber da die Gebäude so schnell an ihr vorüberflogen, richtete sie den Blick lieber auf ihren Schoß und seufzte kurze Zeit später erleichtert auf, als das Gig sein Tempo verlangsamte.

Lucetta wartete erst gar nicht darauf, dass der Kutscher ihr aus dem Einspänner half, sondern stieg aus, sobald er ganz zum Stehen gekommen war. Sie schüttelte den Kopf, als sie sah, dass Skukman dem Fahrer offenbar Anweisung gegeben hatte, sie ein ganzes Stück von Mrs Harts Haus entfernt abzusetzen. Das verriet ihr, dass er fest entschlossen war, ihren Aufenthaltsort geheim zu halten – selbst vor einem Kutscher, den sie wahrscheinlich nie wiedersehen würde.

Nachdem sie dem Kutscher versichert hatte, dass er sie nicht zur Tür begleiten müsse, trat sie ein paar Schritte zurück und blickte dem Mann nach, als er davonfuhr, sich aber immer wieder zu ihr umdrehte.

Lucetta wartete, bis das Gig nicht mehr zu sehen war, und überquerte dann den Washington Square. Bei Abigails Sandsteinhaus angekommen, bog sie in einen schmalen Weg ab, huschte auf die Rückseite des Hauses und trat durch eine Tür, die normalerweise dem Personal vorbehalten war, in die Küche. Als plötzlich eine schemenhafte Gestalt vor ihr auftauchte, die einen Baseballschläger in der Hand hielt, zuckte sie erschrocken zusammen.

Da sie jahrelang in einem zwielichtigen Stadtviertel gelebt hatte, ballte sie die Hände reflexartig zu Fäusten. Doch bevor sie zuschlagen konnte, vernahm sie eine vertraute Stimme.

„Miss Lucetta! Warum in aller Welt schleichen Sie sich wie ein gewöhnlicher Einbrecher ins Haus? Ich wollte Sie gerade mit diesem Schläger niederstrecken.“

Als eine Gaslampe aufgedreht wurde, die die Küche in ein weiches Licht tauchte, und sie ihr Gegenüber erkannte, entspannte sie sich. „Gütiger Himmel, Kenton! Sie haben mich fast zu Tode erschreckt.“

Kenton, Abigail Harts treuer Butler, trat näher. „Das wäre Ihnen erspart geblieben, wenn Sie das Haus auf dem üblichen Weg betreten hätten, nämlich durch die Haustür.“ Er schaute sie mit hochgezogener Braue an. „Darf ich annehmen, dass Ihr sonderbares Verhalten einen nachvollziehbaren Grund hat?“

„Ich bin nicht sicher, wie nachvollziehbar meine Erklärung sein wird, aber ich habe es irgendwie – jedoch ohne mein eigenes Verschulden, muss ich betonen – geschafft, in eine etwas verzwickte Situation zu geraten.“

„Oh, du meine Güte!“ Kenton legte den Schläger zur Seite. Er nahm ihre Hand und tätschelte sie. „Ich habe erst heute Abend zu Mrs Hart gesagt, dass es in letzter Zeit fast ein wenig zu ruhig geworden ist, seit Miss Hannah und Miss Millie nicht mehr bei uns wohnen.“

„Wie es die Umstände wollen, werde auch ich verschwinden müssen. Wenigstens so lange, bis sich meine verzwickte Situation geklärt hat. Ich bin nur gekommen, um eine Tasche zu packen und von mich Abigail zu verabschieden.“

Kenton drückte Lucettas Hand und legte sie auf seinen Arm, um sie aus der Küche zu führen. „Mrs Hart hat sicher einiges dazu zu sagen, dass Sie mitten in der Nacht verschwinden wollen. Ich fürchte, sie wird damit nicht einverstanden sein.“

„Ich hoffe, sie ist noch ein wenig schlaftrunken, wenn ich sie wecke, und ihre Missbilligung wird deshalb nicht allzu entschieden ausfallen.“

„Oh, sie ist noch gar nicht schlafen gegangen.“

Neben einem Porträt von Abigails Vorfahren, von denen mehrere den Flur säumten, blieb Lucetta abrupt stehen. Ein kühl wirkender älterer Herr schien sie mit seinem strengen Blick zu beobachten. „Warum ist Abigail noch nicht schlafen gegangen? Es muss doch schon nach elf sein.“

„Mr Archibald Addleshaw ist vor wenigen Stunden aus England zurückgekehrt. Er und Mrs Hart haben offenbar nicht auf die Zeit geachtet, weil sie sich so angeregt unterhalten und … ähm …“

Als Kenton abrupt verstummte, regte sich in ihr sofort Besorgnis. „Und was?“, wollte sie wissen.

„Mir fällt gerade ein, dass Tee die Nerven beruhigt. Aufgrund Ihrer verzwickten Situation tut eine Tasse Tee Ihren Nerven bestimmt gut.“ Mit diesen Worten ließ Kenton ihre Hand los, wandte sich um und steuerte wieder auf die Küche zu. Für einen Mann seines Alters ging er erstaunlich schnell.

„Ich wusste gar nicht, dass Archibald schon aus England zurückerwartet wurde“, rief ihm Lucetta nach.

Kenton stieß einen etwas theatralischen Seufzer aus, bevor er stehen blieb und sich wieder zu ihr umdrehte. „Mr Addleshaw hatte nicht geplant, schon so früh aus England zurückzukehren, meine Liebe. Aber seine Rückkehr sollte Sie eigentlich nicht allzu sehr überraschen, da die Schuld daran voll und ganz bei Ihnen liegt.“

„Bei mir?“, fragte Lucetta verständnislos.

„Aber gewiss.“

„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.“

Kenton stieß einen weiteren Seufzer aus. „Sie haben sich gegen jede von Mrs Harts Ideen bezüglich Ihrer Zukunft gesträubt. Deshalb hat sie die Kavallerie gerufen.“

„Das habe ich doch nur getan, weil es bei allem darum ging, mich mit irgendwelchen Männern zu verkuppeln. Ich habe gehofft, dass sie das Interesse an mir verlieren und sich einem anderen Opfer zuwenden würde, wenn ich ihre Vorschläge ignoriere.“

„Wenn Sie mich um Rat gebeten hätten, hätte ich Sie gewarnt, dass Mrs Hart Sie dadurch nur als besondere Herausforderung betrachten wird.“ Kenton schüttelte lächelnd den Kopf und setzte seinen Weg fort. „Und sie liebt Herausforderungen.“

Lucetta, die nichts darauf zu erwidern wusste, schaute Kenton einen Moment nach. Dann drehte sie sich um und begab sich zum Salon, in den sich Abigail gern zurückzog, wenn sie ein Komplott schmiedete. Als sie leise die Tür geöffnet hatte, betrachtete sie die beiden Menschen, die auf einem kleinen grünen Sofa saßen und die Köpfe zusammengesteckt hatten, während im Kamin ein heimeliges Feuer knisterte.

Lucetta räusperte sich, als die beiden ihre Anwesenheit nach einigen Sekunden immer noch nicht bemerkt hatten. Sie lächelte, als die beiden Köpfe in die Höhe fuhren und zwei Augenpaare sie im nächsten Moment unschuldig anblinzelten.

„Ah, Lucetta! Ich habe dich gar nicht kommen hören“, sagte Abigail Hart, während sie aufstand und auf Lucetta zutrat. Sie küsste die jungen Frau auf die Wange. Archibald Addleshaw, ein elegant aussehender älterer Herr mit weißen Haaren, begrüßte Lucetta ebenfalls.

„Sie werden immer hübscher, meine Liebe“, hieß er sie willkommen, während er Lucetta einen Handkuss gab. „Hatten Sie einen guten Abend im Theater?“

Lucetta lächelte. „Die Vorstellung verlief ohne einen einzigen Patzer.“ Ihr Lächeln verblasste. „Aber leider ist nach der Vorstellung etwas Beunruhigendes passiert.“

„Wurdest du von aufdringlichen Bewunderern belästigt?“, fragte Abigail.

„Silas Ruff ist wieder in der Stadt.“

Bevor Lucetta auch nur mit der Wimper zucken konnte, hatte Abigail sie schon auf das Sofa befördert. Die ältere Dame nahm neben ihr Platz und hielt ihre Hand, während Archibald sich einen Sessel heranzog.

Sie öffnete den Mund, um den beiden zu versichern, dass sie sich wegen dieser Situation keine großen Sorgen machte, aber noch bevor sie ein Wort über die Lippen gebracht hatte, betrat Kenton den Salon mit dem Tee. Einen Augenblick später hielt sie eine Tasse mit der dampfenden Flüssigkeit in der Hand, während Abigail, Archibald und Kenton sie mit sehr besorgten Mienen ansahen.

„Vielleicht hast du dich geirrt und Silas Ruff ist doch nicht zurück“, sagte Abigail schließlich. „Nach seinem überaus peinlichen Auftritt auf dem Ball, als er Oliver ruinieren wollte, hätte ich gedacht, dass er sich nie wieder in New York blicken lassen würde.“

Lucetta nickte. „Das hatte ich auch gedacht, aber er ist definitiv in New York. Er ist heute Abend im Theater aufgetaucht und … Ich fürchte, die unerwünschte Schwärmerei, die Silas früher für mich gehegt hat, hat sich zu einer Besessenheit gesteigert.“

Archibald beugte sich vor. „Warum glauben Sie das?“

„Weil Silas zu extremen Maßnahmen greift, um in meine Nähe zu kommen. Irgendwie ist es ihm gelungen, meinen Stiefvater ausfindig zu machen – was keine leichte Aufgabe gewesen sein dürfte –, und dann hat er ihn zu einem Kartenspiel eingeladen.“

Abigail beugte sich jetzt ebenfalls vor. „Du hast nie erwähnt, dass du einen Stiefvater hast.“

„Da Nigel, mein Stiefvater, soeben versucht hat, seine Spielschulden dadurch zu begleichen, dass er mich an Silas Ruff übergibt, wirst du mir diese Nachlässigkeit bestimmt verzeihen.“

„Dein Stiefvater hat dich beim Kartenspiel eingesetzt?“, fragte Abigail ungläubig.

„Ja, das hat er.“ Lucetta zwang sich zu einem Lächeln, als sie das Entsetzen in Abigails Augen sah. „Nigel hat noch nie durch übermäßige Intelligenz geglänzt. Deshalb bin ich sicher, dass er die Sache nicht richtig durchdacht hatte. Er hat keine Vollmacht über mich, daher kann er mich gar nicht als Bezahlung für seine Spielschulden anbieten. Aber indem er sich auf ein Kartenspiel mit Silas eingelassen hat, hat er diesem abstoßenden Menschen einen Vorwand gegeben, mir wieder nachzustellen. Deshalb bin ich gezwungen, die Stadt zu verlassen, bis Mr Skukman und mir eine Lösung einfällt, wie wir Silas ein für alle Mal loswerden können.“

Abigail schüttelte den Kopf. „Du wirst nichts dergleichen tun, meine Liebe. Ich werde Wachleute zum Schutz des Hauses einstellen und im Theater kommt kein Mensch an Mr Skukman vorbei.“

„Ich will dich nicht in Gefahr bringen, Abigail“, sagte Lucetta. „Silas Ruff ist ein Mann, den man nicht unterschätzen darf. Er hat Mittel und Wege, um seinen Willen durchzusetzen, und ich würde ihm zutrauen, dass er die Menschen, die mir wichtig sind, bedroht, um das zu bekommen, was er im Moment offenbar haben will. Nämlich mich.“

„Aber wohin willst du denn gehen?“, fragte Abigail.

„Ich hatte daran gedacht, zu Millie und Everett nach Boston zu fahren, aber da ich so unvorsichtig war, gegenüber Nigel Everetts Namen zu erwähnen, ist das wahrscheinlich keine so gute Lösung. Ich gehe davon aus, dass Nigel jede Information, die er über mich hat, an Silas weitergibt, um seinen unsympathischen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.“ Lucetta zwang sich erneut zu einem Lächeln. „Ich glaube, es gibt nur eine Lösung: Ich muss in irgendeinen Zug steigen und an ein unbekanntes Ziel fahren. Das sollte es Silas mehr oder weniger unmöglich machen, mir zu folgen.“

Abigail hob das Kinn. „Auf keinen Fall! Es wäre wohl kaum angemessen, dass eine junge Dame wie du allein quer durchs Land reist. Und erzähle mir jetzt nicht, dass du dich verkleiden willst! Nur der Himmel weiß, welche Schwierigkeiten das am Ende heraufbeschwören könnte.“ Sie verschränkte die Arme. „Wir müssen uns ein anderes Versteck für dich einfallen lassen. Irgendwo, wo Silas dich niemals entdeckt, und –“ Sie brach ab und ihre Augen begannen zu strahlen. Dann sah sie Archibald mit einem breiten Lächeln an. „Wir bringen sie nach Ravenwood.“

Jetzt begann auch Archibald, breit zu lächeln. „Das ist eine ausgezeichnete Idee!“

Lucettas Blick wanderte von einem lächelnden Gesicht zum anderen. Sie runzelte die Stirn. „Würdest du mir verraten, wo Ravenwood ist, und noch wichtiger: was Ravenwood ist und wem es gehört?“

Soweit das überhaupt möglich war, wurde Abigails Lächeln noch strahlender. „Ravenwood ist eine Burg in Tarrytown, einem Städtchen am Hudson River, also nicht weit von New York entfernt. Die Burg ist gut bewacht, hat einen Burggraben, und der Eigentümer dieses Anwesens ist absolut diskret. Und zufällig ist er auch noch mein Enkelsohn.“

3

Lucetta musste sich eingestehen, dass Silas Ruffs Auftauchen sie mehr beunruhigte, als sie wahrhaben wollte. Warum sonst hätte sie zugestimmt, mitten in der Nacht zu einer Burg zu fahren, die ausgerechnet auch noch Abigails Enkel gehörte?

Dass Abigail hoffte, Lucetta würde auf Ravenwood mehr als nur eine sichere Zuflucht finden, war ihr durchaus bewusst. Dennoch konnte Lucetta nicht leugnen, dass ihre Unruhe abnahm, je weiter sie sich von New York entfernten.

Auch wenn ihr die Tatsache nicht gefiel: Sie fürchtete sich vor Silas Ruff.

Obwohl er seit Kurzem Zutritt zur guten Gesellschaft hatte, war Silas Ruff einer der abstoßendsten Männer, die Lucetta je über den Weg gelaufen waren. Er war selbstgefällig, reich und aggressiv – und nicht bereit, ein Nein zu akzeptieren. Er war ein Gegner, den man nicht unterschätzen durfte, und offenbar fest entschlossen, sie zu besitzen, gleichgültig, zu welchen Mitteln er dafür greifen musste. Und das nur, weil sie versucht hatte, ihm klarzumachen, dass sie nichts von ihm wollte.

Er verfolgte sie schon seit Monaten und hatte ihr mehrmals in der Woche Rosen und Einladungen ins Theater geschickt, mit ihm essen zu gehen. Sie hatte jede Einladung abgelehnt und Skukman angewiesen, die Rosenlieferungen nicht anzunehmen. Aber statt seine Bemühungen um Lucetta einzustellen, hatte Silas noch häufiger im Publikum gesessen, was bei ihr Beunruhigung und sogar Angst um ihre Sicherheit ausgelöst hatte.

Als Silas seine Anstellung bei Oliver Addleshaw – Archibalds Enkel, der mit Lucettas Freundin Hannah Peabody verheiratet war – verloren hatte, hatte Lucetta erleichtert aufgeatmet. Sein Versuch, Oliver daraufhin zu ruinieren, war gescheitert, und da er sich dadurch den Unmut der New Yorker Gesellschaft zugezogen hatte, hatte Silas die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen müssen.

Aber jetzt war er wieder da, und dieses Mal hatte Lucetta das unangenehme Gefühl, dass er erst verschwinden würde, wenn er das bekommen hatte, weswegen er nach New York zurückgekehrt war: Lucetta.

Diese Erkenntnis jagte ihr die meiste Angst ein. Und das gefiel ihr nicht. Sie war stolz darauf, unabhängig zu sein, aber da sie wusste, dass Silas fest entschlossen war, sie zu bekommen, fühlte sie sich hilflos und verwundbar, und dieses Gefühl behagte ihr nicht.

Allein schon das Wort „hilflos“ ließ sie an zierliche Fräulein denken, etwas, das Lucetta schon lange nicht mehr war. Genauer gesagt, war sie das schon seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr. Dieser war unerwartet verstorben, als sie gerade erst dreizehn gewesen war, und hatte ihr die Verantwortung für alles übertragen – für ihre Mutter, ihr Elternhaus und alle Besitztümer. Dieser Umstand hatte sie gezwungen, alles Kindliche, Hilflose abzulegen und sich auch von der strahlenden Zukunft zu verabschieden, die man ihr bis dahin in Aussicht gestellt hatte …

„Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich dir widersprochen habe, als wir darüber nachgedacht haben, auf welchem Weg wir nach Tarrytown fahren“, sagte Abigail und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Ich hatte nicht daran gedacht, dass uns dieser Weg durch Sleepy Hollow führt.“

Lucetta nahm die Zügel, die sie ein wenig gelockert hatte, als sie sich in ihren Gedanken verloren hatte, wieder fester in die Hand. Sie lächelte Abigail an, die auf dem kleinen Sitz der Kutsche neben ihr saß. „Du brauchst dich deshalb nicht zu entschuldigen, Abigail. Seit ich Washington Irvings ,Die Legende von Sleepy Hollow‘gelesen habe, wollte ich schon immer mal nach Sleepy Hollow fahren, und jetzt kann ich sagen, dass ich dort gewesen bin. Außerdem ist dieser Weg nur ein paar Kilometer weiter, und wer kann schon von sich behaupten, dass er mitten in der Nacht auf dem Friedhof von Sleepy Hollow war?“

Abigail erschauderte. „Wahrscheinlich niemand, der auch nur einen Funken Verstand besitzt.“ Sie erschauderte wieder. „Ich hätte wirklich darauf bestehen sollen, dass uns Kenton bei diesem überstürzten Abenteuer begleitet. Er hätte sich bestimmt vehement dagegen gewehrt, zwischen den Grabsteinen anzuhalten.“

Lucetta schüttelte lächelnd den Kopf. „Da bin ich mir nicht so sicher. Kenton hat einen ausgeprägten Sinn für Abenteuer, und es hätte ihn sicher genauso gereizt wie mich, im Mondlicht die Inschriften von ein paar Grabsteinen zu lesen. Aber du weißt doch, dass er uns heute Abend nicht begleiten konnte, da er eine wichtige Rolle bei Mr Skukmans Ablenkungsmanöver spielt.“

„Ich für meinen Teil bin schockiert, dass Mr Ruff so wild entschlossen ist, dich zu finden, dass ein Ablenkungsmanöver überhaupt nötig ist.“ Abigail schnaubte verächtlich. „Ehrlich gesagt, denke ich, dass Mr Skukman recht hat: Silas muss wirklich den Verstand verloren haben.“

„Das macht ihn unglücklicherweise noch gefährlicher.“

Abigail nickte. „Das stimmt leider. Deshalb mache ich mir auch so große Sorgen um Archibald, Kenton und Mr Skukman.“ Sie verschränkte die Arme. „Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass Mr Skukmans Plan klappen wird. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass jemand Kenton für mich hält, selbst wenn er mein Lieblingsreisekleid und den dazu passenden Hut trägt.“

„Und Archibald wird ebenfalls nicht als Frau durchgehen. Aber dass er vor dem Haus, in dem ich früher gewohnt habe, Position bezogen hat, um Silas von dort wegzulocken, war der beste Plan, der uns auf die Schnelle eingefallen ist.“ Lucetta atmete tief aus. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Silas herausfindet, dass ich nicht länger dort wohne. Auf der Lower East Side lungern so viele fragwürdige Gestalten herum, dass Silas bestimmt für ein paar Dollar recht schnell meine neue Adresse herausfinden wird.“

„Bei Mr Skukmans Plan könnten tausend Dinge schieflaufen“, seufzte Abigail, die sehr besorgt klang.

„Deshalb sollte es dich trösten, dass Mr Skukman ein Mann mit vielen Talenten ist. Unter anderem kann er ungewöhnlich gut mit Pistolen umgehen.“ Lucetta schlug den Umhang auf, den sie sich von Abigails Kutscher geliehen hatte, um sich als Kutscher zu verkleiden, und eine Pistole kam zum Vorschein. „Mr Skukman hat mich vor ein paar Jahren Schießen gelehrt. Auch wenn ich nicht so zielsicher bin wie er, sollte ich doch jeden abwehren können, der uns zu nahe kommt. Natürlich nur, wenn wir das Gefühl haben, dass jemand eine ernst zu nehmende Bedrohung darstellt.“

Abigail kniff die Augen zusammen. „Du hättest wirklich keine Skrupel, auf einen Menschen zu schießen?“

„Wahrscheinlich schon. Aber ich würde nicht zögern, jemandem einen Schrecken einzujagen, wenn ich das Gefühl habe, dass wir in Gefahr sind. Allerdings haben wir Tarrytown schon fast erreicht und sind damit Gott sei Dank fast am Ziel unserer Reise. Das heißt, dass wir bald außer Gefahr sind.“ Sie kratzte sich an dem Bart, der ihre Haut reizte. „Ich kann es nicht erwarten, diese Kutscherverkleidung abzulegen. Ich hatte ganz vergessen, dass ich immer Ausschlag bekomme, wenn ich mir einen Bart ins Gesicht klebe.“

„Dass du dir so oft einen Bart anklebst, dass du das weißt, ist etwas beunruhigend“, erwiderte Abigail, bevor sie mit dem Kopf zum Fluss deutete, den sie jetzt durch die Bäume sehen konnten. „Da ist der Hudson. Wir müssten jeden Moment da sein.“ Plötzlich sah sie ein wenig besorgt aus. „Ich bin allerdings noch nie mit der Kutsche zur Burg gekommen.“

Abigail beugte sich vor und warf einen Blick zum Fluss. „Ich bin immer mit dem Dampfer flussaufwärts nach Ravenwood gefahren.“ Sie zögerte. „Allerdings ist jetzt wahrscheinlich der Augenblick gekommen, an dem ich erwähnen sollte, dass ich noch nie an der Anlegestelle meines Enkels angelegt und auch noch nie einen Fuß in seine Burg gesetzt habe.“

Lucetta sah sie mit offenem Mund an. „Und trotzdem glaubst du, dass dein Enkel uns freundlich empfangen wird, wenn wir unangekündigt in Ravenwood auftauchen?“

Abigail lächelte sie schwach an. „Keine Angst, ich bin fast sicher, dass Bram uns mit offenen Armen aufnehmen wird, meine Liebe. Auch wenn ich zugegebenermaßen nicht gerade eine enge Beziehung zu meinem Enkel habe, da mein Verhältnis zu seiner Mutter nicht das beste ist, aber …“

Sie beugte sich zu Lucetta hinüber und tätschelte ihren Arm. „Bram und ich schreiben uns regelmäßig. Deshalb denke ich, dass er gern bereit sein wird, uns bei sich aufzunehmen.“

„Und wenn deine Tochter ihn besucht?“

„Iris ist um diese Jahreszeit immer auf Kuba. Ihretwegen brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Viel größeres Kopfzerbrechen bereitet mir im Moment, wie wir von hier zur Burg kommen. Aber ich vertraue darauf, dass Bram Wegweiser hat anbringen lassen, die seine Gäste zu seinem Haus führen.“

Lucetta war angesichts all der offenen Fragen nicht gerade beruhigt, aber sie schenkte Abigail trotzdem ein zustimmendes Lächeln. Sie verlangsamte jedes Mal das Tempo, wenn sie sich einer Abzweigung näherten, damit sie die kleinen Schilder lesen konnte, die am Straßenrand angebracht waren.

„Ich glaube, da vorne ist etwas, und … oh, meine Güte!“, sagte Abigail und verstummte dann.

Lucetta brachte das Pferd zum Stehen, beugte sich vor und betrachtete die Straße, die zu einer Art Torhaus führte. Dieses Torhaus erinnerte allerdings mehr an ein Mausoleum – es hatte sogar Buntglasfenster und Steinskulpturen auf beiden Seiten. Die Skulpturen stellten jedoch nicht, wie man erwarten würde, Engel dar, sondern Raben. Lucetta schaute Abigail mit hochgezogener Braue an.

„Wollen wir näher heranfahren?“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass das die Straße zu Brams Burg ist“, sagte Abigail. „Warum sollte jemand an den Eingang zu seinem Anwesen ein Mausoleum bauen?“

„Ich hätte da ein paar Ideen, aber lass uns erst herausfinden, ob dein Enkel hier wohnt. Was, wie ich leider sagen muss, sehr wahrscheinlich ist, da der Name der Burg Ravenwood ist und dieses Gebäude von zwei Raben bewacht wird. Und wenn du nach oben schaust, kannst du sehen, dass dort ,Ravenwood‘ in den Stein gemeißelt ist.“

„Oh, du meine Güte!“ Abigail zog eine Brille aus ihrer Tasche, setzte sie auf und betrachtete dann das Gebäude genauer, bevor sie die Brille schnell wieder abnahm und einsteckte. Sie erschauderte leicht.

„Kann es sein, dass dein Enkel etwas morbide veranlagt ist?“, fragte Lucetta.

„Auf keinen Fall. Bram ist charmant und … die Damen bezeichnen ihn, soweit ich gehört habe, als eine Augenweide. Aber wenn ich mich recht erinnere, habe ich das schon das eine oder andere Mal erwähnt.“

Bevor Lucetta etwas darauf erwidern konnte, ging mit einem ominösen Knarren die Tür zum Mausoleum auf. Abigail packte Lucettas Hand und drückte sie. Ihr Griff verstärkte sich, als ein Mann aus der Tür trat, der auch noch ein Gewehr in der Hand hielt. Er schritt mitten auf der Straße auf sie zu und blieb schließlich vor ihrem Pferd stehen.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte er mit einschüchternder Stimme.

Lucetta, die sich nicht gern einschüchtern ließ, hob das Kinn. „Wir wollen Mr Bram Haverstein besuchen.“

„Mr Haverstein hat mir nicht mitgeteilt, dass er heute Morgen Gäste erwartet“, erwiderte der Mann, bevor er sich umdrehte und einem anderen Mann zunickte, der in diesem Moment aus den dunklen Tiefen des Mausoleums auftauchte. „Hat er dir gesagt, dass er jemanden erwartet, Ernie?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Ich wüsste nicht, dass Mr Haverstein etwas von irgendwelchen Gästen erwähnt hätte, Stanley. Und wenn er Gäste erwartet, vergisst er das normalerweise nicht.“

„Er erwartet uns ja auch nicht“, erklärte Lucetta und deutete mit dem Kopf auf Abigail. „Diese Dame ist Bram Haversteins Großmutter. Sie möchte ihn mit ihrem Besuch überraschen. Deshalb konnte man Sie nicht über unser Kommen in Kenntnis setzen.“

Stanley trat näher und betrachtete Abigail. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich kenne seine Großmutter, Mrs Haverstein, und“, er schüttelte den Kopf, „Sie sind nicht Mrs Haverstein.“

„Natürlich nicht, mein Lieber“, antwortete Abigail. „Ich bin seine andere Großmutter, Mrs Hart.“

„Ich habe noch nie etwas von einer anderen Großmutter gehört, geschweige denn, dass die Mrs Hart heißt.“ Stanley schob seinen Brustkorb heraus. „Mr Haverstein und ich sprechen oft miteinander, und ich bin sicher, dass er eine andere Großmutter erwähnt hätte, wenn er denn eine hätte.“

Abigail strahlte Stanley an. „Wie entzückend, dass mein Enkel eine so gute Beziehung zu seinem Personal hat!“

„Wenn Sie wirklich seine Großmutter wären, wüssten Sie das“, gab Stanley zu bedenken.

Abigails Lächeln verblasste. Das bisschen Geduld, das Lucetta noch hatte, war nun endgültig erschöpft.

„Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Stanley“, begann die junge Frau. „Mrs Hart und ich sind die ganze Nacht durchgefahren, um nach Ravenwood zu kommen. Deshalb bestehe ich darauf, dass Sie beiseitetreten und uns weiterfahren lassen.“

Zu Lucettas Besorgnis bestand Stanleys einzige Antwort darin, dass er das Gewehr entsicherte und einen Schuss abgab, der hoffentlich nur ein Warnschuss sein sollte. Doch als ihr Pferd den lauten Knall vernahm, rannte es weiter, so schnell es konnte.

4

Entschuldigen Sie, dass ich Sie beim Frühstück störe, Sir, aber es gibt leider schon wieder einen Zwischenfall.“

Bram Haverstein stellte die Kaffeetasse ab, aus der er gerade hatte trinken wollen, und stieß ein leises Seufzen aus, als er Stanley im Türrahmen des Frühstückszimmers stehen sah. Wenn es nur selten vorgekommen wäre, dass Stanley in dem Augenblick auftauchte, in dem er essen wollte, wäre die Störung nicht weiter schlimm gewesen. Aber leider wurde er in letzter Zeit fast regelmäßig während der Mahlzeiten belästigt. Seit die Frauen von Tarrytown angefangen hatten, in Scharen über seine Burg herzufallen, leistete Stanley ihm bei vielen Mahlzeiten Gesellschaft und setzte ihn während des Essens über die sonderbaren Zwischenfälle in Kenntnis, die sich auf und um Ravenwood zutrugen.

„Was ist denn jetzt schon wieder passiert?“

„Ein weiterer ungewöhnlicher und beunruhigender Zwischenfall, Sir. Aber in diesem Fall weiß ich wirklich nicht, welche Absicht die Eindringlinge verfolgen.“

Stanley trat weiter ins Zimmer und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die silberne Kanne, die auf der Anrichte stand.

„Schenken Sie sich doch eine Tasse Kaffee ein und setzen Sie sich zu mir. Dann können Sie mir die unerfreulichen Details dieses jüngsten Fiaskos schildern.“

„Das ist eine gute Idee. Vielen Dank.“ Stanley trat an die Anrichte, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und nahm sich ein Gebäckstück sowie einen Teller mit Toast. Dann setzte er sich an den Tisch, schlürfte genussvoll seinen Kaffee und berichtete Bram von den jüngsten Vorkommnissen.

„Sie fuhren wie ganz selbstverständlich die Einfahrt nach Ravenwood herauf und verlangten Zutritt, als wäre dies das Natürlichste auf der Welt.“ Stanley trank einen weiteren Schluck von seinem Kaffee.

„Aber in der Kutsche saßen keine jungen Damen?“, fragte Bram.

Stanley stellte seine Tasse ab. „Das ist ja gerade das Problem, Sir. Ich fürchte, ich könnte das Pferd zufällig erschreckt haben, bevor Ernie und ich das Innere der Kutsche erkunden konnten. Es könnte durchaus eine junge Dame darin gesessen haben. Wenn das der Fall sein sollte, würde das natürlich erklären, warum die ältere Frau behauptete, sie wäre Ihre Großmutter.“

Bram runzelte die Stirn. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihrer Logik folgen kann. Will ich wirklich wissen, wie Sie dieses Pferd zufällig erschrecken konnten?“

„Wahrscheinlich wäre es in Ihrem eigenen Interesse, solche Fragen zu unterlassen, Sir.“

Bram verkniff sich ein Grinsen und betrachtete den Mann, der ihm gegenübersaß und weder für die Arbeit als Gärtner noch für irgendeine Hausmeistertätigkeit in der Burg geeignet war.

Als er Stanley das erste Mal begegnet war, hatte dieser Mann in der Lower East Side Gegenstände fragwürdiger Natur verkauft, eine Verdienstmöglichkeit, auf die viele Männer in dem Elendsviertel in ihrer Not zurückgriffen. Bram hatte Stanley ein paar Münzen zugesteckt, ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt. Doch als Bram kurz darauf von einigen unangenehmen Schlägern überfallen worden war, hatte Stanley gezeigt, dass er mehr war als nur ein Verkäufer fragwürdiger Waren.

Seither wich Stanley ihm nur selten von der Seite, und sobald sich herumgesprochen hatte, dass Bram bereit war, Leute aus den Armenvierteln einzustellen, waren auch noch andere aus der Lower East Side zu diesem etwas ungewöhnlichen Haushalt dazugestoßen.

Jeder seiner Angestellten besaß einzigartige Fertigkeiten, von denen jedoch keine etwas mit Haus- oder Gartenarbeit zu tun hatte. Trotzdem fand Bram angesichts seines ungewöhnlichen Berufes einige dieser nicht ganz alltäglichen Talente gelegentlich sehr nützlich. Man konnte nie wissen, wann Fertigkeiten wie Taschendiebstahl oder Erfahrungen mit Betrügereien von Vorteil sein konnten.

„Bitte entschuldigen Sie meine Direktheit, Sir, aber die anderen Angestellten und ich haben beschlossen, dass wegen der vielen ungewöhnlichen Vorfälle hier auf Ravenwood etwas geschehen muss. Und wir haben auch einige Lösungsvorschläge zusammengetragen.“ Stanley zog eine Handvoll verknitterter Zettel aus seiner Jackentasche und strich sie auf dem Tisch glatt.

„Was haben Sie da?!“, fragte Bram widerstrebend.

Stanley schaute ihn nicht an, sondern strich unbeirrt die Zettel glatt. „Unsere Lösungsvorschläge, damit auf der Burg wieder Ruhe und Ordnung einkehren.“ Er zog einen der Zettel hervor und beugte den Kopf darüber. „Dieser Vorschlag lautet, dass Sie Ravenwood verlassen und sich ein schönes Haus in der Park Avenue kaufen sollten.“

„Das würde mein Damenproblem nur an einen anderen Ort verlagern. Haben Sie eine Ahnung, wie viele unverheiratete Frauen im Umkreis der Park Avenue wohnen?“

Stanley zerknüllte den Zettel, warf ihn hinter sich und las den nächsten. „Ah, hier ist ein guter Vorschlag: Sie sollten eine hübsche, junge Dame finden und heiraten. Hier stehen sogar drei Vorschläge: Miss Winters, Miss … ich kann die Schrift nicht entziffern, und … hmm … Tilda, die neue Küchenmagd.“

Stanley fragte nicht einmal, was Bram von diesem Vorschlag hielt, sondern warf den Zettel gleich hinter sich, um den nächsten hervorzuziehen. „Ah, ein weiteres Mal der Vorschlag, dass Sie heiraten sollten. Dieses Mal empfiehlt man Ihnen, eine gewisse Miss Buttermore zu ehelichen.“ Stanley nickte. „Ich fange an, eine gewisse Tendenz zu erkennen: Sie sollen sich eine Frau suchen. Aber …“ Er warf wieder einen Blick auf den Zettel. „Ich glaube, Miss Buttermore könnte die Nichte von Mrs Buttermore, Ihrer Köchin, sein.“ Dieser Zettel flog ebenfalls auf den Boden.

„Ich sehe wirklich keine Notwendigkeit, all diese Zettel durchzugehen, Stanley, da die Vorschläge, die Sie bis jetzt vorgelesen haben, etwas problematisch sind. Aber richten Sie bitte allen aus, dass ich für ihre Fürsorge sehr dankbar bin.“

Stanley seufzte schwer. „Entschuldigen Sie, Sir, aber die Suche nach der geeigneten Frau könnte vielleicht tatsächlich die Lösung Ihres Problems sein. Auch wenn ich selbst nie verheiratet war, habe ich gehört, dass Frauen viel Zuneigung und Nähe schenken können, und wenn Sie Ihre Zuneigung einer einzigen Frau schenken, wie zum Beispiel …“ Er zog einen weiteren Zettel heraus, warf ihn beiseite, nahm den nächsten, las ihn und lächelte. „… einer Miss Cooper, die, wie hier betont wird, ziemlich hübsch ist, würde Ravenwood wahrscheinlich nicht mehr ständig von Frauen überrannt werden.“ Er lächelte. „Eine Ehefrau würde auch den Gerüchten ein Ende setzen, dass Sie der geheimnisvolle Reiter seien, der nachts auf einem schwarzen Ross durch die Gegend galoppiert, weil Sie etwas Heimtückisches im Schilde führen würden.“

„Selbst wenn ich irgendwann heiraten sollte, werde ich Sturm nicht verkaufen. Aber es ist wirklich amüsant, dass er als galoppierendes Ross bezeichnet wird, da er sich nie schneller als im Trab bewegt.“

Stanley gab es auf, weitere Zettel zu lesen, und griff nach seiner Kaffeetasse. „Ich kann mich nicht erinnern, davon gesprochen zu haben, dass Sie Ihr Pferd verkaufen müssten. Ich habe nur vorgeschlagen, dass Sie sich eine Frau suchen.“

„Und Sie glauben, das würde den Gerüchten und auch den sonderbaren Vorfällen, die sich derzeit auf Ravenwood ereignen, ein Ende bereiten?“

„Wenn Sie verheiratet sind, gehen die Leute davon aus, dass Sie die Nächte lieber mit Ihrer Frau verbringen, als durch das Hudson Valley zu stromern. Und die unverheirateten Frauen mit all den Müttern, die ihre Töchter unter die Haube bringen wollen, haben keinen Grund mehr, in Scharen über Ravenwood hereinzubrechen, wenn Sie Ihre Zuneigung einer bestimmten Frau schenken.“

Bram nippte an seinem Kaffee, der inzwischen kalt war, und schaute Stanley an. „Würde es Sie überraschen, wenn ich Ihnen verrate, dass meine Zuneigung bereits auf eine konkrete Frau gerichtet ist?“

Stanley blinzelte. „Mir ist nicht aufgefallen, dass Sie einer der Frauen, die auf Ravenwood waren, besondere Beachtung geschenkt hätten.“

„Das liegt daran, dass diese Frau noch nie auf Ravenwood war. Ehrlich gesagt wurde ich ihr noch nie offiziell vorgestellt.“

Stanley blickte von seinem Toast auf. „Das finde ich aber ein wenig sonderbar, Sir.“

„Das glaube ich gern. Der Grund, warum ich ihr noch nicht vorgestellt wurde, liegt darin, dass sie eine zarte Dame mit einem zerbrechlichen und empfindsamen Wesen ist.“

Stanley runzelte die Stirn. „Und Sie glauben, eine Frau mit einem zerbrechlichen und empfindsamen Wesen wäre die richtige Wahl für Sie, Sir?“

„Sie ist für mich perfekt: hübsch, charmant, zurückhaltend. Ich kann mir keine andere Frau vorstellen, der ich meine Zuneigung schenken möchte. Trotz ihres zarten Wesens ist sie sehr begehrt. Sie wird von Männern umschwärmt, doch aufgrund ihrer zurückhaltenden Art scheint sie zu zögern, ihre Zuneigung einem dieser Männer zu schenken. Genauer gesagt, weist sie alle Männer unverhohlen ab.“