Die falsche Gouvernante - Jen Turano - E-Book

Die falsche Gouvernante E-Book

Jen Turano

5,0

Beschreibung

New York, 1880: Lady Eliza Sumner hat nicht nur gerade ihren Vater, sondern auch ihr Vermögen und ihren Verlobten verloren. Nun reist sie inkognito nach New York, um dort bei einer wohlhabenden Familie als Gouvernante zu arbeiten. Gleichzeitig hält sie Ausschau nach dem Vermögensverwalter, der sich mit ihrem Geld abgesetzt hat und jetzt vorgibt, ein englischer Adliger zu sein. Hamilton Beckett ist der begehrteste Junggeselle der Stadt. Der gutaussehende Witwer hat alle Hände voll zu tun, sich um geschäftliche Probleme und seine beiden unerzogenen Kinder zu kümmern. Da hat ihm Eliza, die ihm nachts bei einem Einbruch über den Weg läuft, gerade noch gefehlt. Als die Ereignisse sich überstürzen, fangen die beiden an zu erkennen, dass Gott vielleicht doch einen viel besseren Plan für ihr Leben hat.

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Über die Autorin

Jen Turano wuchs in der Kleinstadt St. Clairsville, Ohio, auf. Beruflich war sie lange Jahre in der Modebranche tätig, bis ihr ihr Sohn erzählte, dass er ihre Geschichten viel lieber mochte als die in den richtigen Büchern. Inzwischen stammen mehrere Romane aus ihrer Feder. Humorvolle Geschichten mit skurrilen Charakteren und interessanten Verwicklungen sind dabei ihr Markenzeichen, wie man an ihrem Erstlingswerk „Die falsche Gouvernante“ sehen kann. Jen Turano lebt mit ihrer Familie in Denver, Colorado.

Im Gedenken anEvelyn Gerdts TurnerDas hier hätte dir jede Menge Freude gemacht, Mom.Ich vermisse dich jeden Tag.In Liebe,Jennifer

1

New York, 1880

iss Eliza Sumner blätterte eine Seite des Buches um, aus dem sie laut vorlas. Als sie aufblickte, musste sie sich ein Lächeln verkneifen, weil die beiden Kinder, Grace und Lily, ihr mit aufmerksamen Gesichtern wie gebannt zuhörten. Sie senkte den Blick und las weiter. Als sie zu der spannenden Stelle mit der bunt zusammengewürfelten Piratentruppe kam, erhob sie theatralisch die Stimme.

„Da sind Sie ja, Miss Sumner!“, rief in diesem Augenblick eine Stimme von der Tür.

Eliza legte das Buch beiseite und erhob sich eilig, als ihre Arbeitgeberin, Mrs Cora Watson, ins Zimmer trat.

„Ich habe Sie schon überall gesucht!“, beklagte sich diese.

Da es vollkommen üblich war, dass Eliza ihre Abende im Unterrichtszimmer verbrachte, verblüffte sie diese Aussage ein wenig, aber sie hielt es für das Beste, diesen Gedanken für sich zu behalten.

„Hier!“, sagte Mrs Watson und warf Eliza ein Seidenbündel zu. „Sie müssen das auf der Stelle anziehen.“

„Entschuldigen Sie, Mrs Watson, aber habe ich das so zu verstehen, dass Sie Anstoß an meinem Kleid nehmen?“

„Ganz und gar nicht. Ihr Kleid ist für das Unterrichtszimmer vollkommen akzeptabel, aber ich brauche Ihre Dienste beim Dinner.“

„Sie wünschen, dass ich das Essen serviere?“

„Seien Sie nicht lächerlich“, entgegnete Mrs Watson.

Eliza betrachtete das riesige Bündel Stoff in ihren Händen und schüttelte ihn vorsichtig aus. Sie konnte ein Schauern nicht unterdrücken, als sich vor ihren Augen viele Meter Stoff in einer abscheulichen Farbe entfalteten. „Ist das … ein Abendkleid?“

„Natürlich. Was dachten Sie denn?“

„Mutter, du erwartest doch bestimmt nicht, dass Miss Sumner das anzieht“, protestierte Grace und lief zu Eliza. „Das ist ein furchtbar abstoßendes …“ Sie brach ab und schaute zu Eliza hinauf. „Als was würden Sie diese Farbe bezeichnen?“

„Ich glaube, die korrekte Bezeichnung wäre ,rostbraun‘“, antwortete Eliza.

„Ich denke, die korrekte Bezeichnung sollte ,hässlich‘ sein“, mischte sich nun auch Lily ein und trat mit gerümpfter Nase neben ihre Schwester. „Diese Farbe beißt sich mit ihren roten Haaren, Mutter.“

„Ich weiß“, seufzte Mrs Watson. „Aber es ist das einzige Kleid, das ich im Moment zur Verfügung habe.“ Sie wandte sich an Eliza. „Bitte verstehen Sie das nicht als Beleidigung, Miss Sumner, aber Sie haben einen ausgesprochen stämmigen Körperbau, und die Einzige in meiner Familie, die eine ähnliche Figur hat, ist meine Tante Mildred, die zufällig dieses Kleid vergaß, als sie das letzte Mal zu Besuch war.“

Da Elizas „stämmiger Körperbau“ auf mehrere Schichten Leinen zurückzuführen war, die sie sich um den Bauch gewickelt hatte, beleidigte Mrs Watsons Bemerkung die junge Frau nicht im Geringsten. Doch noch bevor sie eine passende Antwort formulieren konnte, stieß Grace ein lautes Schnauben aus.

„Tante Mildred hat dieses Kleid nur liegen lassen, weil sie wusste, dass es furchtbar ist und nicht der Mode entspricht. Die arme Miss Sumner wird darin kaum gehen können. Der Rock ist viel zu lang.“

„Sie muss einfach das Beste daraus machen. Es sei denn, sie besitzt ein eigenes Abendkleid, das sie anziehen könnte.“

Eliza biss sich auf die Unterlippe. Sie besaß zwar eine große Auswahl an Abendkleidern, aber diese befanden sich zu Hause in England, und jetzt war kaum der richtige Zeitpunkt, um sich über dieses Thema Gedanken zu machen. Sie konnte nicht zulassen, dass Mrs Watson dem kleinen Geheimnis auf die Spur kam, dass sie in Wirklichkeit nicht einfach nur Miss Sumner, sondern Lady Eliza Sumner war. Ebenso wenig konnte sie verraten, dass ihr Vater der Earl of Sefton gewesen war. Sie räusperte sich. „Zu meinem Bedauern muss ich zugeben, dass ich im Moment kein passendes Kleid zur Verfügung habe.“

„Hmm, das ist wirklich schade“, antwortete Mrs Watson. „Dann müssen Sie mit Tante Mildreds Kleid vorliebnehmen.“

„Darf ich fragen, was Sie bei Ihrem Dinner von mir erwarten?“, erkundigte sich Eliza.

„Oh, verzeihen Sie“, sagte Mrs Watson und wischte sich mit dem Handrücken geistesabwesend über die Stirn. „Agatha hat einen Ausschlag bekommen. Sie müssen ihren Platz am Tisch einnehmen.“

Eliza unterdrückte ein Stöhnen. Einer der Hauptgründe, warum sie die Stelle als Gouvernante angenommen hatte, war ihr Ziel, unbemerkt zu bleiben. An einer Abendgesellschaft teilzunehmen, zu der eine bekannte Persönlichkeit der New Yorker Gesellschaft einlud, war auf keinen Fall ihre Absicht gewesen, als sie diese Stelle angenommen hatte.

„Aber, Mrs Watson“, begann Eliza, „Sie denken doch bestimmt nicht –“

„Ich kann nicht dulden, dass am Tisch eine ungerade Anzahl an Gästen sitzt“, fiel Mrs Watson ihr ins Wort. „Ich habe endlich eine Antwort von den Trumans bekommen. Sie nehmen meine Einladung an. Mein Mann wäre nicht erfreut, wenn ich ihn in Verlegenheit brächte, was durch eine ungerade Zahl von Gästen geschehen würde.“

„Vater muss Mr Truman sehr viel Seife verkaufen wollen“, brummte Grace.

„Es schickt sich nicht für eine junge Dame, über Geschäftliches zu sprechen, Grace“, schalt Mrs Watson ihre Tochter, bevor sie sich wieder Eliza zuwandte. „Ich erwarte Sie in dreißig Minuten unten.“

„Glauben Sie nicht, dass Ihre Gäste es für unangebracht halten, mich auf Ihrer Abendgesellschaft zu sehen?“, fragte Eliza und wand sich innerlich, als sie die Verzweiflung in ihrer eigenen Stimme vernahm.

Mrs Watson kniff die Augen zusammen. „Stand in Ihrem Referenzschreiben nicht, dass Sie in punkto Etikette ausreichend Erfahrung haben?“

„Ja, gewiss, aber –“

„Und erwähnten Sie nicht auch, dass Sie entfernt mit der Aristokratie verwandt seien?“

Eliza nickte, obwohl ihre „entfernte Verwandtschaft“ alles andere als entfernt war.

„Dann nehme ich an, dass Sie in der Vergangenheit bereits Abendgesellschaften besucht haben.“

„Ich habe schon seit einiger Zeit keine Abendgesellschaft mehr besucht.“

„Haben Sie dadurch Ihre Manieren verlernt?“, fragte Mrs Watson.

„Äh … ich glaube nicht.“

„Dann besteht nicht der geringste Anlass, sich vor dieser Abendgesellschaft zu scheuen. Ich gehe doch hoffentlich recht in der Annahme, dass Sie imstande sind, mit Messer und Gabel zu essen?“

„Ich bin Gouvernante“, murmelte Eliza.

„Das braucht niemand zu wissen, meine Liebe.“

„Ich nehme doch an, dass mich jemand am Tisch nach meinem Namen fragen wird“, erwiderte Eliza.

„Dann schlage ich vor, Sie antworten, dass Ihr Name Miss Sumner ist.“

„Und wenn man mir weitere Fragen stellt?“

Mrs Watson seufzte laut. „Meine Liebe, ich möchte Sie ja nicht enttäuschen, aber ehrlich gesagt sind Sie nicht der Typ Frau, mit dem man bei einer Abendgesellschaft ein längeres Gespräch führt.“

Eliza verkniff sich ein Lachen. Offenbar verlief ihr Versuch, ihr Aussehen und ihre wahre Identität zu verbergen, ausgesprochen erfolgreich.

„Ich muss wirklich wieder nach unten“, fuhr Mrs Watson fort, die anscheinend nicht merkte, dass sie Eliza in einem Atemzug beleidigt und ihr ein Kompliment gemacht hatte. „Ich muss noch einige Kleinigkeiten klären, und ich will, dass alles perfekt ist.“ Sie nickte Eliza zu. „Ich werden versuchen, ein Dienstmädchen zu finden, das Ihnen in dieses Kleid hilft.“

Eliza blickte Mrs Watson nach, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder Grace und Lily zuwandte. „Unsere Geschichte müssen wir auf einen anderen Tag verschieben.“

„Wir kamen gerade zu der guten Stelle“, beklagte sich Grace. „Es tut mir leid, dass meine Mutter so fordernd ist. Früher war sie lustiger.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals lustig war“, warf Lily ein.

„Das liegt daran, dass du geboren wurdest, nachdem Vater mit seinem Geschäft den Durchbruch geschafft hatte“, erklärte Grace. „Früher war Mutter nicht dafür verantwortlich, so viele Festlichkeiten zu organisieren. Dadurch ist sie irgendwie reizbarer geworden.“ Sie seufzte. „Agatha kann sich sogar noch an die Zeit erinnern, als Vater lustig war.“

„Apropos Agatha“, entgegnete Eliza. „Habt ihr eine Ahnung, was für einen Ausschlag sie hat? Sollten wir vielleicht einen Arzt holen?“

„Sie braucht bestimmt keinen Arzt“, grinste Grace. „Agatha leidet nur deshalb an einem Ausschlag, weil Mutter heute Abend begehrenswerte Junggesellen eingeladen hat.“

„Habe ich das so zu verstehen, dass ihr in Wirklichkeit gar nichts fehlt?“, fragte Eliza empört.

„Sie ist ein bisschen verrückt, aber ehrlich gesagt war Agatha das schon immer. Sonst fehlt ihr nichts.“

Elizas Lippen zuckten. „Vielleicht sollte ich Agatha einen Besuch abstatten und ihr erklären, dass wir sie durchschaut haben. Dann bleibt mir dieses Kleid erspart, und ich muss mich nicht zum Gespött der Leute machen.“

„Sie sprechen schon manchmal so komisch“, pflichtete Lily ihr bei.

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich aus England komme.“

„Ihr Akzent ist süß“, warf Grace ein. „Wenn ich so sprechen könnte, würden sich bestimmt alle Jungen in mich verlieben.“

„Du bist mit deinen elf Jahren noch viel zu jung, um überhaupt an Jungen zu denken. Lasst uns lieber zum Thema zurückkehren: Wo ist deine Schwester?“, fragte Eliza.

„Sie hat sich versteckt und wird sich erst nach dem Abendessen wieder blicken lassen“, erklärte Grace.

„Na, wunderbar“, brummte Eliza, bevor sie das Buch aufhob und es Grace reichte. „Du kannst deiner Schwester die Geschichte weiter vorlesen und musst mir erzählen, was passiert ist, wenn wir in zwei Tagen weiterlesen. Morgen ist Sonntag, mein freier Tag, aber ich kann es kaum erwarten zu hören, was aus den Piraten wurde.“

Sie drehte sich auf dem Absatz um, trat auf den Flur hinaus und begab sich in ihr Zimmer. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ sie die Schultern hängen und atmete tief durch. Sie konnte sich mit ihrer Situation immer noch nicht so recht anfreunden.

Es war eine Katastrophe.

Eliza trat ans Bett, ließ das Abendkleid auf die Decke fallen und breitete den Stoff aus. Nachdenklich kniff sie die Augen zusammen. Sie passte unmöglich in dieses Kleid, selbst wenn Mrs Watsons Tante angeblich „stämmig“ war. Das Kleid hatte einen engen Bund, der reißen würde, falls sie versuchte, ihre ausgepolsterte Figur hineinzuzwängen.

Sie knöpfte ihr Gouvernantenkleid vorne auf und zog es aus. Dann löste sie die Bänder des speziell angefertigten Korsetts und begann, einen der Stoffstreifen zu entfernen, mit denen sie ihre Figur ausgepolstert hatte. Sie ließ das Tuch auf den Boden fallen, band das Korsett wieder und nahm dann das Kleid vom Bett und zog es sich über den Kopf. Auf halbem Weg blieb es stecken. Eliza wand sich heraus, öffnete das Korsett und entfernte einen weiteren Stoffstreifen. Ihre Finger bewegten sich flink, da ihr plötzlich einfiel, dass Mrs Watson ihr ein Dienstmädchen schicken wollte, das ihr beim Ankleiden helfen sollte. Die junge Frau zwängte sich erneut in das Kleid und knöpfte es so gut sie konnte zu, bevor sie die abgelegten Stoffstreifen vom Boden aufsammelte und unter die Matratze stopfte. Sie bemühte sich, die letzten Knöpfe zuzumachen, kapitulierte aber schließlich, als sie sie einfach nicht erreichen konnte.

Sie konnte nur hoffen, dass dem Dienstmädchen nichts Ungewöhnliches auffiel. Eliza grinste. Bei genauerem Überlegen müsste sie sich Sorgen machen, wenn sie in diesem Moment nicht ungewöhnlich aussähe. Sie trat zum Spiegel, griff aber rasch hilfesuchend nach einer Kommode, als sie über den Saum stolperte. Entschlossen schob sie den Stoff aus dem Weg und richtete sich auf. Als sie ihr Spiegelbild betrachtete, wurde ihr Grinsen noch breiter.

Sie sah aus wie eine Opernsängerin. Große, blaue Augen schauten ihr aus einem blassen Gesicht entgegen, dessen Nase mit Sommersprossen übersät war. Ihr Grinsen verwandelte sich in ein Lächeln, bei dem gerade, weiße Zähne zum Vorschein kamen und sich ein Grübchen auf ihrer rechten Wange bildete. Ihr Lächeln verblasste jedoch, als ihr Blick zu ihren Haaren wanderte, die sie streng aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zu einem züchtigen Knoten aufgesteckt hatte. Dieser ähnelte in keiner Weise der kunstvollen Frisur, die sie früher getragen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um in Erinnerungen zu schwelgen.

Ihr Blick wanderte an ihrem Körper hinab, und sie starrte sich mit offenem Mund an. Sie hatte es zwar geschafft, sich das Kleid über den Bauch zu schieben, aber jetzt stand der Ausschnitt klaffend weit ab. Wie sollte sie dieses kleine Problem beheben? Sie schob den Stoff nach oben, aber sobald sie ihn losließ, rutschte er wieder nach unten.

„Nadeln!“, rief sie aus, drehte sich auf dem Absatz um und stolperte zu einem Tisch hinüber, auf dem eine abgestoßene Schmuckschatulle stand, die eine frühere Gouvernante offenbar hier zurückgelassen hatte. Sie kramte eine Weile darin und fand ein paar Nadeln. Mit grimmigem Blick steckte sie diese in den Stoff und trat dann wieder vor den Spiegel.

„Das ist nicht wirklich besser, aber es muss genügen“, erklärte sie ihrem Spiegelbild.

Würde man sie erkennen? Ihr Blick blieb an der rundlichen, ungewöhnlich geformten Frau hängen, die ihr aus dem Spiegel entgegensah. Wer würde bei diesem Anblick glauben, dass sie die begehrteste Frau in ganz London gewesen war? Was würden ihre Freunde denken, wenn sie sie jetzt sehen könnten?

„Du hast keine Freunde“, murmelte sie und wandte sich vom Spiegel ab, als jemand an die Tür klopfte.

„Herein.“

Die Tür ging auf, und ein Dienstmädchen namens Mary trat ins Zimmer. „Mrs Watson hat mich geschickt, um Ihnen zu helfen, aber wie ich sehe, sind Sie ganz gut allein zurechtgekommen.“

„Es gibt noch ein paar Knöpfe, an die ich nicht herankomme.“

Mary trat zu Eliza und schloss schnell die restlichen Knöpfe. „Was für eine interessante Farbe.“

„Lily findet, sie beißt sich mit meiner Haarfarbe“, erwiderte Eliza.

„Das stimmt allerdings, aber ich muss sagen, es ist nicht ganz so schlimm. Die Farbe lenkt den Blick auf Ihre Augen.“

„Das darf nicht sein.“ Eliza trat wieder zu der Schmuckschatulle und wühlte erneut darin, bis sie entzückt eine alte Brille herauszog. Sie setzte sich diese auf die Nase und verlor prompt das Gleichgewicht, als das Zimmer anfing, sich vor ihren Augen zu drehen.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Brille tragen“, bemerkte Mary.

Eliza glaubte, dass Mary sie mit einem Stirnrunzeln bedachte, aber da sie ihr Gesicht nicht erkennen konnte, war sie nicht ganz sicher. „Ich trage sie nur bei sehr seltenen Gelegenheiten, hauptsächlich bei Abendgesellschaften. Brillen machen es mir leichter, das Besteck zu sehen.“

„So etwas habe ich ja noch nie gehört. Aber wenn Sie das Besteck sonst nicht sehen können, sollten Sie die Brille lieber auflassen“, sagte Mary. „Trotzdem ist das sehr schade, denn Sie haben so hübsche Augen, und wir erwarten ja auch Mr Hamilton Beckett heute Abend.“ Mary senkte die Stimme. „Er ist der begehrteste Junggeselle in ganz New York.“

„Dann gehe ich davon aus, dass es mir mit oder ohne Brille schwerfallen dürfte, seine Aufmerksamkeit zu erregen“, sagte Eliza trocken. „Ich bin nur die Gouvernante, und ich muss heute lediglich deshalb an der Abendgesellschaft teilnehmen, weil Agatha einen Ausschlag hat.“

Mary seufzte leise.

Eliza runzelte verwundert die Stirn. „Wissen Sie von Agathas Ausschlag?“

„Das ganze Haus weiß von dem Ausschlag.“

„Neigt Agatha dazu, regelmäßig den Abendgesellschaften ihrer Mutter fernzubleiben?“, erkundigte sich Eliza.

„Nein, aber ich glaube, das arme Mädchen hat von den Verkupplungsversuchen seiner Mutter endgültig die Nase voll. Ich habe die beiden heute zufällig gehört. Sie schienen eine kleine Meinungsverschiedenheit zu haben. Ich glaube nicht, dass Miss Agatha davon angetan war, dass Mrs Watson sie zwingen wollte, heute Abend beim Dinner neben Mr Beckett zu sitzen.“

„Ich dachte, Sie sagten, Mr Beckett sei der begehrteste Junggeselle in ganz New York.“

„Das ist er auch. Aber ich glaube, Miss Agatha findet ihn zu alt“, vertraute Mary ihr an.

„Wie alt ist er denn?“

„Er dürfte dreißig sein.“

„Dreißig ist doch nicht zu alt.“

„Für Sie nicht.“

Eliza verkniff sich ein Lachen. Diese Bemerkung war ein weiterer Beweis für ihre erfolgreiche Verkleidung, da sie erst einundzwanzig war, also nicht viel älter als Agatha. Sie lächelte Mary an und ging dann zur Tür. „Danke für Ihre Hilfe, Mary.“

„Soll ich Ihnen helfen, die Treppe hinabzukommen?“, fragte das Dienstmädchen, als Eliza mit Schwung gegen den Türrahmen stieß.

„Das ist nicht nötig“, wehrte Eliza ab, während sie durch die Tür schwebte, allerdings die gewünschte Wirkung verfehlte, weil sie über den weiten Saum des Kleides stolperte.

Die Treppe erwies sich als großes Hindernis. Schließlich schob sie die Brille ein Stück nach unten und blinzelte darüber hinweg, um sie bewältigen zu können. Sie blieb auf dem ersten Absatz stehen, um den Saum unter ihren Füßen hervorzuziehen. Dabei entdeckte sie ein Augenpaar, das sie durch einen Türspalt beobachtete.

„Agatha“, fauchte sie.

Sofort fiel die Tür ins Schloss.

Eliza dachte daran, hinüberzumarschieren und zu verlangen, dass Agatha ihren rechtmäßigen Platz am Tisch einnähme, aber die Ankunft eines anderen Dienstmädchens lenkte sie ab. Sie schob die Brille wieder nach oben.

„Miss Sumner, Mrs Watson fragt nach Ihnen“, sagte das Dienstmädchen. „Meine Güte, Sie sehen wirklich … reizend aus.“

Eliza stieß ein nicht gerade damenhaftes Schnauben aus. „Ich denke, ,abscheulich‘ wäre ein passenderes Wort.“

„Damit könnten Sie recht haben“, pflichtete das Dienstmädchen ihr bei. „Brauchen Sie Hilfe, um in den Speisesaal hinabzukommen, da Sie offenbar einen sehr umfangreichen Rock mit sich herumschleppen?“

„Ich schaffe das schon“, lehnte Eliza das Angebot ab und bedachte die geschlossene Tür mit einem letzten finsteren Blick, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Sie nahm sich aber fest vor, Agatha deutlich die Meinung zu sagen, falls sie diesen Abend überlebte.

Nach gefühlten Stunden schaffte sie es schließlich, den Fuß der Treppe zu erreichen, und machte sich vorsichtig in Richtung Speisesaal auf.

„Miss Sumner!“, rief Mrs Watson aus und tauchte im gleichen Augenblick neben Eliza auf. „Warum haben Sie so lange gebraucht?“

„Entschuldigen Sie, Mrs Watson, aber ich hatte leichte Schwierigkeiten, die Treppe zu bewältigen.“

Eliza war nicht sicher, aber sie glaubte, Mrs Watsons Lippen zittern zu sehen.

„Meine Güte, dieses Kleid ist schlimmer, als ich dachte“, seufzte ihre Arbeitgeberin, während sie Eliza am Arm nahm und ihr ins Gesicht schaute. „Ich muss sagen, diese Brille ist das perfekte Accessoire. Sie verleiht Ihnen ein exzentrisches Aussehen, was den Gästen auch erklärt, warum Sie ein solches Kleid tragen.“

Eliza, die unscheinbar und unauffällig bleiben wollte, gefiel es überhaupt nicht, dass sie es geschafft hatte, exzentrisch zu wirken.

„Das ist ja furchtbar“, murmelte sie.

„Unsinn“, beschwichtigte Mrs Watson sie und schob Eliza durch die Menschenansammlung, bis sie vor einem unglaublich langen Tisch zum Stehen kam.

„Wie viele Gäste haben Sie denn eingeladen?“, stammelte Eliza.

„Nur zweiundfünfzig. Besser gesagt, jetzt sind es dreiundfünfzig, da noch ein unerwarteter Gast dazugekommen ist.“

Eliza schöpfte neue Hoffnung.

„Das ist ja wunderbar!“, rief sie aus. „Dann brauchen Sie mich heute Abend ja doch nicht.“

„Ich brauche Sie trotzdem, da der unerwartete Gast ein Mann ist. Mr Zayne Beckett, um genau zu sein. Seine Familie hat mit Eisenbahnen ein großes Vermögen gemacht. Also seien Sie bitte höflich, wenn Sie beim Essen neben den beiden Herren sitzen.“

„Ich sitze neben den beiden Mr Beckett?“

„Ich weiß, es ist ein wenig unangebracht, dass jemand Ihres Standes ausgerechnet neben meinen Ehrengästen sitzt, aber ich hatte keine Zeit, die Sitzordnung zu ändern. Ich hoffe jedoch, wir können diesen Umstand zu unserem Vorteil nutzen.“

„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen“, entgegnete Eliza langsam.

Mrs Watsons Stimme verwandelte sich in ein Flüstern. „Ich hege große Hoffnungen, dass der ältere Mr Beckett und meine Agatha eine Verbindung eingehen. Sie können mir helfen, indem Sie Agatha ins Gespräch bringen und sie in den höchsten Tönen loben.“

Eliza blinzelte. „Mrs Watson, ich kenne Ihre Tochter kaum, und ich bin nicht sicher, ob ich die Gabe besitze, mit Herren, denen ich noch nie begegnet bin, über sie zu sprechen. Was sollte ich denn sagen?“

„Sie könnten ihnen sagen, wie liebreizend und anständig Agatha ist und dass sie eine treusorgende Ehefrau wäre.“

Eliza zog eine Braue in die Höhe. „Sprechen wir von derselben Agatha, die angeblich plötzlich einen Ausschlag bekommen hat, um sich vor der Abendgesellschaft ihrer Mutter zu drücken?“

Mrs Watson ignorierte Elizas Bemerkung. „Meine Güte! Der alte Mr Sturgis sitzt neben Mrs Costine. Das endet in einer Katastrophe. Die beiden können sich nicht ausstehen.“ Sie fuhr herum und eilte davon.

Eliza betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den Tisch, konnte aber die Schrift auf den kleinen Platzkarten, die auf jedem Gedeck lagen, nicht lesen. Sie schob die Brille ein Stück nach unten und bewegte sich auf der Suche nach ihrem Namen langsam an den Stühlen entlang. Schließlich seufzte sie erleichtert auf. Schon zwei Stühle weiter hatte sie ihren Namen entdeckt. Sie trat einen Schritt vom Tisch weg und hatte nicht einmal Zeit zu keuchen, als ihre Füße sich im Saum des Kleides verhedderten und sie das Gleichgewicht verlor. Sie flog regelrecht auf den Tisch zu. Das Besteck kam ihr bedrohlich näher. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass Mrs Watson sie bestimmt entlassen würde, wenn sie den elegant gedeckten Tisch durcheinanderbrachte. Aber bevor ihr Gesicht mit dem Porzellan Kontakt aufnehmen konnte, schob sich schnell ein Arm um ihre Mitte und zog sie zurück.

Einen Moment lang stand sie regungslos da, um ihren Nerven Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen, bevor sie sich zwang, den Blick zu heben und den Herrn anzuschauen, der sie vor einem sehr peinlichen Schicksal bewahrt hatte.

Als sein Gesicht vor ihren Augen auftauchte, verschlug es ihr den Atem.

Soweit sie erkennen konnte, stand vor ihr der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte. Er hatte von der Sonne gebleichte, braune Haare und blaue Augen in der Farbe des Himmels. Sein Gesicht war markant, und er hatte ein eindrucksvolles Kinn. Es war faszinierend und ganz anders als die Gesichter der Herren, die sie in England kannte. Er hatte volle Lippen, die im Moment zwar nicht zu einem Lächeln verzogen waren, aber die kleinen Fältchen in seinen Mundwinkeln verrieten, dass er gern lächelte. Ihre Blicke wanderten über seine breiten Schultern, doch dann fiel ihr ein, dass sie sich fest vorgenommen hatte, gut aussehende Männer zu meiden, und sie rückte ihre Brille wieder zurecht. Seine Gesichtszüge verschwammen wieder, und sie straffte entschlossen die Schultern.

„Danke“, murmelte sie.

„Gern geschehen“, sagte der Mann, bei dessen Stimme sich die Haare auf ihrem Arm aufstellten. „Darf ich Sie zu Ihrem Stuhl geleiten?“

„Das ist nicht nötig“, antwortete Eliza und trat um ihn herum, um sich auf ihren Platz zu setzen.

Ein reißendes Geräusch verriet ihr, dass ihr Rock sich in den Stuhlbeinen verheddert hatte. Ein kurzer Schrei kam über ihre Lippen, und sie ging zu Boden.

2

r Hamilton Beckett blinzelte. Dann blinzelte er noch einmal, ohne den Blick von der Dame abzuwenden, die im Moment vor seinen Füßen lag. Ihr Kleid – das wirklich eine unglückliche Wahl war – blähte sich wie eine bedrohliche Gewitterwolke um sie herum auf.

„Was hast du mit dieser Dame angestellt, Hamilton?“, fragte Zayne verdutzt. Mit dieser Frage riss er Hamilton aus seiner kurzzeitigen Starre und brachte ihn auf den Gedanken, dass diese Frau vielleicht seine Hilfe benötigen könnte. Er hockte sich neben sie auf den Boden.

„Entschuldigen Sie, Miss. Geht es Ihnen gut?“

Die Dame rührte sich und setzte zu einem Nicken an. Doch dann erstarrte sie plötzlich und gab ein scharfes Zischen und einen leisen Schmerzenslaut von sich.

„Sind Sie verletzt?“

„Nadeln“, murmelte die Frau.

„Wie bitte?“

„Ich werde von Nadeln aufgespießt.“

„Was hat sie gesagt?“, fragte Zayne.

„Ich glaube, sie hat gesagt, dass sie von Nadeln aufgespießt wird“, antwortete Hamilton. Die Frau riss die Augen weit auf, und er schaute in hübsche, blaue Augen. „Darf ich Ihnen auf die Beine helfen?“

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

„Leiden Sie noch an einer anderen Verletzung als an den Nadelstichen, Miss …?“

„Sumner“, antwortete die Frau. „Ich bin Miss Sumner. Und nein, ansonsten bin ich nicht verletzt. Abgesehen vielleicht von meinem Stolz.“

Hamilton verkniff sich ein Grinsen. „Miss Sumner, es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, auch wenn es mir leidtut, dass wir uns unter so unerfreulichen Umständen kennenlernen. Ich bin Hamilton Beckett, und das ist mein Bruder, Zayne Beckett.“

„Natürlich, wie könnte es auch anders sein?!“, murmelte Miss Sumner.

Das war eine sonderbare Antwort. Er warf Zayne einen Blick zu und stellte fest, dass sein Bruder ihn angrinste. Von seiner Seite war offensichtlich keine Hilfe zu erwarten. „Bitte erlauben Sie mir, Ihnen vom Boden aufzuhelfen, Miss Sumner. Ich fürchte, dass Sie angesichts der Tatsache, dass sich zahlreiche Gäste in diesem Raum bewegen, Gefahr laufen, niedergetrampelt zu werden.“

Ein unterdrücktes Schnauben war die Antwort, bevor Miss Sumner anfing, etwas Unverständliches zu murmeln.

„Glaubst du, sie hat … getrunken?“, fragte Zayne.

Das Murmeln verstummte abrupt. Miss Sumner kniff die Augen wütend zusammen und starrte Zayne finster an.

„Du bist nicht besonders hilfreich“, stellte Hamilton fest, obwohl er selbst zur selben Schlussfolgerung gelangt war. Er hatte noch nie bei einer Abendgesellschaft mit einer angetrunkenen Frau zu tun gehabt und hatte, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. „Kommen Sie. Ich helfe Ihnen auf die Beine.“

„Ich würde lieber hierbleiben.“

Sie war augenscheinlich nicht nur betrunken, sondern auch eigensinnig. „Das halte ich für keine ratsame Entscheidung, da das Essen jeden Augenblick serviert wird“, hielt er ihr entgegen.

Miss Sumner stieß ein lautes Seufzen aus, und ihr Gesicht nahm ein interessantes Dunkelrot an, das irgendwie überhaupt nicht zur Farbe ihres unvorteilhaften Kleides passen wollte. „Es haben sich ein paar Nadeln aus meinem Kleid gelöst, und ich fürchte, wenn Sie mir aufhelfen, stehe ich ohne Kleid da.“

Vielleicht hatte er sich doch in Bezug auf ihre Trunkenheit geirrt, da sie sich sehr eloquent und verständlich auszudrücken vermochte.

„Das können wir nicht zulassen“, sagte er schließlich und war erleichtert, als ein Paar Damenschuhe neben Miss Sumners Kopf auftauchten. Er blickte auf und stellte fest, dass Mrs Watson auf sie hinabschaute.

„Miss Sumner, darf ich fragen, warum Sie auf dem Boden liegen?“, erkundigte sich Mrs Watson.

Die Angesprochene gab etwas von sich, das sehr nach „Das können Sie sich doch denken“ klang, bevor sie den Kopf hob. „Sie sollten Ihr Personal wirklich loben, Mrs Watson. Der Boden ist bemerkenswert sauber.“

Hamilton verkniff sich ein Lachen, erhob sich und lächelte Mrs Watson an. „Ich glaube, Miss Sumner ist über den Saum ihres Kleides gestolpert, und im Moment befindet sie sich in einem unerfreulichen Dilemma.“ Er senkte die Stimme. „Offenbar läuft sie Gefahr, aufgrund ungehorsamer Nadeln ihr Kleid zu verlieren.“

„Oh, du meine Güte!“, rief Mrs Watson aus, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder Miss Sumner zuwandte. „Vielleicht wäre es am besten, wenn Sie zuerst einmal versuchten, sich ohne unangenehme Folgen aufzusetzen, bevor Sie aufstehen.“

Miss Sumner nickte kurz, schob sich in eine sitzende Position hoch und verzog dann das Gesicht, bevor sie eine Nadel aus dem Ausschnitt ihres Kleides zog. Hamilton musste sich erneut ein Lachen verkneifen, als die Frau die Nadel in aller Seelenruhe wieder in das Mieder ihres Kleides steckte, als wäre es völlig alltäglich, dass Nadeln sich aus einem Kleid lösten. Seine Belustigung wuchs noch mehr, als sie mit der Hand den Boden unter ihren voluminösen Röcken abtastete, eine traurig verbogene Brille hervorzog, sie sich auf die Nase setzte und dann hinter den dicken Gläsern hervorblinzelte.

„Ah, Mr Beckett, wie schön, dass Sie es einrichten konnten zu kommen“, sagte in diesem Augenblick eine fröhliche Stimme hinter ihm.

Hamilton drehte sich um und erkannte Mr Watson, der ihn freudestrahlend anschaute. Allerdings verschwand dessen strahlendes Lächeln schlagartig, als sein Blick zu Miss Sumner wanderte.

„Miss Sumner, was machen Sie hier und warum sitzen Sie auf dem Fußboden?“

Hamilton bemerkte eine Spur von Unbehagen auf Miss Sumners Gesicht, was ungewöhnlich war, da Mr Watson als recht umgänglicher Mann galt, auch wenn er etwas zu viel Ehrgeiz besaß. Er räusperte sich, als er merkte, dass es Miss Sumner offenbar die Sprache verschlagen hatte.

„Miss Sumner hat einen kleinen Unfall erlitten, Mr Watson. Ich wollte ihr gerade wieder auf die Beine helfen.“

„Aber … was macht sie hier?“, fragte Mr Watson.

Mrs Watson trat vor, legte ihren Arm auf den ihres Mannes und drückte ihn kräftig.

„Miss Sumner war so freundlich, sich bereit zu erklären, heute Abend Agathas Platz einzunehmen, Schatz“, erklärte Mrs Watson.

„Will ich den Grund dafür wissen?“, gab Mr Watson skeptisch zurück.

„Es wäre für deinen Magen besser, wenn du nicht alle unerfreulichen Details wüsstest“, antwortete ihm Mrs Watson, bevor sie Hamilton und Zayne anlächelte. „Es ist so schön, Sie beide hier zu sehen, Mr und Mr Beckett. Ich hoffe, Sie genießen den Abend. Danke, dass Sie sich um Miss Sumner kümmern. Jetzt müssen mein Mann und ich unsere Plätze einnehmen. Ich möchte mir nicht den Zorn der Köchin zuziehen, indem ich zulasse, dass das Essen kalt wird.“ Sie bedachte Hamilton mit einem letzten Lächeln, bevor sie Mr Watson schnell wegzog.

„Das könnte ein sehr interessanter Abend werden“, brummte Zayne.

„Allerdings“, antwortete Hamilton, bevor er erneut neben Miss Sumner in die Hocke ging, die hinter ihrer Brille immer noch wie wild blinzelte. „Sollen wir versuchen, Sie vom Boden aufzuheben?“

Miss Sumner zupfte entschlossen an ihrem Ausschnitt und nickte dann. Hamilton nahm ihren Arm und stellte sie vorsichtig auf die Beine. Dann ließ er die Hand noch einen Moment auf ihrem Rücken liegen, um ihr Gelegenheit zu geben, sich zu vergewissern, dass ihr Kleid dort blieb, wo es bleiben sollte. Als es den Anschein hatte, dass die Dame nicht Gefahr lief, plötzlich nur in Unterwäsche im Esszimmer zu stehen, ließ er die Hand sinken und zog ihren Stuhl heraus. Dabei landete sein Fuß versehentlich auf ihrem Kleid, und Miss Sumner schwankte bedrohlich nach links. Er verzog bedauernd das Gesicht.

„Dieses Kleid ist eine ernsthafte Gefahr“, bemerkte er, während er ihr half, sich zu setzen, und ihren Stuhl unter den Tisch schob. Seine Bemühungen wurden von einem lauten Geräusch begleitet, das verriet, dass etwas zerriss. Überrascht sah er, dass ein leichtes Grinsen über Miss Sumners Gesicht huschte. Er setzte sich, wartete, bis Zayne auf Miss Sumners anderer Seite Platz genommen hatte, und wandte seine Aufmerksamkeit dann dem Diener zu, der mit einer Weinflasche in der Hand geduldig neben ihm wartete.

„Darf ich Ihnen Wein einschenken?“, fragte der Diener.

Miss Sumner hob den Kopf. „Das klingt herrlich.“ Sie wollte ihr Glas nehmen, aber stattdessen landete ihre Hand irgendwie auf der Butter, die wie eine Taube geformt war. Zu Hamiltons Erstaunen schlossen sich ihre Finger darum, bevor ihre Kinnlade regelrecht nach unten fiel. Sie erstarrte und war sich offensichtlich nicht schlüssig, was sie jetzt tun sollte.

Hamilton hob die Hand, um den Diener aufzuhalten, der ihr gerade den Wein einschenken wollte. „Haben Sie vielleicht eine Limonade?“, fragte er.

„Ich will keine Limonade“, verkündete Miss Sumner trotzig, während sie ihre Hand aus der Butter zog und sie schnell auf ihren Schoß sinken ließ.

Hamilton war ziemlich sicher, dass sie die letzten Butterreste an ihrem Kleid abwischte, obwohl er beim besten Willen nicht verstand, warum sie nicht einfach die Serviette benutzte. Er beugte sich zu ihr hinüber und reichte ihr seine Serviette, wofür er ein freundliches Lächeln erntete.

„Ah, da ist sie ja“, sagte sie, während sie die Serviette entgegennahm und sich schnell die Hände daran abwischte. „Ob Butter wohl Flecken hinterlässt?“, überlegte sie laut.

„Haben Sie Limonade?“, wandte Hamilton sich wieder an den Diener.

„Ich möchte lieber Wein“, beharrte Miss Sumner.

„Offensichtlich. Aber ich bin nicht sicher, ob er gut für Sie ist“, murmelte er.

Miss Sumner blickte auf, neigte den Kopf leicht und betrachtete ihn einen Moment, bevor sie laut seufzte und ihre Brille abnahm. „Ich bin nicht betrunken.“ Sie hielt die Brille hoch. „Ich hatte beschlossen, heute Abend diese Brille aufzusetzen, um die Aufmerksamkeit von diesem wirklich grässlichen Kleid abzulenken, das man mir aufgezwungen hat. Aber leider sind die Brillengläser unglaublich stark, und statt mir zu erlauben, unbemerkt zu bleiben, habe ich dadurch nur unnötig die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt, da ich dadurch alles andere als würdevoll auftrete.“

„Warum hat man Ihnen dieses Kleid aufgezwungen?“, fragte Hamilton und nickte dem Diener zu, der daraufhin begann, die Gläser zu füllen.

„Das ist eine lange Geschichte“, murmelte Miss Sumner und biss sich dann auf die Lippe. Damit lenkte sie Hamiltons Aufmerksamkeit auf ihren Mund. Sein Blick blieb daran hängen, während ihm der Gedanke kam, dass ihre Lippen hübsch waren, besonders wenn Miss Sumner sie wie jetzt erbost schürzte. Ein vernehmliches Husten von Zaynes Seite trieb ihm die Röte ins Gesicht.

Was war mit ihm los? Er war ziemlich sicher, dass sein Bruder ihn dabei ertappt hatte, wie er Miss Sumner zu lange angestarrt hatte, und er war sehr beunruhigt, als ihm bewusst wurde, dass diese Frau irgendwie sein Interesse geweckt hatte. Dieses Interesse fand er schlichtweg besorgniserregend, da sie etwas Geheimnisvolles an sich hatte und er geheimnisvollen Frauen für immer abgeschworen hatte. Abwesend nippte er an seinem Wein und zwang sich, sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren.

„Was sagten Sie?“, fragte er Miss Sumner.

„Ich habe nichts gesagt“, antwortete sie, bevor ihr Blick über den Tisch glitt und dann wieder bei ihm landete. Dann beugte sie sich vor und senkte die Stimme. „Wenn Sie es unbedingt wissen müssen: Ich bin eigentlich gar kein Gast.“

„Sie sind eine Betrügerin?“, fragte Hamilton.

Miss Sumner lachte. Ihr Lachen klang fröhlich und reizend. „Ich bin die Gouvernante.“

„Sie sind eine Gouvernante?“, fragte Zayne laut, woraufhin mehrere Gäste in der Nähe ihre Gespräche unterbrachen und sie anschauten.

„Pssst“, flüsterte Miss Sumner. „Ich glaube nicht, dass Mrs Watson wollte, dass jeder es weiß, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass es schaden würde, es Ihnen beiden anzuvertrauen.“ Sie seufzte, als sie sah, dass sich diese Neuigkeit in Windeseile am Tisch ausbreitete. „Es sieht so aus, als wäre die Katze jetzt aus dem Sack oder wie auch immer Sie in Amerika dazu sagen.“ Sie lächelte Zayne an. „Deshalb stecke ich in diesem Kleid: Ich wurde dazu gezwungen, als Agatha … nun, dazu sage ich lieber nichts. Nur so viel: Miss Watson ist indisponiert, und Mrs Watson hatte keine Zeit, eine andere Dame einzuladen. Ich hoffe, Sie beide sind nicht allzu sehr enttäuscht, dass Sie jetzt mich am Hals haben.“

Hamilton war alles andere als enttäuscht. Er war fasziniert. Je länger Miss Sumner sprach, umso offensichtlicher wurde, dass sie mehr als nur eine Gouvernante war. Ihr Verhalten, die Art und Weise, wie sie jedes Wort betonte und dabei das Kinn fast hochnäsig vorschob, verrieten ihm, dass sie mehr war, als sie zu sein vorgab.

Aus einem unerklärlichen Grund stellte er fest, dass er sich danach sehnte, ihre Geheimnisse zu lüften, einschließlich der Frage, warum sie versuchte, sich als Gouvernante auszugeben.

Eliza erschauerte, als sie merkte, dass Mr Hamilton Beckett sie beobachtete, als wäre sie ein Insekt, das unter einem Glas gefangen war. Tat er das, weil sie zugegeben hatte, dass sie nur die Gouvernante war? War er entsetzt, weil sie seine Tischdame war? Sie biss sich auf die Lippe. Nein, die beiden Mr Beckett machten auf sie nicht den Eindruck, Snobs zu sein.

Warum wandte er dann den Blick nicht von ihr ab?

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als eine Glocke geläutet wurde und ein gut aussehender Herr aufstand, sich als Pastor Fraser vorstellte und das Tischgebet sprach.

„Sagen Sie, Miss Sumner“, wandte sich Hamilton an sie, als das Tischgebet beendet war, „wie lange sind Sie schon in diesem Land?“

„Noch nicht lange“, gestand Eliza und war dankbar, als das Gespräch durch das Personal unterbrochen wurde, das Platten mit Essen auf dem Tisch verteilte. Sie wollte nicht über ihre Situation sprechen. Schon gar nicht mit Mr Hamilton Beckett, der anscheinend irgendetwas an ihr sehr interessant fand. Das machte sie zugegebenermaßen nervös, da sie es sich nicht leisten konnte, jemandes Aufmerksamkeit zu erregen.

Sie nahm einen Bissen von dem Lachs und lenkte das Gespräch dann auf die Stadt New York und freute sich, als sie entdeckte, dass die beiden Mr Beckett sich in Bezug auf ihre Heimat und deren Bewohner sehr gut auskannten. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass Mr Hamilton Beckett sie nicht länger beobachtete, sondern seine Aufmerksamkeit lieber seinem Essen zuwandte. Er schien damit zufrieden zu sein, sie während des Essens über die Gäste aufzuklären, die mit ihnen am Tisch saßen.

„Bei der Dame da drüben müssen Sie vorsichtig sein“, warnte Hamilton sie mit einem diskreten Kopfnicken in die Richtung einer Frau, die sechs Plätze entfernt saß. „Das ist Mrs Hannah Morgan. Sie ist eine vermögende Witwe mit hohen gesellschaftlichen Ambitionen.“

„Ich glaube nicht, dass ich viel Gelegenheit haben werde, den Kontakt zu ihr zu pflegen, Mr Beckett“, erwiderte Eliza. „Schließlich bin ich nur die Gouvernante und kein Gast.“

„Für eine Gouvernante benehmen Sie sich aber ausgesprochen gewandt“, stellte Hamilton fest.

Offenbar hatte sie sich getäuscht, als sie gedacht hatte, er habe aufgehört, sie zu beobachten.

Sie legte ihre Gabel zur Seite. „Eine Gouvernante ist dafür verantwortlich, ihre Schützlinge die Etikette zu lehren, Mr Beckett. Mrs Watson hätte mich nicht eingestellt, wenn ich nicht in der Lage wäre, mich bei einem Dinner angemessen zu verhalten.“

Hamilton beugte sich zu ihr und löste damit ein sonderbares Kribbeln auf Elizas Rücken aus. Sie rutschte auf ihrem Stuhl zurück, ignorierte das Geräusch, das verriet, dass sich der Riss in ihrem Kleid vergrößerte, und konzentrierte sich wieder auf das Essen.

„Das sollte kein Vorwurf, sondern ein Kompliment sein“, fügte Hamilton leise hinzu. „Ich wollte Sie damit nicht beleidigen.“

Eliza hob den Blick. Als sie die Aufrichtigkeit in Mr Becketts Augen sah, wurde ihr Mund ganz trocken. Einen kurzen, verrückten Augenblick lang wünschte sie sich, wieder die geistreiche, schöne Frau zu sein, die sie in England gewesen war, wenn auch nur, um seine Reaktion zu sehen. Sie wusste, dass es ein lächerlicher Wunsch war – schließlich war sie nicht auf der Suche nach einem Ehemann –, aber obwohl sie sich dessen gewahr war, konnte sie nicht leugnen, dass sie auf Mr Beckett sehr seltsam reagierte. Er faszinierte sie – anders konnte sie es nicht erklären –, aber sie ärgerte sich auch über ihn, weil er schuld daran war, dass sie ihr inneres Gleichgewicht verloren hatte.

Sie war noch nie einem Mann begegnet, der dieses Gefühl bei ihr ausgelöst hatte.

Die junge Frau verkniff sich ein Schnauben und schalt sich im Stillen. Warum erlaubte sie ihren Gedanken, eine solch lächerliche Richtung einzuschlagen? Bevor sie ihre Gefühle jedoch zu ihrer Zufriedenheit zu Ende analysieren konnte, erregte ein Gespräch auf der gegenüberliegenden Tischseite plötzlich ihre Aufmerksamkeit.

„… und Lord Southmoor beehrt uns morgen ebenfalls mit seiner Anwesenheit.“

Ihr Vorhaben, sich unauffällig zu verhalten, löste sich in Wohlgefallen auf, als Eliza den Blick auf die Frau richtete, deren Bemerkung ihr den Boden unter den Füßen wegzog.

„Entschuldigen Sie“, sagte sie so laut, dass die Frau sie anschaute. „Haben Sie gerade Lord Southmoor erwähnt?“

Die Angesprochene kniff die Augen zusammen. „Sind Sie nicht die Gouvernante?“

Offenbar hatte sie gehört, was eigentlich nur für die Ohren der beiden Männer bestimmt gewesen war. Eliza zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin in der Tat Gouvernante, Ma’am. Miss Sumner, zu Ihren Diensten.“

„Miss Sumner“, antwortete die Frau mit einem majestätischen Kopfnicken. „Mein Name ist Mrs Amherst.“

„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Eliza. „Sie haben gerade Lord Southmoor erwähnt?“

„Sind Sie mit ihm bekannt?“, erkundigte sich Mrs Amherst.

„Ich wäre nicht so anmaßend zu glauben, ich würde alle Mitglieder der englischen Aristokratie kennen, aber sein Titel kommt mir bekannt vor. Darf ich so dreist sein und fragen, ob es sich dabei um einen ausgesprochen groß gewachsenen Herrn handelt?“

„Allerdings, und er ist von sehr dünner Gestalt“, entgegnete Mrs Amherst.

Eine Mischung aus Zorn und Triumph erfasste Eliza. Endlich hatte sie ihn gefunden. Den Mann, den sie suchte, den Mann, der ihr alles gestohlen hatte. Sie versuchte, ihre Gefühle im Zaum zu halten, da sie unbedingt auf Nummer sicher gehen musste. „Ist er zufällig verheiratet?“

„Sie meinen die Countess?“

„Seine Frau ist eine Countess?“

„Lord Southmoor ist ein Earl. Damit ist seine Frau natürlich eine Countess“, klärte Mrs Amherst sie mit hochgezogener Augenbraue auf.

Der Mann hatte also nicht nur das Vermögen Ihres Vaters gestohlen, sondern sich offenbar auch erdreistet, sich seinen Titel anzueignen.

„Kennen Sie zufällig Lady Southmoors Vornamen?“, hakte Eliza nach, sobald sie wieder in der Lage war, einen zusammenhängenden Satz zustande zu bringen.

„Ich hatte noch nicht das Vergnügen, eine engere Beziehung zu ihr zu pflegen, aber ich glaube, ihr Vorname ist Salice“, erwiderte Mrs Amherst.

Eliza schluckte das Knurren, das sie gern ausgestoßen hätte, mühsam hinunter. Es war eine Unverschämtheit, dass diese angebliche Countess behauptete, sie heiße Salice, obwohl Eliza ganz genau wusste, dass sie Sally hieß und früher Elizas Gouvernante gewesen war, bevor sie Bartholomew Hayes geheiratet hatte, den Verwalter ihres Vaters. Es war eine Ironie des Schicksals, dass Eliza jetzt als Gouvernante arbeitete, während Sally, alias Salice, als angebliche englische Aristokratin durch New York stolzierte.

„Miss Sumner, geht es Ihnen gut?“, fragte Hamilton und riss sie aus ihren Gedanken.

„Mir geht es ausgezeichnet.“

Hamilton warf einen vielsagenden Blick auf das zerdrückte Brötchen in Elizas Hand.

„Oh“, sagte die junge Frau. Sie öffnete ihre Faust und legte das Brötchen auf den Teller, als ihr bewusst wurde, dass Mrs Amherst sich erneut an sie wandte.

„Ist Ihnen das Southmoor-Anwesen bekannt?“, erkundigte sich Mrs Amherst. „Lady Southmoor beschrieb neulich ihr Schloss auf dem Land, und es klang sehr reizvoll.“

Das einzige Southmoor, das Eliza kannte, war das alte Jagdschloss ihres Vaters in der schottischen Wildnis, das ihr Vater scherzhaft Southmoor genannt hatte, weil es sich südlich eines Moores befand. Plötzlich wurde ihr klar, woher Bartholomew die Inspiration für seinen erfundenen Titel und offenbar ein ganzes Anwesen mit Schloss auf dem Land genommen hatte.

„Southmoor Manor ist mir leider nicht bekannt“, antwortete sie.

Mrs Amherst bedachte sie mit einem mitleidigen Lächeln. „Sagen Sie, meine Liebe, wer sind Ihre Verwandten in England? Zählen Sie irgendwelche Aristokraten zu Ihrer Verwandtschaft?“

„Ich bin entfernt mit dem Earl of Sefton verwandt“, entfuhr es Eliza, bevor sie sich auf die Zunge biss. Wie hatte sie das nur verraten können?

Mrs Amhersts Augen leuchteten auf. „Lady Southmoor hat Ihre Familie erst kürzlich erwähnt. Sie sagte, sie sei mit Lady Alice Sumner sehr gut befreundet.“

Eliza begann, innerlich zu kochen. Ihre Mutter, Alice, war seit über zehn Jahren tot, und es war eine Unverschämtheit von Sally zu behaupten, sie wären „sehr gut befreundet“, da Sally nur Elizas Gouvernante gewesen war. Eliza atmete tief ein und langsam wieder aus. „Ist Ihnen bekannt, wo Lord und Lady Southmoor derzeit residieren?“

„Ich habe gehört, dass sie vor Kurzem ein beeindruckendes Haus in der Park Avenue erworben haben. Es hat drei Stockwerke und weist die modernsten Annehmlichkeiten auf.“ Mrs Amherst schüttelte den Kopf. „Ich habe auch gehört, dass Lady Southmoor wegen der Lage ausgesprochen erzürnt war. Sie wollte hier in der Fifth Avenue ein Haus kaufen, aber ihr Mann bestand auf dem Haus in der Park Avenue.“ Sie senkte die Stimme. „Er hatte offenbar genügend Mittel, um die gesamte Summe zu bezahlen, was die Vorbesitzer bewog, schnell auszuziehen, damit Lord und Lady Southmoor sofort einziehen konnten.“

„Wie nett für sie“, murmelte Eliza mit zusammengebissenen Zähnen.

„Wir sehen Lord Southmoor morgen Abend“, erzählte Mrs Amherst. „Soll ich ihn von Ihnen grüßen?“

„Nein“, antwortete Eliza schnell und rang sich mühsam ein Lächeln ab, als sie bemerkte, dass Mrs Amherst über ihre vehemente Ablehnung erstaunt war. „Das ist ein sehr freundliches Angebot, Mrs Amherst, aber da ich nur Gouvernante bin, fürchte ich, dass er mich gar nicht bemerkt hat, und es könnte ihn verwirren, wenn Sie ihm gegenüber meinen Namen erwähnen.“

„Dann werde ich kein Wort über unsere Begegnung verlieren“, bot Mrs Amherst an. „Ich will den Lord unter keinen Umständen verwirren, besonders, da mein Mann hofft, die Bekanntschaft mit Lord Southmoor und Mr Daniels zu vertiefen.“

Eliza hörte, wie Mr Hamilton Beckett neben ihr scharf den Atem einsog. Sie warf ihm einen Blick zu und stellte fest, dass er sich mit funkelnden Augen vorbeugte.

„Mr Eugene Daniels?“, fragte Hamilton.

„Ja“, nickte Mrs Amherst. „Mr Daniels gibt morgen Abend in seinem Haus ein Dinner zu Ehren von Lord und Lady Southmoor.“

Eliza war nicht sicher, warum Mr Beckett plötzlich so angespannt war, aber die einzige logische Erklärung, die ihr einfiel, war, dass seine Reaktion mit diesem Mr Eugene Daniels zu tun haben musste, dem Mann, der rein zufällig eine Abendgesellschaft zu Ehren des Mannes veranstaltete, dessentwegen Eliza einen ganzen Ozean überquert hatte. Sie öffnete den Mund, um sich zu erkundigen, wer dieser Daniels sei, aber sie kam nicht dazu, da Mrs Watsons Stimme alle Gespräche übertönte.

„Meine Damen, bitte folgen Sie mir. Ich glaube, es ist Zeit, die Herren ihrem Brandy und ihren Zigarren zu überlassen.“

Sie hatte das zweifelhafte Glück, dass ihre Dienste für diesen Abend offenbar genau in dem Moment nicht mehr gebraucht wurden, in dem es interessant wurde. Die junge Frau schob ihren Stuhl zurück, bevor die beiden Mr Beckett Gelegenheit hatten, ihr zu helfen, und seufzte resigniert, als sie erneut ein lautes, reißendes Geräusch vernahm.

„Ich glaube, dieses Kleid hat seine letzte Abendgesellschaft erlebt“, merkte Zayne an, während er sich erhob und sich dann bückte, um ein Stoffstück unter dem Stuhlbein hervorzuziehen. „Was ist das?!“

„Lassen Sie das!“, fuhr Eliza ihn an.

„Entschuldigen Sie“, sagte Zayne überrascht, ließ aber den Stoff schnell fallen und richtete sich auf. „War das ein Teil Ihres Kleides?“

Eliza beschloss, ihm darauf lieber keine Antwort zu geben, da sie kaum etwas sagen könnte, das einen Sinn ergäbe. Sie richtete sich auf und spürte, wie weitere Teile ihrer Auspolsterung an ihren Beinen nach unten rutschten, da ihr überdimensionales Korsett augenscheinlich überfordert war und nicht länger alles an Ort und Stelle halten konnte. Sie machte rasch einen Knicks und drehte sich auf dem Absatz um, blieb aber stehen, als Mr Hamilton Beckett eine Hand auf ihren Unterarm legte.

„Sie haben Ihre Brille vergessen“, sagte er, nahm diese vom Tisch und reichte sie ihr.

„Danke“, antwortete sie. Ihr Finger streifte versehentlich seine Haut, und ihr Herz begann zu rasen.

„Sehen wir Sie beim Dessert wieder?“, fragte Hamilton.

Es war ihr fast unmöglich, sich zu konzentrieren, da es ihr so vorkam, als würde eine ganze Pferdeherde durch ihre Adern galoppieren. Was hatte er gefragt?

Aah … ja … das Dessert.

„Meine Dienste waren nur für das Dinner erforderlich“, brachte sie mühsam über die Lippen. „Ich danke Ihnen, dass Sie mir erlaubten, in Ihrer Gesellschaft zu speisen. Es war mir eine große Freude.“

„Sie waren sehr unterhaltsam“, erwiderte Zayne.

„Das lag nicht in meiner Absicht“, murmelte Eliza.

„Sie waren entzückend“, pflichtete Hamilton seinem Bruder bei. Er ergriff ihre Hand und führte sie an seine Lippen.

Eliza wurde bei seiner Berührung am ganzen Körper heiß. Ihre Hand war schon unzählige Male geküsst worden, aber kein einziges Mal hatte sie so reagiert, wenn die Lippen eines Herrn ihre Fingerknöchel gestreift hatten. Sie entzog ihm ihre Hand, murmelte ein letztes „Guten Abend“ und trat eilig vom Tisch zurück. Bei dieser Bewegung glitt der Rest ihrer Stoffbinden an ihren Beinen hinab. Sie nahm das letzte Stückchen Würde zusammen, drehte sich hoch erhobenen Hauptes um und verließ, so schnell sie konnte, das Zimmer.

3

m nächsten Nachmittag schaute sich Eliza in dem überfüllten Pferdeomnibus um und grübelte darüber nach, wie man dieses Fahrzeug wohl anhielt. Sie war noch nie in einer öffentlichen Kutsche gefahren, da ihr zu Hause in England Privatkutschen zur Verfügung gestanden hatten, aber ihre finanziellen Mittel waren im Moment begrenzt. So saß sie hier, an eine Wand gedrückt, und versuchte, durch den Mund zu atmen, da der Mann, der neben ihr saß, nach Fisch roch und es zu genießen schien, alle paar Minuten zu rülpsen. Um sich von dieser unangenehmen Umgebung abzulenken, schaute sie aus dem Fenster und versuchte, sich aus dem, was sie am Vortag herausgefunden hatte, einen Reim zu machen.

Mr Bartholomew Hayes war in New York und gab sich als englischer Aristokrat aus. Außerdem gab er Elizas Geld mit vollen Händen aus und wohnte in einer Villa, die auffallend spektakulär war und die er mit modernsten Möbeln einrichtete, wie ihr die zahlreichen Lieferwagen verraten hatten, die in einer ärgerlich großen Menge vorgefahren waren, während Eliza auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestanden hatte. Die junge Frau hatte mit wachsendem Zorn zugesehen, wie alles vor ihren Augen ins Haus geschleppt worden war – angefangen bei schönen Möbeln bis hin zu einem riesigen Springbrunnen in der Form eines Schwans.

Es hatte sie jedes Bisschen Selbstbeherrschung gekostet, um nicht ins Haus zu stürmen und den Mann zur Rede zu stellen, der in den Diensten ihres Vaters gestanden und dem dieser bedingungslos vertraut hatte. Dieser Verwalter hatte sich als verlogener, betrügerischer, nichtsnutziger Verbrecher entpuppt, der es geschafft hatte, in den Monaten vor und nach dem Tod ihres Vaters dessen riesiges Vermögen systematisch auf seine eigenen Konten umzuleiten.

Ein lautes Schnauben des Mannes, der jetzt einen fleischigen Arm an ihre Seite drückte, riss Eliza aus ihren Gedanken. Sie presste sich noch enger ans Fenster. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie aus dem Omnibus ausstieg und den Rest des Weges zum Haus der Watsons einfach zu Fuß ging. Angesichts der Beharrlichkeit, mit der dieser Mann immer näher rückte, würde er zweifellos bald auf ihr sitzen.

Eliza erschauerte bei dieser Vorstellung. Sie dachte darüber nach, dass Männer, egal, welchen gesellschaftlichen Standes, eindeutig mehr Mühe bereiteten, als sie es wert waren. Andererseits erweckte Mr Hamilton Beckett den Eindruck, als könnte er die Mühe wert sein.

Bei diesem beunruhigenden Gedanken blinzelte sie. Jetzt war kein günstiger Zeitpunkt, um sich ablenken zu lassen, selbst wenn diese Ablenkung in Gestalt eines unglaublich attraktiven Herrn daherkam, der faszinierende Augen hatte und –

„Vergiss ihn“, murmelte sie.

„Ham Sie was gesagt?“, fragte der Mann neben ihr und schaute sie vorsichtig an.

Der Arme glaubte wahrscheinlich, dass er neben einer Verrückten saß, und wer konnte ihm daraus einen Vorwurf machen? Sie räusperte sich und versuchte, etwas Logisches zu finden, das sie erwidern könnte.

„Ich habe überlegt, wie man den Omnibus wohl anhält“, erwiderte sie schließlich.

„Sie müssen an dem Seil da zieh’n“, sagte er und deutete auf seine Füße hinab. „Es is mit dem Bein des Fahrers verbunden. Wenn er spürt, dass dran gezogen wird, bleibt er steh’n.“

Eliza konnte sich unmöglich über diesen Mann beugen, um an dem Seil zu ziehen. Sie beschloss, vorerst sitzen zu bleiben, und wandte das Gesicht wieder zum Fenster.