Brave Mädchen schreien nicht - Dania Dicken - E-Book
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Brave Mädchen schreien nicht E-Book

Dania Dicken

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Beschreibung

Um ihrem Traum von einer Laufbahn als FBI-Profilerin näherzukommen, fährt Libby Whitman Streife in der kalifornischen Metropole San José. Ein Fall von häuslicher Gewalt lässt der jungen Polizistin keine Ruhe: Nachdem sie und ihr Partner zum wiederholten Mal von Nachbarn zu Luke und Cassidy Maxwell gerufen werden, bietet Libby der eingeschüchterten Frau ihre Hilfe an. Mit viel Fingerspitzengefühl versucht Libby, sie zu einer Anzeige gegen ihren Ehemann zu bewegen, doch am nächsten Tag ist Cassidy spurlos verschwunden. Mit ihrer hartnäckigen Suche nach der Frau macht Libby sich bei ihren Kollegen und Vorgesetzten unbeliebt, einzig Detective Owen Young bestärkt sie darin. Als Cassidys Leiche Tage später brutal vergewaltigt und schwer misshandelt aufgefunden wird, landet der Fall auf Owens Schreibtisch. Libby sagt sofort zu, als er sie darum bittet, ihn auf der Suche nach dem Täter zu unterstützen – doch beide ahnen nicht, welche grausigen Details ihre Ermittlungen ans Licht bringen … Erster Fall der angehenden FBI-Profilerin Libby Whitman

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Prolog
Samstag. 31. Oktober
Sonntag, 1. November
Montag, 2. November
Mittwoch, 4. November
Montag, 2. November
Donnerstag, 5. November
Samstag, 7. November
Freitag, 6. November
Sonntag, 8. November
Montag, 9. November
Dienstag, 10. November
Mittwoch, 11. November
Donnerstag, 12. November
Freitag, 13. November
Samstag, 14. November
Sonntag, 15. November
Montag, 23. November
Donnerstag, 26. November
Montag, 30. November
Vorschau: „Als die Freiheit starb – Resignation“
Nachbemerkung
Impressum

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Brave Mädchen schreien nicht

 

Libby Whitman 1

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

Sei die Heldin deines Lebens, nicht das Opfer.

 

Nora Ephron

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

„Ich will, dass du stillhältst.“ Mit diesen Worten packte er sie an den Haaren und riss ihren Kopf in den Nacken. Ihr folgender Schrei wurde von ihrem Knebel erstickt. Sie wimmerte leise, aber jetzt hielt sie still.

„Braves Mädchen.“ Er hielt immer noch ihre Haare fest, während er sie mit der anderen Hand an den Hüften packte. Sie schluchzte leise, aber das machte es authentischer.

Sie war gut, das musste er schon sagen. Wirklich gut. Natürlich konnte sie sich gefesselt nicht wehren, aber sie versuchte es auch gar nicht.

Er stieß härter zu. Das Wissen, von den anderen beobachtet zu werden, spornte ihn noch an. Ihr ersticktes Weinen gefiel ihm.

„Du bist doch ein braves Mädchen, oder?“, fragte er atemlos. Sie reagierte nicht, bis er sie immer heftiger nahm. Sie winselte etwas, das wie ein Nein klang.

„Nein? Bist du kein braves Mädchen? Muss ich dich bestrafen?“ 

Sie schüttelte wimmernd den Kopf.

„Bist du sicher?“

Jetzt nickte sie. Er ließ ihre Haare los und packte sie jetzt mit beiden Händen an den Hüften. Sie versuchte immer noch, etwas zu sagen, das sich wie ein Nein anhörte. Mit jedem Stoß entfuhr ihr ein Schmerzenslaut. Das gefiel ihm so gut, dass er sich nicht länger zurückhielt und sich keuchend an ihr festkrallte. Sie weinte noch immer.

Er verharrte reglos und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Zufrieden gab er ihr einen Klaps auf den Po.

„Gut erzogen bist du ja.“

Sie reagierte nicht, sie schluchzte nur. Langsam und mit wackligen Knien stand er auf und blickte zu den anderen.

„Wer will als Nächstes? Ich würde sagen, sie ist jetzt bereit.“

Verzweifelt schüttelte sie den Kopf und versuchte zu betteln. Versuchte sie anzuflehen, dass sie sie gehen lassen sollten. Aber noch war es nicht so weit.

Sie hatten doch gerade erst angefangen.

Samstag. 31. Oktober

 

Während Miguel langsam von der Empire in die 5th Street einbog, ließ Libby ihre Blicke über eine Gruppe Jugendlicher am Straßenrand gleiten. Ein Skelett, ein Henker, Spiderman, ein Geist und eine Spinne standen vor einem Vorgarten und johlten laut. Konzentriert versuchte Libby zu erkennen, ob sie Bierflaschen oder Dosen in der Hand hielten. Spätschicht an Halloween – Thompson hatte es als puren Terror bezeichnet, aber noch war sie froh, jetzt Streife zu fahren. Es gab genug zu tun. Nichts war tödlicher als Langeweile.

Die Jugendlichen beobachteten die Officers im Streifenwagen skeptisch und unterbrachen ihre Unterhaltung für einen Moment.

„Alkohol?“, fragte Miguel knapp.

Libby schüttelte den Kopf. „Keiner, den ich sehen könnte.“

„Fünf Jugendliche und kein Alkohol? Glaub ich nicht.“ Miguel setzte den Blinker und hielt am Straßenrand. Ohne etwas zu erwidern, löste Libby ihren Gurt und stieg aus. An das Gewicht der kugelsicheren Weste hatte sie sich allmählich gewöhnt und stieg leichtfüßig aus dem Wagen. Die Geste, mit der sie den Sitz ihrer Waffe überprüfte, war inzwischen zur Routine geworden.

„Yo, Officer!“, rief der Henker. „Trick or treat?“

„Guten Abend“, begrüßte Miguel die Jugendlichen und nickte ihnen höflich zu. „Alles in Ordnung hier?“

„Alles bestens. Haben Sie heute schon jemanden festgenommen?“

„Bis jetzt nicht. Sollten wir?“

„Wir machen nichts“, sagte Spiderman. Libby musterte die Jugendlichen genau und entdeckte dann eine Flasche in der Hand des jungen Mannes, der sich als Skelett verkleidet hatte. Miguel schien sie im gleichen Moment entdeckt zu haben, denn er warf ihr einen gereizten Blick zu, während er zu dem kostümierten Jungen ging.

„Was hast du da?“, fragte er.

„Cola, wieso?“

„Ohne irgendwas anderes drin?“

„Ja, Mann. Wollen Sie probieren?“

Miguel nickte und nahm ihm die Flasche ab, um daran zu riechen. Schließlich reichte er sie dem Jungen zurück und musterte die anderen noch einmal, bevor er nickte und sagte: „Bleibt schön sauber. Viel Spaß noch.“

Libby verabschiedete sich ebenfalls von den Jugendlichen, bevor sie zu Miguel ins Auto stieg und sie der Straße weiter nach Süden folgten.

„Einer von ihnen hatte eine Flasche“, sagte Miguel streng.

„Ja, mit Cola“, erwiderte Libby unbeeindruckt.

„Du hast sie nicht gesehen.“

„Es gab auch nichts zu sehen.“

„Es hätte auch Whiskey beigemischt sein können.“

Erst erwiderte sie nichts, dann murmelte sie nur: „Ja.“

Er hatte Recht und es ärgerte sie auch, dass sie die Flasche nicht gesehen hatte, aber den Jugendlichen hatten sie ja nichts vorzuwerfen.

Sie fuhren weiter an Vorgärten vorbei, die mit Kürbissen, Geistern und anderen Gegenständen dekoriert waren. Nur vereinzelt waren noch kostümierte Kinder mit ihren Eltern in den Straßen San Josés unterwegs, um an Türen zu klingeln und mit Trick or treat Süßigkeiten zu ergattern. Jetzt kamen die Jugendlichen heraus, um zu trinken und Partys zu feiern.

„An alle Einheiten: 390 und 242 in der Almaden Avenue. Dem Notruf wurde eine Schlägerei in einer Bar gemeldet“, rauschte es aus dem Funkgerät. Noch bevor Libby reagieren konnte, griff Miguel nach dem Funksender und drückte die Taste.

„Die Officers Alvarez und Whitman sind unterwegs. Sind keine Meile entfernt.“

„Verstanden.“

Miguel hatte den Funksender kaum weggelegt, als er Blaulicht und Sirene einschaltete und Gas gab. Sie fuhren geradewegs auf die San José City Hall zu, bevor Miguel nach rechts abbog und der Santa Clara Street eilig nach Westen folgte.

„Und jetzt Augen und Ohren offen halten“, mahnte Miguel, während Libby im Funk noch hörte, dass weitere Einheiten zur Verstärkung unterwegs waren. Eigentlich musste Miguel ihr das nicht sagen, aber er nahm seinen Auftrag, sie noch ein bisschen zu schulen, verdammt ernst. Libby war nun seit dem Sommer bei der Polizei, Miguel aber schon seit fast fünf Jahren. Er wurde nächstes Jahr dreißig und seine Frau, die er vor zwei Jahren geheiratet hatte, erwartete gerade ihr erstes Kind. Viel mehr wusste Libby noch nicht über ihren Partner, obwohl sie schon seit vier Monaten mit ihm fuhr – nur eins hatte sie gleich aufgeschnappt: Police Officer Miguel Alvarez war verdammt gewissenhaft. Es regte ihn immer gleich maßlos auf, wenn eine ihrer Formulierungen in einem Bericht nicht ganz rund klang, sie ihre Berichte nicht überpünktlich abgab oder sie ihn nach den numerischen Codes fragen musste, die im Funk durchgegeben wurden. Natürlich wusste sie, dass 187 für Mord stand und sie wusste auch, dass 390 für Betrunkene stand und 242 für Körperverletzung. Vor kurzem hatte sie ihm jedoch nicht auf Anhieb sagen können, dass 374B für illegale Müllentsorgung stand, woraufhin er fast eine Grundsatzdiskussion mit ihr begonnen hatte.

Das konnte noch lustig werden.

Keine drei Minuten später parkten sie am Straßenrand vor der Bar und liefen eilig hinein. Libby folgte Miguel in die schummrig beleuchtete Bar. Im Neonlicht prügelten sich auf der Tanzfläche mehrere betrunkene Männer und wälzten sich durch Glasscherben.

„San José Police Department!“, brüllte Miguel in den allgemeinen Tumult. Die Prügelei lief dessen ungeachtet fröhlich weiter. Libby versuchte, erst mal einen Überblick zu gewinnen und zählte insgesamt fünf Männer. Brüllend versuchte Miguel, einen der prügelnden Männer zu fassen zu bekommen, als der sich aufrichtete. Daraufhin drehte der Mann sich um, weil er Miguel einen Faustschlag verpassen wollte. Zwar duckte Miguel sich darunter weg, aber er schaffte es nicht, den Mann unter Kontrolle zu bringen.

Bevor Libby etwas tun konnte, richtete sich ein zweiter Mann auf und wollte nun auf sie losgehen. Libby zögerte nicht lang und sie versuchte gar nicht erst, ihn auf Distanz zu halten, sondern ihm so nah wie möglich zu kommen und ihn zu Boden zu bringen. Sie war weder besonders groß noch kräftig gebaut und wirkte mit ihrem blonden Zopf erst einmal nicht einschüchternd. Sie hatte sich jedoch nie mit den Abwehr- und Zugriffstechniken zufrieden geben wollen, die sie an der Police Academy gelernt hatte, sondern hatte noch während ihres Studiums eine Kampfsportschule besucht.

Ihr Kontrahent war größer und mit Sicherheit stärker als sie, aber das schreckte sie nicht. Als er auf sie losgehen wollte, konzentrierte sie sich darauf, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und zu Boden zu werfen. Ihm entfuhr ein überraschter Schrei, während er auf dem Bauch landete. Libby packte ihn, verdrehte seinen Unterarm und bohrte ihm ein Knie in den Rücken, während sie mit der anderen Hand nach ihren Handschellen griff und sie ihm anlegte. Sie war kaum damit fertig, als ein zweiter Mann sie brüllend angreifen wollte. Sie kam nicht rechtzeitig hoch, um ihn auf Augenhöhe anzugreifen, aber es gelang ihr trotzdem, auch ihn zu Boden zu werfen und außer Gefecht zu setzen. Zwar hatte sie keine Handschellen mehr, mit denen sie ihn hätte fixieren können, doch ehe der Mann sie angreifen konnte, der sich zuvor mit Miguel angelegt hatte, hielt sie ihre Waffe in der rechten Hand und brüllte: „San José PD, keine Bewegung!“

Der Mann hatte eine zerbrochene Flasche in der Hand, aber er hielt inne, als sie ihn mit ihrem Blick schier aufspießte und die Waffe genau auf ihn richtete. In diesem Moment konnte Miguel ihn von hinten überwältigen und ihm Handschellen anlegen. Gleichzeitig erschienen hinter ihm zwei weitere Officers, die sofort zur Klärung der Lage beitrugen.

Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Prügelei zu beenden und die Beteiligten festzunehmen, ohne dass einer der Officers verletzt worden wäre. Libby zog denjenigen vom Boden hoch, dem sie zuerst Handschellen angelegt hatte, und führte ihn aus der Bar zum Streifenwagen. Er war fast zwei Köpfe größer als sie und wollte sich zu ihr umdrehen, um sie anzusehen. Es war, als könne er immer noch nicht glauben, dass sie ihn tatsächlich überwältigt hatte.

Inzwischen war auch ein dritter Streifenwagen eingetroffen, so dass sie alle Männer abtransportieren und zum Department bringen konnten. Allerdings sprachen sie zuerst noch mit Zeugen und nahmen einige Personalien auf, bevor sie sich auf den Weg zur Dienststelle machten.

Libby war froh, dass die Fahrt nur fünf Minuten dauerte, denn die beiden Männer auf der Rückbank stanken wie eine Kneipe und einer von ihnen pöbelte sowohl sie als auch Miguel aggressiv an. Es war der Mann, den sie als zweiten überwältigt hatte.

„Kaum zu fassen, dass jemand mit so einem sexy Arsch bei der Polizei arbeitet!“, lallte er und schlug mit dem Kopf gegen das Gitter.

„Ruhe da hinten“, grollte Miguel.

„Was denn, bist du etwa eifersüchtig, wenn ich deine Partnerin angrabe?“

„Sie wissen schon, was Beamtenbeleidigung ist?“

„Ich beleidige sie doch gar nicht, ich habe ihr ein Kompliment gemacht! Von so einer heißen Braut bin ich auch noch nicht festgenommen worden.“

„Werden Sie etwa öfter festgenommen?“, fragte Libby ihn, ohne sich umzudrehen.

Der Mann lachte schallend und fuhr fort, sie mit anzüglichen Witzen zu überziehen, bis sie endlich am Department waren. Libby ließ es sich nicht nehmen, ihn selbst aus dem Auto zu holen und in eine Zelle zu bringen. Unterwegs hielt sie ihn extra fest gepackt, so dass er schon jammerte und irgendwas von Polizeigewalt faselte. Unbeeindruckt stieß sie ihn in eine Ausnüchterungszelle, bevor sie ihm die Handschellen abnahm und die Gittertür hinter ihm ins Schloss warf.

„He, Süße, wie heißt du?“, fragte er und lehnte sich aufdringlich ans Gitter, während Libby die Tür abschloss.

„Für dich bin ich Officer Whitman“, sagte sie und ging. Am Empfangstresen schob Carol ihr ein Formular hin, das sie gleich ausfüllte. Sie war schon fast fertig, als Miguel auftauchte und neben ihr stehen blieb.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

„Klar, was soll sein?“, erwiderte Libby, ohne aufzusehen.

„Der Typ war ganz schön schmierig.“

„So ist der Job halt.“

„Das war eine gute Leistung vorhin.“

Nun blickte sie doch auf und lächelte. „Danke.“

„Doch, ehrlich. Du bist allein mit zwei dieser Typen fertig geworden. Das war gut.“

Libby wusste dieses Lob zu schätzen. Ihr war vollkommen bewusst, dass sie nicht besonders einschüchternd wirkte, aber darauf kam es überhaupt nicht an. Sie konnte anders punkten.

Sie fuhr mit Miguel wieder nach Downtown. Dabei machten sie einen Umweg durchs Wohngebiet, um überall nach dem Rechten zu schauen, und waren noch gar nicht weit gekommen, als sie auf einem Bürgersteig eine bewusstlose Person entdeckten. Ein als Sensenmann verkleideter junger Mann lag vor einem Vorgarten auf dem Bürgersteig und rührte sich nicht. Miguel und Libby stiegen aus und während Miguel schon nach seinem Funkgerät griff, um einen Krankenwagen zu verständigen, überprüfte Libby die Vitalzeichen des Mannes und versuchte, ihn aufzuwecken. Sie tätschelte seine Wangen und rüttelte leicht an ihm, woraufhin er tatsächlich die Augen aufschlug.

„Oh … Polizei?“, lallte er überrascht. Er stank entsetzlich nach Alkohol. Warum waren alle so früh schon so betrunken?

„Officer Whitman, San José PD“, stellte Libby sich vor, während Miguel die Zentrale darum bat, einen Krankenwagen zu schicken. „Geht es Ihnen gut? Wie heißen Sie?“

„Mike Grayson. Vorhin wurde mir einfach schwarz vor Augen. Keine Ahnung, wie lang ich hier schon liege.“

„Haben Sie Schmerzen? Sind Sie verletzt?“

„Nein, es geht mir gut, glaube ich.“ Mike versuchte, sich aufrecht hinzusetzen, wobei Libby ihm behilflich war.

„Was? So lange? Nein, dann bringen wir den Mann selbst ins Krankenhaus“, sprach Miguel ins Funkgerät.

„Was ist los?“, fragte Libby.

„Die Krankenwagen sind alle im Einsatz. Da er ansprechbar ist, schickt man uns frühestens in einer halben Stunde jemanden.“

„Na toll …“

„Komm, setzten wir ihn ins Auto“, schlug Miguel vor. Libby nickte und gemeinsam verfrachteten sie den Betrunkenen auf die Rückbank des Streifenwagens. Das Santa Clara Valley Medical Center war nicht weit entfernt – dann würden sie den Mann eben dorthin bringen. Sie mussten ja weitermachen, aber sie konnten ihn auch unmöglich allein lassen.

Miguel arbeitete sich bis zur Santa Clara Street vor, aber er war noch gar nicht ganz abgebogen, als der Mann auf der Rückbank plötzlich würgende Geräusche von sich gab und sich röchelnd vornüber beugte. Libby war wie erstarrt, als sie hörte, wie er sich hinter ihrem Sitz in den Fußraum übergab. Sekunden später war der Streifenwagen von einem beißenden Gestank erfüllt.

Sie hatte es befürchtet.

„Na wunderbar“, murmelte Miguel und rollte mit den Augen, aber er brachte den Mann trotzdem erst einmal zur Notaufnahme. Nachdem ihn dort eine Schwester in Empfang genommen hatte, stapfte er mit vielsagender Miene zum Streifenwagen zurück und ließ sich schwerfällig auf den Fahrersitz fallen.

„Fahren wir zum Department zurück und tauschen den Wagen.“

Libby nickte nur. Welch absolut großartige Idee.

Sie fuhren mit heruntergelassenen Fenstern zurück zum Police Department, wo sie sich erst einmal daran machten, den Wagen vom gröbsten Unrat zu befreien. Libby machte es nicht zum ersten Mal und wusste, es gehörte dazu. Es war kein Personal abkömmlich, um sich darum zu kümmern, aber in Nächten wie dieser brauchten sie jeden verfügbaren Wagen. Als sie fertig waren, ging Miguel ins Gebäude und kehrte zu Libbys Erleichterung Minuten später mit dem Schlüssel für einen anderen Streifenwagen zurück.

„Du bist mein Held“, sagte sie und lächelte.

Er erwiderte ihr Lächeln. „Meiner Frau war in den ersten drei Monaten dauernd übel. Irgendwie habe ich mich an den Geruch gewöhnt …“

Nun lachte sie. „Na, du bist ja hart im Nehmen.“

„Mein Kind wird mich bestimmt auch noch vollspucken und anpinkeln, wenn es erst mal da ist.“

„Wahrscheinlich. Das kenne ich noch von meiner kleinen Schwester.“

Miguel erwiderte nichts. Sie waren kaum auf Streife zurückgekehrt, als ein Funkspruch kam.

„Zentrale an Alvarez, bitte kommen.“

„Alvarez hört“, funkte Miguel zurück.

„Ein Notruf aus der Clayton Avenue. Nachbarn melden 273D bei Hausnummer 197.“

„Ach, mal wieder“, sagte Miguel, bevor er ins Funkgerät sprach. „Alles klar, wir sind unterwegs.“

„Das ist ja nichts Neues.“ Libby lehnte sich an ihren Sitz, während Miguel nach Ryland fuhr. Seit Libby bei der Polizei war, hatte sie die angegebene Adresse sicher schon fünf- oder sechsmal mit Miguel besucht, weil die Nachbarn immer wieder die Polizei wegen häuslicher Gewalt gerufen hatten. Bei Luke und Cassidy Maxwell flogen ständig die Fetzen. Luke hatte ein Alkoholproblem und wurde in regelmäßigen Abständen gewalttätig gegen seine Frau. Zweimal hatten sie die Frau schon ins Krankenhaus bringen müssen, einmal wegen einer heftigen Platzwunde und einmal wegen eines Armbruchs. Libby hatte versucht, im Vertrauen mit ihr zu sprechen und ihr schon Broschüren von Frauenhäusern und Opferhilfevereinen in die Hand gedrückt, aber Cassidy wollte nichts davon wissen.

Keine zehn Minuten später hatten sie die Clayton Avenue erreicht. Die Maxwells wohnten in einem kleinen, verwitterten Haus ganz am Ende der Straße. Nur ein winziges Stück Brachland und eine Mauer trennten sie vom sechsspurigen Freeway, der mitten durch die Stadt rauschte. An diesem Abend und um diese Zeit war nicht allzu viel Verkehr, aber es war trotzdem laut.

Das Haus hätte dringend einen neuen Anstrich gebraucht, der Zaun davor stand schief. Alles in allem war das Grundstück ziemlich verwahrlost, was auch von Mal zu Mal trostloser wirkte.

Libby und Miguel hörten das Geschrei schon beim Aussteigen. Sie hatten direkt vor dem Haus geparkt und eigentlich waren alle Fenster geschlossen, aber trotzdem spielte sich in der Küche ein heilloses Gebrüll ab, die den Nachbarn offensichtlich nicht verborgen geblieben war.

„Ich möchte ihn einsperren“, grollte Miguel, während er voran zur Haustür ging und energisch dagegen hämmerte. Libby blieb hinter ihm stehen und wartete ab. Das Gebrüll stoppte kurz, aber dann ging sie von vorn los. Miguel hämmerte erneut an die Tür und rief: „San José Police Department! Öffnen Sie die Tür!“

Es wurde leise im Haus, dann hörten sie Schritte. Keuchend öffnete Luke Maxwell die Tür. Er war etwa Mitte dreißig, von untersetzter Statur und mit ungepflegten Haaren. Er trug zerschlissene Jeans und ein zerknittertes Hemd. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er Miguel an und wirkte genervt.

„Ach, Sie schon wieder.“

„Mr. Maxwell, wir haben Hinweise auf einen lautstarken Streit bei Ihnen erhalten.“

„Haben die Rosenheims etwa wieder bei Ihnen angerufen?“

„Wir werden Ihnen nicht sagen, wer uns verständigt hat. Ist hier alles in Ordnung? Wo ist Ihre Frau?“

„Natürlich ist hier alles in Ordnung. Oder, Cassidy?“ Er drehte sich um und brüllte Richtung Küche. Augenblicke später kam Cassidy Maxwell zum Vorschein. Sie trug ein altmodisches Kleid und war barfuß, ihr Zopf hing schief und sie hielt sich ein Taschentuch unter die Nase, auf dem bereits Blutflecken sichtbar waren. Libby ballte die Hände zu Fäusten, als sie das sah, und drängte an Miguel vorbei, um auch ein wenig Präsenz zu zeigen.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, richtete sie sich direkt an die Frau.

„Geht schon“, erwiderte Cassidy dumpf.

„Wir bringen Sie ins Krankenhaus“, sagte Miguel.

„Nein, ich will nicht ins Krankenhaus.“

„Erstatten Sie wenigstens Anzeige.“

„Nein.“ Cassidy schüttelte weiterhin den Kopf.

„Mrs. Maxwell.“ Libby machte einen Schritt nach vorn, woraufhin Luke sofort zu toben begann.

„Sie dürfen mein Haus nicht einfach betreten! Es gibt doch hier gar kein Problem, oder, Cassidy?“

„Nein“, pflichtete sie ihm bei. Sie wirkte emotionslos auf Libby, was sicherlich nur gespielt war.

„Mrs. Maxwell, lassen Sie sich doch helfen“, versuchte Libby es erneut.

„Meine Frau braucht keine Hilfe! Wir hatten nur eine Meinungsverschiedenheit und sie bekommt bei Stress immer Nasenbluten. Ist doch so, oder?“

Cassidy nickte. Libby hätte Luke den Hals umdrehen mögen und sie sah Miguel an, dass es ihm nicht anders ging.

„Verlassen Sie jetzt sofort mein Haus“, setzte Luke nach.

Miguel sog scharf die Luft ein. „Wir müssen so lange wiederkommen, wie Sie das hier nicht in den Griff kriegen.“

„Es geht Sie überhaupt nichts an, wie ich mit meiner Frau streite!“

„Wenn Sie dabei das Gesetz brechen, geht es uns etwas an“, sagte Libby. „Schönen Abend noch.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zurück zum Streifenwagen. Miguel folgte ihr. Luke Maxwell warf die Haustür krachend ins Schloss. Libby blickte noch einmal über die Schulter zurück und setzte sich nur widerstrebend ins Auto. Miguel ging es kaum anders. Er startete den Motor erst nach einem Augenblick, wendete den Wagen und fuhr langsam die Straße entlang.

„Das ist so ätzend. Ich will diesen Kerl endlich festnehmen und in den Knast stecken, wo er hingehört.“

„Frag mich mal. Nur leider können wir nichts tun, wenn sie ihn nicht anzeigt. Nasenbluten durch Stress …“ Libby schnaubte verächtlich.

„Ich verstehe nicht, wieso sie ihn deckt. Wieso lässt sie sich so behandeln?“

Nach einem tiefen Seufzer sagte Libby: „Du würdest dich wundern, was Frauen sich alles bieten lassen.“

„Würdest du das tun?“

„Nein.“ Und sie wusste, wovon sie redete, denn sie war mit der Unterdrückung von Frauen aufgewachsen und hatte ihre leibliche Mutter verloren, als ihr Mann ihr den Schädel eingeschlagen hatte.

Deshalb belastete es sie auch so, dass Cassidy Maxwell ihre Hilfe nicht annehmen wollte. Libby hatte Angst um das Leben dieser Frau, aber Cassidy wollte nicht auf sie hören und ihr waren die Hände gebunden.

Den Frust darüber musste sie herunterschlucken. Sie konnte niemanden zwingen, sich helfen zu lassen. Es war ihr ein völliges Rätsel, warum Cassidy ihren Mann schützte, aber die Entscheidung lag bei ihr.

Trotzdem beschäftigte das alles sie noch bis zum Ende ihrer Schicht um Mitternacht. Sie brachten noch zwei weitere Betrunkene ins Krankenhaus oder auf die Wache, diesmal jedoch zum Glück ohne irgendwelche Hinterlassenschaften im Auto, und sie schafften es, eine aufkommende Prügelei im Keim zu ersticken, weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Das freute Libby, doch in Gedanken war sie immer wieder bei Cassidy.

Etwa um zwanzig Minuten nach Mitternacht legte Libby ihre kugelsichere Weste ab, schälte sich aus der Uniform und zog sich um. Ihre Dienstwaffe nahm sie mit nach Hause – sie durfte es, deshalb gab es da für sie gar keine Diskussion.

Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr das kurze Stück bis zu der winzigen Wohnung in Luna Park, die sie seit dem Studium mit ihrem Freund Kieran bewohnte. Nachdem sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt hatte, betrat sie das Apartmenthaus, ging in die zweite Etage und schloss die Wohnungstür auf. Es überraschte sie nicht, dass noch Licht im Wohnzimmer war. Kieran saß vor seinem Computer, trug Kopfhörer und war völlig in die neueste Episode von Grand Theft Auto vertieft. Er sprach in ein Mikrofon und Libby vermutete, dass er sich in Teamspeak mit Ryan unterhielt, mit dem er seit dem Studium befreundet war. Beide hatten ähnliche Interessen und spielten oft Computerspiele zusammen.

Noch hatte Kieran Libby gar nicht bemerkt, was ihr recht war. Sie zog ihre Schuhe aus, nahm das Magazin aus ihrer Waffe und legte beides voneinander getrennt in die kleine Schatulle mit Zahlenschloss. Die Schatulle hob sie in ihrer Nachttischschublade auf.

Als sie das erledigt hatte, ging sie wieder ins Wohnzimmer und legte von hinten die Arme um Kieran. Sie vergrub ihr Gesicht in seinen dunklen Haaren und strich mit den Händen über seine Brust. Kieran legte den Kopf in den Nacken und lächelte, als er sie ansah.

„Da bist du ja“, sagte er und drückte eine Taste auf der Tastatur. „Sekunde, Ryan, Libby ist gerade nach Hause gekommen.“

Er zog sich die Kopfhörer ab und stand auf, um Libby mit einer Umarmung und einem Kuss zu begrüßen. „Du siehst müde aus. Wie war es?“

„Uns hat schon wieder einer ins Auto gekotzt.“

„Klar, an Halloween ist das nicht besonders überraschend.“

„Das war vielleicht eklig.“

„Glaube ich dir“, erwiderte Kieran grinsend. „Hätte nicht gedacht, dass du so pünktlich kommst.“

„Ich auch nicht, aber es war trotzdem genug zu tun. Schon wieder ein Einsatz bei dem Kerl, der seine Frau verprügelt.“

„Und sie zeigt ihn einfach nicht an?“

Libby schüttelte frustriert den Kopf. „Sie steht daneben, während er uns anlügt, und deckt ihn.“

„Unfassbar.“

„Das hasse ich so an dem Job.“

„Kann ich verstehen. Bist du müde?“

„Schon, ja, aber ich muss erst mal runterkommen. Ich glaube, ich gehe erst mal duschen, dann kannst du noch mit Ryan fertig machen, was ihr da macht.“

„Ach, wir klauen bloß Autos und fahren Rennen damit.“

„Na dann“, sagte Libby und lachte, während sie ins Badezimmer ging.

 

 

Sonntag, 1. November

 

Dafür, dass sie an Halloween die dritte Schicht übernommen hatte, hatte Libby am Folgetag frei. Sie schlief fast bis zehn, was für ihre Verhältnisse lang war, aber durch den Schichtdienst hatte sich ihr Schlafrhythmus ohnehin verschoben. Erst jetzt hatte sie langsam wieder das Gefühl, nicht ununterbrochen müde zu sein, was gut war, weil der Job sie wirklich forderte.

Es gab Tage, an denen fuhr sie nur mit Miguel herum und wartete auf Arbeit und dann gab es Schichten wie die am Vorabend, in denen sie pausenlos zu tun hatten. Eigentlich mochte sie das aber lieber.

Als sie aufwachte, griff sie nach ihrem Handy und surfte ein wenig im Internet. Davon erwachte auch Kieran, der sie verschlafen mit seinen grünen Augen ansah und lächelte.

„Gut geschlafen?“, fragte er.

„Ja, schon. Ausschlafen tut so gut.“

„Glaube ich dir. Der Schichtdienst macht einen ja fertig.“

„Stimmt, aber das wusste ich vorher. Ich ziehe das jetzt durch.“

„Das hatte ich auch nicht anders erwartet.“

Die beiden lächelten einander an und faulenzten noch ein wenig im Bett, bevor sie aufstanden und sich gemeinsam Frühstück machten.

„Wollen wir heute noch mal nach Wohnungen suchen?“, schlug Kieran während des Frühstücks vor.

„Ja, gute Idee. Die hier wird langsam wirklich zu klein. Ich hoffe nur, wir finden bald eine, damit es sich noch lohnt.“

Kieran erwiderte nichts. Libby wusste auch nicht, was sie noch weiter dazu sagen sollte. Er war nicht besonders glücklich mit ihrem Wunsch, sich beim FBI zu bewerben und nach Quantico zu gehen, wenn sie erst einmal die geforderte Berufserfahrung von zwei Jahren gesammelt hatte. Das hatte er ihr gesagt und sie verstand es auch, aber dennoch wollte sie sich nicht davon abbringen lassen. Sie wollte unbedingt Profilerin werden, sie war fest entschlossen. Im Department wurde sie dafür belächelt, aber dort wusste auch niemand, dass sie wirklich gute Gründe dafür hatte, das zu wollen.

Kieran war der Bodenständigere von beiden. Sie hatten einander auf der High School in Pleasanton kennengelernt und sich bald ineinander verliebt. Nach ihrem Abschluss waren sie gemeinsam an die San José State University gegangen, wo Kieran Luft- und Raumfahrtwissenschaften studiert und Libby zunächst ein Studium der Erziehungswissenschaften begonnen hatte. Allerdings hatten mehrere Ereignisse während des ersten Semesters dazu geführt, dass sie sich bald umentschieden und beschlossen hatte, Verhaltensforschung und Psychologie zu studieren.

Im Winter hatte sie ihren Abschluss gemacht, sich so schnell wie möglich bei der Polizei beworben und sich entschlossen und motiviert durch die Academy gekämpft. Im Department hatte sie jetzt schon den Ruf, ein ziemlich unkonventioneller  Dickkopf zu sein. Der pflichtbewusste Miguel versuchte stets, Libby an die Regeln und Vorschriften zu erinnern, was sie manchmal gehörig nervte. Dagegen beschrieb Kieran, der als Luftfahrtingenieur am nahen Flughafen in San José arbeitete, seinen Job als nahezu langweilig.

Nach dem Frühstück setzten die beiden sich gemeinsam an Kierans Computer und hielten in zahllosen Inseraten Ausschau nach einer neuen Wohnung. Dadurch, dass sie nun beide ihren ersten Job angetreten hatten, konnten sie sich etwas Größeres leisten als den kleinen Schuhkarton, wie Libby ihre Studentenbude immer nannte. Es war allerdings nichts dabei, was beiden wirklich zugesagt hätte. Viele Wohnungen in der Bay Area waren maßlos überteuert, aber beide hatten aktuell kurze Wege zur Arbeit, was sie eigentlich nicht aufgeben wollten.

„Was willst du jetzt machen?“, erkundigte Kieran sich schließlich bei seiner Freundin.

„Ich weiß nicht … Gar nichts eigentlich. Ich bin ziemlich faul heute. Und du?“

„Geht mir auch so. Ryan hat gefragt, ob ich da bin.“

Plötzlich hatte Libby eine Idee. „Weißt du was? Spiel du ruhig ein bisschen GTA mit Ryan und ich fahre nach Pleasanton zu meiner Familie.“

„Okay. Wenn du willst“, sagte Kieran achselzuckend. Libbys Verhältnis zu ihrer Adoptivfamilie war unverändert eng, sie war oft in Pleasanton und Kieran begleitete sie nicht immer dorthin, was sie aber auch nicht von ihm erwartete.

„Ich frag mal, ob sie da sind“, sagte Libby und schrieb ihrer Mutter eine kurze Nachricht. Wenig später erhielt sie Antwort und erfuhr, dass alle zu Hause waren und sich auf ihren Besuch freuten.

„Ich fahre dann mal“, sagte Libby, während Kieran sich schon an seinen Rechner verzog.

„Okay. Grüß alle schön“, bat er und verabschiedete seine Freundin mit einem Kuss. „Bringst du auf dem Rückweg was vom Thai mit?“

„Kann ich machen. Wie immer?“

„Das wäre grandios. Ich liebe dich.“

„Ich dich auch“, erwiderte Libby und verschwand mit einem Lächeln im winzigen Hausflur. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, zog eine Jacke über und verließ das Haus.

Die Auffahrt zum Freeway lag nur einen Steinwurf von ihrem Apartment entfernt. Gut gelaunt fuhr Libby nach Norden und pfiff die Musik aus dem Radio mit. Erst verlief die Interstate durch dicht besiedeltes Gebiet, bevor sie durch die Berge führte und schließlich auf Pleasanton zulief. Manchmal vermisste Libby ihr Zuhause, aber zum Glück war es ja nicht weit.

Eine halbe Stunde später hielt sie vor dem Vorgarten ihres Elternhauses am Straßenrand. Hier hatte sie immer gern gewohnt – lieber als in Los Angeles, wo sie die ersten Jahre mit ihrer Familie verbracht hatte.

Voller Vorfreude ging sie zur Haustür und klingelte, bevor sie die Tür aufschloss und ins Haus ging. Sie hatte immer noch einen Schlüssel, was für sie eine besondere Verbundenheit und Zugehörigkeit demonstrierte.

„Da bist du ja schon.“ Im Flur kam Libby ihre Adoptivmutter Sadie entgegen, die sie fest, aber gleichzeitig liebevoll umarmte. An diesem Tag trug sie ihr langes, feuerrotes Haar offen. Das war ihr Erkennungsmerkmal und sie wäre nie auf die Idee gekommen, eine andere Haarfarbe tragen zu wollen.

„Hey“, sagte Libby und schenkte Sadie ein Lächeln. „Ich habe heute frei und dachte, ich komme mal vorbei.“

„Das ist eine tolle Idee“, sagte Sadie, während sich eine kleine Gestalt an ihr vorbeimogelte und zu Libby huschte.

„Libby!“, rief Hayley fröhlich und umarmte ihre große Schwester. Libby drückte die Neunjährige an sich und strich ihr über das lange blonde Haar. Im Gesicht geriet Hayley nach ihrer Mutter, aber in der Haarfarbe eher nach ihrem Vater.

„Na, wie geht’s?“, begrüßte Libby das Mädchen.

„Es ist toll, dass du da bist! Willst du sehen, was ich gemalt habe?“

„Klar.“ Libby ließ sich von Hayley ins Wohnzimmer ziehen. Auf dem Esstisch hatte Hayley unzählige Buntstifte ausgebreitet und war dabei, ein Bild von einer Katze zu malen.

„Das ist Figaro“, sagte sie und Libby nickte wissend. Der Familienkater war leider vor etwas über einem Jahr verstorben, aber seine samtpfötige Gefährtin Mittens hatte wenig später Verstärkung von einem neuen Kätzchen namens Cookie erhalten. Libby kannte die Whitmans nicht ohne Katzen und konnte sich das Haus auch gar nicht anders vorstellen.

„Hallo“, vernahm Libby in dem Moment die Stimme ihres Vaters und drehte sich um.

„Matt.“ Sie umarmte ihn herzlich und musterte ihn kurz. Anders als die jüngere Sadie hätte Matt tatsächlich auch ihr leiblicher Vater sein können. Inzwischen hatte er die ersten grauen Haare, die aber in seinem dunkelblonden Haar kaum ins Auge fielen. Er war groß und seiner muskulösen Statur war anzusehen, dass er viele Jahre bei der Polizei und beim FBI gearbeitet und sich fit gehalten hatte. Genau wie Sadie war er Libbys großes Vorbild.

„Wie geht es euch?“, fragte Libby. Sadie holte ihnen Getränke aus der Küche, bevor sie sich zusammen aufs Sofa setzten. Hayley nahm wieder am Tisch Platz und fuhr mit dem Malen fort.

„Ganz gut soweit“, sagte Matt. „Vor Weihnachten habe ich immer alle Hände voll zu tun, aber das ist ja gut. Plötzlich fällt den Leuten ein, dass sie unbedingt noch irgendwelche Fotos brauchen – ist immer dasselbe.“

Libby grinste. „Als würdest du dich über eine gute Auftragslage beschweren.“

„Niemals“, erwiderte Matt belustigt. Er arbeitete nun schon seit einigen Jahren als freiberuflicher Fotograf und das sehr erfolgreich. Die Hauptverdienerin in der Familie war jedoch immer noch Sadie, die als Dozentin an der University of California in San Francisco Psychologie und Kriminologie lehrte. Als ehemalige FBI-Profilerin brachte sie auch alle notwendigen Voraussetzungen dafür mit. Libby war ihrer Adoptivmutter wahnsinnig ähnlich, wie ihr irgendwann einmal bewusst geworden war, und deshalb war es nur folgerichtig für sie, dass sie in Sadies berufliche Fußstapfen treten wollte.

Sie hatte Sadie vor zehn Jahren als Profilerin kennengelernt. Zusammen mit Matt hatte Sadie sich um sie gekümmert, als ihre Mutter getötet worden war und ein Jahr später hatten die beiden die damals fünfzehnjährige Libby adoptiert – ungeachtet der Tatsache, dass Monate zuvor ihre Tochter Hayley geboren worden war. Libby hatte Hayley immer als ihre kleine Schwester gesehen und liebte sie sehr. Sie verdankte der Familie Whitman einiges und hatte immer noch ein enges Verhältnis zu ihnen.

„Wie läuft es bei der Arbeit?“, erkundigte Matt sich bei Libby.

„Ich hatte gestern die dritte Schicht.“

„Und das, wenn Halloween auf einen Samstag fällt? Wie oft hat man euch in den Streifenwagen gekotzt?“

Libby lachte laut. „Du bist so mitfühlend, Matt. Nur einmal.“

„Nur einmal? Das geht doch noch!“

„Das ist wahr“, sagte Sadie.

„Das ging überhaupt nicht. Es war furchtbar.“

„Als Polizist erlebt man so einiges, das weiß niemand besser als ich.“

„Aber Modesto ist viel kleiner als San José!“

„Das heißt erst mal nicht viel“, sagte Matt, der mehr als zehn Jahre lang als Officer beim Modesto PD gearbeitet und als Polizeifotograf Tatortfotos geschossen hatte. Da hatte er schon die furchtbarsten Dinge vor die Linse bekommen, wie er nicht ganz ohne einen gewissen Hang zur sehr bildlichen Dramatik erzählt hatte. Halb verweste Leichen, Blut, Körperteile. Er war da abgehärtet.

„Und wie läuft es mit Miguel?“, fragte Sadie.

„Ach, geht schon. Er gibt immer den erfahrenen Lehrer und möchte mir vermitteln, wie wichtig die Vorschriften sind.“

„Sind sie“, sagte Matt. „Du solltest dir an uns kein Beispiel nehmen, wir sind da nicht so ruhmreich …“

„Aber manchmal geht es einfach nicht! Diese eine Sache regt mich so wahnsinnig auf.“

„Was denn?“, fragte Sadie mitfühlend.

„Ein Kerl, der dauernd seine Frau verprügelt. Das habe ich doch schon erzählt. Allein Miguel und ich waren, seit ich bei der Polizei bin, bestimmt schon sechs Mal dort. Sie musste letztens mit einem Armbruch ins Krankenhaus. Gestern hatte sie Nasenbluten und als er meinte, dass sie nur Streit hatten und sie Nasenbluten vom Stress bekommt, hat sie zugestimmt.“

Matt seufzte. „So etwas habe ich auch erlebt.“

„Das kennt jeder Polizist“, sagte Sadie und beugte sich vor zu Libby. „Hört sie nicht auf euch?“

„Nein, kein bisschen. Sie nimmt ihn immer in Schutz. Ich habe ihr schon so viele Infos und Tipps gegeben, sie hat meine Karte, einfach alles. Aber trotzdem rufen immer wieder die Nachbarn an, wenn der Kerl seine Frau verprügelt und mir sind die Hände gebunden, weil sie ihn nicht anzeigen will.“

„Aus persönlicher Erfahrung heraus kann ich dir sagen, dass es für eine Frau eigentlich immer schwieriger wird, sich noch zu wehren, je schlimmer es wird“, sagte Sadie.

Libby erwiderte ihren Blick ernst. „Klar, du hast das zu Hause erlebt.“

„Je schlimmer mein Vater meine Mutter verprügelt hat, desto mehr Angst hatte sie vor ihm. Das wird hier ähnlich sein. Meine Mutter konnte sich nicht davon befreien, ganz gleich, was er ihr oder uns angetan hat. Die Frauen sind wie in einer Schockstarre. War der Mann im Haus, als du mit ihr gesprochen hast?“

„Ja, das war bei einem der Einsätze, als wir gerufen wurden.“

„Du könntest mal versuchen, sie abzupassen, wenn sie allein zu Hause ist. Sie muss verstehen, dass ihr Mann damit nicht aufhören wird, ganz gleich, wie sehr er Besserung gelobt. Er wird nicht aufhören, es wird nur noch schlimmer. Das könnte tödlich enden. Der eigene Lebenspartner stellt für Frauen dieser Altersgruppe das höchste Risiko dar, was gewaltsame Übergriffe und Tötungsdelikte angeht.“

Libby nickte ernst. „Ich weiß. Ich kann mir das einfach nicht länger ansehen.“

„Dann fahr mal dorthin, wenn der Mann nicht zu Hause ist, und sprich allein mit der Frau. Ganz allein, ohne Miguel. Stell eine persönliche Beziehung her. Das kannst du bestimmt.“

„Hoffentlich“, murmelte Libby und seufzte.

„Pack es zur Not auf die persönliche Schiene. Das habe ich auch schon getan. Man neigt ja dazu, die Frauen in Schutz nehmen zu wollen, aber das hilft leider gar nicht.“

„Ich weiß … mal sehen. Versuchen will ich es auf jeden Fall.“

„Ich finde es toll, mit wie viel Herzblut du das machst“, sagte Matt.

„Natürlich, als Polizist trägt man doch Verantwortung. Ich will diese Erfahrung ja auch sammeln. Ich mache das nicht bloß, weil das FBI es verlangt.“

„Das habe ich auch nie“, stimmte Sadie ihr zu.

„Du sowieso nicht“, murmelte Libby und blickte auf die gegenüberliegende Wand, an der die Fotos der Familie hingen. In der Mitte hing eine große Aufnahme, die Sadie und Matt vor über zehn Jahren zeigte. Beide standen stolz nebeneinander, Arm in Arm und mit ihren FBI-Dienstmarken in der Hand. Es hing immer noch im Wohnzimmer, auch wenn diese Episode längst vorüber war. Was nicht im Wohnzimmer hing, waren die Ehrenabzeichen, die man beiden nach ihrem Ausscheiden verliehen hatte, denn das wäre ihnen wie Angeberei erschienen.

Matt erkundigte sich nach Kieran und Libby fragte nach dem Rest der Familie im eine Autostunde entfernten Waterford, einem kleinen Nest im Hinterland jenseits von Modesto. Es freute sie, zu hören, dass es allen gut ging.

Wenig später erschien eine Katze im Wohnzimmer. Es war Cookie, die kleine weiße Katze mit den großen schwarzen Flecken. Die ältere und größere Mittens folgte ihr und beide nahmen Kurs auf Libby, um an ihr zu schnuppern und sie schnurrend zu umrunden. Libby streichelte die beiden und überlegte wieder einmal, dass sie auch gern Katzen gehabt hätte. Aber sollte sie sich jetzt welche anschaffen, wo sie doch in zwei Jahren nach Quantico wollte?

Wenn das FBI sie denn nahm. Zwar hatte Sadies früherer Chef Nick Dormer ihr da die größten Hoffnungen gemacht, aber sie wollte sich nicht darauf verlassen. Sie wusste, dass ihr Name ihr vorauseilte, denn den Namen Whitman kannte man beim FBI. Allerdings war es nicht so ihr Ding, sich mit fremden Lorbeeren zu schmücken. Sie wollte sich das selbst erarbeiten.

Sie unterhielt sich eine ganze Weile mit Sadie und Matt und beschäftigte sich auch mit Hayley, die sie liebte wie eine eigene Schwester. Zumindest glaubte sie das, denn Libby hatte nie eine leibliche Schwester gehabt.

„Möchtest du noch bei uns mitessen?“, fragte Matt schließlich, als es auf den Abend zuging und sie kochen wollten.

„Nein, ich wollte wieder nach Hause. Kieran hatte vorgeschlagen, etwas beim Thailänder zu holen.“

„Iiih“, machte Hayley entsetzt, die nicht viel von scharfem Essen hielt.

„Klingt doch auch lecker“, fand Matt, ohne auf den Kommentar seiner Tochter einzugehen.

„Ich lasse euch dann mal kochen“, sagte Libby und umarmte Matt zum Abschied. „Es ist immer schön, hier zu sein.“

„Wir haben dich auch sehr gern hier“, erwiderte Sadie. „Komm, ich bringe dich noch zur Tür.“

Hayley umarmte Libby ebenfalls noch stürmisch, bevor sie mit Matt in die Küche ging. Sadie und Libby gingen zur Tür, wo Sadie ihre Tochter stolz in die Arme schloss und sie schließlich von Kopf bis Fuß musterte.

„Du wirst das schon schaffen“, sagte sie. „Erzähl mir mal, was draus geworden ist.“

„Sicher, das mache ich“, versprach Libby und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Danke für die Unterstützung.“

„Die ist dir sicher, egal wobei. Das weißt du.“

Dankbar umarmte Libby Sadie, bevor sie zum Auto ging. Sie schaute noch einmal zurück, bevor sie losfuhr und sich auf den Weg zur Interstate machte.

Dass Special Agent Sadie Whitman sich damals ihrer angenommen hatte, als sie verstört auf der Flucht vor ihrem Vater und ihrem Onkel gewesen war, war das bislang größte Glück in ihrem Leben, denn es hatte ihr ein Leben mit allen Chancen eröffnet. Sie hätte die beiden nicht mehr lieben können, wären sie ihre leiblichen Eltern gewesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Montag, 2. November

 

Um zwanzig vor acht parkte Libby auf dem Mitarbeiterparkplatz des San José PD und machte sich auf den Weg ins Gebäude. Die Kollegen grüßten mit einem Nicken, das Libby gern erwiderte. Als Neuling versuchte sie, sich gut mit jedem zu stellen.

In der Umkleide herrschte nicht viel Betrieb, als sie hineinkam und zu ihrem Spind ging. Sie zog Pullover und Jeans aus und schlüpfte in ihre Uniform. Eine Kollegin wünschte ihr einen guten Morgen. Hinter einigen Spindreihen konnten sie das Gespräch mehrerer männlicher Kollegen belauschen.

Als sie sich umgezogen und ihre Dienstwaffe sicher am Gürtel befestigt hatte, verließ Libby die Umkleide und wäre dabei fast in Miguel gerannt, der gerade atemlos hineinstürmte.

„Guten Morgen“, begrüßte Libby ihn grinsend.

„Fast verschlafen“, erwiderte Miguel und zog sich bereits halb aus.

„Ich sichere uns schon mal einen guten Wagen.“

„Klasse. Bis gleich.“

Libby kümmerte sich auch zuerst um den Streifenwagen, bevor sie sich eine kugelsichere Weste besorgte. Im Ausrüstungsraum lagen in einer Ecke einige kleinere und leichtere kugelsichere Westen für die Frauen. Viele waren es nicht, denn nur etwas mehr als zehn Prozent der Mitarbeiter des San José PD waren weiblich. Schon in der Academy hatte Libby sich wie der bunte Hund gefühlt und festgestellt, dass ihre männlichen Kollegen sie nicht nur nicht schonten, sondern im Gegenteil besonders gern aufs Korn nahmen.

Sie wusste inzwischen, dass man alle gestellten Aufgaben als Frau besonders gut lösen musste, wenn man von den männlichen Kollegen ernst genommen werden wollte – und man durfte nicht zimperlich sein. Eigene Umkleiden? Gab es an der Academy genau so wenig wie hinterher im Department, weshalb sie gelernt hatte, immer irgendwelche langen Unterhemden zu tragen, mit denen sie sich nicht so nackt fühlte. Für eine separate Umkleide gab es weder Platz noch Geld.

Zwar hatten die Frauen immerhin ihre eigene Ecke im Umkleideraum, aber die Kollegen starrten trotzdem und sie fing sich regelmäßig irgendwelche Sprüche über ihr Äußeres. Da kam es ihr gelegen, dass sie schlagfertig und überhaupt nicht empfindlich war.

Während sie ihre kugelsichere Weste überzog, tauchte Miguel in seiner Uniform auf und half ihr dabei, die Klettverschlüsse zu schließen. Umgekehrt ging Libby ihm dabei zur Hand, die Weste anzuziehen und hielt ihm schließlich den Schlüssel für ihren Streifenwagen vor die Nase.

„Hat auch einen USB-Anschluss“, sagte sie.

„Perfekt“, sagte Miguel. Sie meldeten sich offiziell für den Dienst, gingen hinaus auf den Parkplatz und hielten Ausschau nach dem Dienstwagen. Es war ein neuerer Dodge Charger und keiner der älteren Ford Crown Victoria, die ihre besten Tage längst hinter sich hatten.

Wie immer fuhr Miguel. Er schloss sein Handy an und einigte sich mit Libby auf die Musik. Mit Rockmusik waren beide glücklich, deshalb dudelte sie leise im Hintergrund. Sie war nie so laut eingestellt, dass sie das Funkgerät übertönt hätte.

Es war ein sonniger Morgen. Sie fuhren ohne bestimmtes Ziel herum und behielten einfach alles im Auge. Auch tagsüber wurde in Wohngebieten eingebrochen, deshalb hielten sie Ausschau nach verdächtigen Aktivitäten. Außerdem behielten sie immer den Verkehr im Blick und patrouillierten auch rund um Schulen und Kindergärten.

Es war nicht Libbys bevorzugte Schicht, auch wenn sie die mit den normalsten Arbeitszeiten war. Allerdings passierte tagsüber selten etwas Spannenderes als die Schlichtung von Nachbarschaftsstreits, die Aufnahme von Verkehrsunfällen oder die Festnahme von Ladendieben. Tatsächlich hatte Libby es spannender gefunden, am Samstag die Betrunkenen in der Bar außer Gefecht zu setzen.

Sie folgten der 1st Street in Richtung Ryland, als Libby kurz entschlossen sagte: „Was dagegen, wenn wir kurz zu den Maxwells fahren?“

Miguel legte fragend die Stirn in Falten. „Was, der Prügelknabe von Samstag?“

„Genau der. Ich meine, ich will nicht zu ihm, sondern zu seiner Frau. Vielleicht redet sie mit mir, wenn er nicht dort ist.“

Trotz ihrer Erklärung veränderte Miguels Gesichtsausdruck sich nicht im Geringsten. „Das ist doch gar nicht unser Job.“

„Offiziell vielleicht nicht, aber waren wir jemals bei ihr, ohne dass der Mann anwesend war? Waren wir nicht, und warum? Weil wir ja immer erst dann gerufen werden, wenn die Hütte brennt. Vielleicht erreiche ich ja was bei ihr, wenn ich mit ihr allein rede, so von Frau zu Frau …“

„Ganz allein? Ohne mich?“

Libby musterte ihn kurz. „Du siehst nicht aus wie eine Frau.“

Miguel seufzte gequält. „Libby, ehrlich … Es ist ja schön, dass du so engagiert bist, aber unser Job ist es gerade, hier Streife zu fahren und nicht, mit verprügelten Ehefrauen zu reden. Das bringt sowieso nichts, höchstens dich in Teufels Küche.“

„Wieso? Lass es mich doch wenigstens versuchen! Vielleicht zeigt sie ihn dann endlich an und wir müssen nicht dauernd hinfahren, um ihn zu tadeln und unverrichteter Dinge wieder zu gehen.“

Miguel überlegte kurz und knurrte: „Schön, meinetwegen. Vielleicht hast du ja Recht und das bringt was.“

„Klasse.“ Libby freute sich und musterte sich noch einmal kurz in dem kleinen Spiegel an der Sonnenblende. Ja, sie sah nicht zu einschüchternd aus. Das wäre nicht gut gewesen.

Miguel bog in die Clayton Avenue ab und fuhr langsam bis zum Haus der Maxwells.

„Was für ein Auto fährt Luke Maxwell?“, überlegte Libby.

„Keine Ahnung, ich glaube, da steht immer so ein halb verrosteter alter Ford in der Einfahrt. Jetzt ist er jedenfalls nicht da.“

Er hatte Recht, die Einfahrt war leer.

---ENDE DER LESEPROBE---