Brennen soll Amerika - Dania Dicken - E-Book

Brennen soll Amerika E-Book

Dania Dicken

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vor der Union Station in Washington, D.C. wird eine investigative Journalistin durch eine Autobombe getötet. Als wenige Tage später auch ein CIA-Mitarbeiter durch eine Bombe den Tod findet, versucht FBI-Profilerin Libby ihrem Mann Owen und den ermittelnden Kollegen von der Polizei bei der Suche nach dem Motiv zu helfen. Weil keine Verbindung zwischen den Opfern zu existieren scheint, entwickeln Libby und ihre Kollegin Julie die Theorie, dass es gar nicht um die beiden Opfer ging, sondern um etwas viel Größeres. Eine Vermutung, die traurige Wahrheit wird, als ein weiterer Anschlag die amerikanische Hauptstadt erschüttert und Libbys Befürchtung bestätigt, dass die Terroristen gerade erst begonnen haben ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Prolog
Montag, 23. Mai
Dienstag, 24. Mai
Mittwoch, 25. Mai
Donnerstag, 26. Mai
Freitag, 27. Mai
Dienstag, 31. Mai
Mittwoch, 1. Juni
Donnerstag, 2. Juni
Freitag, 3. Juni
Samstag, 4. Juni
Montag, 6. Juni
Dienstag, 7. Juni
Mittwoch, 8. Juni
Nachbemerkung
Impressum

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Brennen soll Amerika

 

Libby Whitman 10

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlagt die Heiden, wo ihr sie findet, und packt und belagert sie und lauert ihnen überall auf.

 

Aus dem fünften Vers der neunten Sure des Korans

 

 

Prolog

 

Ein frischer Wind wehte über den Vorplatz des Kapitols. Touristengruppen posierten in strahlendem Sonnenschein vor dem weltbekannten Kongressgebäude, eines der Wahrzeichen der amerikanischen Hauptstadt. Ein Junge mit Rucksack, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, balancierte lachend über die Begrenzung eines der beiden weitläufigen, flachen Brunnenbecken, lautstark angefeuert von seinen Freunden. Kopfschüttelnd kam ein Police Officer näher und rief dem Jungen streng zu, das zu unterlassen, woraufhin der Junge heruntersprang und weglief. Andere Besucher beobachteten das Treiben, ebenso wie die Sanitäter, die ganz in der Nähe neben ihrem Krankenwagen in der Sonne standen und frühstückten.

Der Wind fuhr rauschend durch die Wipfel der nahen Bäume, eine Schulklasse posierte auf den Treppen des Kapitols. Der Polizist kehrte zu seinem Kollegen und den Sanitätern zurück, ließ das Treiben in den Capitol Grounds jedoch nicht aus den Augen. Touristen machten Fotos fürs Familienalbum, eine Mädchengruppe ließ sich filmen.

Die Polizisten wurden aufmerksam, als eine schwarze Limousine sich langsam von Norden über die Delaware Avenue näherte, einer von beiden sprach in sein Funkgerät. Angespannt ließen sie ihre Blicke über den Platz schweifen, während die Limousine die Treppen am Eingang fast erreicht hatte und weiterhin langsamer wurde.

Aber weder der Officer noch sein Kollege bemerkten den jungen Mann hinter der Mädchengruppe, der auf sein Handy starrte und dabei die Limousine nicht aus den Augen ließ. Niemand sah es kommen, als er auf das Display seines Handys tippte und sich die Limousine im gleichen Augenblick in einen Feuerball verwandelte.

 

 

 

Montag, 23. Mai

 

Sofort stellte sich ein vertrautes Gefühl ein, als Libby die Tür zum Büro der BAU aufstieß. Kaffeeduft stieg ihr in die Nase, leises Gemurmel erfüllte die Luft. Mit einer Tasse in der Hand kam Ian aus der Teeküche und blieb stehen, als er sie sah.

„Hey, unsere Urlauberin ist wieder da“, begrüßte er Libby mit einem Lächeln, das sie gleich erwiderte.

„Schön, dich zu sehen, Ian.“

„Du siehst gut aus. Wie geht es dir? Wie war der Urlaub?“

„Fantastisch“, erwiderte Libby.

„Wo wart ihr noch mal überall?“

„Wir sind nach Las Vegas geflogen und von dort aus nach Utah gefahren. Da gibt es ja einige wunderschöne Nationalparks. Anschließend sind wir über Arizona und Nevada rüber nach Kalifornien, vom Death Valley aus über den Tioga Pass in den Yosemite Nationalpark – und dann noch zu meiner Familie.“

„Klingt absolut toll.“

„Das war es auch. Wir hatten Glück, dass der Pass schon offen war, sonst hätte das nicht ohne Weiteres funktioniert.“

„Kann ich mir vorstellen. Das war jetzt eure Hochzeitsreise, oder?“

Libby nickte. „Letztes Jahr sind wir nicht dazu gekommen. Wir hatten sie zwar für den Herbst geplant, aber noch nichts gebucht und Bailey hatte ja auch etwas dagegen, dass wir es tun.“

Ian nickte verstehend, sagte aber nichts. An ihrem Schreibtisch angekommen, setzte Libby sich und fuhr ihren Rechner hoch, während Ian weiter zu seinem Schreibtisch ging. Nun begrüßte Libby auch die anderen Kollegen und plauderte ein wenig mit ihnen, bis Julie etwas abgehetzt im Büro erschien und mit einem breiten Grinsen zu Libby lief.

„Da bist du ja wieder!“ Freudestrahlend fiel sie ihrer besten Freundin um den Hals und drückte Libby so fest, dass ihr kurz die Luft wegblieb.

„Hey, du tust ja so, als wäre ich jahrelang weg gewesen“, sagte Libby überrumpelt.

„Kam mir auch so vor. Liegt aber vielleicht daran, dass ich ja auch im Urlaub war.“

Libby nickte zustimmend. Julie hatte sich direkt vor ihr Urlaub genommen, deshalb hatten sie sich drei Wochen lang nicht gesehen.

„Wie war es denn?“, erkundigte sie sich.

„Schön, aber wie immer viel zu kurz. Ich muss mich noch dran gewöhnen, mit wie wenig Urlaub ihr Amerikaner auskommt.“

Libby zuckte mit den Schultern. „War schon immer so. Überhaupt, was hießt hier ihr Amerikaner? Du bist jetzt auch Amerikanerin.“

„Ja, ich weiß. So meine ich das nicht.“

„Schon klar. Wie hat es Kyle denn gefallen?“

„Gut … auch wenn ich nicht weiß, ob er noch mal mit meinen Eltern verreisen wird!“ Julie lachte.

„So schlimm?“

„Mein Dad ist besessen davon, alles zu fotografieren, und meine Mum kann sich nie entscheiden. Ich kenne das ja, aber für ihn war das etwas anstrengend.“

Libby grinste wissend. Julie und Kyle waren nach England geflogen und hatten dort eine einwöchige Rundreise mit Julies Eltern unternommen. Sie hatten Stonehenge und Cornwall besucht, waren in Julies alte Heimat in East Anglia gereist und bis hoch nach York in Nordengland. Libby wusste, dass Julies Vater eine ähnliche Leidenschaft fürs Fotografieren hegte wie Matt und als unentschlossen kannte sie Julies Mutter eigentlich nicht, aber sie kannte Andrea auch nicht so gut, wie sie es gern gehabt hätte.

„Und wie war es bei euch? Was war am schönsten?“, fragte Julie.

„Wenn ich das mal so sagen könnte … es war insgesamt seltsam für mich, in Utah unterwegs zu sein – die ganzen alten Erinnerungen …“

„War das schlimm?“

„Nein, nur seltsam. Mir ging es um die Natur, um die Nationalparks. Der Bryce Canyon war großartig, da haben wir nachts Sterne gesehen, das war spektakulär. Aber Monument Valley und der Grand Canyon waren auch toll.“

„Da seid ihr ja wahnsinnig rumgekommen!“

„Kann man so sagen. Es war toll. Auch hinterher bei meiner Familie.“

Julie lächelte. „Das glaube ich. Wir müssen ja jede Gelegenheit nutzen, die wir kriegen, um sie zu sehen.“

„Da hast du wohl Recht …“

„Wie geht es denn Oreo? Sie hat doch während eures Urlaubs hoffentlich nicht die Flucht ergriffen?“

Libby lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, den Nachbarn zufolge hat sie fleißig Mäuse gefangen und sie vor der Terrassentür gestapelt. Ihr geht es prima, aber im Moment weicht sie nicht von unserer Seite.“

„Ist doch süß“, sagte Julie und lächelte. Libby stimmte ihr zu, bevor sie sich wieder an ihren Schreibtisch setzte.

An einem kalten, regnerischen Tag Mitte Februar war Libby von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte eine einsame Katze vor der Terrassentür gefunden. Sie war nass und durchgefroren und hatte ziemlich erbärmlich gemaunzt, so dass Libby sie erst mal ins Haus gelassen und ihr eine Dose Thunfisch geöffnet hatte. Die Katze war darüber hergefallen, als hätte sie in ihrem Leben noch nie etwas gefressen und hatte es sich auch gefallen lassen, dass Libby sie mit einem Handtuch trocknete. Den Umgang mit Katzen kannte Libby noch von zu Hause und es war, als hätte die Katze sofort gespürt, dass Libby es gut mit ihr meinte. Zufällig hatte Libby an diesem Tag auch ein großes Paket bei den Nachbarn abgeholt und der Katze aus dem Karton im Handumdrehen ein Versteck gebastelt, das sie dankend angenommen hatte. Es war noch eine junge Katze, Libby schätzte sie vielleicht auf ein Jahr, und Owen hatte ein überraschtes Gesicht gemacht, als er nach Hause gekommen war und im Wohnzimmer eine Katze in einem Amazon-Karton vorgefunden hatte.

Noch am gleichen Abend hatte das vertrauensselige Tier sich zum ersten Mal auf Libbys Schoß gelegt und sich von ihr streicheln lassen. Am nächsten Tag hatte Libby sie zum Tierarzt gebracht, das Tierheim kontaktiert und einen Aushang im Supermarkt mit einem Foto gemacht, doch niemand hatte sich gemeldet und die Katze trug weder Halsband noch Chip. Bis jetzt hatten sie keine Ahnung, woher sie kam, aber sie hatte nicht die Absicht, wieder zu gehen – und Libby hatte auch überhaupt vor, sie wieder ziehen zu lassen. Inzwischen verfügte die Terrassentür über eine Katzenklappe, so dass die Katze ein- und ausgehen konnte, wie es ihr gefiel. Und als sich abgezeichnet hatte, dass niemand die kleine Katzendame zu vermissen schien, hatten Owen und Libby sie aufgrund ihres schwarzweiß gescheckten Fells Oreo getauft und beschlossen, sie zu behalten. Libby genoss es sehr, nun ein wenig tierische Gesellschaft im Haus zu haben, das hatte ihr auch früher schon immer gutgetan. Sie hatte auch mal darüber nachgedacht, sich ein Haustier zuzulegen, aber bislang war es noch nicht dazu gekommen. Nun war sie jedoch sehr froh, dass Oreo einfach entschieden hatte, bei ihnen einzuziehen.

Kurz darauf war es so weit, dass alle Kollegen sich zur wöchentlichen Teambesprechung einfanden und freundlich von Nick begrüßt wurden. Er lächelte Libby zu und ergriff dann das Wort.

„Schön, dass wir nun fast wieder komplett sind! Belinda stößt bald nach ihrer Reha auch wieder zu uns, dann arbeiten wir wieder in gewohnter Stärke. Hattest du einen schönen Urlaub, Libby?“

Sie nickte. „Ja, sehr. Ich freue mich aber auch, wieder hier zu sein.“

„Das ist toll zu hören. Unsere heutige Besprechung fällt etwas kürzer aus, denn wir haben aktuell tatsächlich keine neue Anfrage und so bleiben uns nur der Fallabschluss in Sachen Patrick Curtis und die anstehenden Gerichtstermine diese Woche – vorerst. Das kann sich natürlich jederzeit ändern.“

Libby war überrascht. Sie hatte vor ihrem Urlaub am Fall Curtis mitgearbeitet – in Philadelphia hatte ein Maskierter immer wieder augenscheinlich wahllos Menschen erschossen, teilweise mitten am Tag auf offener Straße. Nick hatte Libby vor etwa einer Woche eine Nachricht geschrieben, um ihr zu sagen, dass sie den Täter verhaftet hatten, als sie gerade auf dem Weg ins Death Valley gewesen waren. Libby wusste also Bescheid, würde jedoch zum Fallabschluss wenig beitragen können, weil sie nur den Anfang mitbekommen hatte.

Dennoch fassten die Kollegen ihr die Ermittlungsergebnisse zusammen, so dass sie sich ein Bild davon machen konnte, und kurz darauf beendeten sie die Besprechung auch schon. Während die ersten Kollegen sich auf den Weg zu ihren Schreibtischen machten, blieb Julie fragend neben Nick stehen, der gleich zu ihr aufblickte.

„Was gibt es?“

„Ich habe meinen Bericht im Fall Curtis schon fertig. Libby und ich haben gerade so gesehen nichts auf dem Tisch, aber ich wollte dir einen Vorschlag machen.“

Nick machte ein interessiertes Gesicht. „Ich bin ganz Ohr.“

„Mit meiner Doktorarbeit liege ich in den letzten Zügen und deshalb arbeite ich jetzt mit Libby an einer Fallstudie über Vincent Howard Bailey.“

Überrascht blickte Nick zu Libby. „Du schreibst über ihn?“

„So wie Sadie über ihren Vater, ja“, erwiderte Libby und nickte.

Weil Nick damit nicht gerechnet hatte, ließ er sich einen Augenblick Zeit mit seiner Antwort. „Ich weiß, aber … sie hat sich etwas mehr Zeit damit gelassen.“

Libby verstand, worauf er hinaus wollte. „Du hast Angst, dass ich mir damit zu viel zumute.“

„Nein, so würde ich das nicht formulieren – es wundert mich bloß, dass du das überhaupt in Erwägung ziehst und dann schon nach so kurzer Zeit.“

„Die Erinnerung ist noch frisch. Das kann auch ein Vorteil sein.“

Nick holte tief Luft und schüttelte grinsend den Kopf. „Ihr beiden … Wenn man jemanden als Überzeugungstäter bezeichnen darf, dann euch.“

Libby lachte. „Es ist das, was du gesagt hast – wenn ich einem solchen Täter noch mal begegne, hat der nichts zu lachen. Vincent hat mir monatelang nachgestellt und ich war fünf Tage lang rund um die Uhr mit ihm zusammen. Natürlich kann und will ich mich nicht darüber auslassen, was er mit mir gemacht hat, aber ich kann darüber schreiben, wer er war. Wie er gedacht hat. Was er wollte. Warum er Dinge getan hat. Es geht dabei um ihn, nicht um mich. Ich will vom fachlichen Standpunkt aus in Worte fassen, wie ein sexueller Sadist tickt. Wenn das auch nur einem anderen Profiler auf der Welt dabei hilft, einen ähnlichen Täter dingfest zu machen, habe ich mein Ziel erreicht.“

„Davor habe ich großen Respekt“, sagte Nick. „Ich hätte mein letztes Hemd dafür gegeben, dass Sadie so etwas über Sean Taylor verfasst, aber das hat sie verständlicherweise nie in Angriff genommen.“

„Sadie ist in dieser Hinsicht anders gestrickt als ich. Ich trete die Flucht nach vorn an – immer schon. Mir fällt das etwas leichter.“

„Das stimmt. Ich finde es toll, dass ihr das macht und dass Julie dich dabei unterstützen will, ist eine gute Idee.“

Nun lächelte Julie und sagte: „Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir hier in unserer Arbeitszeit daran schreiben?“

„Nein, warum? Ihr seid Profiler und ihr erarbeitet die Fallanalyse eines Serienmörders. Nichts anderes haben Douglas und Ressler in der Anfangszeit getan. Unsere Arbeit wird davon profitieren, also macht ruhig.“

„Klasse, das ist toll!“, sagte Julie erfreut. Es wunderte Libby nicht, dass Nick damit einverstanden war, denn er hatte Julie auch schon zugestanden, im Büro an ihrer Thesis zu arbeiten, wenn sie Leerlauf hatte. Es überraschte sie viel mehr, dass Julie lieber mit ihr an diesem Projekt arbeiten wollte als an ihrer Doktorarbeit.

Während Julie und Libby zu ihren Schreibtischen zurückkehrten, musste Libby an Sadie denken. Es stimmte – eigentlich hätte Sadie einen ähnlichen Text verfassen können wie den, den Julie und Libby nun in Angriff nahmen. Sie hatte es geschafft, über ihren Vater zu schreiben, aber der war auch gleichzeitig der Grund dafür, dass sie verletzlicher war als Libby. Sie war als Kind in ihren Grundfesten erschüttert und entwurzelt worden, während Libby als Heranwachsende schon immer dafür gekämpft hatte, für sich selbst einzustehen. Außerdem hatte sie nicht das Problem, mit ihrem Entführer verwandt zu sein. Sie wusste, dass Sadie nie ganz die Scham überwunden hatte, von ihrem eigenen Halbbruder entführt und vergewaltigt worden zu sein. Libby konnte es sich nicht mal leisten, Vincent totzuschweigen, weil er ihr dafür zu viele sichtbare Narben beigebracht hatte.

In den vergangenen Monaten hatte sie mit der Hilfe ihres Therapeuten Michael und mindestens in gleichem Maße mit Owen daran gearbeitet, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und zu überwinden. Es war ein harter Kampf, aber er lohnte sich. Inzwischen war wieder so etwas wie Normalität eingekehrt, wofür Libby verdammt dankbar war. Einen gewissen Anteil daran hatte sogar Oreo, denn die Katze hatte Libby vom ersten Moment an Vertrauen entgegengebracht und ließ es sie immer spüren, was Libby sehr guttat. Seit Oreo zu ihrer Familie zählte, glaubte Libby, eine deutliche Verbesserung zu spüren. Sie hatte kaum noch Alpträume oder Flashbacks, aber das wunderte sie nicht – Tiere konnten eine sehr heilsame Wirkung haben.

„Ich hoffe, du bist einverstanden mit meiner Idee“, sagte Julie, als sie sich gesetzt hatten. „Die kam mir vorhin ganz spontan. Aber bevor wir hier herumsitzen und Däumchen drehen …“

„Klar, ich habe ja auch nicht viel zu dem Fall beigetragen. Trotzdem hättest du mich mal vorwarnen können!“ Libby sagte das gespielt streng, zwinkerte Julie aber trotzdem zu.

„Sorry … kennst mich doch.“

„Viel zu gut, Special Agent Thornton. Dann werde ich wohl morgen auch mal meine Bücher mitbringen. Es wundert mich ja, dass du jetzt nicht an deiner Thesis weiter arbeiten willst.“

„Ach, das kann ich allein zu Hause, aber hier sind wir sowieso zusammen. Das ist die perfekte Gelegenheit für unser gemeinsames Projekt.“

Da hatte Julie auch wieder Recht. Libby loggte sich auf ihrem Dienstrechner in ihre Cloud ein, in der sie den bereits begonnenen Text über Vincent Howard Bailey gespeichert hatte, damit auch Julie jederzeit Zugriff darauf hatte.

Sie hatten ganz vorn damit begonnen, dass Vincent seinem Cousin dabei geholfen hatte, Frauen zu entführen und zu foltern. Julie wollte die Perspektive einbringen, wie sich bei einem Täter die latente sexuelle Aggression manifestieren und entwickeln konnte. Leider war keine der Frauen mehr am Leben, die miterlebt hatte, wie Vincent seinen Cousin Randall anfangs unterstützt und wie sehr Randall Vincent beeinflusst hatte. Es war ihnen allerdings gelungen, an die Anzeige wegen Vergewaltigung heranzukommen, die vor Jahren gegen Vincent gestellt wurde, nachdem er eine Frau nach einem Clubbesuch ohne ihr Einverständnis beim Sex gefesselt hatte.

Libby erinnerte sich daran, wie sie mit Vincent über seine Entwicklung gesprochen hatte. Das war am ersten Tag ihrer Entführung passiert, als sie noch einigermaßen auf dem Damm gewesen war. Zu dem Zeitpunkt hatte er sie noch nicht vergewaltigt oder ihr anderweitige Verletzungen beigebracht, deshalb war es ihr nicht schwergefallen, mit ihm zu reden. Sie hatte ihm dargelegt, wie sein familiärer Hintergrund möglicherweise etwas zu seiner Gewaltbereitschaft beigetragen hatte – und sie hatte schon festgehalten, wie fatal es gewesen war, dass Vincent damals mit dieser Vergewaltigung davongekommen war. Sie wusste noch, dass er ihr erzählt hatte, danach zwar weitergemacht zu haben, allerdings hatte er immer versucht, unter dem Radar zu bleiben. Er hatte seine Opfer mit k.o.-Tropfen betäubt und sie vergewaltigt, aber nicht gefoltert.

„Wenn er damals bei Randall nicht mitgemacht hätte, wäre er vermutlich ein Vergewaltiger geblieben“, überlegte Libby laut. „Er war hauptsächlich auf Macht aus, Sadismus war für ihn zweitrangig.“

„Sicher?“, fragte Julie zweifelnd. „Denkst du, das kam alles von Randall?“

„Es hat ihm genügt, Frauen beim Sex zu fesseln. Die mussten nicht mal ansprechbar sein. Ansonsten hat er sie nicht verletzt – er wollte bloß das Sagen haben.“

„Dazu gehört trotzdem eine gewisse Portion Sadismus.“

„Ja, sicher, aber diese Vorliebe hat er durch Randall weiter ausgebildet. Da könnte uns Mary Jane vielleicht mehr zu sagen, sie kennt ihn ja auch ziemlich gut. Vermutlich deutlich besser als ich.“

Die beiden sahen einander schweigend an. Sie hatten schon überlegt, Mary Jane Cox zu kontaktieren und ihr Fragen über Vincent zu stellen, denn sie kannte ihn seit vielen Jahren und er war der Vater ihres Kindes. Eines Kindes, das Mary Jane zufolge bei normalem, einvernehmlichem Sex gezeugt worden war. Das hatte sie Libby jedenfalls mal gesagt.

„Ich glaube ja irgendwie nicht, dass sie mit uns reden wird“, sagte Julie.

„Ich weiß es nicht … ich glaube, ich rufe sie mal an und frage sie.“

„Wenn du meinst.“

„Wir müssen es testen, oder nicht?“

„Ja, stimmt schon. Es wäre eine echte Fundgrube.“

„Mit Sicherheit. Ich glaube zwar, auch zu wissen, was er aus eigener Motivation heraus getan hat und was er sich eher bei Randall abgeschaut hat, aber eine Bestätigung ist sicher nicht verkehrt“, sagte Libby.

Julie nickte zustimmend. „Das kann ich mir sogar zusammenreimen. Alles, was mit Folter zu tun hat, aber nicht unbedingt mit Sex, kam sicher von Randall. So was wie … nein, lassen wir das. Ist egal.“

Fragend sah Libby ihre Freundin an und sagte: „Du kannst es ruhig aussprechen, egal was es ist.“

„Na ja … solche Dinge wie die Narben auf deinem Rücken. Da wollte er dir bloß weh tun, oder?“

Libby schloss kurz die Augen und nickte. Diese Schmerzen würde sie niemals vergessen. „Das … und diese perfide Art, mit der er mir sämtliche Sinnesreize genommen hat. Das hatte er von Randall, das weiß ich. Das hat Mary Jane mir damals schon gesagt.“

Julie schluckte hart. „Es tut mir so leid.“

„Muss es nicht. Hier geht es aber auch nicht um mich, sondern um Vincent“, sagte Libby unbeeindruckt und versuchte, da weiterzumachen, wo sie stehen geblieben waren. In ihrem Text wollten sie Vincents ganze Entwicklung und den Einfluss äußerer Faktoren auf die Entwicklung seiner sadistischen Vorlieben darstellen, aber Libby hoffte auch, dass sie es schaffte, auf seinen perfiden Modus Operandi einzugehen, den er sich später als Einzeltäter und sexuell motivierter Serienmörder angeeignet hatte. Das war eine echte Herausforderung und sie war noch nicht sicher, ob sie dem gewachsen war, aber sie wollte es unbedingt versuchen. Es gab keinen Täter, den sie so gut kannte wie Vincent Howard Bailey.

Julie arbeitete an einem der ersten Kapitel über Vincents Entwicklung – das war ihr Steckenpferd, schließlich erforschte sie auch in ihrer Doktorarbeit, wie jemand von einem Vergewaltiger zum Serienmörder avancierte. Libby wollte sich eher die späteren Kapitel vornehmen, in denen es um seine Vorgehensweise als Einzeltäter und Serienmörder ging. Sie wollte auch versuchen, daraus Handlungsempfehlungen für Ermittler abzuleiten.

Schon bald waren sie in ihre Arbeit vertieft und arbeiteten konzentriert am Text. Libby charakterisierte Vincent als selbstbewussten Täter, der sich vom submissiven Teil eines Täterduos zu einem selbstsicher agierenden Einzeltäter entwickelt hatte. Sie verglich ihn mit anderen Tätern, die ihren Opfern auch geduldig aufgelauert und sie in einem schnellen, gezielten Angriff überwältigt hatten. Dazu gehörte Mut, es war jedes Mal riskant und sehr konfrontativ, aber das hatte ihn nie geschreckt.

Sie erinnerte sich daran, dass er sich anfangs nur deshalb auf sie konzentriert hatte, weil sie Randall erschossen hatte. Zunächst hatte er ihr das übel genommen, aber sie stellte in ihrem Text die These auf, dass er sehr schnell festgestellt hatte, wie vorteilhaft es für ihn war, allein zu agieren – denn jetzt konnte er tun und lassen, was er wollte. Jetzt konnte er auch seinen sexuellen Gewaltfantasien freien Lauf lassen, was vorher nicht möglich gewesen war.

Während sie arbeitete, vergaß sie alles um sich herum. Zwar glaubte sie nicht ernsthaft, dass sie Vincent überhaupt je vergessen würde, aber im Augenblick floss der Text regelrecht aus ihr heraus. Tatsächlich half es ihr, in Worte zu fassen, was sie erlebt und über Vincent in Erfahrung gebracht hatte.

Wie zahlreiche ähnlich motivierte Täter begriff er es nicht nur als Mittel zum Zweck, sein Opfer durch Fesseln handlungsunfähig zu machen, sondern hat es auch als Machtdemonstration verstanden und teilweise bewusst eingesetzt, um den Frauen Schmerzen zuzufügen. Den mitunter weiten Weg zu seinem entlegenen Versteck in einem stillgelegten Bunker in der Quehanna Wild Area inmitten eines nahezu unbevölkerten Landstriches in Pennsylvania hat er bewusst genutzt, um seinen Opfern Angst einzuflößen und ihre Widerstandskraft zu schwächen. Das gezielte Verweigern von Nahrung bis auf ein existenznotwendiges Minimum war ein bewusst genutztes Mittel der Unterdrückung. Vieles in seinem Handeln war darauf ausgerichtet, den Opfern seine Überlegenheit zu demonstrieren

Libby hielt inne. Sie hatte schon schreiben wollen, wie er ihr befohlen hatte, sie anzusehen, während er sie vergewaltigte, doch plötzlich war es, als hätte sie eine Blockade im Kopf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie schon viel beschrieben hatte, was sie nur wissen konnte, weil sie es selbst erlebt hatte. Sonst gab es kein überlebendes Opfer, das davon hätte sprechen können.

Sollte sie es schreiben? Sie wusste es nicht. Das war verdammt persönlich. Alles war persönlich. Es überraschte sie, dass sie überhaupt schon so viel geschrieben hatte, ohne darüber nachzudenken. Wie sollte sie das Problem angehen?

„Alles okay?“, fragte Julie, die Libbys nachdenklichen Blick bemerkte.

„Ja, ich … ich denke nur gerade nach. Da gibt es ein Detail, das ich gern anbringen würde, um seine Herangehensweise zu verdeutlichen, aber wenn ich das schreibe, mache ich hundertprozentig klar, dass ich da aus eigener Erfahrung berichte.“

Julie nickte verstehend. „Davon war ja auszugehen. Und wenn du es weglässt?“

Libby seufzte tief. „Dafür finde ich es zu wichtig.“

Nun überlegte Julie kurz, bevor sie vorschlug: „Du willst doch im Vorwort darauf eingehen, dass du ihn persönlich kanntest, oder?“

„Ja, sicher. Das hilft ja dabei, den Text richtig einzuordnen.“

„Dann kannst du solche Dinge aber so beschreiben, als hätte er sie dir erzählt. Du hast ja auch mit ihm über einiges gesprochen, was er dir beschrieben und erklärt hat.“

„Aber die Schlussfolgerung ziehe ja ich.“

„Worum geht es denn?“, fragte Julie.

Libby zögerte einen Moment, doch dann fiel ihr ein, dass sie Julie ohnehin mal davon erzählt hatte. „Er wollte doch, dass ich ihm in die Augen sehe, als …“

Während sie noch versuchte, es auszusprechen, nickte Julie schon und Libby fuhr einfach fort. „Das ist anders als bei anderen Tätern, von denen ich weiß. Er … er hat mich nicht so entmenschlicht, wie andere Täter das tun. Ich kenne Beispiele von Vergewaltigern, die einfach über ihre Opfer herfallen und sie in dem Moment als Objekt sehen, das sie nach Belieben benutzen können. Vincent war da anders … ihm war meine Reaktion wichtig.“

„Er wollte in deinen Augen sehen, was er dir antut“, sagte Julie leise und Libby nickte.

„Genau. Also, nicht immer … er hatte die ganze Bandbreite drauf.“

„Aber du hattest auch einen Namen und ein Gesicht für ihn.“

„Ja, das stimmt. Das macht ihn eigentlich zu einem noch schlimmeren Sadisten, oder?“

Julie erwiderte nichts, doch Libby glaubte, Tränen in den Augen ihrer besten Freundin zu bemerken.

„Was ist los?“, fragte sie.

„Ich weiß nicht, ob das alles hier so eine gute Idee ist … retraumatisierst du dich damit nicht selbst?“, fragte Julie und atmete tief durch.

„Nein, irgendwie nicht. Es hilft mir, alles von einem differenzierten Standpunkt aus zu betrachten und zu versuchen, meine persönliche Erfahrung in einen wissenschaftlichen Kontext zu setzen – ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.“

„Du versuchst, dem Horror einen Namen zu geben“, sagte Julie und Libby nickte.

„Ja, so ungefähr.“

„Okay … jeder, wie er mag“, sagte Julie und fügte dann hinzu: „Ich fände es legitim, wenn du Dinge, die keine Rückschlüsse auf dich zulassen sollen, als etwas wiedergibst, was er dir gesagt hat. Deine Schlussfolgerung ist ja richtig und er hätte es dir auch bestätigt. Warum sonst hätte er gewollt, dass du ihn ansiehst?“

„Er wollte meine Reaktion sehen und … und er war ja erfahren genug, um zu wissen, dass ein Vergewaltigungsopfer dem Täter nicht in die Augen sehen will. Das hat er sich zunutze gemacht und … und es gegen seine Opfer eingesetzt. Da war kein Rückzugsort mehr. Das war … grausam.“ Zum Ende hin begann Libbys Stimme zu zittern und sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen, doch vergebens. Instinktiv schlug sie die Hände vors Gesicht und versuchte noch, nicht laut zu weinen, doch da war Julie schon bei ihr und schlang die Arme um sie.

„Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne“, sagte Julie. Libby erwiderte nichts.

„Lass es mich schreiben, wenn du es nicht kannst. Vielleicht finde ich den richtigen Ausdruck – oder wir lassen es weg“, schlug Julie dann vor.

„Nein, wir lassen es nicht weg“, verkündete Libby trotzig. „Aber ja … vielleicht findest du den richtigen Ausdruck.“

„Ich versuche es mal“, versprach Julie.

 

Julie und Libby hatten den ganzen Tag an ihrer Fallstudie gearbeitet. Tatsächlich hatte Julie ihren Vorschlag in die Tat umgesetzt und versucht, für das eine Formulierung zu finden, was Libby nicht in Worte fassen konnte. Sie hatte es auch so geschrieben, als hätte Vincent es Libby selbst erzählt. Ihnen war bewusst, dass das wissenschaftlich nicht sauber war, aber weil Libby es unbedingt im Text haben wollte, wählten sie diesen Weg, um sie zu schützen. Zwar hatte Vincent sich nie so differenziert über sich selbst geäußert, aber für beide war das ein akzeptabler Kompromiss.

In der Mittagspause hatten die Kollegen sich anerkennend geäußert, denn sie hatten mitbekommen, dass Libby plötzlich vor ihrem Computer in Tränen ausgebrochen war. Während sie auf der Interstate nach Hause fuhr, dachte sie daran, wie glücklich sie sich schätzen konnte, solche empathischen Kollegen zu haben. Das war ein echtes Geschenk.

Während sie in Springfield an der Ausfahrt den Blinker setzte und den Freeway verließ, wurde das aktuelle Lied im Radio unterbrochen und der Radiosprecher sagte: „An der Union Station in Washington hat sich vor wenigen Minuten eine Explosion ereignet. Das Metropolitan Police Department warnt Reisende und Pendler, sich dem Bahnhof zu nähern, der gerade weiträumig abgesperrt wird. Züge der Metro Red Line verkehren nur bis den Haltestellen Judiciary Square und NoMa-Gallaudet, Amtrak-Züge werden zum Bahndepot in Ivy City umgeleitet. Die Polizei bittet die Bevölkerung um erhöhte Vorsicht in der gesamten Metropolregion. Weitere Informationen folgen, sobald sie uns vorliegen.“

Libby stand an der roten Ampel hinter der Ausfahrt und überlegte, Owen anzurufen, doch dann entschied sie sich dafür, erst nach Hause zu fahren. Der Weg nach Springfield war ihr inzwischen vertraut, mittlerweile fühlte sie sich dort heimisch. Kurz darauf bog sie in ihre Straße ein und parkte in der Einfahrt, bevor sie zu ihrem Handy griff und Owens Nummer heraussuchte. Er war schnell dran, im Hintergrund rauschte es.

„Hey, was ist los?“, fragte er.

„Wo steckst du?“

„Auf dem Heimweg, kurz vor Lincolnia.“

„Hörst du Radio?“

„Nein, warum?“

Obwohl sie wusste, dass er keinerlei Berührungspunkte mit der Union Station hatte, atmete Libby erleichtert auf. „Vorhin gab es an der Union Station eine Explosion, der Bahnhof wird abgeriegelt.“

„Oh, das habe ich nicht mitbekommen. Muss nach meinem Feierabend passiert sein.“

„Okay, ich wollte nur sicher sein.“

„Alles okay. Bin bald da. Bis gleich.“

Sie verabschiedete sich und legte auf, bevor sie ins Haus ging. Sie musste sich nicht gesondert bemerkbar machen, denn sie hatte kaum ihre Schuhe ausgezogen, als sie die Katzenklappe hörte und Augenblicke später Oreo von der Küche in den Flur spähte. „Mau.“

Libby grinste. „Hast du etwa Hunger?“

Die Katze maunzte zustimmend und strich Libby um die Beine, während sie in die Küche ging, um der Katze eine Dose mit Futter zu öffnen. Die ganze Zeit über musste sie darauf aufpassen, nicht über Oreo zu stolpern, die sich gehörig bei ihr beliebt machen wollte und schließlich auch ein paar Streicheleinheiten beim Fressen einstrich.

„Du bist schon ein kleiner Charmeur“, sagte Libby und lächelte. Sie war froh, die Katze zu haben, denn das war ihr eine willkommene Gesellschaft.

Sie ging nach oben, um die Bluse loszuwerden und sich etwas anderes anzuziehen. Als sie wieder nach unten kam, lag Oreo der Länge nach ausgestreckt auf dem Läufer im Wohnzimmer und räkelte sich entspannt.

„Was, du willst schon wieder gestreichelt werden?“ Libby kniete sich vor die Katze und wurde prompt mit einem Schnurren belohnt, als sie Oreo streichelte. Die beiden hockten immer noch so da, als die Haustür geöffnet wurde und kurz darauf Owen mit einem Lächeln in der Tür erschien.

„Was ist denn hier los? Warum verwöhnt mich niemand?“

Libby lachte. „Weil du keine niedliche Katze bist.“

„Du hast es gut, Oreo.“ Owen zog seine Schuhe aus und fuhr fort: „Ich habe auch gerade Radio gehört. Scheint ja eine große Sache zu sein, aber mich hat bis jetzt niemand alarmiert.“

„Kommt vielleicht noch.“

„Wenn jemand getötet wurde, ist das schon möglich“, stimmte Owen seiner Frau zu, bevor er sich neben sie hockte und mit einem Kuss begrüßte. „Schön, dich zu sehen.“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen.“

Owen hatte schon angesetzt, um etwas zu sagen, doch dann hielt er inne. „Ist alles okay?“

„Ja, warum fragst du?“

Er zögerte kurz mit seiner Formulierung, bevor er sagte: „Es sieht aus, als hättest du geweint.“

„Oh, ach so … erwischt.“ Libby lächelte verlegen und stand auf. „Nichts, weshalb du dir Sorgen machen müsstest.“

„Sicher?“

„Ach … Julie hat nur heute vorgeschlagen, dass wir im Büro an unserem Text über Bailey arbeiten, weil wir sonst nichts auf dem Tisch haben. Das haben wir auch gemacht und … zwischendurch ist eine fiese Erinnerung hochgekommen, nichts weiter.“

„Dass du es aber auch immer auf die harte Tour brauchst“, sagte Owen kopfschüttelnd und lachte.

„Warum seid ihr alle so skeptisch? Lasst es mich doch aufarbeiten, wie ich will. Michael findet es gut.“

„Ich mache mir doch nur Sorgen.“

„Ich weiß, aber musst du nicht. Es ist alles okay.“

Owen nickte, bevor er sich ebenfalls umzog. Während die beiden sich eine Kleinigkeit zu essen machten, ließ Owen sein Handy nicht aus den Augen, doch es schwieg. Schulterzuckend schaltete er den Fernseher ein und wechselte auf einen Nachrichtensender, auf dem es bereits Bilder von der Union Station in Washington gab. Mit seinem Sandwich in der Hand blieb Owen vor dem Fernseher stehen und betrachtete die Aufnahmen, die von einem Hubschrauber aus gemacht wurden.

„Das ist überhaupt nicht im Bahnhof, das ist davor“, sagte er. „Sieh mal, das ist der Parkplatz gegenüber vom Bahnhof und dem Columbus Circle.“

Stirnrunzelnd stellte Libby sich neben ihn und schaute ebenfalls auf die Fernsehbilder. „Du hast Recht, das ist nicht im Bahnhof.“

„Wahrscheinlich haben die Kollegen ihn gesperrt, weil sie fürchten, dass dort auch was hochgeht.“

Libby nickte zustimmend, während sie gemeinsam die Berichterstattung verfolgten. Die Union Station war großräumig abgesperrt, das halbe MPDC war im Einsatz, Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge standen auf dem Parkplatz unweit des Bahnhofs. Der Nachrichtensprecher gab zur Auskunft, dass laut ersten Erkenntnissen wohl ein Auto explodiert und inzwischen fast vollständig ausgebrannt war.

Owen griff zu seinem Handy und versuchte, seinen Vorgesetzten zu erreichen, doch es gelang ihm nicht.

„Keine Ahnung, wo Correll steckt“, sagte er. „Ich schreibe ihm mal, dass er sich melden soll, wenn er mich braucht.“

„Gute Idee“, fand Libby. Wenig später erfuhren sie aus dem Fernsehen, dass die Feuerwehr in dem ausgebrannten Fahrzeug tatsächlich eine Leiche gefunden hatte. Es gab eine Handvoll Verletzte – Passanten, die in der Nähe gewesen waren, als das Auto in die Luft geflogen war. Spurensicherung und Sprengstoffexperten waren inzwischen auch vor Ort und überprüften den Bahnhof mit Spürhunden, um ihn wieder freigeben zu können.

„Wie war dein erster Tag denn sonst so?“, erkundigte Owen sich.

„Ganz gut, wenn auch nicht sehr spannend. Die anderen sitzen an dem Fallabschluss zu Patrick Curtis, wozu ich aufgrund des Urlaubs nicht viel beitragen kann, und deshalb arbeite ich jetzt mit Julie an unserer Fallanalyse zu Bailey. Und bei dir?“

„Wir haben auch noch nichts Neues auf dem Tisch, aber wenn ich das da im Fernsehen sehe, ändert sich das vielleicht bald. Einen Toten gibt es ja schon.“ Während Owen das sagte, schielte er auf sein Handy, aber es schwieg noch immer.

„Das interessiert dich jetzt, oder?“, stellte Libby grinsend fest.

„Ja, denn wenn das wirklich eine Autobombe war – und alles sieht danach aus – liegt ein Haufen Arbeit vor uns. Autobomben sind so …“ Owen suchte nach dem richtigen Wort. „Altmodisch? Ich weiß nicht, wie ich das nennen soll.“

„Ich weiß, was du meinst. Es ist ungewöhnlich, das stimmt.“

Oreo sprang aufs Sofa, stapfte über ein Kissen und rieb schließlich den Kopf an Libbys Kinn, bevor sie sich auf ihrem Schoß zusammenrollte und sich kraulen ließ. Nur zu gern verwöhnte Libby die Katze, die erneut zufrieden schnurrte.

„Ich bin eifersüchtig auf dich“, sagte Owen nicht ganz ernst gemeint mit Blick auf die Katze, woraufhin Libby sie noch ausgiebiger streichelte.

„Hast du das gehört? Jetzt übertreibt er wieder“, raunte sie Oreo zu, was Owen ein empörtes Schnauben entlockte.

„Ja, verbündet euch nur. Frauen.“

„Ach, jetzt sei doch nicht so beleidigt. Als könnte irgendjemand dir meine Liebe streitig machen.“

Owen lächelte. „Ich weiß. Ich bin auch froh, dass wir die Katze haben. Sie tut dir gut.“

„Ja, das habe ich mir auch schon gedacht.“

„Wie viele Sitzungen hast du eigentlich noch mit Michael?“

Libby zuckte mit den Schultern. „So viele, wie ich will. Seit das FBI die Kosten übernimmt, hat noch niemand über ein Limit gesprochen. Ich habe aber schon überlegt, seltener hinzugehen und irgendwann nur noch bei Bedarf.“

„Gute Idee“, sagte Owen. Vor kurzem hatte Libbys Krankenversicherung sich bezüglich weiterer Therapiesitzungen quergestellt, doch daraufhin war das FBI eingesprungen und hatte Libby eine unbegrenzte Kostenübernahme zugesagt, was sie großartig fand. Man hatte es damit begründet, dass sie die Therapie aufgrund ihrer beruflichen Arbeit brauchte und so war es kein Problem, aber sie merkte inzwischen, dass sie die Therapie nicht mehr so dringend benötigte. Trotzdem tat es ihr immer wieder gut, mit Michael zu sprechen und mit ihm Aspekte ihrer Arbeit und natürlich auch ihrer Entführung aufzuarbeiten. Inzwischen hatte sie auch das Gefühl, dass ihre Beziehung zu Owen sich weitestgehend normalisiert hatte, was nicht zuletzt seiner Mitarbeit zu verdanken war. Dafür liebte sie ihn sehr.

„Du denkst also auch, ich kann es reduzieren?“, fragte sie, um sicherzugehen.

„Ja, das würde ich schon sagen. Wir kommen doch prima zurecht, oder?“, erwiderte Owen. Libby nickte und gab ihm einen Kuss. Sie wollte schon fragen, wie sie den Abend verbringen sollten, als Owens Handy klingelte. Er griff sofort danach und nahm das Gespräch an.

„Guten Abend, Sergeant“, sagte er und so wusste Libby gleich, dass es Correll war. Sie hörte dem Gespräch mit halbem Ohr zu und nachdem Owen aufgelegt hatte, sagte er: „So schnell kann’s gehen. Das MPDC beruft eine Task Force für die Untersuchung des Bombenanschlags ein und Benny und ich sind mit an Bord.“

„Ist doch super.“

„Ja, finde ich auch. Sie glauben, das Opfer identifiziert zu haben – Rasha Hamilton, eine investigative Reporterin der Washington Post.“

„Oh, das klingt nach Arbeit.“

„Ja, aber das macht nichts. Es war wohl ein zielgerichteter Anschlag – die Kollegen vom Sprengstoffteam sagten schon, dass die Bombe gezielt unter ihrem Auto angebracht worden sein muss. Zeugenaussagen zufolge ist sie explodiert, nachdem die Frau eingestiegen ist, vermutlich in dem Moment, als sie den Zündschlüssel betätigt hat. Mit dem Bahnhof hatte es überhaupt nichts zu tun, da wurde nichts gefunden und er wird auch gleich wieder für den Zugverkehr freigegeben.“

„Wer ist denn der leitende Ermittler?“

„Danach habe ich gerade gar nicht gefragt, aber morgen früh legen wir los und dann drehen wir Rasha Hamiltons Leben auf links, um herauszufinden, wer sie tot sehen wollte.“

„Da bin ich aber mal gespannt.“

„Ich auch. Habe ich es nicht vorhin noch prophezeit?“, sagte Owen und grinste.

 

 

Dienstag, 24. Mai

 

Den Kopf in die Hände gestützt, las Libby noch einmal, welche Formulierung Julie am Vortag für die kritische Passage gefunden hatte, die Libby nicht zum Ausdruck hatte bringen können. Sie war ihrer Freundin unendlich dankbar für die Unterstützung. Ob sie es so stehen lassen würde, wusste sie noch nicht. Insgeheim hatte sie doch Angst, dass es Rückschlüsse auf sie zuließ.

Dann sagte sie sich jedoch, dass sie nicht diejenige war, die sich schämen musste. Das hatte sie sich schon gesagt, als sie Ron Hawkins damals angezeigt und vor Gericht beschrieben hatte, wie er sie vergewaltigt hatte. Dadurch war sie erst zu dem Menschen geworden, der sie jetzt war.

Vieles in seinem Handeln war darauf ausgerichtet, den Opfern seine Überlegenheit zu demonstrieren. So hat Bailey beispielsweise gezielt Methoden zur sensorischen Deprivation genutzt, die auch in Guantanamo eingesetzt werden, um den Widerstand der Häftlinge zu brechen. Diese Vorgehensweise hat er von Howard übernommen und sie zu einem Teil seines Modus Operandi gemacht. Sadismus und Machtdemonstration gingen bei vielen seiner Handlungen einher: So hat er etwa davon berichtet, seine Opfer absichtlich dazu zu zwingen, ihm während der Vergewaltigung in die Augen zu sehen, um ihre unmittelbare Reaktion beobachten zu können und ihnen jeden Rückzugsraum zu nehmen.

Libbys Herz schlug wie wild, während sie das las, aber sie fand, dass Julie genau die richtige Formulierung gefunden hatte. Selbst hätte sie das nicht gekonnt – aber ihr fiel noch etwas anderes ein, das sie an dieser Stelle ergänzen wollte.

Ebenfalls von Howard übernommen hat er die Idee, seine Opfer unter Androhung von Strafe durch die persönliche Ansprache zur aktiven Unterwerfung zu zwingen, indem er sich von ihnen als „Herr“ ansprechen ließ. Auf Dauer führt das bei den Opfern zu einer starken Identifikation mit der unterlegenen Rolle und der Abhängigkeit vom Wohlwollen ihres Entführers.

Libby las den Satz noch einmal und nickte zufrieden. Das konnte sie ganz allgemein festhalten, denn das hatte Mary Jane ihr schon über Randall Howard berichtet.

Mary Jane. Libby hielt inne und überlegte, ob sie es wagen sollte. Gerade wusste sie noch gar nicht, was sie Mary Jane überhaupt fragen wollte, aber so weit war sie auch noch gar nicht. Zur Not würde sie die anderen Frauen fragen, aber niemand kannte Vincent so gut wie Mary Jane.

Sie suchte Mary Janes Nummer in ihrem Handy heraus und rief an. Julie musterte sie interessiert, sagte aber nichts.

„Na, das ist ja eine Überraschung“, sagte Mary Jane statt einer Begrüßung. „Ist schon eine Weile her, dass wir zuletzt voneinander gehört haben.“

„Das stimmt. Wie geht es dir? Wie macht Jacob sich?“

„Er fängt langsam an zu krabbeln. Er ist ein sehr aufgewecktes Baby, das kann ich dir sagen! Es ist schön – und ich glaube, es ist gut, dass ich ihn habe.“

„Freut mich, dass du das so siehst.“

„Ja, ich meine … ich habe länger nichts von den anderen gehört, aber anders als die beiden habe ich immer etwas, das mich weitermachen lässt. Und du?“

„Bei mir ist das so ähnlich.“

„Wieso, bist du schwanger?“

Libby lachte. „Nein, das nicht. Das hat noch Zeit. Bei mir ist es der Job.“

„Und dein Mann, sicherlich.“

„Ja, natürlich. Es geht uns gut.“

„Schön zu hören. Warum rufst du an?“

„Ich habe einen Überfall auf dich vor … keine Ahnung, wie du dazu stehst.“

„Erzähl mal“, bat Mary Jane.

„Julie Thornton kennst du ja noch – sie ist jetzt auch Special Agent in der BAU. Damals hat sie ja schon an ihrer Doktorarbeit über Typen wie Vincent gearbeitet und jetzt … Wir schreiben zusammen an einer Fallstudie über ihn.“

„Über Vincent? Du schreibst über ihn?“ Mary Jane hielt mit ihrer Überraschung nicht hinterm Berg.

„Ja, weil das, was ich weiß, ein Geschenk für jeden Profiler auf dieser Welt ist.“

„Was zum Teufel schreibt ihr denn da?“

„Wie er sich durch Randall zu dem entwickelt hat, der er hinterher war. Ich glaube nämlich, dass vieles von dem, was er später getan hat, eigentlich von Randall kam und nicht von ihm.“

„Da gebe ich dir recht. Aber was willst du jetzt von mir?“

Libby holte tief Luft. „Mir fällt niemand ein, der Vincent so gut kannte wie du. Du hast ihn jahrelang erlebt, du hast ihn zusammen mit Randall erlebt, seine Entwicklung – und du hast ihn auch ohne Randall erlebt. Da war er anders, das hast du mir zumindest gesagt.“

„Ja, er war nicht so ein brutales Arschloch. Zumindest nicht mir gegenüber. Dass er auch anders konnte, weißt du besser als ich.“

Libby wusste nicht, was sie erwidern sollte, und zog es schließlich vor, gar nichts dazu zu sagen. „Ich würde dich gern in unserer Abhandlung zu Wort kommen lassen. Du weißt Dinge über ihn, die ich nicht weiß. Du würdest uns auch sehr helfen, wenn du es lesen und uns sagen würdest, ob wir mit allem richtig liegen.“

Für einen Moment war es still in der Leitung. „Puh … das brauche ich eigentlich nicht wirklich.“

„Ja, ich weiß. Kann ich verstehen. Trotzdem wollte ich dich fragen.“

„Und wie … wie stellst du dir das vor? Willst du mir Fragen dazu stellen oder …“

„Vielleicht könntest du herkommen. Das FBI würde für die Kosten aufkommen. Wir könnten reden und alles zusammen durchgehen. Wir haben da noch so viele Fragen.“

„Hm“, machte Mary Jane unbestimmt. „Ich will nicht mit Jacob verreisen, da könnte ja niemand auf ihn aufpassen. Das müsste ich mal mit meinen Eltern besprechen – sie nehmen ihn oft genug, wenn ich irgendwo hinmuss. Vielleicht klappt das.“

„Also würdest du es tun wollen?“

Mary Jane seufzte. „Ich könnte zwar darauf verzichten, aber … ich finde es ja gut, was du tust. So etwas wie das, was Randall und Vincent mit uns gemacht haben, darf nicht wieder passieren. Wenn deine Arbeit irgendwie dazu beiträgt, das zu verhindern, finde ich das gut. Und ehrlich, wenn du es schaffst, darüber zu schreiben …“ Sie atmete schwer. „Ich schaue mal, wie ich das hinbekomme, aber ich will euch helfen.“

Libby war unaussprechlich erleichtert. „Das ist toll, vielen herzlichen Dank. Das bedeutet mir viel.“

„Ach, schon gut. Ich kläre das mal und dann melde ich mich wieder, okay? Wann wollt ihr das denn machen?“

„Wann es dir passt. Diese oder nächste Woche vielleicht.“

„Ja, mal sehen. Ich rufe dich an.“

Libby verabschiedete sich von ihr und legte auf. Zwischendurch hatte Julie sie interessiert beobachtet und sagte nun: „Das war Mary Jane, oder?“

Libby nickte. „Sie will herkommen.“

„Ehrlich? Das ist ja der Hammer. Sie ist die absolute Expertin für Vincent. Großartig.“

„Hätte ich nicht erwartet, aber sie hat mich schon so manches Mal überrascht.“

Julie nickte zustimmend. Libby setzte ihre Arbeit am Text noch ein wenig fort, bis wenig später Mary Jane tatsächlich wieder anrief und ihr anbot, schon in zwei Tagen zu kommen.

Bis zum Feierabend hatte Libby alles organisiert und freute sich, dass das tatsächlich funktionierte und Mary Jane bereit dazu war, ihnen zu helfen. Das war alles andere als selbstverständlich und würde ihr nicht leicht fallen, das kannte Libby gut genug von sich selbst.

Guter Dinge fuhr sie nach Hause, wo sie eine ganze Weile allein mit Oreo war. Es wunderte sie nicht, dass Owen an diesem Tag länger arbeitete, sie hatte auch zwischendurch überhaupt nichts von ihm gehört. Als er schließlich gegen halb sieben nach Hause kam, wirkte er erschöpft, aber zufrieden. Er begrüßte Libby mit einer Umarmung und einem Kuss.

„Da bin ich auch endlich. Ich hoffe, du warst nicht zu einsam ohne mich.“

Libby lächelte. „Nein, nicht doch. Alles gut. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du heute pünktlich kommst. Wie läuft es denn?“

„Wir stehen noch ganz am Anfang. Sag mal, hast du auch so einen Hunger?“

„Geht so, aber wir können uns etwas zu essen machen.“

Über diesen Vorschlag war Owen sichtlich erleichtert und kurz darauf saßen sie zusammen am Tisch und widmeten sich dem Essen. Oreo lag faul zusammengerollt auf dem Sofa und schien zu schlafen.

„Die Tote aus dem Auto scheint tatsächlich Rasha Hamilton zu sein. Wir haben natürlich noch kein Ergebnis der DNA-Analyse, aber der Gerichtsmediziner hat das, was von ihr übrig war, obduziert und anhand eines Armbruchs aus ihrer Jugend und des Zahnstatus ist sie vorläufig identifiziert“, erzählte Owen.

„Dann ist ja davon auszugehen, dass sie aufgrund ihrer Arbeit ins Kreuzfeuer geraten ist.“

„Das vermuten wir – aber jetzt beginnt es, schwierig zu werden. Rasha Hamilton war Ende dreißig und hat schon seit einigen Jahren für die Washington Post gearbeitet. Sie war bekannt für kritische Hintergrundanalysen und ich habe das Gefühl, dass wir erst an der Oberfläche kratzen. Sie war für die Recherche zu einer neuen Story in Philadelphia, dorthin ist sie mit dem Zug gereist. Wir wissen schon, dass sie gestern auf dem Heimweg war. Sie kam aus dem Bahnhof, ist in ihr Auto gestiegen – und schon ging die Bombe hoch.“

„Woran hat sie denn gearbeitet?“

„An einer Story über einen groß angelegten Steuerbetrug. Davor hat sie über Mauscheleien bei einem der in Philadelphia ansässigen Pharmakonzerne mit Kliniken an der gesamten Ostküste geschrieben, außerdem waren einige Leitartikel in der Post über die Me Too-Affäre vor einigen Jahren von ihr und sie hat auch schon einen Gouverneur bloßgestellt, der die Finger nicht von Kinderpornos lassen konnte. Dazwischen hat sie sich sehr für die Rechte Schwarzer eingesetzt und sich gegen Diskriminierung stark gemacht, von ihr waren auch mehrere unbequeme Artikel zum Thema Polizeigewalt gegen Schwarze. Ist auch wenig überraschend, sie war selbst schwarz. Die Frage ist jetzt natürlich, ob man sie aufgrund der aktuellen Story aus dem Weg schaffen wollte oder ob das irgendwas mit ihrer vergangenen Arbeit zu tun hat, das wäre ja auch möglich.“

„Oh, das klingt nach viel Arbeit – ihr müsst ja alles durchleuchten …“

Owen nahm noch einen Bissen und nickte. „Wir haben vorhin schon eine Anfrage ans FBI gestellt, denn viele der Ermittlungen, die Rasha Hamilton ins Rollen gebracht hat, drehten sich um Bundesverbrechen und die liegen ja bei euch und nicht bei uns.“

Libby überlegte kurz und nickte. Steuerbetrug, Hassverbrechen und Kinderpornografie fielen in die Zuständigkeit des FBI. „Viel Spaß bei der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“

Owen grinste. „Ja, die werden wir haben. Das Gute daran ist, dass ich dann vermutlich ab morgen mit Kyle zusammen arbeiten werde, denn er war an den Ermittlungen gegen den Pharmakonzern beteiligt. Mit seinen Kollegen hat er vor ein paar Monaten Durchsuchungen in den Kliniken hier in Washington durchgeführt.“

„Ach was.“

„Ja, ich war vorhin auch überrascht. Ich habe ihn gleich angerufen, als sein Name auf der Zuständigkeitsliste aufgetaucht ist, und er freut sich auch schon sehr auf die Zusammenarbeit. Jetzt macht es sich bezahlt, dass wir die Kollegen vor Monaten schon ein bisschen untereinander vernetzt haben.“

Libby lächelte. „Ihr sollt es auch mal gut haben. Ich bin ja so froh, dass ich mit Julie zusammen ermitteln kann.“

„Das glaube ich dir. Wie läuft es denn bei euch?“

„Gut. Ich habe heute mit Mary Jane Cox telefoniert. Sie kommt übermorgen her und arbeitet dann mit uns an dem Artikel über Bailey.“

Überrascht zog Owen die Brauen hoch. „Sie ist ja genauso schmerzfrei wie du.“

„Ich weiß nicht … Erst wollte sie nicht, aber irgendwie fühlte sie sich doch motiviert. Vielleicht, weil ich auch nicht kneife. Keine Ahnung.“

„Ist ja auch egal. Das wird euren Text sicher sehr voranbringen.“

„Das glaube ich auch.“ Libby lächelte zufrieden.

„Heute hat es dir offensichtlich nicht so viel ausgemacht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, geht schon. Ich wollte es ja so. Das ist wirklich auch ein bisschen wie Therapie für mich, wenn ich mir klarzumachen versuche, warum er das alles mit mir gemacht hat.“

„Wenn du das sagst.“ Owen machte keinen Hehl daraus, dass er das nicht nachvollziehen konnte.

„Das beweist mir, dass es dabei nicht um mich ging. Nicht nur. Er hat das ja auch mit anderen gemacht. Ich verstehe, dass er so gut darin war, weil er das geübt hat. Und …“ Libby suchte nach Worten. „Der Versuch, zu verstehen, warum er das alles mit mir gemacht hat, hilft mir bei der Bewältigung. Ich bin so. Es ist ja mein Job, die kranken Hirne von Serienmördern zu verstehen und Bailey gehört natürlich dazu. Ich muss es für mich formulieren können, warum …“ Sie brach ab.

„Warum was?“, fragte Owen.

„Warum er mich immer wieder gedemütigt hat, denn das hat er. Er …“ Sie holte tief Luft. „Das habe ich dir ja nicht erzählt, aber …“

„Nur zu. Du weißt, ich höre dir zu.“

Libby nickte und schloss die Augen. „Ich muss einfach verstehen, was das auch mit mir gemacht hat. Er wollte ja, dass ich ihn als seinen Herrn anspreche. Ich weiß noch, dieser Moment, als ich alles dafür getan hätte, dass er mir etwas zu trinken gibt – er wollte, dass ich ihn so anspreche. Und das hat funktioniert, verstehst du? Bei mir, meine ich. Ich habe zwar bekommen, was ich wollte, aber in dem Moment habe ich mich selbst zum Opfer gemacht.“

Owen schluckte. „Du hattest doch keine Wahl.“

„Nein, eben. Das versuche ich mir ja die ganze Zeit bewusst zu machen. Ich weiß noch, wie er es zum ersten Mal verlangt hat und ich dachte: Vergiss es – wenn ich das tue, bin ich deine Komplizin. Dann helfe ich dir. Gemacht habe ich es dann trotzdem, er hätte mir sonst furchtbar weh getan.“

Schweigend zog Owen die Schultern hoch und holte tief Luft. Er brauchte einen Moment, bevor er sagte: „Ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Du bist einfach so. Das ist dein Fachgebiet und so, wie ich dich kenne, hilft es dir bei der Verarbeitung, das alles einordnen zu können.“

„Ja, genau. Ich habe schon versucht, es Julie zu erklären, und konnte es nicht. Aber ich weiß noch, dass Sadie das auch mal so gesagt hat. Sie musste immer dem Schrecken einen Namen geben. Ich tue das jetzt auch.“

„Ich bewundere das. Und deine Stärke. Das ist eine echte Leistung.“

„Er ist tot, ich habe mein Leben zurück. Dafür bin ich dankbar und daraus mache ich auch was“, sagte Libby.

Owen lächelte. „Ich würde auch gern mal wieder mit dir zusammen arbeiten. Das war immer toll.“

Libby lachte. „Dann musst du Profiler werden.“

„Nein, danke … mir reicht es, die Schurken festzunehmen. Ich muss sie nicht auch noch verstehen.“

„Aber solltet ihr bei eurem Fall Hilfe brauchen, sag es mir. Dann sehe ich mal, was wir tun können. Unser Team hat ja akut nichts auf dem Tisch.“

„Ist gemerkt. Mal sehen, was kommt. Was wollen wir heute Abend machen?“

„Am liebsten nichts. Faulenzen. Was meinst du?“

„Klingt großartig“, sagte Owen. Als sie mit dem Essen fertig waren, suchten sie sich einen Film bei Netflix aus und saßen anschließend noch ein wenig zusammen, um zu reden.

---ENDE DER LESEPROBE---