Brief an einen französischen Freund - Manfred Flügge - E-Book

Brief an einen französischen Freund E-Book

Manfred Flügge

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Beschreibung

Unser Nachbarland Frankreich, über lange Zeiten abwechselnd Feindesland und Sehnsuchtsland, ist in den letzten Jahrzehnten zum vertrauten Partnerland geworden. Bei den Franzosen fand man Lebenskultur, Eleganz, große Literatur und Malerei, eine festgefügte republikanische Tradition – und Fußball spielen konnten sie auch noch. In jüngster Zeit kippte die Wertschätzung. Es gibt soziale Unruhen und politische Skandale im Land, Reformstau und extremistische Anschläge, eine verlorene Jugend in den unbewohnbaren Vorstädten, das unverdaute Erbe der Kolonialzeit und als Folge all der Probleme das Aufkommen einer autoritär-nationalistischen und fremdenfeindlichen Bewegung. Was ist los, was steckt dahinter, wohin kann das führen? Manfred Flügge, ausgewiesen als versierter Frankreich-Kenner, schreibt einen (fiktiven) Brief an einen (realen) französischen Freund, der seit einiger Zeit den Front National wählt. Er erinnert sich an den Beginn seiner eigenen Frankreich-Liebe, untersucht die Veränderungen im Land und fragt, welche Zukunft den Franzosen bevorsteht und was das für Europa bedeutet. Ein ebenso kenntnisreicher wie besorgter Blick auf unser Nachbarland Frankreich – angesichts des immer offensichtlicheren Erstarkens der Rechtspopulisten.

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Manfred Flügge

Brief an einen französischen Freund

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Über dieses Buch

Unser Nachbarland Frankreich, über lange Zeiten abwechselnd Feindesland und Sehnsuchtsland, ist in den letzten Jahrzehnten zum vertrauten Partnerland geworden.

Bei den Franzosen fand man Lebenskultur, Eleganz, große Literatur und Malerei, eine festgefügte republikanische Tradition – und Fußball spielen konnten sie auch noch.

 

In jüngster Zeit kippte die Wertschätzung. Es gibt soziale Unruhen und politische Skandale im Land, Reformstau und extremistische Anschläge, eine verlorene Jugend in den unbewohnbaren Vorstädten, das unverdaute Erbe der Kolonialzeit und als Folge all der Probleme das Aufkommen einer autoritär-nationalistischen und fremdenfeindlichen Bewegung. Was ist los, was steckt dahinter, wohin kann das führen?

 

Manfred Flügge, ausgewiesen als versierter Frankreich-Kenner, schreibt einen (fiktiven) Brief an einen (realen) französischen Freund, der seit einiger Zeit den Front National wählt. Er erinnert sich an den Beginn seiner eigenen Frankreich-Liebe, untersucht die Veränderungen im Land und fragt, welche Zukunft den Franzosen bevorsteht und was das für Europa bedeutet.

 

Über Manfred Flügge

Manfred Flügge, geboren 1946 in Kolding/Dänemark, wuchs im Ruhrgebiet auf, studierte Romanistik und Geschichte in Münster und Lille, war Gymnasiallehrer und Universitätsdozent. Er lebt als freier Autor in Berlin.

 

1.Anfang vom Ende?

Lieber Roland,

 

nie hätte ich mir vorstellen können, einen solchen Brief zu schreiben, eine Bilanz, bittersüße Erinnerungen und vielleicht ein Abschied. Nun hast Du mir eine ziemlich drastische Botschaft geschickt, die mich zu einer Antwort zwingt. Und Du hast recht: Es ist wohl an der Zeit, die Dinge zwischen uns zu klären.

Ja, ich habe mich bisher einer offenen Diskussion entzogen. Mir fehlte der Mut, mit Dir über politische Entwicklungen zu sprechen, die unsere Freundschaft gefährden könnten. Aktuelle Tendenzen (die autoritären Strömungen in Europa) und kommende Ereignisse (die französischen Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017) fordern uns heraus. Zwar haben die französischen Regionalwahlen vom Dezember 2015 die Gefahr eines Rechtsrucks noch einmal gebannt, doch nur dank des Wahlrechts; die Gefahr eines katastrophalen politischen Umbruchs ist nicht gebannt, und das Problem kann sich jederzeit neu und noch drängender stellen. Auch deshalb schreibe ich Dir.

Briefe an einen Freund auf der anderen Rheinseite haben eine lange Tradition zwischen unseren beiden Ländern. In solchen Schreiben ging es meist um Abgrenzung und Abschied, um das Trennende, das aus einer politischen Lage erwuchs und eine persönliche Beziehung gefährdete, ja unmöglich machte. Ernest Renan hat diese Tradition begründet zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71. Während des Ersten Weltkriegs hat Romain Rolland daran angeknüpft in seinen Briefen an Stefan Zweig, weil ihn dessen anfängliche Kriegsbegeisterung entsetzte. Albert Camus hat daraus eine literarische Form gemacht, in seinen Briefen an einen deutschen Freund von 1944 meinte er allerdings keine bestimmte Person, sondern einen fiktiven Nietzsche-Anhänger, der sich in die deutsche Besatzungsarmee verirrt hätte.

Schon lange wollte ich über unsere Freundschaft schreiben, dieses wunderbare Geschenk des Lebens, eine Erfahrung, die mich entscheidend geprägt hat: Deine Eltern, Euer Bauernhof, Eure Landschaft, die Ardennen, meine Entdeckung von Frankreich. Aber ich hätte es tun wollen als Lob und Dank, um etwas zu feiern und zu bewahren, nicht um Abschied davon zu nehmen oder es gegen etwas in Stellung zu bringen.

Zwischen Dir und mir ist es zunächst reine Privatsache, und doch habe ich das Gefühl, dass unsere Freundschaft ein Beispiel sein kann, das mehr als persönliche Bedeutung hat. Deshalb wähle ich die öffentliche Form. Auch in unserem Fall ist es die Politik, die eine persönliche Beziehung gefährdet, zwar keine Kriege, Annexionen oder Besatzungsregime, aber doch eine gravierende Krise, die eintreten könnte, sollte in Frankreich die Partei an die Macht kommen, der nunmehr Deine Sympathie gehört. So wäre die Unterbrechung unserer persönlichen Freundschaft ein Symbol und eine Metapher für das, was zwischen unseren beiden Ländern geschehen könnte, sollte die von mir befürchtete politische Entwicklung eintreten.

 

Wenn ich bei unseren letzten Begegnungen, zumeist in einem Bistro am Bastille-Platz oder gegenüber von der Gare de Lyon, bestimmten Themen ausgewichen bin, so geschah dies aus Feigheit. Ich hatte Angst, aus Deinem Mund zu hören, dass Du seit längerem schon Front National wählst. Wie hätte ich auf ein offenes Bekenntnis reagieren sollen?

Oft genug hatte ich vernommen, dass Du Dich in Deinen Argumenten auf rechte Postillen und nationalistische Autoren berufst. Ich hatte jedoch gehofft, dass Du nicht allzu weit in diese Richtung abdriften würdest, zumal Du gern auf das christliche Erbe Frankreichs Bezug genommen hast. Inzwischen sieht es politisch dramatischer aus. Auch wenn die Regionalwahl vom Dezember 2015 glimpflich ausging, so fürchte ich doch, dass sich alle Fragen bei der Präsidentenwahl 2017 noch einmal und verschärft stellen könnten. Nur mit Hilfe eines dubiosen Wahlrechts ein Drittel der französischen Wähler auszuschließen ist auch keine Lösung: Dass es so viele sind, die alles in die Luft sprengen wollen, ist ein Problem, das es zu lösen gilt.

Ich wusste nicht, ob eine offene Aussprache nicht all das beschädigen würde, was die Grundlage unserer Freundschaft und damit auch meiner Beziehung zu Frankreich ausmacht, all diese wunderbaren Erlebnisse auf dem Bauernhof Deiner Eltern in den Ardennen, seit meinem 15. Lebensjahr. Bei Euch lernte ich französische Lebensart kennen, dazu die Generosität hart arbeitender Menschen, die in einer Landschaft lebten, in der alle deutsch-französischen Kriege gespielt hatten, in der die Zerstörungen noch sichtbar waren, in der sich aber auch Zeugnisse fanden aus der Römerzeit, aus der Zeit von Karl dem Großen, aus dem Mittelalter und aus dem Leben der Dichter Rimbaud und Verlaine. Diese nachträgliche französische Kindheit, die mir zuteil wurde, hat die Basis für meine lebenslange Beschäftigung mit Frankreichs Sprache, Geschichte und Gesellschaft gelegt, zu der Freundschaften und Beziehungen aller Art gehörten, auch Phasen der Identifikation. Alles, was mir in Deutschland unmöglich war, glaubte ich in Frankreich zu finden, vor allem das ungebrochene Einverständnis mit dem eigenen Land, der eigenen Geschichte. In meiner Generation war ich nicht der Einzige, der sich ein Ersatzland gesucht hat.

 

Kannst Du verstehen, dass ich die Erinnerungen an den wunderbaren Anfang unserer Freundschaft nicht beschädigen wollte durch die leidige Politik? Sollte nach den Enttäuschungen, die Frankreich einem Freund bereiten kann, nun auch die persönliche Ebene leiden?

Aber irgendwann ist die Freundschaft zur Wahrheit wichtiger als die persönliche Freundschaft, um den Satz zu bemühen, den Aristoles in Bezug auf seinen Lehrer Platon schrieb, als er ihm widersprechen musste. Das übrigens hatte mir an der französischen Tradition am meisten imponiert: die Verteidigung der Freiheit, der Geist der Kritik, der Respektlosigkeit, die keine Grenzen mehr kannte, wie im Fall des Blattes Charlie Hebdo und dessen vielen Vorläufern. In Liedern, Pamphleten und antiklerikalen Satiren reicht dieses Genre weit ins Mittelalter zurück. Ich musste aber auch lernen, dass man in Frankreich immer schon eine Schwäche hatte für offizielle Lügen und für Lügner, Aufschneider und käufliche Subjekte, wie im Fall von Malraux, Aragon oder Sartre. Jahrelang war ein notorischer Schwindler der wichtigste Moderator für Fernsehnachrichten.

Nach einer langen Phase der Bewunderung für alles, was ich aus der deutschen Tradition nicht kannte (oder hier nur übersehen hatte), kam unvermeidlich die Phase der Enttäuschungen, etwa dass es mit der vielgerühmten Freiheit nicht so weit her war. Frankreich war genauso das Land der sozialen Konventionen, der sozialen Ausgrenzung, beherrscht von einer Elite, über die man auch lachen kann, wenn man daran denkt, dass diese Damen und Herren fast ausnahmslos auf ihren hohen Schulen durch das informelle Aufnahmeritual der bizutages gegangen sind, der Quälerei, der Demütigung, der physischen Aggression, der Unterwerfung und Selbsterniedrigung, also des schlimmsten Konformismus, was sie später nicht davon abhält, große Reden über die Résistance zu schwingen …

Da ich dem Gespräch mit Dir ausgewichen bin, weiß ich nicht, was Deine Entwicklung beeinflusst hat. Immerhin bist Du viel gereist, warst auf allen Kontinenten unterwegs, hast lange im Ausland gelebt, bist also kein Nabelschau-Patriot. Ich habe oft genug Deinen Frust über Dein Land mitbekommen, und ich konnte ihn durchaus verstehen. Die französische Politik war zum Verzweifeln in den letzten Jahren. Jeder Aufbruchsversuch wurde unterbunden, durch die Lethargie der Politiker oder durch selbstzerstörerisch agierende Gewerkschaften.

Wenn ich Dir also schreibe, so auch, um über Frankreich nachzudenken. Es hat große Probleme, sich zu erneuern; es schafft es aber auch nicht, sich der Bedrohung zu stellen, die vom Front National ausgeht. Aber zunächst will ich mich daran erinnern, was unsere Freundschaft mir bedeutet hat. Ich hoffe, Du erinnerst Dich auch.

Eine Freundschaft, die in den frühen Jahren der deutsch-französischen Aussöhnung begann – und die nun vielleicht zu Ende geht, weil eine Epoche neuer Auseinandersetzungen folgen könnte. Dieser Gedanke ist für mich so schwer erträglich, dass ich diese Vergangenheit noch einmal heraufbeschwören will.

2.Meine französische Kindheit

Eigentlich wollten wir nur nach dem Weg fragen. Wir kamen von Versailles und fuhren nach Orly. Neue Flughäfen waren im Jahr 1962 für Touristen genauso attraktiv wie alte Schlösser. In den hügeligen Straßen von Meudon haben wir uns verfahren. Mein Vater stoppte unseren weißen VW-Käfer neben einem Zeitungskiosk, und meine Mutter, die leidlich Französisch sprach, rief den drei Personen, die auf dem Bürgersteig standen, eine Frage zu. Zwei Stunden später standen wir immer noch da, hatten alle vier, Vater, Mutter, zwei Söhne, das Auto verlassen und waren von einer Menschentraube umringt. Die kleine Anfrage hatte sich zum spontanen deutsch-französischen Dialog entwickelt. Ich weiß nicht mehr, wie wir uns verständigt haben, auch nicht mehr, worüber geredet wurde, im Gedächtnis haften blieb ein euphorischer Moment gegenseitigen Entdeckens in naiver Neugier – und der Name Meudon. Nach Orly haben wir es dann auch noch geschafft.