Brief an meinen Vater - Daniel de Roulet - E-Book

Brief an meinen Vater E-Book

Daniel de Roulet

0,0
14,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Alter von 97 Jahren beschliesst Daniel de Roulets Mutter, mit Hilfe von Exit aus dem Leben zu scheiden. Überrascht und aufgewühlt, beginnt der Sohn in den verbleibenden zwei Wochen, seinem verstorbenen Vater täglich zu schreiben. Er erzählt ihm von seinen Besuchen bei der erblindeten Mutter, die ihn bittet vorzulesen, was er gerade schreibt. Er erinnert sich aber auch, wie sein Vater vor ein paar Jahren gestorben ist, als Greis, zuletzt dement. Er erzählt vom Aufwachsen im calvinistischen Pfarrhaus in St-Imier, von den Gästen am Tisch, den Fahrten mit dem Vater zu entfernten Bauernhöfen. Dann wird ein Sterbedatum gefunden, der Tag kommt, die Kinder versammeln sich, und die Freitodbegleiterin von Exit bringt das bittere Getränk, das die Mutter ruhig zu sich nimmt. "Brief an meinen Vater" ist ein sehr berührendes, aktuelles und auch tröstendes Buch, das sich unerschrocken dem Tod zuwendet, indem es von einer unerschrockenen Frau vor dem Tod erzählt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 72

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Im Alter von 97 Jahren beschließt Daniel de ­Roulets Mutter, mit Hilfe von Exit aus dem Leben zu scheiden. Überrascht und aufgewühlt, beginnt der Sohn in den verbleibenden zwei Wochen, seinem verstorbenen Vater täglich zu schreiben.

Mit ihrem Tod, wird ihm bewusst, sind sie, die Kinder, an der Reihe, ihr Verhältnis zum Tod zu finden. Darüber sucht Daniel de Roulet das Gespräch mit seinem Vater, einem calvinistischen Pfarrer in der Uhrmachergemeinde St-Imier, ­wo Daniel de Roulet aufgewachsen ist. Das mächtige Pfarrhaus stand mitten im Dorf, am Tisch war Arm und Reich zu Gast.

Und der Tod? Was kommt danach? Während die Sterbevorbereitungen der Mutter ihren Gang gehen, führt Daniel de Roulet ein imaginäres Gespräch mit seinem Vater, für den die ­Antwort auf die letzte der Fragen seine calvinistische Religion war. Und während seine Mutter ruhig und gefasst das bittere Getränk zu sich nimmt, versucht der Sohn, seine eigene Antwort zu formulieren, ohne Religion, die ihm nichts mehr sagt, ohne Herr, ohne Gott.

«Brief an meinen Vater» ist ein sehr berühren­des, aktuelles und auch tröstendes Buch, das sich unerschrocken dem Tod zuwendet, indem es von einer unerschrockenen Frau vor dem Tod erzählt.

Foto Yvonne Böhler

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Im Limmat Verlag sind zwölf Bücher erschienen, zuletzt «Zehn unbekümmerte Anar­chis­tin­nen» und «Wenn die Nacht in Stücke fällt. Ein Brief an Ferdinand Hodler». Daniel de Roulet lebt in Genf.

www.daniel-deroulet.ch

Daniel de Roulet

Brief an meinen Vater

Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle

Limmat Verlag

Zürich

Montag, den 4. Juli

Lieber Vater

Heute erfahre ich, dass Mutter beschlossen hat zu sterben. Obwohl du nicht mehr da bist, schreibe ich dir, um dir zu erzählen, wie alles abläuft. Ich hatte mir vorgestellt, ihr würdet gemeinsam sterben, aber du bist vor sechs Jahren als Erster gegangen.

Deine Frau war Mitglied von Exit Suisse Romande, einer Vereinigung für humanes Sterben. Letztes Jahr wollte sie zu Exit Deutsche Schweiz wechseln. Sie benutzt jetzt häufiger die Sprache ihrer Kindheit, das Schweizerdeutsch, das auch du bisweilen in zärtlichen Momenten mit ihr gesprochen hast. Vollkommen erblindet, kann sie keine französischen Zeitungen mehr lesen, also hat sie begonnen, auf Deutsch Radio zu hören. Mit 97 Jahren hat sie be­­schlossen, in ihrer eigenen Sprache Ja zum Tod zu sagen. Sie hat ihre Krankenpflegerin gebeten, Exit zu benachrichtigen. Ich zweifle nicht an ihrem Entschluss, ich fürchte mich nur vor dem Warten. Deine Mutter, weißt du noch, hat den Freitod verurteilt: «Nein, nein, sich umbringen ist zu einfach, was ist mit denen, die zurückbleiben?»

In eure Eheringe habt ihr die Worte eingravieren lassen: À la garde. Du hast deinen Kindern erklärt, dies sei die Losung gewesen, mit der die verfolgten Hugenotten sich untereinander zu erkennen gaben: Im Schutz. Wobei gemeint war: Im Schutz Gottes. Mutter hat mir gesagt, sie wünsche sich diesen Spruch für ihre Todesanzeige, den auch du für deine gewählt hattest. Du siehst, sie denkt immer noch an eure Liebe. Sie spricht davon, aber nicht über diesen Gott, der sie beschützen soll.

Ich schreibe dir nicht, um mit dir abzurechnen, sondern weil ich verstehen möchte, was es heißt, als Sohn eines Pfarrers geboren zu werden, und was ich dir schulde. Wenn wir über Religion sprachen, übrigens ziemlich selten, lautete dein Hauptargument gegenüber einem Atheisten oder Agnostiker wie mir: «Ja, aber was ist mit dem Sterben?» Du hast be­­­hauptet, ein Pfarrer könne bei vielen Dingen Ab­­striche machen, nicht aber beim Tod. Dein Calvinismus war in erster Linie eine Antwort auf die Frage nach unserem Los als Sterbliche. Eine wichtige Frage. Zu der ich mir gemeinsam mit dir Gedanken mache, während ich mich auf das angekündigte Ende deiner Frau vorbereite. Ohne zu große Senti­mentalität.

Dienstag, den 5. Juli

Wie üblich treffe ich mittags mit dem Zug aus Genf bei ihr ein. «Ihre Mutter möchte nicht aufstehen», erklärt mir die Pflegerin, «sie hat mich gebeten, ihren Arzt anzurufen, er kommt gleich vorbei.» Mutter liegt im Bett, die Stimme schwach, als sei sie krank. In eurem Schlafzimmer liegt sie immer noch rechts neben deinem Bett, über das eine Decke gebreitet ist, aber ohne Leintuch. Meine Tränen fließen stumm, damit sie nichts merkt.

Es dauert nicht lange, da trifft Doktor H. ein. Rucksack, enges T-Shirt, Bauchansatz trotz seiner sportlichen Kleidung. Ich ziehe mich zurück. Nach einer Viertelstunde kommt er aus dem Zimmer, wir stimmen uns ab. «Es ist so weit», sagt er, «sie hat ge­­­nug gekämpft.» Dann gibt er der Pflegerin mit einem plumpen Scherz seine Anweisungen: «Le­­gen sie immer nur ein Pflaster auf einmal an, sonst brauchen wir Exit nicht mehr.» Zu mir sagt er: «Ihre Mutter will sterben, ich werde ihren Willen respektieren und das Rezept für das tödliche Medikament ausstellen.»

*

Ist es egoistisch, lieber Vater, an seinen eigenen Kummer zu denken? Bei Beerdigungen habe ich oft festgestellt, dass Tränen, auch meine, eher Rührung über das eigene Schicksal als über das des Verstor­benen ausdrücken. Ich erinnere mich, wie ich einmal um einen Toten geweint habe. Du hast sehr verärgert reagiert, als täte man so etwas nicht in der Öffentlichkeit: «Also wirklich, Daniel!»

Du bist im Ersten Weltkrieg geboren, ich im Zweiten. Deine Mutter war fromm. Dieses Wort hast du immer besonders betont, ihre Gläubigkeit war dir zu aufgesetzt. Ihr wart vier Kinder. Wie es sich in Genfer Familien dieser Art gehört, findet der älteste Sohn seinen Platz in der Geschäftswelt, die älteste Tochter wird Krankenschwester, um sich besser um die Mutter kümmern zu können, der Dritte, also du, studiert Theologie, und das Nesthäkchen endet als Taxifahrer in Paris. Warum hast du dich für Theologie entschieden? Aus Überzeugung? Um deine Mutter nicht zu enttäuschen? Oder um deinem sogenannten aristokratischen Milieu, von deiner Frau als «dekadent» bezeichnet, den Rücken zu kehren?

Im Krieg warst du zunächst Pfarrer in der Haute-Savoie, darauf müsste man noch einmal zurückkommen. Dann wurdest du in eine jurassische Uhrmachergemeinde gewählt. Dort bin ich mit zwei Schwestern und einem Bruder aufgewachsen, ich war der Älteste. Wenn ich in der Schule nach dem Beruf des Vaters gefragt wurde, sagte ich, du hättest keinen, da du keinen Beruf hattest, sondern eine Berufung. Dieser Unterschied war dir wichtig, du übtest keine Profession aus, sondern erfülltest eine Aufgabe.

Wir wohnten also nicht in einer Wohnung oder einem beliebigen Haus, sondern in dem Pfarrhaus des Dorfes Saint-Imier. Und solltest du eines Tages die Gemeinde wechseln, würden wir in ein anderes Pfarrhaus ziehen. Im Kanton Bern sind diese Häuser schöne Residenzen in der Dorfmitte, von einem Garten umgeben. Auch einen Dachboden gab es, einen großen Keller, einen Besuchersalon, ein Zimmer für das Dienstmädchen aus der Deutschschweiz, das sich um die Kinder kümmerte. Und dein Arbeitszimmer mit dem großen, hölzernen Pult, das du dir selbst gebaut hast und an dem ich dir jetzt schreibe. Ich hänge sehr daran wegen des ganz speziellen Knarrens der Schubladen, als Kind lauschte ich hinter der Tür darauf, um zu hören, ob du arbeitetest. An diesem Schreibtisch hast du jeden Sonntag gegen vier Uhr morgens auf deiner Underwood-Schreibmaschine die Predigt getippt, die du um neun Uhr fünfundvierzig halten würdest, nach dem Verstummen der Glocken. Du würdest deine Gemeinde bitten, sich darauf vorzubereiten, im Frieden des Herrn zu sterben.

Mittwoch, den 6. Juli

Während ich auf Mutters Tod warte, bade ich frühmorgens im Genfersee, zum ersten Mal in diesem Jahr. Weil auch sie gerne im Fluss vor euren Fenstern badete? Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel, ging hinunter ins Erdgeschoss, überquerte die Gasse, schwamm stromaufwärts, kehrte zurück und duschte kalt. «Das ist gut für den Kreislauf», sagte sie. Jetzt sehe ich sie vor mir in ihrem Bett, ein kleines Geschöpf, ohne Lippenstift, abge­spannte Züge, aber ruhig.

Sie hat die junge Frau, die sich um ihre Ange­le­genheiten kümmert, zu sich bestellt, um ihr An­­wei­­sungen zu erteilen, Bankkonto, Versiche­­­run­gen, Steuern, eine Überweisung an einen Afri­kane­rin­nen­­verband, eine weitere an die Nachbarin, die ihre Wäsche erledigt, seitdem sie selbst nichts mehr sieht. Und auch das Geld für die anstehenden Leistungen von Exit, das auf dem Konto sein muss, bevor ein Datum festgelegt wird. Bestimmt hat sie auch für die Bezahlung ihres Begräbnisses gesorgt. Sie wusste immer, was sie wollte. Die Aussicht auf ihren Tod wird ihr Verhalten nicht ändern.

Heute Abend traf mich deine Schwiegertochter, die Geigerin, die von einer viertägigen Konzertreise zurückkehrte, in einer seltsamen Verfassung an, vielleicht hat sie meine miserable Laune nicht verstanden. Meine Nerven lagen blank. Nach ein, zwei Gläsern Clairette de Die wurde es besser.