Durch die Schweiz - Daniel de Roulet - E-Book

Durch die Schweiz E-Book

Daniel de Roulet

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Beschreibung

Daniel de Roulet hat wandernd ein Kreuz über sein Land gemacht, um zu Fuss das zu erforschen, was Charles Ferdinand Ramuz «geografischen Patriotismus» genannt hat. Auf den nationalen Wanderrouten 3 und 2 ist er einmal von Genf nach Rorschach und einmal von Porrentruy nach Chiasso gelaufen. Auf jeder seiner insgesamt 29 Etappen hatte er ein Buch als Weggefährten dabei, das eine Geschichte über die durchwanderte Landschaft erzählt. Von Annemarie Schwarzenbach oder dem Vreneli ab dem Guggisberg über Jean-Jacques Rousseau, Stendhal, Agota Kristof, Niklaus von Flüe, Lenin oder Élisée Reclus bis zu Hermann Hesse, Max Frisch oder Tolstoi: 29-mal erzählt ihm die Landschaft eine Geschichte, mit deren Hilfe Daniel de Roulet ein unter Klischees begrabenes Gebiet wieder zum Leben erweckt und dadurch ein «helvetisches Netz» webt, «um mich an der Welt festzuhalten, an dem, was ich gerne Globalität nenne, um damit der Globalisierung ein Schnippchen zu schlagen».

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Zunächst auf der West-Ost-Achse von Genf nach Rorschach und dann über die Nord-Süd-Route von Porrentruy nach Chiasso wandernd macht Daniel de Roulet ein Kreuz über sein Land. Er lädt uns ein, zu Fuß mit ihm zu erforschen, was Charles Ferdinand Ramuz «geografischen Patriotismus» genannt hat.

Auf jeder seiner insgesamt neunundzwanzig Etappen hat er ein Buch als Weggefährten dabei. Von Annemarie Schwarzenbach oder dem Vreneli ab dem Guggisberg über Jean-Jacques Rousseau, Stendhal, Agota Kristof, Niklaus von Flüe, Lenin oder Élisée Reclus bis zu Hermann Hesse, Max Frisch oder Tolstoi: Mithilfe ihrer Geschichten erweckt Daniel de Roulet unter Klischees begrabene Gebiete wieder zum Leben. Er webt dadurch ein «helvetisches Netz, um mich an der Welt festzuhalten, an dem, was ich gerne Globalität nenne, um damit der Globalisierung ein Schnippchen zu schlagen».

Ein atypischer, gedankenstarker Wander- und Literaturführer.

Foto André Würgler

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane und Essays, für die er mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Im Limmat Verlag sind dreizehn Titel von ihm lieferbar, zuletzt erschienen «Staatsräson», «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» sowie «Brief an meinen Vater». De Roulet lebt in Genf.

Maria Hoffmann-Dartevelle, geboren 1957 in Bad Godesberg, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Als freiberufliche Übersetzerin tätig. Übersetzte neben Sach- und Kinderliteratur Romane und Essays aus dem Spanischen und Französischen, darunter Amélie Plume, César Aira, Elena Poniatowska.

Daniel de Roulet

Durch die Schweiz

Wanderungen durch ein Landund seine Erzählungen

Aus dem Französischenvon Maria Hoffmann-Dartevelle

Vorwort von Jean-Christophe Bailly

Vorwort

Vor dem Aufbruch

Die Schweiz von Westen nach Osten

Nichts zu lachen: vielleicht habe ich Heimweh

– Annemarie Schwarzenbach

Genève – Chavannes-de-Bogis – Begnins

27 + 25 km

Wie ein schönes Gewitter

– Germaine de Staël und Benjamin Constant

Begnins – Aubonne – Morges

16 + 18 km

Das eine oder andere Mal auf der großen Weltbühne

– Charles-Ferdinand Ramuz

Morges – Cully – Blonay

25 + 17 km

Mein Kopf will stets zugleich mit meinen Füßen marschieren

– Jean-Jacques Rousseau

Blonay – Plan-Francey – Charmey

20 + 18 km

Der süße Muskat und die bittere Nelke

– Vreneli

Charmey – Schwarzsee – Guggisberg

20 + 16 km

Ein Weltmonument wie der Eiffelturm

– Robert Maillart

Guggisberg – Rüeggisberg – Münsingen

17 + 19 km

Die Position der Rebellion

– Friedrich Dürrenmatt

Münsingen – Moosegg – Lüderenalp

18 + 16 km

Als armer Zimmermann fortgegangen

– Die Emmentaler Auswanderer

Lüderenalp – Menzberg – Malters

21 + 20 km

Übereinandergetürmte Berge, Wolken und Gletscher

– Leo Tolstoi

Malters – Udligenswil – Zug

20 + 20 km

Was nützt uns der Regen von vor tausend Jahren?

– Paracelsus

Zug – Unterägeri – Einsiedeln

13 + 19 km

Sie gafften mich an wie einen Türken

– Ulrich Bräker

Einsiedeln – Siebnen – Amden

23 + 26 km

In einem bescheidenen Winkel dahinträumen

– Robert Walser

Amden – Stein – Urnäsch

14 + 25 km

Der See, eine planetarische Landschaft

– Henry Dunant

Urnäsch – Trogen – Rorschach

27 + 17 km

Die Schweiz von Norden nach Süden

Der Blick des Wanderers

– Stendhal

Porrentruy – Saint-Ursanne – Soubey

17 + 15 km

Große blaue Tannen und helles Licht

– Werner Renfer

Soubey – Saignelégier – Saint-Imier

12 + 18 km

Ich begnüge mich damit, im Kopf zu schreiben

– Agota Kristof

Saint-Imier – Chézard-Saint-Martin – Neuchâtel

15 + 11 km

Ein kleines Land, aber eine große Nation

– Gonzague de Reynold

Neuchâtel – Murten – Laupen

18 + 15 km

Bern, chinesische Stadt

– Victor Hugo

Laupen – Bern – Worb

22 + 16 km

Die Emmenschlange

– Jeremias Gotthelf

Worb – Lützelflüh – Langnau

18 + 13 km

Diaphanometer, Anemometer, Cyanometer, Hygrometer

– Horace Bénédicte de Saussure

Langnau – Eggiwil – Schangnau

12 + 13 km

Warum muss mir dein Anblick versagt bleiben?

– Lenin

Schangnau – Sörenberg – Giswil

19 + 19 km

Zwanzig Jahre, ohne jemals zu essen

– Niklaus von Flüe

Giswil – Flüeli – Stans

10 + 17 km

Die Tyrannei in der Maske der Freiheit

– Gottfried Keller

Stans – Beckenried – Isleten

12 + 18 km

Nebelwesen

– Johann Wolfgang von Goethe

Isleten – Erstfeld – Göschenen

16 + 23 km

Das so wild aussehende Land ist stark bewirtschaftet und arbeitsam

– Arthur Rimbaud

Göschenen – Hospental – Airolo

9 + 17 km

Der Anarchist und die Globalität

– Élisée Reclus

Airolo – Osco – Anzonico

18 + 12 km

Eine Büchse mit verdorrten Blumen

– Max Frisch

Anzonico – Biasca – Bellinzona

18 + 25 km

Zehntausend Briefe an seine Leser

– Hermann Hesse

Bellinzona – Lugano – Morcote

27 + 12 km

Erforschen, welches Volk am besten geht

– Honoré de Balzac

Morcote – Morbio Superiore – Chiasso

16 + 10 km

Quellen – Verzeichnis der «Weggefährten»

Vorwort

Keine Frage, die Schweiz, das sind Berge und Täler, Berge und Täler in endloser Abfolge, eine immer wieder begonnene, überarbeitete Faltung, eine mitunter völlig zerrissene, aber wie neu erscheinende Welt oder Weltlage, ja, frische neue Hänge mit alten Chalets und einer endlosen Fülle von Traditionen, eingegangen in die auf Prospekten abgedruckten Geschichten, während auf den Drehständern die Postkarten, nicht mehr ganz so zahlreich wie früher, vergeblich versuchen, das Geheimnis der Jungfrau oder des Eiger zu lüften, jenes der in den Höhen verborgenen oder der riesengroßen, ganze Täler ausfüllenden Seen, Wassertäler, so ruhig, dass sie einen zutiefst ergreifen. Und keine Frage, die Schweiz ist auch eine Abfolge von nicht sehr großen, durchwegs wohlhabenden Städten, die alle oder fast alle auf die schützenden Höhenzüge ringsum blicken, nicht gleichgültig, aber auch ohne besondere Freude, ja, man wünschte sich, es ginge dort ein wenig fröhlicher zu und es gäbe noch etwas anderes als diese akkuraten Kreisel und diese Genrebilder, bei denen man nie den Eindruck von improvisiertem Leben hat. Ja, da ist dieses «immer zu Diensten», Betonung inklusive, aber läuft man mal einfach drauflos und schaut genauer hin, stellt sich gleichzeitig etwas ganz anderes ein, eine Art Betroffenheit – denn letztlich kann man in all dieser fast schon beunruhigenden Friedlichkeit, die als Zuflucht dient, auch eine mit zittriger Hand beschriftete Oberfläche sehen, auf der sich ebenso viele Phantome und Gespenster tummeln wie überall sonst, wenn nicht noch mehr.

Ich erinnere mich an einen Text von Henri Michaux, in dem er ganz wunderbar davon erzählt, wie er eines Tages – eigentlich eines Nachts – in Basel beim Überqueren einer Brücke die Rheinmädchen oder Rheinfeen hörte, viele leise Stimmen, die ihm aus dem Wasser etwas zuriefen, winzige Loreleien, die, weil er das geschäftige Treiben ein wenig hinter sich gelassen hatte, unversehens auftauchten und sangen – und genau das ist die typischste Regung, die den Spaziergänger, den Besucher, wo immer er herkommen mag, erfasst oder erfassen sollte: ein Sprung ins Unbekannte an der Oberfläche des Durchwanderten, eine Art Diktat, das ihm erteilt wird von dem, was er durchquert. Und eben diesem Erlebnis ist man auf den Fersen, wenn man Daniel de Roulet folgt, wie er es uns vorschlägt, ihm, der beschlossen hat, durch die Schweiz zu wandern, nicht um sie zu entdecken oder wiederzufinden, sondern um sich unterwegs zu fragen, was dieses Land ist, was es zu erzählen hat und – wie man heute so locker (zu locker) sagt – wofür es steht. Denn das ist die schwierigste aller Fragen. Doch wie schön, bei diesem neuen Versuch Unterstützung zu finden, nicht durch Antworten, sondern durch Spuren, in diesem Fall Spuren derer, die ebenfalls – manche schon vor langer Zeit – dort entlanggelaufen sind.

So hat Daniel de Roulet nicht nur mit seinen Füßen zwei sich überschneidende Linien über das Land gezogen («Ich habe das Kreuz über mein Land gemacht», sagt er scherzhaft), vielmehr hat er beschlossen, sich auf jeder der geplanten neunundzwanzig Etappen seiner Wanderung von einem oder einer jener zahllosen Reisenden begleiten zu lassen, die die Schweiz – zweifellos und schon lange eines der am häufigsten durchquerten, meistbesuchten Länder der Welt – hat vorbeiziehen sehen. Zu den feinen, zarten Spuren, welche die Erlebnisse des Wanderers hinterlassen, gesellt sich also der vielstimmige Chor der von ihm gewählten Begleiter. Und damit zeigt sich die Vielfalt an Erzählungen, die ein Land birgt, wobei die offiziellen Erzählungen hier stets den unaufdringlicheren den Vortritt lassen, jenen, die aus den Tiefen oder aus verborgenen Winkeln kommen.

Einmal nur, weil es wohl sein musste, hat Daniel de Roulet einen unerträglichen Weggefährten mitgeschleppt, aber schließlich fortgeschickt, ansonsten und ohne dabei eine anthologische Sammlung, geschweige denn eine Rangliste erstellen zu wollen, macht er uns zu Zeugen und Miterlebenden eines glücklichen Miteinanders: Jenes Vergnügen, abends mit einem Buch in einer Herberge zu sitzen, wird somit zum Dauervergnügen des Lesers. Von Genf bis zum Bodensee und von Porrentruy bis nach Chiasso findet eine doppelte Wanderung statt. Und am Ende, als das Kreuz gezeichnet ist, merkt man, dass man etliche Wege gegangen ist, die in alle Richtungen und durch alle Epochen führen, fast als habe hinter der Gemächlichkeit des Wanderers doch noch etwas von den Siebenmeilenstiefeln eines Peter Schlemihl gesteckt. Natürlich hat Daniel de Roulet weder seine Seele noch seinen Schatten verkauft, nicht einmal an den romantischsten und ergreifendsten Orten (von denen das Land überquillt); Gefühlsausbrüche sind ihm fern, er macht sich die «klugen Beschreibungen» zu eigen, für die er Élisée Reclus, seinen sechsundzwanzigsten Begleiter, lobt. Doch ganz gleich, ob es um den großen anarchistischen Geografen geht oder um Goethe, um Paracelsus oder um Robert Walser, ob man der mathematischen Idealität der Brücken von Robert Maillart oder dem Friedenstraum Henry Dunants begegnet, ob man, unmittelbar nachdem man an der abweisenden, furchteinflößenden Klinik entlanggelaufen ist, in der Anne-Marie Schwarzenbach ihre letzte Leidenszeit verbrachte, oder mit dem verliebten Benjamin Constant zu Pferde an Madame de Staëls Kutsche entlanggetänzelt ist, immer ist es eine kunterbunte Mischung, welche die Schritte des Autors vorantreibt, die selbst verwundert sind über die Vielzahl der zu bewältigenden Kontraste oder scheinbar leichten Anstiegen mit kräftezehrenden Höhenunterschieden.

Dass die Schweiz vor allem ein Land der Berge ist und als solches wesentlich größer und vielfältiger als man zunächst meinen könnte (Kafka fragte sich augenzwinkernd, wie groß die Schweiz wohl wäre, wenn man sie in der Ebene auseinanderziehen würde), bestätigt sich auf fast jeder Seite des Buchs, in dem durchgehend geografische Angaben zu finden sind – sei es bezüglich der Berge oder des Wassers, das in Wildbächen, Flüssen und Strömen, aber natürlich auch in den Seen stets etwas Wesentliches sagt oder leise summt: Dass die Schweiz in der Tat das Wasserschloss Europas ist, in dem Flüsse entstehen, die nach Norden und Süden und sogar (mit dem Inn) nach Osten fließen, und dass diese Lage eine komplexe ist, da zugleich freigiebig und abgeschottet, großzügig und unerbittlich. Darum sowie um Grenzen und Öffnungen hin zur Ferne, die in brandenden Wellen durch tiefste Schluchten tost, geht es in diesem Buch, aber stets nur nebenbei und nie in gelehrtem Duktus, welches Wissen auch immer entfaltet wird.

Auslöser für seine Schweizdurchquerung über Kreuz, so Daniel de Roulet, sei das gewesen, was er seinen «geografischen Patriotismus» nennt. Und beim lesenden Mitwandern hat man das Gefühl, dies sei die einzig legitime Form von Patriotismus, eine, die jedem kollektiven Narzissmus und jedem Aneignungswillen entgegensteht. Genau dort, wo Daniel de Roulet sich am Schnittpunkt seiner beiden Routen befindet – bei Langnau im Emmental –, scheint er zu Reflexionen ansetzen zu wollen, zu einer Art Rückblick auf das von ihm Unternommene, das ihn selbst überrascht. Aber sogleich hält er inne und begnügt sich, da er «tiefschürfende Gedanken darüber, was ein Land ist» ablehnt, mit einer «kleinen Offenbarung». Dies ist zugleich einer der wenigen Momente im Buch, in denen sich der Schatten des Reisenden abzeichnet – ein Beweis dafür, dass er ihn nicht verkauft hat: «Ich bin auf der Welt und habe gerade meinen eigenen Weg gekreuzt», sagt er. Und dieser Moment an dem Punkt, wo das auf den helvetischen Boden gezeichnete Kreuz sich seiner selbst bewusst wird, vermittelt die ganze Spannung, die sich im Buch durchweg und mit so großer Eleganz als einfacher Spaziergang ausgibt.

Jean-Christophe Bailly

Vor dem Aufbruch

Der Gegenstand dieses Buchs ist die Schweiz. Nicht ihre Sitten und Gebräuche, sondern ein Land, das ich zu Fuß durchquert habe und das geografisch bereits gut dokumentiert ist. Und zwar so ausgiebig, dass ich auf jeder Etappe einen Reisegefährten mitnehmen konnte. In der Regel war es ein Buch, manchmal auch nur die Erinnerung an eine alte Bekanntschaft. So viele Leute haben schon vor mir diese Strecken zurückgelegt, dass ich nicht so tun konnte, als wäre ich ihr Entdecker. Ich bin sie nur abgewandert, um sie nochmals aufzusuchen.

Einsames Reisen, meist im Ausland, bin ich gewohnt und habe bereits an anderer Stelle erzählt, wie ich von Paris nach Basel oder von Saint-Malo nach Soissons gewandert bin. Oder auch von Mailand nach Rom. Diese Schweizwanderung habe ich erst spät unternommen, weil ich Wegen misstraute, die zu deutlich markiert sind, um echte Begegnungen zu ermöglichen.

Dem Land gegenüber, in dem ich durch Zufall geboren wurde, empfinde ich das, was Charles-Ferdinand Ramuz einen geografischen Patriotismus nannte. Umso mehr, als er das Gegenteil von bloßem Patriotismus ist. Beim Aufbruch in Genf habe ich eine von Mont Blanc und Savoyischen Alpen dominierte Landschaft bewundert, beide liegen in Frankreich. Bei meiner Ankunft in Romanshorn erstreckten sich am Horizont sanfte Hügel, österreichische und deutsche. Im Tessin, auf den letzten Etappen meiner Wanderung nach Süden, besteht die Landschaft größtenteils aus italienischen Bergen und Tälern. Mein geografischer Patriotismus ist also eher grenzüberschreitend.

Aber zugleich ist er nicht linguistischer Natur, Französisch spreche ich nur zufällig. Zur Beschreibung der Alpenkette bei schönem Wetter benötige ich mehrere Sprachen, darunter Deutsch, das ich mit meiner Mutter gesprochen habe, Italienisch, das ich mit der Mutter meines Sohnes spreche, der wiederum mit seiner Frau Englisch spricht.

Die Schweiz ist weder ein Land mit einer einzigen Sprache noch eine Nation, gerade mal ein Staat, vielleicht auch eine Befindlichkeit, die sich mit Meinungsvielfalt begnügt. Die könnte als weicher Konsens durchgehen. Statt meine Wanderungen als einen identitären Rückzug zu betrachten, habe ich darin einen guten Vorwand für die Verankerung einer gelassenen Annäherung an die Globalität erkannt. Wandernd habe ich mich entfremdet, habe das Kreuz über mein Land gemacht.

Ich habe einige Vorgänger gewürdigt. Es hätten durchaus noch mehr sein können, auch solche, die die Schweiz vom anderen Ufer ihrer Seen mit den flüssigen Grenzen aus betrachtet haben. In Evian hätte ich Marcel Proust zu Wort gebeten, in Konstanz Gérard de Nerval, in Belgirate Stendhal. Aber ich hatte mir vorgenommen, nur einen Weggefährten pro Etappe mitzunehmen. Ausnahmsweise habe ich das Land von innen heraus und ohne allzu große Umwege ausspioniert. Einfach um ein Schweizer Kreuz auf die Landkarte einer persönlichen Geografie zu zeichnen.

Die Schweiz vonWesten nach Osten

Nichts zu lachen: vielleicht habe ich Heimweh

– Annemarie Schwarzenbach (1908–1942)

Für die Strecke von Genf bis Begnins wähle ich Annemarie Schwarzenbach als Wegbegleiterin. Ich habe zwei ihrer Bücher dabei, die ich heute Abend im Hotel lesen will. Ich verlasse Genf am Seeufer, entlang der Grandhotels, die von uniformierten, in ihre Ohrhörer hineinlauschenden Lakaien bewacht werden, solchen, die den vom Casino zurückkehrenden Dostojewski nicht mehr eingelassen hätten.

Ich wandere durch einen Garten, in dem sich ein Graf im Tausch gegen ein Vermächtnis an die Stadt ein Mausoleum hat errichten lassen, eine verkleinerte Kopie des Mausoleums der Scaligeri in Verona. Es folgen mehrere Parks, der Parc de la Perle du Lac mit Schweizer Chalet und einige andere, in denen sich internationale Organisationen niedergelassen haben. Auf Höhe der Welthandelsorganisation bleibe ich vor einem Busch stehen, der ein kleines Steindenkmal teilweise verdeckt.

Bei der Errichtung des Gebäudes, in dem früher die Internationale Arbeitsorganisation ihren Sitz hatte, wurden die Fassaden mit Steinmedaillons von etwa einem Meter Durchmesser geschmückt, eine Hommage an alle Arbeiter der Welt, vom Bauern über den Astronomen bis zum Mechaniker. Alles Männer! Und das, obwohl die meisten Angestellten im Amt Schreibkräfte waren, also Frauen. Die hatten eines Tages die Idee, ein zusätzliches Medaillon meißeln zu lassen, das eine von ihnen hinter ihrer Schreibmaschine zeigen sollte, und es im Park aufzustellen. Diese kleine, hinter einem Busch vergessene Skulptur grüße ich im Vorübergehen.

Wider Willen verlasse ich das Seeufer. Ab dem Botanischen Garten ist es in privater Hand, nur die Grundstücksbesitzer haben Zugang zum See. Nachdem ich die Bahnlinie unterquert habe, geht es bergauf, an den Gittern der großen Anwesen entlang, die von den Genfer Patriziern an Botschaften oder Expats mit stattlichem Vermögen verkauft wurden.

Schon in Pregny wandelt sich die ferne Kulisse. Der Mont Blanc, von dem ich auf Höhe der letzten Brücke über dem Genfer Seebecken nur die Spitze sehen konnte, ragt jetzt im Zentrum des weiten Panoramas der Savoyer Alpen auf, deren Gipfel ich als Kind namentlich zu nennen lernte. Ich erreiche einen kleinen Fluss, der die Grenze des Kantons Genf bildet. Etwa 15 Kilometer folge ich ihm stromaufwärts, unzählige Mäander entlang, auf einem Pfad unter Bäumen, die teilweise von Bibern angenagt wurden. Nach dem Pont de la Bâtie geht es nur noch am linken Ufer der Versoix weiter. Auf der anderen Seite liegt Frankreich. Das Flussbett verengt sich immer mehr, obwohl noch viel fehlt bis zur Quelle im französischen Jura, oberhalb von Divonne.

Am frühen Abend erreiche ich Chavannes-de-Bogis, wo ich auf dem Land übernachten werde. Ich hole einen Text von Annemarie aus meinem Rucksack, um mich auf den nächsten Tag vorzubereiten, an dem ich in Prangins durch den Park jener Klinik laufen werde, in der sie die düstersten Tage ihres kurzen Lebens verbracht hat.

Meine Weggefährtin kam 1908 am Ufer des Zürichsees in einer reichen protestantischen und militaristischen Familie zur Welt. Ihr Großvater war während des Ersten Weltkrieges Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, ihre Mutter eine große Bewunderin des Naziregimes. Schon früh flüchtete Annemarie vor diesen Vorfahren, die man unmöglich ohne ein paar Dosen Morphium verteidigen konnte. Asien, Amerika, Afrika, überall ist sie gewesen, hat von ihren Reisen Chroniken, Romane, Fotografien und ein paar zerbrechliche Freundschaften mitgebracht. Das Geld ihrer Familie hat sie benutzt, um sich von ihr zu entfernen, fuhr lieber ins Engadin, als bei ihren Eltern zu bleiben. Um einfacher reisen zu können, heiratete sie einen französischen Diplomaten, der homosexuell war wie sie und ihre Freiheit nicht einschränkte.

Während das Hitlerregime florierte, suchten Annemarie und ihre aus Deutschland ausgewanderten Freunde nach einem Sinn in ihrem Leben. Mehrere von ihnen haben es selbst beendet. Begegnungen mit André Malraux, Blaise Cendrars, Carson McCullers. Thomas Mann nennt sie in seinem Tagebuch charmant und morphiumsüchtig. Roger Martin du Gard widmet ihr ein Buch: «Für Annemarie – mit Dank, dass sie ihr schönes Antlitz eines untröstlichen Engels auf dieser Erde spazieren führt.» Dann folgen die letzten Ereignisse, jene, die in Prangins spielen und deren Spuren scheinbar getilgt wurden. 1942 ist Annemarie in Sils Maria im Engadin, wo auch Friedrich Nietzsche sich gern aufhielt. Dort hat sie angeblich einen Fahrradunfall, von dem sie ein Loch in der Schläfe davongetragen haben soll. Ihre Mutter beschließt, diese Verletzung müsse in einer Erholungsklinik untersucht werden, genauer gesagt, einer psychiatrischen Anstalt am anderen Ende der Schweiz. Dort wird die Patientin von Doktor Oscar Forel mit den zeitgemäßen Verfahren behandelt: Schlafkur, Insulintherapie, Elektroschocks. Annemarie wehrt sich, der Arzt steigert die Dosis. Innerhalb weniger Wochen wird aus dem Fahrradunfall – falls es wirklich einer war – eine schizophrene Episode. Jetzt kann die Mutter ihre Tochter, deren Widerstand endgültig gebrochen worden ist, nach Hause holen. Sie lässt sie ins Engadin bringen. Mit der Zustimmung weiterer Ärzte entscheidet sie sich für eine letzte Behandlung mit folgendem Wortlaut:

«Ausschaltung jedes körperlichen oder seelischen Schmerzes, (…). Abends nach Bedarf eine Ampulle Somnifen, tagsüber Eucodal, 0–3 Ampullen, je nach Bedarf. (…) Das Programm ist also zusammenfassend ‹Euthanasie›.»

Infolge der ärztlichen Anweisungen stirbt Annemarie ein paar Tage später, am 15. November 1942. Sie ist vierunddreißig Jahre alt. Die Mutter durchsucht ihre Sachen, verbrennt ihre Korrespondenz und sämtliche Spuren des Lebensschmerzes, der ihre Tochter quälte. Reinen Tisch für die Familientradition. Oscar Forel beantragt die Autopsie von Annemaries Schädelhöhle: abgelehnt. Freunde protestieren, ihre Schwester versucht zu intervenieren, nichts zu machen, die Sache wird ad acta gelegt, nie wird man erfahren: War es ein Sturz vom Rad, eine Kugel im Kopf, eine Überdosis? Beim Anblick der Leiche ihrer Tochter ist der Mutter nichts Besseres eingefallen, als sie zu fotografieren, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich tot ist, und den Pfarrer, der die Trauerrede hält, davon zu überzeugen, dass ihre Tochter verrückt geworden ist wie Nietzsche.

Abends, im Hotel in Chavannes-de-Bogis, lese ich noch einmal «Das glückliche Tal»:

«Und ihr seid eures Schicksals Schmied und findet euren Meister und lasst euch taufen, Gottes Kinder, aus dem Paradies vertrieben, ohne Liebe aufgewachsen? Genährt mit Blutsuppe, gefeit gegen Gifte, im Unrecht watend bis zu den Hüften, und unbeirrt? (…) Nichts zu lachen: vielleicht habe ich Heimweh. (…) Erschlagt diese Nacht! Reißt mir diese Stunde vom Hals! Haltet diese Erde an, löscht diesen Himmel!»

Am nächsten Morgen verlasse ich die Ebene oberhalb des Genfersees, von der aus man das Alpenpanorama bewundern kann, das rechts mit dem Mont-Blanc-Massiv beginnt, sich ins Wallis und weiter bis zu den Waadtländer Alpen erstreckt. Ich wandere durch die Weinberge bis Nyon. Avenue Alfred Cortot, ungute Erinnerung. Der Name gehört einem Pianisten, der 1942 – Annemaries Todesjahr – mit dem Vichy-Regime kollaborierte. Rast auf der Schlossterrasse, bevor es weitergeht nach Prangins. Dort steht einerseits das Schweizerische Nationalmuseum, andererseits eine strenge, aber vornehme, von einem Park umgebene Einrichtung: die berühmt-berüchtigte Klinik. In Gesellschaft einiger verstört wirkender Kranker laufe ich über geharkte Alleenwege. Auf einer sonnenbeschienenen Bank, dem Panorama gegenüber, hole ich mein Buch heraus:

«Ich denke an das gesprengte Rund der Bergspitzen,

Die uns mit ihrem Leuchten und ihrer Bläue gnädig waren,

Und ich denke an die Lieblichkeit des Baches,

Der in der Mittagshitze, zur Erntezeit,

So viel über silberne Steine rieselnde Kühlung verbreitete (…)»

Als ich den Namen der Straße entdecke, in der die Klinik liegt, Chemin Oscar Forel, fällt mir ein, dass ich Forels Sohn gut kannte. Auch er hat sich 1942 gegen seine Familie aufgelehnt. Mitten im Krieg trat er der damals verbotenen Schweizerischen Kommunistischen Partei bei und wurde Armenarzt, wie man ihn in Nyon nannte. Später saß er im Schweizer Parlament, trug einen buschigen Stalin-Schnäuzer. Mir hat imponiert, wie er eines Tages Annemaries Cousin, inzwischen Abgeordneter, anprangerte. James Schwarzenbach hatte durch eine rassistische Initiative «Gegen die Überfremdung» von sich reden gemacht.

Zurück am Seeufer, raste ich an der Bar eines kleinen öffentlichen Strandes. Dann laufe ich über den zu grünen Rasen eines Golfplatzes und unter Bahnlinie und Autobahn hindurch, um danach erneut von Dorf zu Dorf bergauf zu wandern. Die Orte geben sich als Weindörfer aus, erweisen sich aber bis Begnins als gediegene Wohngebiete.

Wie ein schönes Gewitter

– Germaine de Staël (1766–1817) und Benjamin Constant (1767–1830)

Das Ganze spielt sich am 26. September 1794 zwischen Genf und Lausanne ab. Ein Reiter nähert sich dem Gespann von Germaine de Staël, die soeben ihre Residenz in Coppet verlassen hat. Der Reiter, ein siebenundzwanzigjähriger Mann, ist Benjamin Constant. Neben dem Gespann her galoppierend, beginnt er eine Unterhaltung mit Germaine, erinnert sie daran, dass sie sich vor einer Woche im Quartier Montchoisi in der Unterstadt von Lausanne begegnet sind. Er sagt, seit er sie gesehen habe, könne er nicht mehr schlafen.

Sie ist auf dem Weg nach Mézery, das vor den Toren von Lausanne liegt, mehrere Stunden reisen sie gemeinsam, und unterwegs scheut er nicht die Lächerlichkeit, ihr ewige Liebe zu schwören. Sie findet ihn unbeholfen, aber charmant, lässt ihn gewähren. Die Beziehung der beiden, die an diesem Tag beginnt, wird mit all ihren Höhen, Tiefen, lauen und leidenschaftlichen Phasen fünfzehn Jahre dauern.

Germaine ist ein Jahr älter als er. Mehr als nur einen Charakterzug teilt sie mit ihm. Beide sind Wunderkinder. Schon mit fünf Jahren hat Benjamin virtuos Cembalo gespielt. Mit achtzehn hatte er bereits die Universitäten von Oxford, Edinburgh und Erlangen besucht. Germaine hat als Dreizehnjährige Rousseau, Montesquieu, Dante und Shakespeare gelesen. Beide sind unglücklich verheiratet.