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Als 2017 das Zeugnis Marcel Nadjaris an die Nachwelt mit aufwändiger Technik entziffert werden konnte, war dies eine Sensation: Die letzte der »Aufzeichnungen aus der Hölle«, der geheimen Aufzeichnungen der jüdischen Häftlinge des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau, war wieder lesbar gemacht. Die Mitglieder des Sonderkommandos wurden von der SS gezwungen, bei dem Massenmord in den Krematorien, dem Verbrennen der Leichen, bei der Entsorgung der Asche von Hunderttausenden Menschen mitzuhelfen. Dass einige von ihnen den Drang verspürten, schriftliche Zeugnisse des Grauens zu verfassen, ist von erschütternder Menschlichkeit. Die Nationalsozialisten rechneten nicht damit, dass einige dieser Zeugnisse auf die Nachwelt kommen würden. Nur dieser Band versammelt alle erhaltenen neun Zeugnisse in deutscher Übersetzung und bettet sie mit ausführlichen Essays in den Entstehungszusammenhang ein.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
wbg Theiss ist ein Imprint der Verlag Herder GmbH
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2., aktualisierte und erweiterte Auflage
Die 1. Auflage erschien 2019 bei derWissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt
Umschlaggestaltung: geviert.com, Michaela Kneißl, Schmiechen
Umschlagmotiv: Geheime Aufnahme der Entkleidung am Krematorium V vor der Vergasung
Foto © APMA-B
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print: 978-3-534-61024-2
ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-534-61041-9
ISBN E-Book (PDF): 978-3-534-61046-4
Vorwort von Hans-Heinrich Nolte
Vorbemerkung
LEBEN UND TOD IN DER HÖLLE
Die Residenz des Todes: die demografische Bilanz von Auschwitz
Die Handlanger des Todes: das Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau
Das vernichtete Krematorium: Sinn und Preis eines Aufstands
Verbrecher oder Helden
Briefe aus der Hölle: die Entdeckungs-, Rekonstruktions- und Übersetzungsgeschichte der Manuskripte
DIE CHRONISTEN UND IHRE TEXTE
Salmen Gradowski: Im Herzen der Hölle
Und auch am Ende war das Wort …
Salmen Gradowski: Texte
[Der Weg zur Hölle]
Im Herzen der Hölle
Vorwort
Die Mondnacht
Der tschechische Transport
Der Abschied
[Brief aus der Hölle]
Lejb Langfuß: Erschüttert von der Gräueltat
Ein Rabbi in der Hölle
Lejb Langfuß: Texte
Die Vertreibung
Erschüttert von der Gräueltat
Salmen Lewenthal: „Von diesem Moment an werden wir alles in der Erde aufbewahren“
Zeuge, Chronist, Ankläger!
Salmen Lewenthal: Texte
[Notizen]
[Kommentar zur „Handschrift von Lodz“]
Herman Strasfogel: „An meine liebste Frau und Tochter“
„Die Hölle von Dante ist unwahrscheinlich lächerlich im Vergleich zur echten Hölle hier“
Herman Strasfogel: Text
[Ein Brief aus der Hölle nach Hause]
Marcel Nadjari: „Ich werde mich nicht rächen können, wie ich es will“
Ein Schrei nach Rache
Marcel Nadjari: Text Text aus dem Jahr 1944
Abraham Levite: Vorwort zur Anthologie „Auschwitz“
Zeit: am Vortag des Todes. Ort: auf dem Schafott.
Abraham Levite: Text
Statt eines Nachworts: ein Kassiber, der angekommen ist
Abbildungen und Pläne
Anhang
1. Chronik ausgewählter Ereignisse im Zusammenhang mit dem Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau
2. Veröffentlichungen der Manuskripte der Mitglieder des Sonderkommandos
3. Anus Mundi: Was die Befreier in Auschwitz sahen
4. Erste Aussagen der Mitglieder des Sonderkommandos
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Nachtrag von Andreas Kilian
Über die Autoren
von Hans-Heinrich Nolte
Was wir heute „Auschwitz“ nennen, war während des Zweiten Weltkrieges ein etwa 40 Quadratkilometer großer „Sonderbezirk“ der SS nahe der Stadt Oświęcim im damals von Deutschland besetzten Polen. In dem Bezirk gab es Wohnungen für SS-Leute, eine große Buna-Fabrik der I.G. Farben, landwirtschaftliche Produktionsstätten und Fischzuchtanlagen. Im Zentrum des Bezirks standen zwei Lager, Auschwitz I und Auschwitz-Birkenau, die in sich vielfältig unterteilt waren – Männer und Frauen, Juden und Roma, politische und kriminelle Häftlinge waren in besonderen, jeweils mit Stacheldraht umzäunten Abteilungen untergebracht. Die meisten Lagerinsassen waren Juden aus allen Teilen des besetzten Europa westlich des Bug. Die Häftlinge waren in Zügen nach Auschwitz gebracht worden und wurden auf dem Lagerbahnhof (der „Rampe“) danach begutachtet, wer noch arbeiten konnte („selektiert“). Der größere Teil – Frauen und Kinder, zu Alte und zu Junge – wurde unmittelbar in Bunker gebracht, die als Waschräume getarnt waren. Sobald die Türen geschlossen waren, wurde von oben Ungezieferbekämpfungsmittel (Zyklon B) hineingeworfen, das zum Erstickungstod führte. Der Todeskampf dauerte meist mehrere Minuten.
Die Leichen der in diesen Massenmorden umgebrachten Menschen wurden in besonderen, von der Firma Topf & Söhne gebauten Öfen verbrannt. Um die Leichen in die Öfen zu schaffen, die Asche fortzubringen und nicht verbrannte Knochen zu zertrümmern, stellte die SS „Sonderkommandos“ aus den zur Arbeit selektierten Häftlingen zusammen. Im Mai 1944 bestand das Kommando aus 874 Mann, von denen nur 25 keine Juden (sondern nichtjüdische sowjetische Kriegsgefangene, Polen und ein Deutscher) waren. Mehrere Mitglieder des Sonderkommandos nutzten die mit der „Arbeit“ verbundene größere Bewegungsfreiheit, um Kassiber und auch umfangreiche Blattsammlungen in Flaschen und anderem zu verstecken und diese Behältnisse zu vergraben: Nachrichten aus der Hölle. Am 7. Oktober 1944 wagte das Sonderkommando einen Aufstand, in dessen Verlauf ein Ofen zerstört werden konnte und immerhin zwölf Männern die Flucht gelang. Sie gehörten zu den wichtigsten Zeugen.
Vergleiche mit der Hölle, mit dem siebten Kreis des Infernos, und Analogien zum „Anus Mundi“, dem „Arsch der Welt“, werden oft benutzt, um Auschwitz allgemein und die Lage des Sonderkommandos im Besonderen zu beschreiben. Die Arbeiter des Kommandos waren durch Stigmatisierung mit dem gelben Stern, Ausgrenzung aus ihren Nachbarschaften, Deportation aus ihrer Heimat in Viehwagen, Selektion und Trennung von ihren Familien auf der Rampe isoliert und in ihrer Selbstachtung verletzt worden. Sie wurden durch Hunger und Schläge körperlich gefügig gemacht. Man befahl ihnen eine Arbeit, die körperlich Brechreiz hervorrief und psychisch die Grundregeln jenes Ich zu zerstören drohte, mit dem und nach dem sie bis dahin gelebt hatten. Das massenweise „ganze Verbrennen“ von menschlichen Leichen, die letzte Phase des Holocaust, sollte die Opfer zu bloßer Materie, zu gleichförmiger Asche verwandeln und allgemein – gegen die jahrtausendealte Kultur des Menschen sowie konkret gegen die Gebote der jüdischen Religion – das Gedächtnis an die Juden vernichten.
Für einen Historiker ist es leichter, diesen letzten Aspekt des Verbrechens zu begreifen zu suchen als Aspekte des bewussten Zerbrechens und Zermahlens von Menschen. Die Verbrennung der Leichen sollte nicht nur den Genozid der Deutschen an den Juden Europas verdecken, sondern auch die historische Existenz der Opfer und insbesondere der Juden nachträglich auslöschen, sollte den Beitrag von Menschen mosaischen Glaubens zur polnischen und deutschen, zur europäischen und zur globalen Geschichte sozusagen im Nachhinein zur Geschichtsfälschung, zu „Fake News“ machen. Deshalb bildeten die Verbrennungsöfen das Zentrum von Auschwitz und das Sonderkommando das Zentrum des Gedenkens, und die in der Asche überlieferten Papierrollen bilden heute das Zeugnis des jüdischen Über lebenswillens selbst unter entsetzlichsten Bedingungen. Die Todgeweihten des Sonderkommandos (dass einige überlebten, hatte keiner erwartet) weigerten sich, an den Erfolg des nationalsozialistischen Rassenwahns zu glauben, und übermittelten der Nachwelt, die sie nach dem Sieg über den Nationalsozialismus erwarteten, Botschaften: Was wir erdulden, ist ungeheuerlich, aber findet und straft die Verbrecher!
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Die neun Texte, die aus der Erde von Auschwitz geborgen wurden, sind – wie der Herausgeber feststellt – „die zentralen Egodokumente des Holocaust“. Von 36 Verstecken, über die ein Überlebender berichtet hatte, wurden immerhin neun gefunden. Pavel Polian macht diese neun mit seiner Edition für die breite Forschung zugänglich. Er stellt sie in den Rahmen der Geschichte ihrer Entdeckung im Kontext der Auseinandersetzungen des Kalten Krieges, der in der UdSSR das Verschweigen des ethnisch/religiös jüdischen Anteils und im Westen eine Ideologisierung der Debatte um die Opferzahlen mit sich brachte. Er berichtet über die Debatten um jüdisch-deutsche Kooperation im Rahmen des Holocaust und diskutiert die Rolle des Sonderkommandos. Er beschreibt die technischen Probleme der Rekonstruktion von Texten, die teilweise durch Feuchtigkeit gelitten haben. Dann folgt eine umfangreiche Geschichte der bisherigen Editionen, die bis zur russischsprachigen Ausgabe Polians 2013 nicht vollständig in einem Band gesammelt waren. Die Texte wurden im jiddischen bzw. griechischen Original sowie in Übersetzungen, auf Polnisch, Englisch, Neuhebräisch, Deutsch und Russisch publiziert. Für die von Polian vorgelegte Edition in deutscher Sprache wurden alle Texte aus dem Jiddischen bzw. Griechischen neu übersetzt; dabei mussten auch Übersetzungsentscheidungen getroffen werden, die nötig wurden, weil die jiddischen Dialekte unterschiedlich sind und Wortbedeutungen sich nach der Vernichtung der ostjüdischen Welt nicht mehr unmittelbar erschließen. Polian benutzt wohl gemerkt im deutschen Text das Wort „Jiddisch“, das in manchen Kreisen Deutschlands als abfällig gilt.
An die umfangreiche Einführung schließt die genaue Edition der Texte an, selbstverständlich mit Angabe von Lücken, wo Schriftzeichen nicht mehr entziffert werden konnten oder ganze Sätze von Feuchtigkeit zerstört wurden. Die neun Editionen beginnen jeweils mit Darstellungen zu den Autoren und ihren Lebensumständen und bereiten auch inhaltlich auf die Analyse der Texte vor.
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Pavel Polian wurde 1952 in Moskau geboren. Er besuchte eine Fremdsprachenschule (Englisch) und studierte Geografie; 1980 promovierte er und arbeitete bis 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geografie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. In diesem Jahr nahm er ein Stipendium der Humboldt-Stiftung am kulturgeografischen Institut in Freiburg an und arbeitete nach dem Ende des Stipendiums 1993 als freier Wissenschaftler. Einzelne Lehraufträge und Stipendien führten ihn nach Hannover, Paris, Princeton, Köln, Yale und Freiburg.
1998 wurde er in Moskau in Geografie habilitiert, 2008 zum Professor für dieses Fach an der Nordkaukasischen Universität Stavropol ernannt. 2015 wurde er Direktor des Mandelstam-Zentrums an der Hochschule für Wirtschaft und Vorsitzender der Mandelstam-Gesellschaft in Moskau.
Der ungewöhnlichen Berufsentwicklung Polians entsprechen seine vielfältigen wissenschaftlichen Produktionen in drei Disziplinen – Geografie, Philologie und Geschichte (sieht man hier davon ab, dass er unter dem Künstlernamen Pavel Nerler auf Russisch auch Gedichte veröffentlicht hat). Seine Publikationen im Fach Geschichte betreffen die Periode der Massenverbrechen der beiden Diktaturen. Ich führe im Folgenden die historischen Monografien zusammen mit zwei geografischen und einer literaturwissenschaftlichen auf, wobei ich die russischen Titel ins Deutsche übersetze:
– Nicht aus eigenem Willen. Geschichte und Geografie der Zwangsmigrationen in der UdSSR. Moskau 2001 (englisch Budapest 2004, polnisch Gdańsk 2015).
– Opfer zweier Diktaturen. Leben, Arbeit, Erniedrigung und Tod sowjetischer Kriegsgefangener sowie Ostarbeiter in der Fremde und in der Heimat. Moskau 1996. 2. wesentlich ergänzte Auflage Moskau 2002. (Die 1. Auflage erschien unter dem Titel „Deportiert nach Hause“ zum Teil auf Deutsch München 2001; die 2. Auflage in japanischer Übersetzung Tokio 2008.)
– Verdammte gehen zugrunde. Schicksale sowjetischer jüdischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg. Erinnerungen und Dokumente. Moskau 2006 (zusammen mit A. Shneer, Ausgabe in Hebräisch 2014).
– Negation der Negation, oder: die Schlacht um Auschwitz. Debatten über die Demografie und Geopolitik des Holocaust. Moskau 2008 (zusammen mit A. Koch, Übersetzung ins Englische Boston 2011).
– Die Wajnachen und die imperiale Macht. Probleme Tschetscheniens und Inguschetiens in der inneren Politik Russlands und der UdSSR (vom Anfang des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts). Dokumente und Materialien. Moskau 2010.
– Zwischen Auschwitz und Babyj Jar. Überlegungen und Forschungen zur Katastrophe. Moskau 2010.
– Zalman Gradovskij. Im Herzraum der Hölle. Schriften, die in der Asche neben den Öfen von Auschwitz gefunden wurden. Moskau 2010.
– Territoriale Strukturen. Urbanisierung – Zersiedlung. Zugänge und Methoden der Forschung. Moskau 2013.
– Papierrollen aus der Asche. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau und seine Chronisten. Rostow am Don 2013. 2. und 3. ergänzte Ausgabe, Moskau 2015 und 2018.
– Geschichtmord bzw. die Trepanation des Gedächtnisses. Schlachten um die Wahrheit über GULAG und Deportation, Krieg um den Holocaust. Moskau 2016.
– Geografische Arabesken. Räume von Inspiration, Freiheit und Unfreiheit. Moskau 2017.
– Ossip Mandelstams letzte Jahre: Verfemung, Verbannung und Tod eines Dichters, 1932–38. Paderborn 2017 (Übersetzung aus dem Russischen). (Hg.) Boris Menschagin. Errinerungen. Briefe. Dokumente. Moskau, 2019.
Pavel Polian hat eine Vielzahl von Aufsätzen zu „seinen“ Themen publiziert. Eine deutschsprachige Auswahl zum Kontext dieses Buches:
– Massenverbrechen in der Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland. Zum Vergleich der Diktaturen. In: Zeitschrift für Weltgeschichte 2.2 (2001). S. 125–147 (zusammen mit H.-H. Nolte).
– Sowjetische Juden als Kriegsgefangene. Die ersten Opfer des Holocaust? In: G. Bischof u. a. (Hrsg.). Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Wien u. a. 2005. S. 488–506.
– Stalin und die Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs. In: J. Zarusky (Hrsg.). Stalin und die Deutschen. München u. a. 2006. S. 89–110.
– Hätte der Holocaust beinahe nicht stattgefunden? Überlegungen zu einem Schriftwechsel im Wert von zwei Millionen Menschen. In: J. Hürter, J. Zarusky (Hrsg.): Besatzung, Kollaboration, Holocaust. München u. a. 2008. S. 1–20.
– Das Ungelesene lesen. Die Erschließung der Aufzeichnungen von Marcel Nadjari, Mitglied des jüdischen Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017). S. 597–618.
Das Buch „Papierrollen aus der Asche“ wurde 2014 auf die Shortlist für den in Russland vergebenen Preis „Der Aufklärer“ gewählt. Ein großer Teil der Editionsarbeit wurde schon für die russische Ausgabe geleistet und diese liegt der deutschen zugrunde.
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Mit der vollständigen und präzisen Edition der „Papierrollen aus der Asche“ hat Pavel Polian einen grundlegenden Beitrag zur internationalen Holocaust-Forschung geleistet. Mit dieser erweiterten deutschen Edition hat er die Quellentexte nun auch im Land der Täter zugänglich gemacht. Einen der Autoren der Papierrollen (Salmen Gradowski aus Suwałki) kennzeichnet er als „stark und empfindsam zugleich“. Das gilt auch für den Historiker und Herausgeber Polian, aber ich möchte es etwas anders formulieren: „genau und einfühlsam“. Wie ein sehr guter Historiker sein muss.
In den letzten Jahren hat Poljan intensiv auch über Babij Jar gearbeitet, das von Deutschen im September 1941 verübte Massaker an etwa 33.000 Juden in Kiew. Das Gedenken an dieses Verbrechen wurde in sowjetischer Zeit durch das Verschweigen der ethnischen Komponente verdeckt, so als seien die Opfer allgemein Sowjetbürger gewesen, und ist heute umstritten, da ukrainische Nationalisten dort auch einiger Opfer aus ihrer Nationalbewegung gedenken wollen, von denen Mitglieder aber selbst an Judenmorden beteiligt waren. In deutscher Übersetzung macht ein Aufsatz die Auseinandersetzung bekannt – Pavel Poljan: Babij Jar und Bandera, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 23.2, S. 391–412. Das nicht nur inhaltlich viel umfangreichere und mit Fotos sowie Karten erweiterte Buch ist 2024 im Verlag „The Historical Expertise“ Kischinew/Chisinau (der Hauptstadt der Republik Moldau) erschienen. Der Titel des russischen Buchs heißt (übersetzt) „Babij Jar. Realien“.
Pavel Polian ist es ein wichtiges Anliegen, die Forschungen zur Erinnerungspolitik im Hinblick auf den Holocaust auch in Ostmitteleuropa zugänglich zu machen. So geschehen mit der russischsprachigen Ausgabe des Buches „Nachbarn. Die Vernichtung der jüdischen Gemeine Jedwabne, Polen“ von Jan T. Gross (bei Princeton University Press), die er mit einem ausführlichen Nachwort begleitete (erschienen 2024 bei Nestor-Istorija, Sankt Petersburg). Die Geschichte des Gedenkens an den Holocaust ist in Ostmitteleuropa eine sehr komplizierte und komplexe Angelegenheit. Der vorliegende Band vermittelt einen tiefen Blick in diese wichtige Forschungsarbeit.
Hans-Heinrich Nolte
Universitäten Hannover und Wien
Dem Entstehen und der Entwicklung dieses Buchs hat der Zufall gehörig nachgeholfen. Im Herbst 2004 entdeckten Nikolai Pobol und der Autor dieser Zeilen im Archivverzeichnis des Zentralen Wehrmedizinischen Museums in Sankt Petersburg, in dem sie nach Auskünften über sowjetische Kriegsgefangene suchten, einen Hinweis auf ein Notizbuch von Salmen Gradowski, einem Angehörigen des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau. Dieser rote Faden spann sich weiter, zum Sonderkommando als Phänomen an sich und zu seinen anderen Mitgliedern, die ebenfalls Aufzeichnungen hinterlassen hatten, die nach dem Krieg aufgefunden wurden.
Die Entdeckung dieser Manuskripte in der Erde und Asche auf dem Gelände der Gaskammern und Krematorien von Auschwitz-Birkenau ist ein für die Geschichte des jüdischen Volkes ähnliches Wunder wie die Funde in der Genisa der Synagoge von Kairo Ende des 19. Jahrhunderts oder wie die Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer 1947. Allerdings bedeuten diese „Schriften aus der Asche“ mehr, als dass sie einfach nur unseren Wissensstand erweitern: Sie haben unsere Selbstwahrnehmung, unsere Vorstellung vom Menschen umgekrempelt, wie Anna Schmaina-Welikanowa es ausdrückte1.
Die Übersetzung ins Russische und die Veröffentlichung der Texte Salmen Gradowskis in den Jahren 2008–11 als Zeitschriften-2 und als Bucheditionen3 gaben einerseits den Anstoß zur Überlegung, auch andere Texte mit ähnlichem Schicksal in den wissenschaftlichen Umlauf zu bringen, und regten andererseits zur Aufarbeitung des Sonderkommandos als eines historischen Phänomens an.
Dadurch ist der russischsprachige Vorläufer dieser Edition entstanden – ein Buch, das in Russland unter dem Kurztitel „Svitki iz pepla“ („Schriften aus der Asche“) bekannt geworden ist und unter verschiedenen Titeln und Untertiteln dreimal – 2013 im Verlag „Fenix“ in Rostow-Don, 2015 und 2018 im AST-Verlag in Moskau – veröffentlicht wurde. Davon ist die zweiteilige Struktur dieser Ausgabe geprägt. Die Herausgebersektion besteht aus einführenden Essays, die mit Einschätzungen zu den Opferzahlen und einem Überblick über die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee beginnen. Es folgt ein Kapitel über das Sonderkommando als beispielloses historisches und psychoethisches Phänomen. Im Anschluss daran wird rekonstruiert, wie der Widerstand und die Rebellion vom 7. Oktober 1944 unter den Lagerbedingungen von Auschwitz-Birkenau organisiert wurden und in welchem Fluidum die Suche, die Entdeckung und die Publikation der Manuskripte des Sonderkommandos in der Nachkriegszeit erfolgten. Auf die Besonderheiten der Manuskripte und ihrer Verfasser wird im zweiten Teil eingegangen, in den Einführungen zu den jeweiligen Texten.
Dabei ist der erste Teil keine Monografie im wahrsten Sinn des Wortes als vielmehr eine Serie kurzer Abhandlungen, die nicht einem streng kausalen Erzählstrang folgen, sondern freier, gleichsam fächerartig arrangiert sind: Jede Abhandlung nuanciert das zentrale Thema auf ihre Weise, stellt einen eigenen, zusätzlichen Aspekt heraus.
Der zweite Teil dieses Buches ist den Chronisten gewidmet oder besser gesagt: überlassen. Diese Sektion umfasst neun Texte jener fünf Mitglieder des Sonderkommandos, deren Manuskripte den Krieg überdauerten und in den Jahren 1945–80 entdeckt wurden – namentlich von Salmen Gradowski, Lejb Langfuß, Salmen Lewenthal, Herman Strasfogel und Marcel Nadjari. Als zehnter Text ist ihnen die Handschrift Abraham Levites hinzugefügt. Mit dem Sonderkommando in Birkenau hatte dieser Chronist nichts zu tun, doch war sein Text – das Vorwort zum Literaturalmanach „Dos zamlbukh Oyshvits“ – im Lager Birkenau nur wenige Hundert Meter von den Gaskammern und Krematorien entfernt geschrieben worden, wobei das Schicksal dieser Handschrift überaus problematisch und bemerkenswert ist.
Insofern liegt hier gewissermaßen eine innere Anthologie in einem Buch vor, das aus Texten besteht, die einst von der Vorsehung „auserwählt“ wurden – weniger für den Druck als allein für den physischen Erhalt. Als eine nunmehr für die Veröffentlichung bestimmte Komposition geben diese Texte meiner Ansicht nach die unmittelbarste Vorstellung und den einprägsamsten Eindruck davon, was in den Gaskammern und Krematorien von Birkenau geschah. Frei von jeder Übertreibung lässt sich sagen: Das sind die zentralen Egodokumente des Holocaust.
Angesichts der Bandbreite der Genres dieser Texte – von der Nachahmung der Prophetendichtung bis zum einfachen Alltagsbrief – könnte diese Ausgabe quasi einem wieder zum Leben erwachten Almanach gleichgesetzt werden, nur fürchte ich, dass der Ansatz der „Oyshvits“-Redakteure bei all der Kühnheit doch deutlich bescheidener war.
Jedem der sechs Chronisten ist im zweiten Teil ein eigener Abschnitt gewidmet, der mit einer kurzen Abhandlung über sein Schicksal, über die Entdeckung seiner Manuskripte sowie deren Übersetzung und Publikation eröffnet wird. Ferner folgen die eigentlichen Texte der Chronisten, die zumeist aus dem Original ins Russische und dann ins Deutsche übersetzt wurden, begleitet von Kommentaren, die ich mitunter gemeinsam mit den Übersetzern erstellt habe. Im Ergebnis steht der jeweilige Text im Mittelpunkt, umrahmt von einem eigenen kontextuellen Stoff.
Die Übersetzung ins Russische erfolgte aus dem Original. Alle Texte des zweiten Teils sind vorher einzeln unter den Namen ihrer Autoren in der Wochen- und Tagespresse4 erschienen. Für diese Buchedition wurden sämtliche Übersetzungen nochmals überprüft und überarbeitet. Jene Fragmente, die bedauerlicherweise unentziffert geblieben sind, werden mit Auslassungszeichen […] markiert.
Im Anhang sind zu finden: 1) die Chronik der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau; 2) das Verzeichnis der Textausgaben der Mitglieder des Sonderkommandos; 3) eine Sammlung sowjetischer Quellen darüber, was die Befreier der Roten Armee im Konzentrationslager Auschwitz am Tag der Befreiung vorfanden; und schließlich 4) die Protokolle der Verhöre der Mitglieder des Sonderkommandos Shlomo Dragon, Henryk Mandelbaum und Henryk Tauber – die allerersten Aus sagen in der Reihe der Zeugnisse. Eine Auswahlbibliografie und ein Abkürzungsverzeichnis runden das Buch ab.
Die Termini „Holocaust“ und „Shoah“ werden hier gemäß der üblichen Verwendung als Synonyme benutzt. Etymologisch unterscheiden sich die beiden Begriffe unterdessen erheblich: „Holocaust“ stammt aus dem Griechischen und heißt so viel wie „vollständige Verbrennung“, während „Shoah“ im Althebräischen „Unheil“ oder „Katastrophe“ bedeutet. Die Katastrophe einer Opfergabe gleichzusetzen, ist an sich mehr als fraglich. Doch das Russische wie das Deutsche kennt – im Unterschied zu anderen europäischen, mit dem Lateinischen verwandten Sprachen – keine lexikalische Abgrenzung zwischen den Opfertypen: den Opfern eines Genozids und jenen einer kultischen Darbringung oder Gewalt im umfassenden Sinn. Dieser Umstand überwindet den benannten Konflikt und lässt die weit verbreitete Verwendungspraxis von „Holocaust“ akzeptabel erscheinen. Anzumerken ist dabei, dass in der russischen Sprache gegenwärtig die synonymische Verwendung des Begriffs „Katastrophe“ an Bedeutung zunimmt.
Einer eigenen Erklärung bedarf der für dieses Buch zentrale Begriff „Sonderkommando“. Diese Erläuterung wird auch gegeben, aber aus Gründen der epischen Ganzheitlichkeit nicht an dieser, sondern an einer anderen Stelle, nämlich zu Beginn des einschlägigen Kapitels „Die Handlanger des Todes: das Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau“.
Nun zum Begriff „Auschwitz“: So wurde die polnische Stadt Oświęcim während der deutschen Besatzung bezeichnet. Unter „Auschwitz I“ ist dabei das Stammlager zu verstehen. Der Ortsname ist in die Bezeichnung der heutigen Gedenkstätte in der polnischen Stadt eingegangen. In allen anderen Kontexten der Nachkriegszeit ist die Verwendung des Toponyms „Oświęcim“ üblich.
Die seit dem „Kalendarium“ von Danuta Czech5 von anderen Publikationen übernommene Kennzeichnung der Krematorien mit römischen Ziffern betrifft alle fünf Krematorien von Auschwitz und Birkenau und beginnt mit jenem Krematorium, das als erstes am Stammlager gebaut worden war; die anderen vier Krematorien sind – von Süd nach Nord betrachtet – mit den Ziffern II bis V nummeriert6.
Anders verfahren Gradowski, Lewenthal und Langfuß in ihren Texten. Sie nummerieren von I bis IV, denn das Krematorium I am Stammlager existiert in ihrer Wahrnehmung schlicht und ergreifend nicht, weil sie nur in Birkenau eingesetzt waren und dort die offizielle Nummerierung noch 1943 geändert worden war (I–IV). Um Verwirrung zu vermeiden, wurde die Kennzeichnung der Krematorien im gesamten Buch standardisiert; entsprechende Korrekturen wurden ohne weitere Hinweise vorgenommen.
Ohne die Unterstützung vieler Menschen und einiger Einrichtungen wäre die Umsetzung dieses Projekts unmöglich gewesen. Zunächst möchte ich den Archivaren aus Russland, Israel, Polen und den USA danken, ohne deren Hilfe dieses Buch gar nicht hätte entstehen können – insbesondere den Mitarbeitern des Wehrmedizinischen Museums in Sankt Petersburg (WMM) A. Wolkowitsch, W. Grizkewitsch, W. Lopuchow und ganz besonders I. Kosyrin; den Mitarbeitern der Gedenkstätte Yad Vashem D. Bankier, N. Gelperin, I. Gutman, N. Cohen, R. Margolina und ganz besonders M. Yonin sowie A. Shneer; den Mitarbeitern des United States Holocaust Memorial Museum P. Black und ganz besonders P. Ilyin; den Mitarbeitern des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau in Oświęcim: F. Piper, P. Setkiewicz und ganz besonders W. Płosa und S. Kowalski; den Mitarbeitern des Jüdischen Historischen Instituts (ŻIH) in Warschau E. Bergman, A. Zbikowski und ganz besonders M. Czajka und J. Jagielski; den Mitarbeitern des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau (IPN) R. Łaszkiewicz und J. Piwowar; den Mitarbeitern des Staatlichen Museums in Majdanek, Lublin, A. Wojcik, T. Kranz und ganz besonders R. Kuwałek; den Mitarbeitern des Staatlichen Museums Stutthof in Sztutowo P. Tarnowski und B. Tartakowska.
In der Reihe der Archivare muss auch Josef Wolnerman aus Jerusalem genannt werden – der Sohn Chaim Wolnermans, jenes Entdeckers und Verlegers eines der Manuskripte Gradowskis, der das Material aufbewahrte und bereitstellte. Eine unschätzbare Hilfe war mir bei der Archivarbeit auch Nikolai Pobol aus Moskau.
Mein großer Dank gilt den Übersetzerinnen der Texte der Sonderkommando-Mitglieder: Alexandra Polian, Alina Polonskaja und Dina Terlezkaja (alle aus Moskau); sie sind auch die Koautorinnen der Kommentare zu den übersetzten Texten. Jede der Genannten zeigte bei der Arbeit mit den Texten außerordentliche Einsatzbereitschaft.
Das Gleiche gilt auch für Yoel Matveev aus St. Petersburg, der „die Vertreibung“ von Langfuß ins Russische übersetzte sowie für Nils Kadritzke aus Berlin/Athen, der den Brief von M. Nadjari aus dem Neugriechischen ins Deutsche übertrug. Ein ganz besonderer Dank geht an Roman Richter, der alles (mit Ausnahme von M. Nadjari) aus dem Russischen ins Deutsche übersetzte sowie an Andreas Kilian, der diese Arbeit und insbesondere vorliegende Ausgabe insgesamt mit seiner kenntnisreichen wissenschaftlichen Überarbeitung und tiefsten Empathie für das Thema des Buchs bereichert hat.
Einen überraschenden und wertvollen Beitrag leistete für das ganze Projekt Alexander Nikityaew, ein IT-Enthusiast aus Tula. Ihm und von ihm entwickelten und angewandten Methoden ist es zu verdanken, dass wir in dieser Edition erstmals über vervollständigte und überarbeitete Versionen der Texte von Nadjari und Langfuß verfügen.
Auch anderen Kollegen, die dieses langjährige und überaus schwierige Projekt insbesondere in der letzten Phase mit Rat und Tat unterstützten, möchte ich danken: N. Chare (Montreal), G. Greif (Tel-Aviv), J. Carras (Freiburg/Athen), S. Lopatenok (Sankt Petersburg), H.-H. Nolte (Hannover), N. Nadjari (Athen), I. Rabin (Berlin), A. Rüdorff (Berlin), A. Schmaina-Welikanowa (Moskau), A. Sternshis (Toronto), D. Williams (Leeds) und J. Zaruski (München).
Zu guter Letzt danke ich den Sponsoren dieses langfristigen und mehrstufigen Projekts, vor allem D. Hochbaum und dem Jewish Heritage Fund (New York), deren Förderung es ermöglicht hat, die allernötigste Erstrecherche in den Archiven und Bibliotheken von Moskau, Sankt Petersburg, Jerusalem, Warschau und Oświęcim vorzunehmen, sowie alle Texte Gradowskis, die uns vorlagen, zu übersetzen und mit Kommentaren zu versehen. Des Weiteren danke ich der Gesellschaft für jüdisches Erbe und Kultur sowie B. Sluzker, J. Tawor und S. Schuchman, die persönliche Mittel in die erwähnten Einzeleditionen der Bücher Gradowskis investiert haben. Ferner danke ich dem Russischen Jüdischen Kongress, der die Kosten der Übersetzung aller anderen Texte der Mitglieder des Sonderkommandos ins Russische und der Vorbereitung der Erstausgabe dieses Buches im Rahmen der Reihe „Switki is pepla: Swidetelstwa o Katastrofe“7 übernahm.
1 Anna Schmaina-Welikanowa über das Buch der Aussagen und Notizen der Mitglieder des Sonderkommandos aus dem KL Auschwitz-Birkenau, aufgezeichnet von Jelena Rybakowa. Im Internet: www.colta.ru/articles/literature/3114.
2 Drei Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Swesda“ („Der Stern“) im Jahr 2008.
3 Zwei Publikationen im Verlag „Gamma-Press“ in den Jahren 2010 und 2011.
4 In den Zeitschriften „Swesda“ („Der Stern“), „Nowyj mir“ („Neue Welt“), „Ab Imperio“ und „Diletant“ („Der Dilettant“) sowie in den Zeitungen „Moskowskije nowosti“ („Moskauer Nachrichten“) und „Jewrejskoe slowo“ („Jüdisches Wort“). Siehe Anhang 2.
5 Czech, 1989. S. 430.
7 Die Schriftenreihe „Schriften aus der Asche: Zeugnisse der Katastrophe“ selbst ist still und leise eingestellt worden. Betonen möchte ich die positive Rolle, die J. Kanner und L. Wittenberg bei den Verhandlungen mit dem jüdischen Kongress übernahmen, wie auch die zutiefst negative Rolle, die I. Altman und B. Briskin auf sich luden, indem sie die Reihe erfolgreich begruben. Dies ist ein lehrreiches Stück, aber nicht aus diesem, sondern aus irgendeinem anderen Buch.
Es ist verblüffend. Die Bestien nutzten einfach alles: die Haut, das Papier, die Stoffe, alles, was dem Menschen diente – das brauchten die Bestien, dafür hatten sie eine Verwendung. Nur die größte Kostbarkeit auf Erden – das menschliche Leben – traten sie mit Füßen.
Wassilij Grossmann, „Die Hölle von Treblinka“
Dort in Zasole bauen die Deutschen Kamine und verbrennen alle Kinder Abrahams.
Aleks „Storch“, jüdischer Junge aus Auschwitz15
Die Möglichkeiten der Vernichtung hatten auch in Auschwitz ihre Grenzen.
Rudolf Höß
Das Areal des Holocaust folgt in seinen Umrissen exakt dem Frontverlauf des Zweiten Weltkriegs auf dem europäischen Kontinent. Beherzt jagten und töteten die Kriegs- und Straforgane des Dritten Reichs und ihre zahlreichen Hilfswilligen die Juden überall in den besetzten Gebieten von Lappland bis Kreta, von Amsterdam bis Naltschik. Wären Rommels Panzer in den Sanddünen bei El Alamein nicht gestoppt worden, sondern in den Osten nach Jerusalem vorgestoßen, hätten die „Einsatzgruppen“ ihrem Ruf sicherlich alle Ehre gemacht: Sie standen ja schon in Griechenland16 bereit und warteten nur auf den Marschbefehl …
Die inoffizielle Hauptstadt dieses auf Menschenhass gebauten Imperiums war das Konzentrationslager in Auschwitz, dem heutigen Oświęcim (im Jiddischen auch Oyshvits oder Uspitzyn genannt). Ein SS-Offizier17 nannte diesen Ort in aller Ehrlichkeit „Anus Mundi“ – „After der Welt“. Später würde man Auschwitz-Birkenau Namen geben, die bis dato jenseits menschlicher Vorstellungen gelegen hatten: „Vernichtungslager“, „Todesfabrik“, „Todesmühle“. Es würde Bezeichnungen für diesen Ort geben, die ganze Zeitepochen begründen, die die Menschheitsgeschichte in eine Zeit vor und eine nach Auschwitz teilen – wobei es sich für die Zeit danach nicht mehr ziemen sollte, zu dichten.
Wenn man Birkenau heute besucht, hält man beim Anblick der Stufen der Gaskammern, der Ruinen der Krematorien und der Bäume, die alles und jeden gesehen haben, unweigerlich den Atem an. Wenn man den Bogen des Lagertors hinter sich lässt und aus dieser Todesresidenz, dieser Welt der Mörder und Henker endlich hinaustritt, bleibt man intuitiv stehen, um die Lungen die entgegenströmende Luft aufnehmen zu lassen, um zu sich zu kommen. Wie nett und gemütlich dagegen doch das alte Inferno in Zeiten von Orpheus und Dante war …
Vom teuflischen Fluch, der auf diesem Ort lastet, handelt eine Legende, die man durchaus als herzerweichend lesen könnte, wären da nicht der Horror und das Entsetzen, die sich hinter ihr verbergen. Es ist die Geschichte von Aleks „Storch“ aus Auschwitz, ein echtes chassidisches Gleichnis.
Gestoßen bin ich auf diese Erzählung bei der Lektüre eines Buches von Heinrich Schönker, dem Sohn von Leon Schönker, dem letzten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Auschwitz vor dem Krieg und dem ersten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Oświęcim nach dem Krieg. Er war der einzige Jude, der versuchte, gewissenlosen polnischen Marodeuren jüdische Handschriften abzukaufen, die diese aus der Erde an den Krematorien ausgegraben hatten:
„Ich spielte oft am Fluss Sola und traf dort einen geistig zurückgebliebenen Jungen, der etwas älter war als ich, vielleicht elf Jahre alt. Er hieß Aleks, aber alle nannten ihn ‚Storch‘. Wenn man ihm eine kleine Münze gab, stellte er sich auf ein Bein, verdrehte die Hände, als seien es Flügel, schürzte seine Lippen zu einem Schnabel und ließ mit kreischender Stimme Vogellaute hören. Gab man ihm eine größere Münze, so tanzte er in dieser Position. Alle lachten, ‚Storch‘ auch, obwohl mich sein Gesicht eher an eine traurige Grimasse erinnerte. […]
Aleks saß stundenlang, mitunter sogar ganze Tage an der Sola und beobachtete die Vögel am Himmel. Er sagte selten etwas, und wenn, dann nur unverständliche Worte ohne Zusammenhang. Unsere Freundschaft beruhte auf zwei Stückchen Brot mit Butter, die ich ihm jeden Morgen brachte. […] Eines Tages drehte er sich plötzlich zu mir, wies mit der Hand auf die andere Seite des Flusses und sagte mit völlig normaler Stimme: ‚Dort in Zasole bauen die Deutschen Kamine und verbrennen alle Kinder Abrahams.‘ […] ‚Woher weißt du das?‘, fragte ich bang. ‚Die Vögel haben mir davon erzählt‘, antwortete er und umfasste mich fester, so als wolle er mich vor einer unsichtbaren Gefahr beschützen. […] ‚Sie haben mir gesagt, dass es hier verbrannt riechen wird und dass sie mich verlassen müssen.‘
[…] Ich wollte ihn noch etwas fragen, aber seine Augen trübten sich. Er hatte den Kontakt zur Welt wieder verloren. Das war im Winter 1939/40.“18
Im Fachjargon der Henker würde es heißen, in Auschwitz-Birkenau sei jedem sechsten Opfer der Shoah das Leben entzogen worden (in Anlehnung an den verharmlosenden Begriff „Lebensentziehung“19). Nachfolgend betrachten wir, welche Einschätzungen zu den Opferzahlen dieses möglicherweise schaurigsten Ortes auf unserem Planeten im Verlauf der Jahrzehnte vor genommen wurden. Aufschlussreich ist diese Betrachtung allemal.
Entsprechende Quellen werden in den zahlreichen Abhandlungen aufgeführt, die in allen Sprachen und auf der ganzen Welt bis heute erschienen sind. Umfangreiche Primärquellen auf Grundlage von erhaltenen Archiven des Konzentrationslagers können dem Schriftenreihe „Hefte von Auschwitz“ entnommen werden wie auch anderen Herausgeberschriften, die von den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Gedenkstätte Auschwitz veröffentlicht wurden. Eine kompakte, aber recht vollständige Übersicht dieser Quellen hat Franciszek Piper in seiner Monografie „Die Zahl der Opfer von Auschwitz aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945–1990“ gegeben20.
Befreit wurde Auschwitz am 27. Januar 1945 von Truppen der 1. Ukrainischen Front. Auf dem Territorium des Lagers arbeitete bald eine ganze Reihe sowjetischer Behörden und Kommissionen. Bevor die Deutschen das Lager evakuierten und verließen, hatten sie die systematische Vernichtung der Lagerarchive betrieben. Dennoch konnten die Befreier eine große Menge an Archivmaterial sicherstellen21. Am 26. März 1945 waren die sichergestellten Unterlagen der Hauptarchivleitung des NKWD der UdSSR übersandt worden, wo sie geordnet, systematisiert und teilweise analysiert wurden. Der Teil des Lagerarchivs, der in die Sowjetunion gelangt war, wurde mit der Zeit auf drei Magazine verteilt: das Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), das Russische staatliche Militärarchiv (RGWA) und das Wehr medizinische Museum (WMM). Der Großteil der Unterlagen bezog sich auf die Zentralbauleitung der Waffen-SS und der Polizei Auschwitz, die im Lagerinteressengebiet ansässig war. Diese Dokumente gingen zwecks Analyse, Katalogisierung und operativer Verwendung beim sogenannten Sonderarchiv des NKWD der UdSSR ein, wo diverse Archivfunde gesammelt wurden (später ist das Sonderarchiv in das RGWA eingegangen).
Ein anderer, kleinerer Teil der Dokumente stellte sich als das Archiv der Lagerkommandantur von Auschwitz heraus. Diese Originale sind an das WMM in Sankt Petersburg übermittelt worden – zur Erforschung medizinischer Aspekte von Leben und Tod in dem Konzentrationslager. Später wurde diesen Akten Salmen Gradowskis Manuskript in jiddischer Sprache hinzugefügt. Gradowski war ein polnischer Jude aus der Gegend von Grodno, Mitglied des Sonderkommandos und einer der Anführer des Aufstands vom 7. Oktober 194422.
Letztlich sind in das Korpus des staatlichen Sonderkomitees (TschGK)23 und schließlich in den Bestand des GARF hauptsächlich Unterlagen eingegangen, die während der Tätigkeit unterschiedlicher sowjetischer und sowjetisch-polnischer Ausschüsse zur Feststellung der Verbrechen des Nationalsozialismus im ehemaligen KZ Auschwitz sichergestellt wurden. Diese Ausschüsse hatten zur Vorbereitung ihrer Berichte die vor Ort entdeckten Archivunterlagen herangezogen, die nachfolgend als Kopie im GARF und dann im RGWA und WMM archiviert wurden. Darunter befinden sich auch Dokumente, die unmittelbaren Bezug zur demografischen Bewertung von Auschwitz haben – nämlich die allerersten Schätzungen der Opferzahlen von Auschwitz, datiert vom 16. März 194524.
Von grundlegender Bedeutung war das System der Auswahl und der Registrierung der Häftlinge dieses Konzentrationslagers, ein System, das unter der Bezeichnung „Selektion“ in die Geschichte eingegangen ist. Auschwitz hat diesen an sich positiven Begriff, der in der Vorkriegszeit eher mit Agrarwissenschaften assoziiert wurde, mit einer anderen Konnotation aufgeladen, die jede sonstige Nebenbedeutung in den Hintergrund gedrängt hat.
Häftlinge, die für Zwangsarbeit, medizinische Versuche und andere den Köpfen der Nazis entsprungene Ziele herhalten mussten, wurden nach ihrer Ankunft auf einer Seite der Rampe25 aufgestellt – Alte, Kranke, Behinderte, Kleinkinder auf der anderen26.
Es war keineswegs so, als wäre es für die Ersten ein Glücksfall gewesen, auf diese Weise „auserwählt“ worden zu sein: Sie wurden nicht etwa willkommen geheißen, sondern registriert, mit einer Häftlingsnummer am Unterarm versehen und in die Quarantäne gebracht. Es war so, als würde man ihnen sagen: „Wir werden dich noch brauchen. Du wirst arbeiten, wir geben dir sogar etwas zu essen. Also bleibe noch ein bisschen am Leben, aber verhalte dich ruhig.“
Den anderen, die auf der Rampe normalerweise die große Mehrzahl stellten, gab man etwas anderes zu verstehen: „Wozu sollen wir euch überhaupt registrieren? Ihr kommt ja auch gar nicht zu uns, sondern in ein ganz anderes Lager. Wir werden euch jetzt belügen, dass sich die Balken biegen. Wir werden euch etwas über Arbeitslager im Osten erzählen, über Duschen und Desinfektion. Ihr seid bitte so freundlich, ruhig zu bleiben. Geht einfach weiter in den Entkleidungsraum und macht, was man euch sagt.“
Wer die Selektion nicht überstanden hatte, auf den wartete, gleich um die Ecke gelegen, tatsächlich ein ganz anderes Lager. Dieses Lager war nicht so weitläufig, bestand es doch eigentlich nur aus einer Rampe, einem Weg, der in die Gaskammern führte, und dem Qualm, der aus den Schloten der Krematorien aufstieg.
Die anderen Häftlinge kamen gleichsam auf eine Durchgangsstation. Denn in den Baracken von Auschwitz, Birkenau, Monowitz und den dutzenden Nebenlagern warteten auf die Elendsgestalten – zumindest auf die Juden und die „Muselmänner“27 – laufende Selektionen mit anschließender Überführung in den Krankenbau des Männer- oder Frauenlagers und daraufhin in die Gaskammern und Krematorien28. Lebend verbrachte ein Häftling in Auschwitz im Schnitt circa neun Monate. Seine Sklavenarbeit, seine persönlichen Gegenstände, Zähne und Haare brachten den Henkern durchschnittlich 1.631 Reichsmark ein. Die aus einem Häftling gewonnene Asche ist in diesen Betrag nicht eingerechnet, obwohl die Lagerverwaltung auch dafür Verwendung fand29.
Das Todeslager Auschwitz-Birkenau war ein durchaus innovativer Betrieb, der wie eine Fließbandfertigung funktionierte – das Ergebnis der höchsten ideologischen und ingenieurtechnischen Anstrengung der besten nationalsozialistischen Köpfe. Selbst die wirtschaftsgeografische Lage stimmte: Das Konzentrationslager befand sich an einem Eisenbahnknotenpunkt. Die von Krakau nach Kattowitz und Gleiwitz verlaufende Querachse trifft dort (jenseits der Sola, näher an Birkenau) auf die Längsstrecke Warschau–Ostrau.
Nichts ist dem Zufall überlassen, alles ist bis ins kleinste Detail durchdacht und technisch höchst raffiniert gelöst. Die Anlage zur Luftbeheizung in den Gaskammern beispielsweise hatte den Zweck, die Blausäure im Granulat dieses ganz speziellen „Desinfektionsmittels“ schneller verdampfen zu lassen, auf dass der Tod nicht lange auf sich warten ließ. Oder die Abflussrinnen zum Sammeln des Menschenfetts in den Verbrennungsgruben zum Beispiel. Oder die Siebe für die Asche und die Werkzeuge zum Zerstoßen und Zermahlen unverbrannter Knochen. Oder die ganz besonderen Sanitätswagen mit den roten Kreuzen an den Seitenwänden, die die Dosen mit dem Granulat und die Mitarbeiter (Sanitätsdienstgrade) mit den Gasmasken transportierten, die täglich aufs Neue ihr Leben heldenhaft riskierten – für das höchste und edelste Ziel des Dritten Reichs: die Entjudung Europas30.
Anfänglich fiel das KZ Auschwitz in der Reihe ähnlicher SS-Einrichtungen nicht weiter auf. Es mag erstaunen, doch fanden hier bis Herbst 1941 keine Massenmorde statt und die erste Gruppe todgeweihter Häftlinge musste aus dem Lager sogar abtransportiert werden. Dies geschah am 28. Juli 1941, als ein Transport mit 575 kranken und invaliden meist polnischen Häftlingen nach Pirna-Sonnenstein geschickt wurde. In der sächsischen Kreisstadt Pirna lag eine der Zentralen der sogenannten Aktion T4 oder – wenn wir einen Euphemismus der Nazis gebrauchen – der Euthanasie („Aktion Gnadentod“). Alle 575 Menschen wurden dort vergast und ihre Leichen eingeäschert. Ihre Verwandten erhielten gefälschte Sterbeurkunden31. Mit diesen mehreren Hundert Polen beginnt die eigentliche Geschichte Auschwitz-Birkenaus als Vernichtungslager. Die Fortsetzung mit den Tausenden sowjetischen Kriegsgefangenen und den Hunderttausenden Juden ließ nicht lange auf sich warten.
Auschwitz war fast das einzige Lager, das seine Funktion eines Konzentrationslagers sehr erfolgreich mit einer anderen Aufgabe vereinte – einer Aufgabe, die im Grunde seine wesentliche war, auch wenn administrativ nirgends erfasst: mit der Mission der „Lebensentziehung“ der Juden, ALLER Juden! Weitere Glieder dieses kleinen, aber überaus wirksamen Todesnetzes waren neben Auschwitz und Majdanek vier provisorische Vernichtungslager: Kulmhof, Treblinka, Bełżec und Sobibor32. Vermutlich ab Juni 1944 wurde die im KZ Stutthof installierte Gaskammer für die Desinfektion der Bekleidung zeitweise auch für die Ermordung von Menschen verwendet33.
Von nun an stach der Vernichtungskomplex Auschwitz-Birkenau in jeder Hinsicht hervor. Dieses Lager im Lager eignete sich besonders zur Todesfabrik. Die Türen seiner Gaskammern waren es, die die brodelnden Reihen noch atmender Menschen in seinen Drachenleib hineinsogen; seine Scheiterhaufen und die Schlote seiner Krematorien waren es, die Tag und Nacht brannten und qualmten, sodass kein Birkenhain entlang des fernen Saums des Riesenlagers dieses schaurige Flimmern verbergen und vor dem süßlichen, Brechreiz erregenden Geruch von verbranntem Menschenfleisch schützen konnte. Das Ritual der Selektion mussten alle durchmachen. Und wenn die arbeitsfähigen und noch lebenden „Glückspilze“ – die mit den gestreiften Arbeitsanzügen und den eintätowierten Nummern – endlich den Zusammenhang zwischen diesen Einzelphänomenen erkannten, dann fragten sie nicht mehr nach dem Schicksal ihrer Liebsten und Verwandten, von denen sie sich auf der Rampe für immer verabschiedet hatten …
Die Anzahl solcher kurzfristigen Insassen dieses „unsichtbaren“ Lagers belief sich Franciszek Piper zufolge auf 880.000 Menschen. Die überwiegende Mehrheit, 98 Prozent, waren Juden. Die restlichen zwei Prozent entfielen auf sowjetische Kriegsgefangene, Polen und die unbekannten Häftlinge anderer Konzentrationslager, die zum selben „humanen“ Zweck nach Auschwitz deportiert wurden: um ihnen auf wirtschaftlich effiziente Weise das Leben zu entziehen oder um sie in einem „Experiment“ zu töten. Genau genommen waren die Selektion und die Vergasung ursprünglich auch nur Experimente gewesen. Die erste experimentelle Erfahrung machte man mit 2.000 sowjetischen Kriegsgefangenen. Mit diesem Versuch fing in Auschwitz alles an.
Die 2.000 Mann wurden im September 1941 nach Auschwitz gebracht (möglich ist, dass einige Hundert schon im August eingeliefert worden und als Versuchskaninchen umgekommen waren). Sie kamen aus den umliegenden Stalags34, wo sie kurz zuvor selektiert und die einen als Politkommissare, die anderen als Juden überführt worden waren. In den Stalags im Reichsgebiet durften sie nicht erschossen werden, also brachte man sie – in strenger Übereinstimmung mit den Einsatzbefehlen des RSHA-Leiters Heydrich – an die eigens dafür eingerichteten Orte. Erschießen konnte man sie schließlich jederzeit. Wäre es da nicht besser, man würde sie der Wissenschaft opfern? Zumal einer Wissenschaft, die in diesem Reich von zentraler Bedeutung war: der Wissenschaft vom Töten von Menschen.
Die Geschichte sowjetischer Kriegsgefangener im Kriegsgefangenenlager der SS in Auschwitz teilt sich in eine legendarisch (hauptsächlich mündlich) und eine dokumentarisch überlieferte. Die Letztere begann am 6. Oktober 1941, als für die sowjetischen Häftlinge erstmalig eine eigene Kartei angelegt wurde. Die legendarisch überlieferte Geschichte beginnt beinahe drei Monate früher, Mitte Juli. Das war, wie der Häftling Kazimierz Smolen berichtet, der Zeitpunkt, an dem der erste Transport mit sowjetischen Kriegsgefangenen in Auschwitz ankam35. Jerzy Brandhuber zufolge habe der Lagerkommandant Rudolf Höß dies bestätigt und angegeben, dass sie in kleinen Gruppen von den Stapo-Leitstellen Breslau, Troppau und Kattowitz gekommen seien36. Der Warschauer Baranowski teilte dem TschGK mit, die erste Gruppe sowjetischer Kriegsgefangener, circa 400 Menschen, sei am 13. August 1941 in Auschwitz angekommen. Sie seien gleich nach der Ankunft, ohne registriert zu werden, im Lagergefängnis, dem Block 11, untergebracht worden, von wo aus man sie zum Arbeitseinsatz in den Kiestagebau eskortiert habe37.
Wahrscheinlicher ist es, dass die erste Gruppe der Kriegsgefangenen nicht vor der zweiten Augusthälfte ins KZ eingeliefert wurde. Denn erst am 14. August erging der „Organisationsbefehl Nr. 40 OKW über die Organisation von Kriegsgefangenenlagern im Reichsgebiet“, dem gemäß im Militärbezirk VIII zwei Stalags auf ehemaligen Schießübungsplätzen angelegt wurden: Nr. 308 in Neuhammer nahe Breslau und Nr. 318 in Lamsdorf in der Nähe von Oppeln. Aus diesen zwei Lagern kam später der Großteil registrierter Transporte im Konzentrationslager an.
Doch an welchem Tag auch immer die erste Gruppe sowjetischer Kriegsgefangener ins Lager gebracht wurde – aus wem sie bestand, lässt sich mit Bestimmtheit sagen: aus todgeweihten Politoffizieren und Juden, die vom argwöhnischen SD aufgespürt und zur Hinrichtung nach Auschwitz geschickt worden waren. Zu diesem Zweck gab es im Lager zwei Erschießungsorte: die Kiesgrube und die sogenannte Todeswand im Hof des wohl grauenvollsten Blocks des ganzen Lagers, des Blocks 11, in dessen Kellergeschoss das Lagergefängnis untergebracht war (auch „Todesblock“ und „Bunker“ genannt).
Bald aber ließ man von der Verschwendung der Kugeln ab, nachdem nämlich Hauptsturmführer Karl Fritzsch, Schutzhaftlagerführer und Höß‘ Stellvertreter, das Hinrichtungsverfahren revolutioniert hatte. Er war es, der vorgeschlagen hatte, ein wenig mit den Pestiziden herumzuexperimentieren, insbesondere mit dem Cyanwasserstoff „Zyklon B“, einem Gift zur Vernichtung von Ungeziefer bei der Entwesung von Massenunterkünften und bei der Entlausung von Bekleidung, das in Auschwitz vorrätig lagerte38.
Es fanden insgesamt drei Versuche solcher Art statt. Sie alle werden in Höß‘ Aufzeichnungen erwähnt und vereinzelt auch in anderen Quellen. Der allererste fiel in die Zeit Ende August, als Höß zur Unterredung mit Eichmann nach Berlin gerufen wurde. Erörtert wurden dort logistische Fragen jener künftigen Aufgabe, die die Stadt Auschwitz als Epizentrum der Judenvernichtung weltberühmt machen sollte.
Während sein Chef abwesend war, beschäftigte sich der Schutzhaftlagerführer Fritzsch mit Umsetzungsmöglichkeiten des Holocaust. Er probierte die in Auschwitz vorhandenen Pestizide mal eben an den Versuchskaninchen, den sowjetischen Kriegsgefangenen, aus39. Es geschah offenbar Ende August im sogenannten Bunker in Block 11. Ob es nun genau so oder doch etwas anders war – die Voraussetzungen für einen solchen Versuch waren alle exakt zu diesem Zeitpunkt gegeben: Vorhanden waren ein geeignetes Gebäude, das tödliche Gift und die Opfer, über deren Anzahl nichts bekannt ist.
Über das zweite Experiment wissen wir unvergleichlich mehr, nicht allein von Höß. Es fand vermutlich zwischen dem 3. und 5. September 1941 statt und kostete 850–860 Menschen das Leben: 600 sowjetische Kriegsgefangene40 240–250 Häftlinge aus dem Häftlingskrankenbau sowie zehn polnische Sträflinge, kollektiv verurteilt wegen der Flucht von Jan Nowaczek am 1. September41.
Offensichtlich hatte man sich auf das Experiment vorbereitet: Das Evidenzbuch im Block 11 verzeichnet für die Zeit vom 31. August bis 5. September keine Neuzugänge42. Am Abend des 3. September wurde im gesamten Lager eine Sperre verhängt: Unter Androhung der Todesstrafe war es verboten, die Schlafblöcke zu verlassen43. Als Ort der experimentellen Hinrichtung wurden die Kellerräume des 11. Blocks ausgesucht, deren vergitterte Fenster nur als kleine Öffnungen ins Freie zeigten. Diese Fenster wurden mit Erde zugeschüttet.
Nun füllten die Opfer die Räumlichkeiten. Zehn zum Tod verurteilte Polen befanden sich zu dem Zeitpunkt ohnehin in dem Block44. Zudem brachten Sanitäter aus dem benachbarten Krankenbau rund 250 tuberkulöse Polen dorthin, die am Vortag vom Standortarzt Dr. Siegfried Schwela ausgesucht worden waren. Dann wurden 600 sowjetische Kriegsgefangene hineingeführt, die höchstwahrscheinlich gerade erst angekommen waren – möglicherweise waren es alle Kriegsgefangenen, die sich gerade im Lager befanden. Es ist durchaus denkbar, dass die Experimentatoren sich für die Unterschiede in der Lebensfähigkeit zwischen den kranken und den noch relativ gesunden Menschen interessierten.
Der Tod sei schnell eingetreten, jedes der Opfer habe nur kurz aufschreien können – damit brüstete sich Höß in seinen Memoiren. Die Wirklichkeit war jedoch eine etwas andere: Als Rapportführer Palitzsch am 4. September, dem Tag nach der Hinrichtung, eine Gasmaske tragend, die Tür dieser Versuchskammer öffnete, sah er, dass einige sowjetische Kriegsgefangene noch am Leben waren. Augenblicklich wurden die Türen wieder geschlossen, noch mehr Gas wurde hineingegeben. Erst um die Mittagszeit wurden die Türen wieder geöffnet und die Fenster des Kellers zum Lüften von der Erde befreit. Am Abend gab es dann wieder eine Ausgangssperre.
Im Hof von Block 11 wurden 20 Sträflinge aus dem Block 5a (wohin sie zeitweise aus dem Gefängnisblock verlegt worden waren), alle Sanitäter und zwei Hilfsarbeiter aus der Leichenhalle mit Karren zum Abtransport der Leichen ins Krematorium versammelt (eine Art Vorläufer des Sonderkommandos). Ihnen wurde Zusatzverpflegung versprochen und aufs Strengste befohlen, kein Wort über die Aktion zu verlieren.
Die ganze Nacht dauerten die Arbeiten, eingeteilt in vier Etappen und dementsprechend in vier Gruppen. Die erste Gruppe (mit Gasmasken) holte die Leichen aus dem Keller heraus. Die zweite entkleidete sie: Kranke trugen nur Unterwäsche, Kriegsgefangene hingegen Uniformen, in deren Taschen Papiere, Geld und Zigaretten zu finden waren. Die dritte Gruppe trug die Leichen in den Hof des Lagergefängnisses, die vierte lud sie auf die Karren und fuhr sie ins Krematorium. Nur schafften sie es nicht, bis Tagesanbruch fertig zu werden, weshalb die Arbeit am Tag darauf – zur selben Zeit und von denselben Gruppen – fortgesetzt wurde. Besonders schlecht lief es mit der Entlüftung der provisorischen Gaskammer und der Einäscherung der Leichen. Dafür wurden noch mehrere Tage benötigt. Die Strafkompanie konnte erst am 11. September in „ihren“ Block 11 zurückkehren.
Das nächste, dritte Experiment fand am 16. September statt, dann aber bereits in der Leichenhalle des Krematoriums. Denn die Nutzung des 11. Blocks bereitete so viele Probleme, dass sie als unzweckmäßig aufgegeben wurde. 900 Menschen, allesamt sowjetische Kriegsgefangene, hielten als Versuchsopfer her45.
Informationen über die Vergasung sowjetischer Kriegsgefangener und polnischer Sträflinge sickerten jedoch nach außen durch, möglicherweise durch die Arbeiter im Krematorium. Im „Informator bieżący“ („Laufender Anzeiger“), dem Untergrundreport des Oberkommandos des Verbandes für den bewaffneten Kampf, vom 17. November 1941 wird das Ereignis auf den 5.–6. September datiert: An diesen Tagen wurden die letzten Leichen aus dem zweiten Experiment im Krematorium angeliefert.
In seinen Aufzeichnungen vermerkte Höß, von Eichmann Einzelheiten über die Tötungsmöglichkeiten erfahren zu haben, wie Vergasungen im industriellen Ausmaß durchzuführen seien46. Höß verschweigt dabei in aller Bescheidenheit, dass in Auschwitz bereits unabhängige Versuche unternommen worden waren.
Was die dokumentarisch überlieferte Geschichte sowjetischer Kriegsgefangener in Auschwitz betrifft, so begann diese offiziell schon am 15. September. An diesem Tag wurde nämlich das „Russische Kriegsgefangenen-Arbeitslager“ innerhalb des Konzentrationslagers Auschwitz offiziell eröffnet. Dafür wurde praktisch der gesamte Lagerbereich links von dem Lagertor bereit gestellt und von einem Elektrozaun eingefasst: die Blöcke 1–3, 12–14 und 22–24 – zwischen den Blöcken 14 und 2447 wurde der Eingang48 eingerichtet. Verwaltungstechnisch handelte es sich um ein Arbeitslager der SS und der Polizei, nicht der Wehrmacht – wie alle anderen Stalags und Dulags49.
Der zweite Meilenstein dieser Geschichte ist der 1. Oktober 1941. Ab diesem Tag existierte in der Lagerverwaltung eine SS-Sonderbauleitung für die Errichtung eines Kriegsgefangenenlagers in Birkenau unter der Aufsicht des SS-Oberführers Hans Kammler. Am 3. November wurde diese Abteilung mit der SS-Neubauleitung Auschwitz zusammengelegt, woraus die Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei in Auschwitz unter der Führung von Karl Bischoff50 hervorging. Als Maximilian Grabner, Leiter der Politischen Abteilung des Konzentrationslagers und für die Registrierung der Häftlinge zu ständig, sich an Höß mit dem Vorschlag wandte, Ordnung in das Registrierverfahren sowjetischer Kriegsgefangener zu bringen, sagte der Letztere mit einem Lächeln: „Machen Sie sich keine Sorgen. Die leben ohnehin nicht mehr lange.“51
Das dritte relevante Datum ist der 6. Oktober 194152. An diesem Tag wurden im Lager die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen registriert, wie aus den Bruchstücken der teils erhaltenen Namenskartei hervorgeht. Das sind nur Fragmente aus der Anfangszeit des Lagers: Karteikarten mit den Daten von 7.641 Menschen, von denen die meisten mit den ersten 9.908 Kriegsgefangenen in sechs Transporten im Verlauf von weniger als zwei Wochen in Auschwitz eingeliefert wurden. Die ersten 100 (exakt 100) Kriegsgefangenen wurden am 6. Oktober 1941 registriert. Zwei große Gruppen zu circa 1.800–1.900 Menschen wurden am 7. und 9. Oktober ins Register eingetragen (3833 ist die letzte Häftlingsnummer). Dem Eintrag folgt eine auffällige Lücke von rund 250 Menschen (die Häftlingsnummern 3834 bis 4087). Dann wurden wieder circa 900 Menschen registriert, die ebenfalls am 9. Oktober angekommen waren (die Häftlingsnummern 4088 bis 4999). Die annähernd gleiche Anzahl von Neuankömmlingen wurde am 14. Oktober erfasst (Häftlingsnummern 5000 bis 5899). Denen folgen die Ankömmlinge vom 19. und 20. Oktober (bis zur Häftlingsnummer 7900).
Mit diesen Daten korrelieren die Angaben zu den Transporten mit sowjetischen Kriegsgefangenen. Die ersten beiden dokumentierten – mit 2.014 bzw. 2.145 Personen – kamen aus dem Stalag 308 in Neuhammer dementsprechend am 7./8. und 9. Oktober.
Ein Abgleich mit der Anzahl der Registrierten ergibt einen Unterschied von 300 und 500 Menschen: Das sind sie, die ersten Selektionen, die noch nicht zur Routine geworden sind53. Drei weitere Transporte mit sowjetischen Kriegsgefangenen kamen am 19., 20. und 25. Oktober aus den Stalags 308 und 318 (jenem in Lamsdorf), mit jeweils 1.955, 986 und 1.908 Menschen. Registriert wurde zudem eine Gruppe von 75 Personen, angekommen aus Neuhammer am 15. November.
Erhalten ist auch ein Totenbuch: das Todesregister sowjetischer Kriegsgefangener54. Deren natürliche Sterberate – nach der Selektion, aber ohne Vergasung – war einfach gewaltig: An den ersten 144 Tagen, an denen das Register geführt wurde, starben 8.320 Menschen. Dabei starben im Oktober 1941 pro Tag im Schnitt 50 Personen, im November 124, im Dezember 62, im Januar 33 und im Februar 1942 15 Personen. Die Auswertung der Kartei und der Totenbücher zeigt, dass von den Menschen, die nicht später als am 20. Oktober 1941 registriert worden waren, bis März 1942 nur 1.688 überlebten. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung im Lager betrug zwei, höchstens jedoch vier Wochen55. Den Höhepunkt erreichte das Sterben an den ersten vier Novembertagen, als jeweils 253, 213, 278 und 352 Leichen registriert wurden, und vom 13. bis 15. November mit 284, 255 und 201 Toten56.
Die Sonderkommission der Gestapo unter der Führung von Dr. Rudolf Mildner, Leiter der Kattowitzer Gestapo, die zum Monatswechsel Oktober/ November nach Auschwitz gekommen war, teilte die Kriegsgefangenen in vier Gruppen ein: fanatische Kommunisten (rund 300 Menschen), politisch Belastete (700), politisch Unverdächtige (8000) und zum Wiederaufbau Geeignete (30). Anders gesagt wurde im November die Selektion nach gesundheitlichen Aspekten um die Selektion nach politischen Gesichtspunkten erweitert. Insofern ist nicht auszuschließen, dass die „Todesrekorde“ im November auf die „fanatischen“ Kriegsgefangenen zurückzuführen sind57.
Die körperlich relativ kräftigen „Fanatiker“ wurden entweder im Hof des 11. Blocks erschossen oder von Ärzten durch Phenolspritzen getötet. Die Leichen wurden im Krematorium I eingeäschert; wenn es aber wegen Wartungsarbeiten geschlossen war – wie etwa am 19. November –, wurden sie nach Birkenau gebracht, um dort in Massengräbern verscharrt zu werden.
Die arbeitsfähigen Kriegsgefangenen wurden vom ersten Tag an geschunden. Allerdings wurde erst in einem Schreiben des Inspekteurs der Konzentrationslager und des Bevollmächtigten für den Arbeitseinsatz vom 29. November die Verwendung der Kriegsgefangenen in Aussicht gestellt. Dementsprechend wurde auch die Pflicht eingeführt, die arbeitenden Kriegsgefangenen statistisch genauso zu erfassen wie andere Gruppen auch. Zweimal monatlich, am 1. und 15. eines Monats, wurden die Anzahl der Gefangenen, die Anzahl der Facharbeiter unter ihnen und deren Verwendung nach Berufsgruppen gemeldet58. Ende des Jahres wurde der Bau eines neuen, gigantischen Lagers für Kriegsgefangene in Birkenau beschlossen, das auf 100.000–125.000 Menschen ausgelegt sein sollte59. Eine Entscheidung, hinter der sich der Übergang zur massiven Konzentration und die Vorbereitung auf den Massenmord nicht mehr an Kriegsgefangenen, sondern – ab 1942 – an den Juden verbergen.
Die genaue Anzahl der Auschwitz-Häftlinge, die in der Zeit vor 1942 ums Leben kamen, ist unbekannt. Schätzungsweise waren es 20.000. Im Verlauf des Jahres 1941 wurden über 27.000 Häftlinge ins Lager eingewiesen, darunter 9.997 registrierte sowjetische Kriegsgefangene und 17.270 andere. Die Todesrate unter den Registrierten betrug 83 Prozent.
Das Konzentrationslager Auschwitz, das im Juni 1940 als eine Art Internierungslager und teils auch als Umschlagplatz für polnische Gefangene aus den Gefängnissen in Oberschlesien und dem Generalgouvernement geschaffen worden war, wuchs aus diesen Funktionen schnell heraus und entpuppte sich als das Herzstück der schwersten Repressionen und schließlich der Vernichtung der sowjetischen Kriegsgefangenen und teils auch der polnischen politischen Häftlinge. Neben der indirekten Einwirkung auf die Gefangenen (menschenunwürdige Haftbedingungen in Kombination mit schwerster Arbeit) wurden hier auch direkte Vernichtungsmethoden eingesetzt: Massenmord an Kriegsgefangenen und polnischen Gefangenen durch medizinische Versuche, Erschießung, Einspritzung von Phenol oder Vergasung.
Auf die unverblümte Frage, wem es im KZ Auschwitz schlechter gegangen sei – den Juden oder den sowjetischen Kriegsgefangenen –, sagte der polnische Zeuge Sigmund Sobolewski, Auschwitz-Häftling mit der Nummer 88, ohne nachzudenken: „den Kriegsgefangenen“60.
Die drei für das Schicksal der Juden maßgeblichen Praktiken von Auschwitz – die Selektion, die Nichtregistrierung61 und schließlich die Ermordung in den Gaskammern – nehmen also mit den sowjetischen Kriegsgefangenen, an denen herumexperimentiert wurde, ihren Anfang. Die gefangenen Sowjetsoldaten mussten aber auch als Deckmantel herhalten, um über die Ziele der Henker hinwegzutäuschen: Die Bezeichnung des Lagers in Birkenau (Auschwitz II) als Kriegsgefangenenlager diente, zumal bei einer Kapazität von 125.000 Personen, als förmliche Begründung dessen, dass gigantische Gaskammern („Entlausungskammern“) und monströse Krematorien62 gebaut wurden. Enthüllend wirkt hierbei jedoch der Umstand, dass nicht die Kommandantur (Abt. I) des Lagers Birkenau und nicht das Sanitätswesen (Abt. V) des Konzentrationslagers für die Verwaltung der Krematorien zuständig war, sondern die Politische Abteilung (Abt. II)63.
Obwohl die meisten Verwaltungsakten vernichtet wurden, bedeutet dies nicht, dass der Vorgang überhaupt nicht dokumentiert ist. Zahlreich sind etwa die Unterlagen über den Transport der Häftlinge nach Auschwitz (Transportlisten, Aufzeichnungen angekommener Züge etc.). Besonders ausführlich sind Auskünfte über die Deportation von 437.402 ungarischen Juden64 nach Auschwitz. Zudem wurden Meldungen über die Ergebnisse durchgeführter Selektionen angefertigt. Die Politische Abteilung des Konzentrationslagers berichtete dem RSHA in Berlin, die Abteilung Arbeitseinsatz rapportierte nach Oranienburg an die Abteilung D II der Inspektion der Konzentrationslager. Die Berichte der Politischen Abteilung sind nicht erhalten geblieben. Von den Letzteren aber sind uns mindestens drei überliefert. In einem davon, datiert 20. Februar 1943, sind drei Transporte verzeichnet, die am 21., 24. und 27. Januar 1943 aus Theresienstadt ankamen, bestehend aus 5.022 Juden. 930 von ihnen, darunter 614 Männer und 316 Frauen, wurden für den Arbeitseinsatz aussortiert; die restlichen 4.092 Menschen, 1.422 Männer sowie 2.670 Frauen und Kinder, wurden „sonderuntergebracht“65. Weitaus geläufiger als der Begriff „Sonderunterbringung“ waren Termini wie „Sonderbehandlung“ und „Sondermaßnahmen“. Der Sinn aber war stets derselbe: Liquidierung – sprich Mord.
Informationen über das Vernichtungslager, dessen temporäre Insassen und ihre ewige, sich Tag für Tag als Routine abspielende Tragödie erreichten die Alliierten zwar, wurden in deren Führungsstäben jedoch meist unter den Teppich gekehrt. An die Öffentlichkeit gelangten sie jedenfalls lange Zeit nicht.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Kriegsflüchtlinge der US-Regierung veröffentlichte Informationen vom November 1943 über die Ermordung von rund eineinhalb Millionen Juden in Auschwitz. Walter Rosenberg alias Rudolf Vrba nannte im Eichmann-Prozess 1961 eine größere Anzahl zum Stichdatum 7. April 1944 – nämlich 1.756.000, ermittelt auf der Grundlage aller gezählten Transporte66. Sie ist die Summe aus der jeweiligen Anzahl jüdischer Bürger aus den folgenden Ländern: 900.000 aus Polen plus 300.000 Juden, die auf polnischem Gebiet interniert waren; 150.000 aus Frankreich; aus den Niederlanden 100.000; aus Deutschland 60.000; 50.000 aus Belgien; aus Jugoslawien, Italien und Norwegen 50.000; aus Griechenland 45.000; aus Litauen 50.000; 30.000 aus Böhmen, Mähren und Österreich sowie 30.000 aus der Slowakei67. Unter Berücksichtigung der Sterberate anderer in Auschwitz ermordeter Völker schätzten Angehörige der Widerstandsbewegung die Gesamtzahl der Opfer auf zwei Millionen Menschen. Auch wenn viele Schätzungen im Vergleich zu den Informationen, die sich durch die Wirklichkeit verifizieren lassen, überzogen sind, muss es erstaunen, mit welcher Sorgfalt die Anführer des Untergrunds solche Schätzungen und Zählungen betrieben, mit welcher Aufmerksamkeit jede neue Information von ihnen gesammelt und verarbeitet wurde.
Ähnliche Zahlen wurden auch in der zweiten Widerstandszentrale in Auschwitz kolportiert, nämlich innerhalb des jüdischen Sonderkommandos. Sowohl Salmen Gradowski als auch Salmen Lewenthal erwähnten in ihren herzzerreißenden Notizen „Millionen“ von Juden, eine Schätzung aus buchstäblich erster Hand. Andere Männer des Sonderkommandos gaben abweichende Schätzungen ab: Stanislaw Jankowski alias Alter Feinsilber sprach von mindestens zwei Millionen Menschen; Jakob Kaminski von zweieinhalb Millionen (Stand August 1943, überliefert durch Jakub Gordon); Henryk Tauber sprach von vier Millionen Menschen und Shlomo Dragon von mehr als vier Millionen; Henryk Mandelbaum von viereinhalb Millionen68. Ähnlicher Größenordnung sind auch die Schätzungen nichtjüdischer Auschwitz-Häftlinge. Der Pole Kazimierz Smoleń, als Schreiber in der Registratur der Politischen Abteilung tätig, behauptete, von den registrierten Häftlingen seien mindestens 300.000 Menschen gestorben, während die Anzahl nicht registrierter Opfer sich auf zweieinhalb Millionen Menschen belaufen habe – macht 2,8 Millionen Menschen insgesamt. Dort arbeitete auch Stanisława Rachwałowa. Sie habe gehört, die Opferzahl habe vier bis fünf Millionen Menschen betragen. Witold Kula schätzte die Anzahl auf dreieinhalb bis vier Millionen Menschen, Erwin Olszówka auf vier bis viereinhalb Millionen. Kazimierz Cieszewski nahm an, es seien vier bis fünf Millionen gewesen. Hans Roth sprach von vier Millionen, mit der Anmerkung, dies sei ja wohl allgemein bekannt gewesen. Bernard Czardybon, Kapo69 des Kanada-Kommandos im Stammlager Auschwitz I, gab die höchste Schätzung dieser Art ab: fünf bis fünfeinhalb Millionen Menschen70. Ähnliche Zahlen nannten zwei ungarische Zeugen: Bela Fabian sprach von 5,1 Millionen Menschen (11. April 1945)71, Dr. Djula Gal von fünf Millionen – dreieinhalb Millionen Juden sowie eineinhalb Millionen Polen und Russen (22. März 1945)72.
Und mag es auch verwundern, doch gaben die meisten Vertreter der Henkerriege ähnliche Schätzungen ab. Pery Broad und Friedrich Entress sprachen von zwei bis drei bzw. zweieinhalb Millionen, Wilhelm Boger von mindestens vier, Włodzimierz Bilan von fünf Millionen73, der Leiter der Politischen Abteilung des Konzentrationslagers, Maximilian Grabner, von drei bis sechs Millionen74.
Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang das Geständnis des am besten informierten Zeugen: des Kommandanten Höß. Im Nürnberger Prozess bezifferte er die Anzahl der nach Auschwitz zur Vernichtung eingelieferten Juden unter Berufung auf Eichmann auf insgesamt zweieinhalb Millionen Menschen, wobei Höß diese Zahl zugleich relativierte: „Die Möglichkeiten der Vernichtung hatten auch in Auschwitz ihre Grenzen.“ Als er versuchte, sich die länderbezogenen Zahlen jüdischer Opfer ins Gedächtnis zu rufen, nannte er die folgende Auflistung, die in der Summe 1,13 Millionen Menschen ergibt und offenbar unvollständig ist: 250.000 aus Oberschlesien und dem Generalgouvernement; aus Deutschland und Theresienstadt 100.000; 95.000 aus den Niederlanden; aus Belgien 20.000; aus Frankreich 110.000; aus Griechenland 65.000; aus Ungarn 400.000; 90.000 aus der Slowakei75. Eichmann bestätigte diese Angaben im Jerusalemer Prozess nicht – dementierte sie aber auch nicht76.
Die erste Schätzung der Opferzahlen in Auschwitz war untrennbar mit den Ermittlungen des von der Sowjetunion eingesetzten staatlichen Sonderkomitees TschGK verbunden, das seine Arbeit gleich nach der Befreiung des Lagers aufnahm. Eine technische Expertenkommission77 wurde eingerichtet, die rund 200 ehemalige Häftlinge und Mitarbeiter des Konzentrationslagers befragte. Unter den Personen, die bereitwillig mit der Kommission kooperierten, waren auch drei ehemalige Männer vom Sonderkommando: Tauber, Dragon und Mandelbaum78. Die Kommission untersuchte ebenfalls eingehend die erhaltenen Baupläne und die Dokumentation der Gaskammern und Krematorien von Auschwitz-Birkenau sowie deren Überreste vor Ort.
In der Presse, und zwar im „Krasnaja Swesda“ („Roter Stern“), wurden nur die Endergebnisse der Kommission hinsichtlich der uns interessierenden Frage veröffentlicht, übrigens am letzten Kriegstag, dem 8. Mai 194579. Über alle Maße bezeichnend ist der Umstand, dass die Juden in der Mitteilung des TschGK praktisch unerwähnt blieben. Dafür wurden rumänische und bulgarische Bürger erwähnt, die für das Häftlingskontingent von Auschwitz keineswegs typisch waren (wobei ein Teil rumänischer Juden aus Siebenbürgen, das 1940–45 zu Ungarn gehörte, tatsächlich zusammen mit den ungarischen Juden nach Auschwitz deportiert worden war).
Die Befunde der Kommission basieren allein auf den technischen Parametern der Tötungsanlagen und enthalten etliche kleinere und größere Ungenauigkeiten. Dies zu erkennen und zu verstehen hilft eine Gegenüberstellung mit den Untersuchungsergebnissen, die hier in Anhang 3 zusammengefasst präsentiert werden.
