Briefe nach Breslau - Maya Lasker-Wallfisch - E-Book

Briefe nach Breslau E-Book

Maya Lasker-Wallfisch

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Beschreibung

In Mayas Familie herrscht Schweigen. Über die deutsche Vergangenheit und den Holocaust, den die Mutter in Auschwitz überlebt hat, wird nicht gesprochen. Aber Maya trägt die Verwundungen ihrer Familie weiter. Mit zu langen Nächten, Drogen, Schulden und den falschen Typen treibt sie durch das London der siebziger Jahre. Um zu überleben, das wird ihr schlagartig klar, muss sie das Schweigen überwinden. Sie beginnt zu schreiben: Briefe nach Breslau an die von den Nazis ermordeten Großeltern. Stück für Stück setzen ihre Worte eine Familie wieder zusammen, erzählen die Geschichte dreier Generationen im Spiegel der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts.

Dieses Buch ist der Versuch einer Rettung. Maya Lasker-Wallfisch schreibt darin an gegen die Sprachlosigkeit, mutig und gefühlvoll. Sie macht erfahrbar, wie ein transgenerationales Trauma das eigene Leben bestimmt, wie die eigene Geschichte immer abhängt, von dem, was zuvor geschehen ist.

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Seitenzahl: 343

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Maya Lasker-Wallfisch

mit Taylor Downing

Briefe nach Breslau

Meine Geschichte über drei Generationen

Aus dem Englischen von Marieke Heimburger

Insel Verlag

Für meine Großeltern, Alfons und Edith, und für meine Mutter, Anita, sowie für meine Tanten Renate und Marianne – die Laskers aus Breslau

Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann.

Johann Wolfgang von Goethe

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Motto

Inhalt

1 Sprache

2 Aufruhr

3 Verlust

4 Genesung

5 Jüdisches Leben

6 Mutterschaft

7 Auschwitz

8 Unabhängigkeit

9 Entscheidungen

10 Freiheit

Der letzte Brief

Nachwort

Bildteil

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

1

Sprache

In meinem Elternhaus wurden zwei Sprachen gesprochen: Musik und Deutsch. Ich beherrschte keine von beiden. Damit fing das Problem an.

Meine Eltern waren beide Berufsmusiker. Jeden Tag stieg mein Vater in unserer winzigen Wohnung hinauf ins Dachzimmer, um Klavier zu üben. Es war verboten, ihn dabei zu stören. Mindestens acht Stunden übte er jeden Tag. Dank seiner eisernen Disziplin wich er kein einziges Mal von dieser Routine ab. Durch die ganze Wohnung konnte man ihn spielen hören. Auch meine Mutter spielte mehrere Stunden am Tag Cello, jedoch nicht zu Hause. Sie probte mit dem English Chamber Orchestra, dessen Gründungsmitglied sie war, oder trat mit ihm auf. Wenn sie zu Hause war, stand ihr Cello in der Wohnzimmerecke wie ein Aktenkoffer. Sie nahm es und ging fast jeden Tag damit zur Arbeit. Wenn sie nicht spielte, war mein älterer Bruder Raphael dran. Auch er spielte wunderschön Cello. Er hatte Glück und großes Talent. Er sprach die Sprache meiner Eltern.

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die an meine Mutter, wie sie in unser großes (so kam es mir damals vor) schwarzes Bakelit-Telefon spricht. Auch nach fast fünfundfünfzig Jahren habe ich unsere Telefonnummer sicher im Gedächtnis. »Kann ich Maya mitbringen?«, fragte meine Mutter ihren Gesprächspartner – vermutlich den Dirigenten, der an jenem Tag die Probe mit dem Orchester leitete. Ich wurde mitgenommen, auf einen Stuhl gesetzt und angewiesen, still zu sein. Der Raum füllte sich mit Musik, zu der ich keinerlei Verbindung spürte. Bereits mehr als einmal war ich dafür verantwortlich gewesen, dass eine Aufnahme mit Barenboim durch das Zerreißen eines Stücks Papier ruiniert wurde – ich hatte die rote Lampe ignoriert, die anzeigte, dass aufgenommen wurde. Kein Wunder, dass ich mich nie willkommen fühlte. Ich wünschte mir immer so sehr, meine Mutter könnte sein wie andere Mütter – zu Hause, wo sie mit mir und meinem Bruder spielt. Als ich etwas älter wurde, musste ich mir meinen Freunden gegenüber irgendeine Erklärung ausdenken, wenn sie fragten, warum meine Mutter sich die Telefonnummer auf den Arm geschrieben hatte. Anders zu sein ist ganz klar ein Nachteil für ein Kind.

Ich verinnerlichte schon bald, dass alles Deutsche schlecht war. Zum Beispiel wurde mir gesagt, dass deutsche Autos nichts taugten. Wenn meine Mutter im Bus oder in der U-Bahn andere Fahrgäste unerwartet Deutsch sprechen hörte, verdüsterte sich ihre Laune sofort, und sie wurde unruhig und argwöhnisch. Doch meine Eltern sprachen auch deutsch miteinander. Sehr vertraut und innig. Wie sollte ich daraus schlau werden? Ich konnte an ihren Gesprächen nicht teilnehmen. Ich verstand nicht, was los war, und so wuchs ich in einem Zustand permanenter Verwirrung auf. In meinem Leben fühlte sich nichts sicher an, ohne dass ich je verstanden hätte, warum.

Meine Mutter, Anita Lasker-Wallfisch, wuchs als die jüngste von drei Schwestern in Breslau auf. Sie war Cellistin im berühmten Mädchenorchester von Auschwitz, das jeden Morgen am Lagertor spielte, wenn die abgezehrten Zwangsarbeiter sich auf den Weg in die nahe gelegenen Fabriken machten. Das Orchester spielte auch abends, wenn die erschöpften Männer und Frauen ins Lager zurückkehrten, und hin und wieder trat es vor der SS auf. Es war die Musik, die meine Mutter am Leben hielt. Ohne die Musik wäre sie wahrscheinlich zusammen mit über einer Million anderen Menschen in dem Todeslager umgekommen. Als Cellistin im Orchester gehörte sie zu einer Gruppe, deren Mitglieder verschont blieben, solange die SS nach Musik verlangte.

Die Nazis verließen Auschwitz, als die Rote Armee sich näherte, und meine Mutter wurde im Oktober 1944 ins Konzentrationslager Bergen-Belsen überführt. Dort wurde sie, halb verhungert und sterbenskrank, in den letzten Kriegswochen von den britischen Truppen befreit. Sie erholte sich schnell, und als sie schließlich in der Lage war, Deutschland zu verlassen, beschloss sie, nach Großbritannien zu emigrieren.

Sie erreichte London im März 1946 und fing an, sich ein neues Leben aufzubauen. Nach ein paar Jahren begegnete sie meinem Vater wieder, Peter Wallfisch. Die beiden kannten sich aus ihrer Schulzeit in Breslau. Er hatte den Krieg in Palästina verbracht. 1952 heirateten sie. Das Leben war nicht leicht für zwei verarmte klassische Musiker. Mein Vater war Künstler und spielte in ganz Europa und dem Rest der Welt. Meine Mutter war die Ernährerin, die Musikerin, die jeden Tag zur Arbeit ging. Sie zogen in eine kleine Wohnung in der Nähe der Portobello Road, damals ein armer, heruntergekommener Stadtteil Londons. Heute ist er gentrifiziert und todschick. Aber in den 1950ern wohnten wir über einer schwarzen Familie im Erdgeschoss und anderen Einwanderern im ersten Stock. Damals gab es noch keine Political Correctness. In manchen Mietshäusern hingen Schilder mit der Aufschrift »Keine Schwarzen. Keine Hunde. Keine Iren.« Unsere Vermieter waren anders. Wir bewohnten die beiden obersten Stockwerke. Mein Bruder Raphael wurde 1953 geboren, ich fünf Jahre später.

Allen Kindern sind ihre Eltern peinlich. Mir waren meine aber ganz besonders peinlich. Bei uns zu Hause war nichts so wie bei den anderen Kindern. Bei denen gab es Weißbrot in Scheiben, Butter, Marmelade und Kuchen. Bei uns gab es Schwarzbrot, Salami und stinkenden Käse. Bei meinen Freunden gab es abends etwas Warmes. Bei uns gab es Abendbrot. Und nur hin und wieder, manchmal am Wochenende, bekamen wir Nachtisch, in der Regel Joghurt. Das war in den 1960ern sehr exotisch. Seltsame Aromen waberten durch unsere Wohnung, und ich kann mich noch gut erinnern, wie jeder Gast angewidert das Gesicht verzog.

Mir wurde erzählt, mein erstes Wort sei »mehr« gewesen. Offenbar war nie genug da. Nicht genug zu essen, nicht genug Zeit mit unserer Mutter. Ich weiß noch, wie mir immer gesagt wurde: »Du brauchst nicht mehr, du hattest schon genug.« Mir aber kam es vor, als bekäme ich von allem zu wenig. Ich wurde übergewichtig – ein dickes kleines, sich selbst verletzendes Mädchen, das in einer merkwürdigen Familie aufwuchs. Ich konnte meine Gefühle nicht rational erklären, weil mir die Wörter dafür fehlten. Ich wurde nach und nach ängstlicher und schrecklich unglücklich. Ich befand mich bereits auf dem Weg, der meine frühen Jahre prägen sollte.

Ich bin überzeugt, dass meine Mutter ihr Bestes getan hat. Sie war ganz bestimmt keine schlechte Mutter im landläufigen Sinn. Sie war sechzehn gewesen, als sie selbst ihre Mutter verlor, und sie verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis, in Auschwitz und in Bergen-Belsen, sie hatte viel Lebenszeit verloren und viel nachzuholen. Sie hatte, um zu überleben, auf eine normale Gefühlswelt verzichtet. Da die Musik ihr höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hatte, wurde sie ihre große Liebe. Sie gab alles, um gut zu spielen. Die Musik entzog sie uns nicht nur an vielen langen Arbeitstagen, sondern auch häufig, wenn das English Chamber Orchestra auf Tournee ging, dann war sie oft wochen-, manchmal gar monatelang weg.

Wenn sie mit dem Kammerorchester unterwegs war, wurde ich weggeschickt. Zu Hause benahm ich mich oft nicht gut, ich bekam Ärger, und mein Vater kam alleine nicht mit mir zurecht. Ich wurde an alle möglichen Orte verfrachtet, die meisten gefielen mir nicht. Manchmal wohnte ich ein paar Tage bei Freunden. Wenn es länger dauerte, kam ich ins Ferienlager. Da gab es Pferde, und alle dachten, ich würde das mögen, tat ich aber nicht. Ich hatte immer das Gefühl, nur geduldet zu sein und mich einschmeicheln zu müssen. Immer wieder schrieb ich meinen Eltern: »Bitte kommt und holt mich … aber noch nicht jetzt gleich, das Essen hier schmeckt mir nämlich gut!«

Wir hatten damals eine Putzfrau, die regelmäßig unsere Wohnung saubermachte. Wir nannten sie »Icky«. Manchmal sprang sie auch als Babysitterin ein, und ich freute mich immer sehr auf das von ihr servierte Abendessen: Fischstäbchen und Baked Beans. Das war die schlichte englische Kost, nach der ich mich als Kind sehnte. Icky war vermutlich der unkomplizierteste Mensch, der mir in meinen ersten zehn Lebensjahren begegnet ist. Sie war ein seltener Vogel. Sie lebte in noch einfacheren Verhältnissen als wir, und doch fand ich meine gelegentlichen Besuche in ihrer Sozialwohnung wahnsinnig aufregend. Sie war eine waschechte Cockney, eine Spezies, die im London der 1960er Jahre immer seltener anzutreffen war.

Während der Grundschulzeit entwickelte ich schnell Strategien, um mich bei anderen Kindern beliebt zu machen. Das war notwendig für mein Überleben. Ich kaufte Süßigkeiten und verteilte sie. Da stand ich dann immer hoch im Kurs. Aber das kostete Geld. Also stahl ich Geld, um Süßigkeiten zu kaufen, mit denen ich Freunde kaufte. Normalerweise stahl ich aus der Handtasche meiner Mutter. Anfangs nur ein paar Pennys. Aber ich wurde immer kühner und nahm immer größere Beträge. Ich wusste, dass ich irgendwann auffliegen würde, und trotzdem machte ich weiter. Und natürlich flog ich auf, als ich einen Zehn-Schilling-Schein klaute (heute 50 Pence). Meine Mutter sagte: »Wenn du zugibst, dass du das Geld gestohlen hast und mir die Wahrheit sagst, dann können wir die zehn Schilling zusammen ausgeben.« Ich kann mich nicht erinnern, ob ich es zugab oder nicht.

Als ich mit elf auf die weiterführende Schule kam, wohnten wir in einem anderen Stadtteil Londons, in Willesden. Der Umzug wurde als Aufstieg betrachtet. Immerhin bedeutete er, dass mein Zimmer nicht mehr auch als Esszimmer herhalten musste. Allerdings gab es ein Problem mit der Schulbehörde, es standen nämlich nicht genügend Plätze in den Schulen im Viertel zur Verfügung, und außerdem waren meine Schulunterlagen abhandengekommen. Infolgedessen landete ich in einer Schule, die ich furchtbar fand. Ich wurde gemobbt und verprügelt, weil ich das einzige weiße jüdische Mädchen an der Schule war. Ich geriet vom Regen in die Traufe.

In all den Jahren hatte ich keine Ahnung, was meine Mutter im Krieg durchgemacht hatte. Zuhause wurde nie über die Lager gesprochen, nicht über Auschwitz und nicht über Bergen-Belsen, und auch nicht darüber, was mit meinen Großeltern passiert war. Ich hatte ansatzweise etwas über den Holocaust gehört, aber keine genaue Vorstellung davon, wie die Nazis vorgegangen waren bei ihrer »Endlösung der Judenfrage in Europa«. Das Thema stand in den späten 1960er Jahren nicht auf dem Lehrplan britischer Schulen, und auch im Fernsehen wurden keine Geschichten über den Holocaust gezeigt. Und zu Hause herrschte Schweigen. Meine Mutter schrieb viel später, dass sie und ihre Schwester, als sie 1946 nach Großbritannien kamen, gerne erzählt hätten, was sie alles durchgemacht hatten. Dass sie aber niemand fragte. Ihre Antworten hätten zu sehr wehgetan, denn das von ihnen überlebte Grauen übertraf alles, was man sich vorzustellen wagte. Die Menschen wollten es lieber gar nicht hören. Meine Mutter wusste, dass ihre Erlebnisse aus Auschwitz und Bergen-Belsen immer noch in ihr steckten. Diese Erfahrungen waren zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Persönlichkeit geworden. Doch sie verschloss sich und sprach nie darüber.

Ich muss dreizehn gewesen sein, als ich bei uns zu Hause nach Zigaretten suchte. Ich durchwühlte damals mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Wohnung, und ich dachte, meine Mutter hätte in einem bestimmten Schrank im Flur vielleicht eine Schachtel versteckt. Ich wusste, dass das Fach in dem Sideboard für mich tabu war, aber ich brauchte dringend eine Kippe. Also schob ich die Türen auf und wühlte herum. Zigaretten fand ich keine, aber dafür eine Mappe. Mir war klar, dass es sich um etwas Persönliches von meiner Mutter handelte, aber ich schlug sie trotzdem auf. Ich fand Fotos von aufgetürmten Leichen. Von Bulldozern, die sie in eine riesige Grube schoben. Unzählige, meist nackte Körper vor Holzbaracken. Ich hatte keine Ahnung, was das war, worum es da ging. Ich wusste nichts von der Befreiung Bergen-Belsens durch britische Truppen und der Entdeckung Tausender von toten oder halbtoten Häftlingen … und dann war da dieses Foto von einem Mädchen, das meiner Mutter sehr ähnlich sah. Die Bilder waren schrecklich. Ich war dreizehn und verstand überhaupt nichts. Warum hob meine Mutter solche Fotos auf? Warum versteckte sie sie? Was hatte das zu bedeuten? Ich wusste, dass ich in dem Schrank nichts zu suchen hatte. Ich legte die Fotos zurück in die Mappe und schloss die Türen. Ich habe meine Mutter nie gefragt, was das war und was es zu bedeuten hatte. Und ich war verwirrt, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte – war es falsch gewesen, nach Zigaretten zu suchen, oder war es falsch gewesen, in die versteckte Mappe zu schauen? Meine Mutter kam nicht dahinter, dass ich die Fotos gesehen hatte. Das Schweigen hielt an.

Vor nicht allzu langer Zeit sagte meine Mutter, sie habe Raphael und mich in einer »normalen« Atmosphäre großziehen wollen. »Normal« ist eins ihrer Lieblingswörter. Aber wie kann ein Zuhause, wie kann eine Familie normal sein, wenn ein Elternteil ein solches Trauma durchlitten hat wie meine Mutter? Sie wollte uns zum Beispiel nie von unseren Großeltern erzählen. Haben wir nach ihnen gefragt? Ich glaube nicht, seltsamerweise. Bei uns zu Hause standen schöne Fotos von ihnen herum, sie sahen wirklich gut aus. Aber meine Mutter wollte uns nicht beunruhigen, sie wollte uns keine Albträume bescheren, indem sie uns erzählte, dass die beiden zu Tode gefoltert worden waren und in einem Massengrab lagen. Da ich nichts über das frühere Leben meiner Mutter wusste oder darüber, wie die Nazis ihre Eltern verhaftet und verschleppt hatten, wusste ich auch nicht, was ich fragen sollte. Das Schweigen setzte sich durch meine gesamte Kindheit hindurch fort. Es sollte fast vierzig Jahre dauern, bis meine Mutter tapfer begann, ihre Erinnerungen an all das aufzuschreiben, was sie durchgemacht hatte. Das war in den 1980er Jahren. Nach vielen Jahren lag das Ergebnis vor, ein Manuskript mit dem Titel Meine Geschichte, das sie Raphael und mir 1988 zu Weihnachten schenkte. Es war ein merkwürdiges Geschenk. Keins, das auf meinem Wunschzettel gestanden hatte. Es wurde die Grundlage für ihr späteres Buch Ihr sollt die Wahrheit erben.

Die Grundschule war für mich im Großen und Ganzen ein sicherer Ort gewesen. Ich schlug mich ganz gut und benahm mich nur leicht daneben. Interessant ist, dass sie der erste Ort war, an dem ich mich sicher gefühlt habe. Nach dem Ende der Grundschulzeit und dem Wechsel auf eine weiterführende Schule verlor ich zunehmend die Kontrolle.

Immer wieder wechselte ich die Schule. Diese mangelnde Kontinuität in meiner Schullaufbahn beeinträchtigte meine Lernfähigkeit, bedeutete aber auch, dass ich nie richtig Teil einer Gruppe wurde. Ich wurde gebeten, die Gesamtschule Holland Park zu verlassen, nachdem ich zu oft geschwänzt hatte, und die Schulleiterin empfahl grundsätzlich eine kleinere Schule für mich. Damals galt Holland Park als eine der progressivsten Einrichtungen in London, aber sie war nicht progressiv genug, um eine notorische Schulschwänzerin zu tolerieren. Ich leistete gegen alles und jeden Widerstand, und nachdem ich sämtliche Versuche der Leitung, mich doch noch zu halten, ausgereizt hatte, wurde ich von der Schule verwiesen. Als ich vierzehn war, landete ich bei einer Privatpaukerei in Kensington. Diese vier, fünf verstaubten Zimmer unter dem Dach eines vierstöckigen Stadthauses konnten kaum als Schule bezeichnet werden. Dort war ich in meinem Element. Wie waren nur zu viert in einer Klasse, zwei Adlige, eine Französin und ich. Ich fing an, mich grell und auffällig zu kleiden. Ich tauchte immer mehr ab in die Welt der Rockmusik. Es waren die frühen Siebzigerjahre. Wishbone Ash, Emerson, Lake and Palmer, Led Zeppelin und The Doors waren meine Lieblingsbands. Zum Verdruss meiner Eltern hörte ich diese Musik immer schön laut in meinem Zimmer. Ich war auch fast die ganze Zeit bekifft. Mum und Dad schämten sich für mich. Meine Reise in die Welt der Drogen hatte begonnen. Erst nahm ich frei verkäufliche Aufputschmittel. Dann fing ich an, Hasch zu rauchen. Dann ging ich über zu Halluzinogenen wie LSD. »Acid« und seine Wirkung, den Kontrollverlust, mochte ich eigentlich gar nicht besonders. Aber ich nahm es trotzdem. Drogen gaben mir ein Gefühl von Identität. Ich fing an, unter Freunden zu dealen. Ich hatte wahnsinnig viel Unterricht versäumt und ging mit sechzehn und einem so schlechten Zeugnis von der Schule ab, wie es in Großbritannien seinerzeit gerade noch möglich war.

Mein Vater hegte zwei große Leidenschaften. Klavier und Katzen. Katzen sollten unsere einzige Verbindung sein, sie waren seine alleinige Möglichkeit, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Seinen Schülerinnen und Schülern gegenüber empfand ich Neid. Zu ihnen war er großzügig, oft dehnte er die geplante eine Stunde Unterricht auf drei Stunden aus. Ich befand mich häufig im Nachbarzimmer, wenn eine Musikstunde endlich abgeschlossen wurde, und konnte sehen, wie mein Vater seine Schüler anlächelte, sie lobte und ihnen gratulierte. Ich sehnte mich so sehr nach dieser Art von Anerkennung. Doch sobald die Schüler weg waren, verschwand mein Vater schnell wieder in sein Musikzimmer, schloss die doppelte Flügeltür hinter sich und übte selbst weiter.

Jedes Jahr gab mein Vater ein Konzert in der Wigmore Hall, einem Konzertsaal mitten in London. In dem Zusammenhang kam mir öfter die Aufgabe zu, im Foyer Programmhefte zu verteilen. Das waren die Gelegenheiten, bei denen ich das Gefühl hatte, wirklich seine Tochter zu sein, und ich schaffte es, zu tun, was von mir erwartet wurde. Er pflegte ein Ritual vor einem Konzert oder einer Aufnahme, in dessen Verlauf er mich sehr ernst fragte: »Wie werde ich heute spielen?« – als hätte ich einen Einfluss darauf. Meist antwortete ich das, was er hören wollte, aber einmal tat ich das nicht und plagte mich dann mit einem entsetzlich schlechten Gewissen, weil ich fürchtete, dafür verantwortlich zu sein, wenn er auch nur einen falschen Ton spielte. Ich hatte so gut wie immer das Gefühl, an allem schuld zu sein, und entwickelte ein derart schlechtes Benehmen, dass ich irgendwann zumindest wusste, warum mein Vater mich nicht mochte.

Mein Vater war nicht mit vielen lebenspraktischen Fähigkeiten ausgestattet, weshalb er sehr stark auf meine Mutter angewiesen war. Ich glaube, er empfand die Welt stets als fremd und beängstigend, und ich glaube nicht, dass er sich je an die britische Kultur gewöhnt hat. Er hasste es, sich ständig überall einschmeicheln zu müssen, was aber erforderlich war, um als Musiker Erfolg zu haben, und er litt darunter. Ich glaube, dass er eine Heidenangst davor hatte, abgewiesen zu werden. Verachtung und Kritik waren seine Schutzmechanismen. Im Grunde seines Herzens war er kein glücklicher Mann.

Sein Leben kreiste darum, Konzertpianist zu sein, und darum ließ er sich so wenig wie möglich auf die Welt ein. Er erfreute sich an unkomplizierten Ritualen wie dem Abschicken eines Briefes oder einem Gang zum Feinkostgeschäft um die Ecke. Den Rest überließ er meiner Mutter. Immer wenn er von einem seiner Ausflüge zurückkehrte, führte er meiner Mutter stolz seine Einkäufe vor und forderte erst sie und dann mich auf zu raten, was das alles gekostet hatte. Dieses Ratespiel wurde zum Sinnbild für seine tiefe Missbilligung der Ausgaben aller anderen. Niemand konnte sich je über ein Schnäppchen freuen, weil es in seinen Augen niemals billig genug gewesen war. Ich glaube nicht, dass mein Vater sich in seinem Leben viel gegönnt hat, und darum hatte er auch keinerlei Verständnis für die Bedürfnisse anderer.

Was auch immer mit ihm nicht stimmte, ich verinnerlichte es irgendwie, und während er stillschweigend Abneigung gegen mich hegte, rebellierte ich lautstark. Was zu vielen kritischen Blicken führte. Bestraft wurde ich auf unterschiedliche Weise. Er schrie und funkelte mich böse an, und da ich kein eigenes Zimmer hatte, in das er mich schicken konnte, verbannte er mich manchmal in sein Musikzimmer unter dem Dach. Auf dem Weg dorthin kam ich am oberen Ende der Treppe an einer Ecke vorbei, die mit einem Vorhang abgetrennt war. Mein Bruder hatte mich immer geärgert, indem er behauptete, hinter dem Vorhang würden sich Monster verstecken, und ich glaubte ihm. Ich wusste, dass irgendwo Monster lauerten.

Ich kann mich erinnern, dass ich einmal während einer dieser »Auszeiten« in seinem Zimmer wütend auf allen möglichen Notenblättern herumgekritzelt habe. Das kam gar nicht gut an. »Du bist unmöglich, Maya, dermaßen renitent!« Mein Bruder erzählte mir neulich, er erinnere sich an mich als ein permanent verwirrtes Kind. Und seine Wahrnehmung stimmte. Raphael ist fünf Jahre älter als ich, darum hatten wir nicht viel gemeinsam. Er schien viel leichter mit der Welt zurechtzukommen als ich, was ein in Familien von Überlebenden häufig zu beobachtendes Phänomen ist: Ein Kind absorbiert das Trauma, während das andere sich gut einzufügen scheint.

Hier spielen natürlich viele Faktoren eine Rolle. Meine Mutter fand es einfacher, einen Sohn großzuziehen, und die deutlich stabilere Persönlichkeit meines Bruders machte ihm das Leben um einiges leichter. Er wurde nicht nach einem toten Familienmitglied benannt, und ich glaube, dass dieser Umstand es ihm, wenn auch unbewusst, ermöglichte, ganz frei und er selbst zu sein, kein Ersatz für irgendjemanden. Ich habe ihn lange Jahre beneidet.

Unser Zuhause war kein Ort, mit dem ich Geborgenheit, Zufriedenheit oder Glück assoziierte. Die Atmosphäre war in erster Linie angespannt und unvorhersehbar. Ich weiß noch, dass ich sehr oft ängstlich war. Und dass mir klar war, ich musste damit umgehen lernen. Hauptursache meiner Ängste waren die Abwesenheiten meiner Mutter. Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich sicher, dass ich die Gefühle meines Vaters absorbiert habe, der auch unglücklich über das Fehlen meiner Mutter war. Die ganze Zeit hatte ich den Eindruck, eine Gratwanderung zu vollführen. Bei uns zu Hause war praktisch nichts normal. Immer wurde über Musik geredet. Aber ohne mich. Ich verstand das alles nicht und konnte mich nicht einbringen. Das Essen war nicht normal. Die Mahlzeiten verkrampft, manchmal traumatisch. Schweigen und finstere Blicke waren die Regel am Esstisch. Alles, was mir passierte, schien in Krisen zu passieren. Warum hatte ich ständig solche Angst? Ich wusste, dass meine Mutter mich liebte. Aber sie zeigte das nicht wie normale Mütter. Mit Zärtlichkeit konnte sie nichts anfangen. Heute weiß ich viel mehr darüber, wie das menschliche Gehirn funktioniert, heute stehen mir die sprachlichen Mittel zur Verfügung, mit denen ich meine frühen Lebenserfahrungen beschreiben kann. Ich kann sehen, dass ich bereits als kleines Kind »fest verdrahtet« war. Bestimmte Bereiche meines Gehirns, nämlich die, von denen wir heute wissen, dass sie mit Depressionen und Angst umgehen, waren ständig in Alarmbereitschaft und aktiv. Andere Bereiche meines Gehirns waren langsam und träge.

Viele Jahre lang war ich kraftlos, nicht in der Lage, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, immer wieder war ich »ein Problem«. Ich war kreuzunglücklich. Ich fand es ungeheuer schwer, auf der Welt zu sein. Ich hatte das Gefühl, gar keine Haut zu haben, nichts, das mich beschützt hätte, nichts, das es mir ermöglicht hätte, mit den ganz normalen Höhen und Tiefen fertig zu werden. Völlig alltägliche Herausforderungen, mit denen alle anderen ganz wunderbar zurechtzukommen schienen, warfen mich regelmäßig aus der Bahn. Meine Gefühle passten einfach nicht mit meinem Leben zusammen, aber da mir der Mut fehlte, es mir zu nehmen, musste ich eben irgendwie existieren. Dieses Überleben-Wollen konnte man schon im Alter von zwei Jahren an mir beobachten. Im weiteren Verlauf fand ich viele sehr unterschiedliche Fluchtwege, meist waren sie extrem und fast alle rechtswidrig. Ich entwickelte diverse Abhängigkeiten, nicht nur Drogen-, sondern auch Kaufsucht. Mit derlei Abhängigkeiten versucht man, innere Schäden von außen zu reparieren, und darum nehmen sie exzessive Ausmaße an. Die Opfermentalität ist eine zerstörerische Kraft.

Dann, endlich, nach vielen Jahren, Jahrzehnten, wurde mir klar, was ich tun musste. Ich musste eine neue Beziehung zu mir selbst aufbauen, und um aus der ewigen Opferrolle herauszukommen, musste ich eine Brücke schlagen zwischen meinem Ich und der Vergangenheit, aus der ich hervorgegangen war. Ich dachte immer mehr über meine Großeltern nach, darüber, wer sie eigentlich waren, wie sie in Breslau gelebt hatten und welchen Entsetzlichkeiten sie ausgesetzt waren. Ihr Leben unterschied sich so grundlegend von meinem – und doch spürte ich eine starke Verbindung. Als ich vor ein paar Jahren in Deutschland unterwegs war, dachte ich eines Tages ganz besonders intensiv an sie. Die Landschaft der Umgebung war herrlich, ich unternahm einen Spaziergang. Während ich über das Leben meiner Großeltern nachdachte, ging mir auf, dass ich nicht nur im Stillen nachdachte, sondern laut redete, mit meinen Großeltern redete. Ich hatte eine Form der Kommunikation mit ihnen gefunden. Ich wollte ihnen von ihrer Familie erzählen und von allem, was nach ihrem Tod passiert war, von der immensen Stärke ihrer Töchter und von dem Leben, das sie nach Kriegsende, nach dem Sieg über den Faschismus, führten. Aber ich wollte ihnen auch von der Welt heute erzählen und von den neuen Bedrohungen, denen wir uns gegenübersehen.

Ich beschloss, an meine Großeltern zu schreiben, obwohl sie im Jahr 1942 umgekommen waren. Ich dachte, wenn ich versuchte, eine Beziehung zur Vergangenheit herzustellen, würde ich in der Gegenwart besser zurechtkommen. Noch am selben Abend, kaum zurückgekehrt von meinem langen Spaziergang, begann ich zu schreiben, den ersten meiner Briefe nach Breslau.

Liebe Großeltern,

ich bin eure Enkelin Marianne (Maya), die Tochter eurer jüngsten Tochter Anita Lasker.

Ich wurde 1958 geboren, sechzehn Jahre nachdem ihr beide in Nazi-Deutschland ermordet wurdet. Mein Bruder, euer Enkel Raphael, kam fünf Jahre vor mir zur Welt.

Viel zu viele Jahre wurde in unserer Familie über Deutschland und das, was dort passiert war, nicht gesprochen. Dieses Schweigen war ein ständiger Begleiter des »normalen« Lebens, um das meine liebe Mutter sich so sehr bemühte, und es war trotz ihrer allerbesten Absichten sowohl undurchdringlich als auch verwirrend …

Zunächst möchte ich euch mehr von euren drei bemerkenswerten Töchtern erzählen, auf die ihr sicher sehr stolz gewesen wärt.

Eure letzten gemeinsamen Tage sind gut dokumentiert, und doch kann ich mir nicht vorstellen, wie sie für euch gewesen sein müssen. Was ich weiß, ist, dass sowohl Anita als auch Renate eine erstaunliche Würde und Kraft an den Tag gelegt haben, und ich glaube, dass diese Eigenschaften ihnen letztlich das Leben gerettet haben. Sie haben euch beiden damit alle Ehre gemacht.

Man kann auf vielerlei Art überleben, und man kann seiner Existenz auf unterschiedliche Weise ein Ende bereiten. Leben aber, und noch dazu gut leben, ist, so meine ich, eine ganz andere Angelegenheit. Optimistisch und voller Lebenslust zu bleiben, das war es, was eure Töchter, wie ihr sie kanntet, antrieb.

Mit diesem und den folgenden Briefen möchte ich euch und euer Leben würdigen und mir die Möglichkeit geben, doch noch mit euch ins Gespräch zu kommen. Die Möglichkeit, eine Beziehung zu euch aufzubauen.

In Liebe,

Maya

2

Aufruhr

Liebe Großeltern,

was für ein Glück ich doch habe. Es gibt ein umfangreiches, wunderbares Familienarchiv mit Aufnahmen von euch und eurem Leben in Breslau. Am liebsten würde ich in den Fotos versinken. Auch Briefe sind dort zu finden, von euch an eure Töchter und von eurer ältesten Tochter Marianne (nach der ich benannt bin) an euch. Sie stammen aus der Zeit von 1939 bis 1942 und setzen ein, als Marianne mit achtzehn Jahren Deutschland verließ, um eine Gruppe von Kindern nach Palästina zu begleiten.

Wie meine Mutter meinem Bruder und mir immer erzählte, war eure geliebte älteste Tochter Marianne eine überzeugte Zionistin, die ihrer hohen Intelligenz und ihren Fähigkeiten zum Trotz nicht studieren wollte. Das soll dir, Großvater, große Sorge bereitet haben. Marianne wollte lieber ein Handwerk erlernen – Maurern, Dachdecken, Tischlern –, das beim Aufbau einer neuen Gemeinde in Palästina gebraucht werden würde. Ihre Reise im Sommer 1939, als sie die jungen Menschen mit Auswanderungspapieren nach Palästina begleitete, führte sie von Deutschland nach Holland und weiter nach England. Während sie dort war, wurde, wie ihr wisst, der Krieg erklärt, und sie saß bis auf Weiteres in England fest. Dennoch machte sie guten Gebrauch von ihren handwerklichen Fähigkeiten. Erst arbeitete sie auf einem Bauernhof, was ihr sehr großen Spaß machte, dann schloss sie sich einer Gruppe von Wanderarbeitern an, die im südlichen England kriegsgeschädigte Gebäude und Fabriken reparierte.

Nach Ende des Krieges konnte sie die sechs Jahre zuvor angetretene Reise dann endlich vollenden – Anfang 1946 erreichte sie Palästina. Mit ihrem Ehemann Albin Rolf Adlerstein gehörte sie zu den Pionieren, die buchstäblich das Fundament für einen Kibbuz legten. Ich glaube, sie waren ausgesprochen glücklich zusammen und haben von Herzen mitgefeiert, als im Mai 1948 der Staat Israel ausgerufen wurde. Endlich hatte das jüdische Volk ein nationales Zuhause, einen Zufluchtsort, falls die Welt sich wieder gegen die Juden wenden sollte.

Marianne war die Familienarchivarin. Sie hatte alle Dokumente in einer Kiste aufbewahrt, erst in England und nach dem Krieg in Palästina. Anfang der 1950er übergab ihr Mann die kleine Metallkiste meiner Mutter in London. Fünfunddreißig Jahre lang blieb sie ungeöffnet. Meine Mutter wollte nicht hineinsehen, wollte altes Leid ruhen lassen, doch schließlich gab sie nach und fand darin ein mit Bindfaden zusammengehaltenes Bündel alter Briefe. Uns machte diese Entdeckung staunen, und die Briefe erwiesen sich fortan als großes Geschenk für mehrere Generationen.

Diese Briefe und Fotografien dokumentieren euer von Nähe und Zusammenhalt geprägtes Familienleben in Breslau. Ihr habt in einer wunderschönen Wohnung an der Kaiser-Wilhelm-Straße gewohnt, einer der Hauptstraßen Breslaus, wie es sich für einen etablierten Rechtsanwalt wie dich, Großvater, schickte. Du warst bildschön, Großmutter, das wird auf allen Fotos deutlich. Und du hattest so viele Fähigkeiten. Du konntest nähen und hast für deine Töchter viel selbst hergestellt. Du warst eine begabte Geigenspielerin. Hat die Liebe zur Musik in unserer Familie bei dir ihren Anfang genommen? Meine Mutter kann sich erinnern, wie sie als kleines Mädchen im Bett lag und dich das Beethoven-Konzert spielen hörte, das du so oft geübt hast. Du hast so schön gespielt, dass sie ganz verzaubert war. Du hast alle drei Töchter dazu ermuntert, ein eigenes Instrument zu lernen. Marianne entschied sich für das Klavier, Renate, die mittlere, für die Geige und Anita, meine Mutter, schon sehr früh für das Cello. Sie sagt, ihr erstes Cello sei so klein gewesen, dass du es dir unters Kinn klemmen konntest, Großmutter! Du hast die Familie dazu ermuntert, zu besonderen Anlässen im Quartett zu spielen. Meine Mutter erinnert sich, wie ihr alle über sie gelacht habt, als sie versuchte, ihre kleinen Finger auf die Saiten des Cellos zu drücken. Aber es war eine sehr glückliche Zeit.

Meine Mutter hat mir oft von dem Familienritual »Kaffee und Kuchen« erzählt. Jeden Sonnabendnachmittag hast du die Mädchen am Wohnzimmertisch zu Kaffee und feinem Gebäck versammelt. Und Großvater, du hast den Mädchen von deinem Einsatz in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs erzählt oder Goethe oder Schiller vorgelesen. Vielleicht waren das auch die Gelegenheiten, zu denen das Familienquartett aufspielte oder zumindest für kleine Konzerte für Freunde übte.

Meine Mutter kann sich nicht erinnern, dass zwischen ihr und ihren Schwestern Rivalität geherrscht hätte, alle waren einander zugewandt. Und ihr habt euren Töchtern eine gute Mischung aus Selbstdisziplin und Freiheitsdrang mit auf den Weg gegeben. Meine Mutter sagt, sie hätte schon sehr früh einen Hausschlüssel gehabt und kommen und gehen können, wie es ihr gefiel. Und was noch viel besser war, ihr wurdet nicht müde, sie zum Cellospielen zu ermuntern. Im Alter von elf, zwölf Jahren war es offensichtlich, dass sie eine besondere Begabung besaß und besseren Unterricht brauchte als in Breslau zu bekommen war. Zu dem Zeitpunkt gab es schon kaum noch Musiker, die überhaupt bereit waren, jüdische Schüler zu unterrichten. Darum ging Anita 1938, mit gerade mal dreizehn Jahren, allein nach Berlin, um bei Leo Rostal, einem etablierten jüdischen Musiker, Cello zu studieren. Ihr habt für sie eine Erlaubnis erwirkt, die Schule zu verlassen, und einen Privatlehrer gefunden, der sie in Berlin unterrichten sollte. Jeden Tag musste sie vormittags ein paar Stunden mit ihm lernen, und nachmittags hatte sie eine Cellostunde. Den Rest der Zeit erkundete sie die große Stadt. Sie liebte es, den Kurfürstendamm hoch und runter zu spazieren und die wunderbaren Geschäfte zu bestaunen. Und sie liebte es, sich ausgiebig im KaDeWe umzusehen. Dass ihr eure dreizehnjährige Tochter ganz allein nach Berlin gehen ließt, sagt so viel aus über das Vertrauen, das ihr zu ihr hattet.

Meiner Mutter war ihr Jüdischsein kaum bewusst. Ihr wart eine assimilierte Familie, die sich wenig um jüdische Traditionen und Feste kümmerte. Das erste Mal, dass meine Mutter den Antisemitismus zu spüren bekam, den die Nazis unablässig in ganz Deutschland schürten, war durch einen gleichaltrigen Klassenkameraden, einen Freund, der sie »dreckiger Jude« nannte. Sie war verstört und verstand nicht, was das bedeuten sollte. Aber nach wenigen Monaten in Berlin wusste sie, was geschah. Sie erlebte den 9. November 1938, die Reichspogromnacht, in Berlin, als die Nazi-Schergen jüdische Wohnungen, Geschäfte, Schulen und Synagogen angriffen und mit ihrem Pogrom eine schreckliche Spur von zerbrochenem Glas und gebrochenen Knochen hinterließen. Meine Mutter kann sich erinnern, am nächsten Morgen große Angst gehabt zu haben, als sie die Glassplitter überall sah und in den Rinnsteinen der Alkohol aus den Flaschen floss, die in den jüdisch geführten Spirituosenläden zertrümmert worden waren. Du hast deine jüngste Tochter am selben Abend angerufen und dafür gesorgt, dass sie umgehend nach Breslau zurückkehrte. Ihr Privatlehrer ist später in die USA emigriert. Es waren Zeiten, in denen Familienmitglieder sich nicht freiwillig voneinander trennten.

Wenn ich heute nach Berlin komme und am Kurfürstendamm in einem Café sitze, versuche ich mir meine Mutter als einsame Dreizehnjährige vorzustellen, wie sie vor achtzig Jahren dieselbe Straße entlangging. Und wenn ich die schönen Fotos von euch beiden, Großmutter und Großvater, betrachte, und von euch mit euren bildhübschen Töchtern, dann verschlägt es mir fast den Atem, weil ich sehen kann, wie nah ihr euch alle wart und wie liebevoll ihr miteinander umgingt. Was für ein Glück, dass euch diese Jahre beschieden waren.

In Liebe,

Maya

Mit neunzehn zog ich in meine erste eigene Wohnung, ein Einzimmerapartment im dritten Stock eines schönen weißen Hauses mit eleganten Gärten am Pinehurst Court in Notting Hill, Westlondon, nur einen Steinwurf von meinem Elternhaus entfernt. Für die meisten Menschen ist der Bezug der ersten eigenen Wohnung ein glückliches Ereignis: Man verlässt das Nest der Familie, breitet selbst die Flügel aus, wird selbstständig – alles Meilensteine auf dem Weg zum Erwachsensein. Für mich aber war das erste eigene Zuhause verbunden mit großer Angst und Verunsicherung. Keine Spur von Abenteuerlust oder gespannter Vorfreude, und auch die Reife, die nötig gewesen wäre, um meine eigenen Angelegenheiten zu regeln, ging mir vollkommen ab.

Die traurige Tatsache war, dass ich zu Hause rausgeschmissen wurde, und zwar in erster Linie, weil mein Vater meine Anwesenheit nicht länger ertragen konnte. Obwohl ich gerne unabhängig sein wollte, fühlte es sich nicht gut an. Mir kam es vor, als sei ich abkommandiert und weggeschickt worden. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater mich auch nur ein einziges Mal in meiner Wohnung besucht hätte.

Am Tag meines Umzugs kam meine Mutter mit einem Karton voller Lebensmittel vorbei. Sie brachte mir all jene praktischen Dinge, die ich für meinen Start in die Unabhängigkeit brauchen würde. Die Wohnung war eher karg, keins der Möbelstücke war ausgewählt worden, weil es schön oder gar besonders war. Inzwischen weiß ich, dass mir meine häusliche Umgebung enorm wichtig ist, und dass mein Geschmack ausgesprochen persönlich ist. Ich brauche schöne Dinge um mich herum. Aber über so etwas dachte ich mit neunzehn nicht nach. Und meine Eltern konnten es sich nicht leisten, mich schicker auszustatten. Alles war ziemlich schlicht und zweckmäßig, es gab ein furchtbares Schaumstoff-Schlafsofa und eine sehr einfache Küche – die ich so gut wie nie benutzte. Worauf ich besonderen Wert legte, war ein schwarzes Badezimmer, und das bekam ich auch. Die Wände wurden vom Fußboden bis zur Decke pechschwarz angestrichen. Ob das so etwas wie ein unbewusster Kommentar zu meinem inneren Zustand war, oder ob ich es einfach nur cool fand, ist mir bis heute nicht klar. Meine Mutter fand es natürlich entsetzlich. Das Badezimmer war der einzige kleine Raum, über den ich gestalterisch bestimmen konnte. Und darum wurde es schwarz.

Das Ganze fühlte sich ein bisschen so an, als würde ich in ein lebensgroßes Puppenhaus einziehen und nicht wissen, wie ich damit spielen sollte. Ich hatte Angst, durchschaute das damals aber noch nicht. Ich hatte Angst, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich alleine zurechtkommen sollte, und weil ich das Gefühl hatte, niemanden zu haben, der mir die Spielregeln beibrachte. Ich hatte mich für die Wohnung – damals war das in London noch möglich – überschaubar verschuldet. Und ich hatte Arbeit. So gesehen ging es mir also richtig gut.

Als ich in die Wohnung einzog, stand ich kurz vor meiner Abschlussprüfung als Kinderkrankenschwester. Ich hatte mich für diese zweijährige Ausbildung nicht entschieden, weil ich mich berufen gefühlt hätte, sondern weil sie, als ich 1976 mit einer bescheidenen Mittleren Reife von der Schule abging, eine der wenigen Möglichkeiten war, die mir offenstanden. Außerdem wurde man während der Ausbildung bereits bezahlt. Meine Eltern unterstützten mich in meinem Vorhaben. Ich kann nicht behaupten, die Ausbildung mit großer Begeisterung absolviert zu haben.

Währenddessen hatte ich immer wieder das Gefühl, anders behandelt zu werden als die anderen Schülerinnen. Die meisten entstammten der Arbeiterklasse. Keine von ihnen hatte studiert, doch hatten weder sie noch ihre Eltern das überhaupt je in Betracht gezogen. Ich war die einzige Jüdin und kam wohl ziemlich bürgerlich rüber. Ich habe nicht gestört, obwohl ich mich erinnern kann, mich über weite Strecken sehr gelangweilt zu haben, zum Beispiel, wenn wir endlose »Beobachtungen« von mit Sand oder Wasser spielenden Kindern zu Papier bringen mussten.

Aus Gründen, die sich mir nicht erschlossen, mochten die meisten Lehrkräfte mich nicht. Vielleicht weil ich nicht zu den anderen passte oder nicht sonderlich motiviert war. In ihren Augen wurde ich zu einem Problem. Eine einzige Lehrerin brachte mir Sympathie entgegen. Es hat in meinem Leben mehrere Frauen gegeben, die entgegen der Meinung aller anderen irgendetwas in mir sehen konnten. Diese Lehrerin schien hinter das blicken zu können, was die anderen sahen, sie setzte sich häufig für mich ein. Am Ende des zweiten Ausbildungsjahres mussten wir eine schriftliche Prüfung ablegen samt Aufsatz. Ich fiel mit meinem bei der externen Prüferin durch, aber dank der Intervention meiner Lehrerin bestand ich doch. Ich wäre sonst als Einzige durchgefallen.

Ganz in der Nähe meiner Wohnung trat ich eine Stelle in einem Kindergarten in Willesden an. Die pflegerische Arbeit mit den Babys und Kleinkindern bis fünf Jahre war hart. Und alles andere als glamourös. Nach etwa einem Jahr fand ich eine Stelle an der Tavistock Clinic, einer Spezialklinik für Familien mit psychischen Problemen. Ich arbeitete mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen, für die spezielle Schulangebote gefunden werden mussten. Nur wenige Jahre zuvor war ich ironischerweise selbst dort Patientin gewesen, ein echtes Problemkind, das immer wieder das Personal an der Nase herumführte. Darum gebeten, von meinen Träumen zu erzählen, dachte ich mir stets etwas aus, von dem ich glaubte, dass sie es gerne hören wollten. Jetzt war ich auf der anderen Seite und half dabei, ein paar hochgradig verhaltensauffällige Kinder zu unterrichten. Die meisten von ihnen hatten erschütternde Dinge hinter sich. Ein kleines Mädchen hatte praktisch danebengestanden, als ihre Zwillingsschwester von einem Auto überfahren wurde und starb. Ein anderes Kind hatte den Bürgerkrieg im Libanon miterlebt und war verstummt. Im Rückblick überrascht es mich, dass ich nicht mehr Engagement und Motivation aufbrachte. Aber ich durchlebte eine merkwürdige Phase, und ich kann ehrlicherweise nicht behaupten, dort gute Arbeit geleistet zu haben. Viele der Kinder machten ständig Theater, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Stimmung in der Klinik war stets auf der Kippe und konnte, was die älteren Kinder betraf, jederzeit in Gewalttätigkeit umschlagen. Ich hatte nicht das Gefühl, ihnen besonders zu helfen, und manchmal dachte ich, ich gehörte eigentlich eher zu ihnen als zum Personal. Ich hatte das Gefühl, ich würde nur so tun, als sei ich erwachsen. Ich bin nicht besonders stolz auf das, was ich damals in der Klinik geleistet habe.

Zum damaligen Zeitpunkt war mir meine jüdische Identität gar nicht richtig bewusst. Ich wusste nicht, was es mir eigentlich bedeutete, Jüdin zu sein. Wir waren eine vollkommen assimilierte Familie, wir feierten keinen der hohen jüdischen Feiertage. Sie waren nicht Teil unseres Familienlebens. Wir feierten Weihnachten und Ostern wie alle anderen Familien um uns herum, und ich mochte beide Feste sehr. Meine Eltern stammten beide aus Familien, in denen das jüdische Leben keine große Rolle spielte, und mein Vater hatte schreckliche Erfahrungen an einer Jeschiwa, einer Talmudschule, in Palästina gemacht. Sie lehnten jede Form organisierter Religion ab. Ich muss etwa sechzehn gewesen sein, als meine Mutter mich ermunterte, mich einem jüdischen Jugendclub anzuschließen, einem Habonim, aber mir gefiel es dort nicht. Dort waren nur Leute, die miteinander aufgewachsen waren, ich fühlte mich total außen vor. Sie sprachen hebräisch, ich verstand kein Wort. Ein einziges Mal war ich da, dann nie wieder. Ganz sicher habe ich mich durch mein Jüdischsein irgendwie anders gefühlt. Aber eigentlich habe ich mich durch alles Mögliche um mich herum anders gefühlt. Ich hatte einfach keine direkte Vergleichsmöglichkeit, ich wusste nicht, was es bedeutete, jüdisch zu sein. Es gab so unglaublich viel, das ich nicht verstand. Ich wusste, die Dinge waren kompliziert, aber ich verstand erst viele Jahre später, warum.