Ich schreib euch aus Berlin - Maya Lasker-Wallfisch - E-Book

Ich schreib euch aus Berlin E-Book

Maya Lasker-Wallfisch

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Beschreibung

Die Briefe erweckten sie zum Leben. Indem Maya an die von den Nazis ermordeten Großeltern schrieb, entstand eine Beziehung über die Katastrophe des 20. Jahrhunderts hinweg. Für Maya begann danach ein neues Leben, in einer neuen Stadt, eine neue Mission: den Ort, von dem das Verhängnis seinen Ausgang nahm, zu verwandeln, in ein Zuhause, eine befriedete Heimat. Dazu geht Maya auf die Suche nach der jüdischen Vergangenheit und Gegenwart Berlins: Friedhof Weißensee, Pestalozzistraße, Gleis 17 im Grunewald … Im Spiegel dieser Orte und im Zwiegespräch mit den Großeltern rettet sie sich, ihre Familie, ihre jüdische Herkunft.

Nach dem viel beachteten Erfolgsbuch Briefe nach Breslau folgt mit Ich schreib euch aus Berlin ein neues transgenerationales Abenteuer. Maya Lasker-Wallfisch erringt sich ein Zuhause an einem fast unmöglichen Ort. Sie legt ein Zeugnis davon ab, was Wunden bewirken, im Guten wie im Schlechten.

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Seitenzahl: 178

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Titel

Maya Lasker-Wallfisch

Ich schreib euch aus Berlin

Rückkehr in ein neues Zuhause

Recherchiert und aus dem Englischen übersetzt von Bernadette Conrad

Insel Verlag

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eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

Originalausgabe© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© Maya Lasker-Wallfisch 2022© Bernadette Conrad 2022

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagabbildung: Maya und Anita Lasker-Wallfisch, Foto: Polly Hancock, London

eISBN 978-3-458-77489-1

www.suhrkamp.de

Motto

Welcome home hero, tell me everything.

Anita Lasker-Wallfisch

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Motto

Inhalt

1 Sich aufmachen

2 Ankommen

3 Sich verabschieden

4 Entdecken

5 Erinnern

6 Bewahren

7 Heilen

8 Weitergeben

9 Reisen

10 Jüdin sein in Berlin

Zitatnachweise

Informationen zum Buch

1

Sich aufmachen

Liebe Großeltern,

Traurigkeit und unbeantwortbare Fragen bedrohen mich. Verzeiht, wenn ich mir nun mit euch den Raum nehme, den ich brauche, um die innere Aufruhr zu verstehen. Ich weiß nicht, wer auf dieser Reise an meiner Seite sein wird, und so versuche ich, mich mit eurer Umarmung zu umgeben; mit der Vorstellung, von euch umarmt zu sein.

Ihr, die ihr mich nicht zum Schweigen bringen wollt.

Ich möchte euch von dem Tag erzählen, an dem ich ganz offiziell nach Deutschland ausgewandert bin. Es war der 7.7. – ein Glückstag?

Ganz sicher einer, der meinem Gedächtnis eingeschrieben bleiben wird. Mir ist bewusst, liebe Großeltern, dass ich meine Erfahrung keinesfalls mit dem vergleichen kann, was Aufbruch und Heimatverlust für euch bedeuteten. Und doch muss ich sagen, dass die Art und Weise, wie ich im Zuge der Auswanderung rücksichtslos und überhastet geliebte Dinge aussortiert und weggegeben habe, ohne mir einen Moment des Bedauerns oder überhaupt des Nachfühlens zu erlauben – dass diese Art neu für mich war.

Ich habe das alles ja selbst so entschieden und empfinde deshalb gar kein Recht auf inneren Kampf. Oder auf Angst. Und doch ist das nun so, ich kämpfe, ich habe Angst, und der Mut, der mich erfüllt hatte, als ich die Entscheidung traf, erscheint mir nun wie außerhalb meiner Reichweite. Ich weiß, dass ich diese Gefühle verstecken muss …

Ob ich mich selbst aufgebe, wenn ich all das aufgebe und hinter mir lasse, was über sechzig Jahre lang die Landschaft meines Lebens ausgemacht hat? All das verlasse, um in das Land zurückzukehren, in dem ihr vor fünfundsiebzig Jahren ermordet wurdet? Warum, schreit es in meinem Kopf, habe ich mich so tief in diese Landschaft aus Verlust hineinbegeben, habe ich mich zum Symbol einer Kontinuität erklärt, warum habe ich ein weiteres Mal versucht, mich neu zu erfinden?

Ist das mutig oder dumm? Fast schon verrückt erscheinen mir die Worte, die im Zuge dieser Entscheidung gefallen sind. Die letzte Nacht meines Londoner Lebens verbrachte ich im Haus meiner Mutter, eurer Tochter; einem Ort, der sich nie nach ›Zuhause‹ angefühlt hat. Meine Mutter selbst, doch, sie ist ein Zuhause, aber nicht der Raum um sie herum. Ich schlief – besser gesagt: ich schlief nicht – im Bett meines Vaters. Das Leben ist merkwürdiger als jeder Roman, und so wurde diese neue Phase meines Lebens eingeleitet mit der ›Einladung‹, an jenem Ort zu übernachten, von dem mich mein Vater dreißig Jahre zuvor verbannt hatte.

Ich versuchte, diese Ironie der Geschichte mit Mum zu teilen; und irgendwie verstand sie es, sie hielt mich jedenfalls nicht davon ab, die Bettdecke mit einem ›neutralisierenden‹ Bezug zu versehen. Dann war es Morgen und Zeit zu gehen. Zeit für den Abschied?

Ich weiß nicht, wie das geht, Abschied nehmen, und ich glaube, Mum geht es genauso, und so kam es mir plötzlich vor, als hinge ich in einer Warteschleife, wartend auf – was genau, die richtigen Worte? Die richtige Geste? Eine Umarmung? Vielleicht alles zugleich, aber nichts davon schien möglich.

Man muss nicht viel über die Prozesse des Unbewussten und über Metakommunikation wissen, um zu erkennen, wie viel Geschichte sich in einem solchen Moment verdichtet und zusammenballt … unsagbare, unerzählbare Abschiede, von schrecklicher Endgültigkeit.

Ich habe Angst, Mum nicht wiederzusehen. Sie hingegen will, dass ich gehe, das spüre ich. Nicht, weil sie mich nicht liebt, sondern weil meine Wünsche an sie Ärger oder Verwirrung provozieren. Ich weiß, was sie von mir erwartet, und jede Schwäche, die ich ausdrücke, jeder Zweifel an meiner Entscheidung, bedroht ihren Wunsch nach Frieden.

So saß ich dann im Taxi. Mum winkte mir hinterher, erleichtert, glaube ich, darüber, mich gehen zu sehen.

Ich bin dreiundsechzig geworden, bevor ich ›von zu Hause wegging‹.

In Liebe,

Maya

Es ist August 2020, und ich bin unterwegs nach Berlin. Nicht auf Urlaub, sondern mit einer Mission … »Mission Impossible« – zumindest fühlt es sich so an! Trotz Pandemie bin ich entschlossen, mich von diesem Weg nicht abbringen zu lassen, sondern so weit zu gehen, wie ich kann. Ich habe viel vor: Ich muss erkunden, ob mein lang ersehntes neues Leben in Deutschland realisierbar ist. Mein geliebtes Berlin befindet sich in einem Schwebezustand. Viele Hotels sind geschlossen und die Straßen deutlich ruhiger als sonst. Die Cafés sind verlassen. Es fühlt sich an, als wäre dieser elektrisierenden Stadt der Strom abgeschaltet worden. Ich versuche, das zu ignorieren – es lastet auf meiner Aufmerksamkeit.

In meinem ersten Buch, Briefe nach Breslau, versprach ich meinen Großeltern Alfons und Edith Lasker, meine Korrespondenz an sie fortzusetzen. Ich würde ihnen davon erzählen, wie mein Leben, und das der Lasker-Wallfischs, sich entwickelt. Auch davon, was aus meinem Wunsch geworden ist, in Berlin zu leben. Von den Herausforderungen und Erfolgen auf meiner langen Reise nach Hause; von meinen ersten Schritten in einem modernen Deutschland, das sie nicht kannten. Neue Schichten eines transgenerationalen Traumas werden, während ich diese Rückkehr ins Vaterland antrete, offenbar, genau wie unbewusste Erinnerungen, die ich bis dahin nicht wahrgenommen hatte.

Denn davon handelt meine Odyssee: von der Rückkehr in ein neues Zuhause.

Ich checke also im Hotel ein, in diesem Sommer 2020. Es begrüßen mich Stühle und Sofas, eingehüllt in abwaschbare Plastiküberzüge, anderes pandemisches Zubehör sowie eine ungewöhnliche Menschenleere. Keine Willkommensgeste begleitet mich zum Check-in, es ist ein Ort ohne Seele und ohne Personal. Ich schleppe mein Gepäck zum Aufzug, und, oben angekommen, versuche ich mir einen Weg durch das Gewirr der Korridore zu bahnen. Ich sehne mich nach der behaglichen Vertrautheit des Savoy … aber es ist so eng verbunden mit meiner Mutter und den Festen, die wir dort gefeiert haben, dass es viel zu schmerzhaft wäre, ohne sie hinzugehen. Ich hätte die ganze Zeit das Gefühl, auf sie zu warten und nach ihr Ausschau zu halten. Und so habe ich die Angewohnheit entwickelt, von einem Hotel zum nächsten zu ziehen; diesmal starte ich am Ku’damm, bald geht es nach Mitte, Nähe Tiergarten, eine mir unbekannte Gegend.

Bei meiner Ankunft am Hotel überkommt mich eine große Traurigkeit, die ich nicht verstehe. Ich packe aus und bereite mich auf ein Treffen im Verlag vor. Spontan entscheide ich, zu Fuß dorthin zu gehen, und als ich um die Straßenecke biege, stehe ich plötzlich vor dem Holocaust Mahnmal – und begreife nun sofort, dass das, was meine Traurigkeit ausgelöst hat, die Nähe zu diesem Ort gewesen ist. Zwar glaube ich nicht, dass die Erinnerung selbst an solche Plätze gebunden ist, aber dass die geballte Kraft des Verlustes, der hier betrauert wird, atmosphärisch und energetisch zu spüren ist, ja, das glaube ich tatsächlich. Ich bleibe eine Weile dort stehen und sehe den Touristen zu, die Fotos machen, und den Kindern, die auf die Blöcke klettern und spielen, und ich frage mich, wie viel von der Bedeutung dieses Ortes wirklich von den Besuchern verstanden wird. Ich bücke mich und lege ein paar kleine Steine auf ein »Grab«, so wie es Brauch im Judentum ist. Wir ehren unsere Toten nicht mit Blumen. Als ich eine halbe Stunde später im Verlag ankomme, fühle ich regelrecht das Blut durch meine Adern rauschen. Ich bin dankbar, lebendig zu sein.

Alles begann, wenn auch zunächst gestaltlos, in Deutschland. Ich, die ich in England geboren und aufgewachsen bin, die ich mein gesamtes Leben – mit ein paar wenigen Unterbrechungen – dort verbracht habe, verzehrte mich nach einem Ort, der sich wie eine Heimat anfühlen könnte. Seit 2018 schien es mir allmählich, als wäre dieser geheimnisvolle Ort genau jenes Land, in dem ich eigentlich hätte geboren werden sollen. Und umso öfter ich dorthin reiste, umso verbundener fühlte ich mich ihm und umso näher meinem ›ungelebten Leben‹. Meine Gedanken und Sehnsüchte bekamen ein Ziel, eine Adresse: Alfons und Edith Lasker, die ich nie kennengelernt habe, weil sie sechzehn Jahre vor meiner Geburt im Lager von Izbica von den Nazis ermordet wurden. Eine Beziehung zu meinen Großeltern aufzubauen, war der verspätete Beginn einer Reise, die mich über das Vorstellbare, über die Seite hinaustrug, an einen Ort, von dem aus ich nun schreibe. Vielleicht diente das erste Buch, das seine Gestalt so ganz von selbst fand, als Wegweiser für das, was sich noch entspinnen würde. Doch war mir das damals nicht gänzlich bewusst.

Kurz zuvor im selben Jahr war meine Mutter, Anita Lasker-Wallfisch, eingeladen worden, im Deutschen Bundestag am Holocaust-Gedenktag eine Rede zu halten. Die Familie war zu diesem düsteren Anlass in Berlin zusammengekommen, und es war das letzte Mal, dass die zwei ›Lasker-Mädchen‹ beisammen waren. Meine Mutter kam am Arm von Bundespräsident Steinmeier herein, während meine Tante von Kanzlerin Merkel gestützt wurde. Es war eine elektrisierende Atmosphäre. Ich saß hoch oben in der ersten Reihe der Besuchertribüne und schaute zu, wie mein Bruder Raphael mit seinem Cello den Platz auf der Bühne einnahm, und dachte darüber nach, wie weit entfernt ich von den Geschehnissen war, doch wie tief verbunden ich mich trotzdem fühlte.

Dieser Tag veränderte mein Leben für immer. Als ich nach London zurückkehrte, überkam mich eine Entschlossenheit, ich wusste, was ich zu tun hatte und dass das Einzige, das mir im Weg stehen könnte, ich selbst war. Es war Zeit, das Buch zu schreiben, das mir vorschwebte, und herauszufinden, ob Deutschland mich willkommen heißen oder ablehnen würde.

Etwas Bedeutsames hatte begonnen und mein ›erstes symbolisches Zuhause‹ sich gefunden, in meinem Buch Briefe nach Breslau. Wenn Zuhause ein Ort des Willkommens ist, ein Ort des Vertrauens, dann müsste es in der Tat ein warmer Empfang werden.

Wenn Menschen Pläne schmieden, lacht Gott, und nur durch Rückschläge lernt man Lektionen und einem wird klar, was wirklich zählt. Die Freude der Kreativität und Zusammenarbeit, die mir in meinem Jahr des Schreibens half, die Mischung aus Spannung und Beklommenheit während der Vollendung des Manuskripts kamen abhanden. Das Coronavirus war da und sämtliche geplanten Auftritte wurden abgesagt. Das öffentliche Leben pausierte, die Briefe nach Breslau reihten sich ein in die Liste der Kollateralschäden. Zwei Jahre sind seither vergangen und die Überraschung, wenn etwas nach Plan läuft, scheint die neue Normalität zu sein. Natürlich war ich zutiefst erschüttert und brauchte ein paar Wochen, um diese neue Welt im Schockzustand zu akzeptieren. Leben fand online statt. Doch erstaunlicherweise verschwand das Buch nicht. Die Reaktion des Publikums war positiv, voller Interesse, endlich die ersehnte Anerkennung, dass ich etwas zu sagen hatte, als Nachgeborene. Und mein inneres Gespräch, meine Suche nach Antworten auf die Frage, wohin ich gehörte, sollte mit der Möglichkeit eines Umzugs nach Deutschland untrennbar verbunden sein. Ich würde versuchen, mich in Berlin niederzulassen, in der deutschen Hauptstadt, die auch die Hauptstadt des Deutschen Reiches gewesen war.

Doch verblieb die Frage, ob ich genug Mut hatte. Ich habe mein ganzes Leben auf die eine oder andere Weise nach Heimat gesucht. Und jetzt wusste ich, dass ich möglicherweise meine Stadt gefunden hatte. Ich hatte ein inneres Bild: Ich in Charlottenburg, in einer kleinen Altbauwohnung mit einem Balkon, übersät von leuchtend roten Geranien.

Je erfahrener ich werde, desto stärker glaube ich, dass Unwissenheit ein Segen ist. Nicht zu verwechseln mit Dummheit – das ist etwas völlig anderes.

Es ist wahrscheinlicher, dass man vor jugendlichem Leichtsinn ins kalte Wasser springt, Chancen ergreift, furchtlos ist. Man hat Zeit, im Zweifel alles noch einmal anders zu machen. Ich habe das Geschenk, endlos Zeit zu haben, verloren. Eher begreife ich, dass es jetzt oder nie heißt, und daraus erwächst eine Dringlichkeit.

Ah, wie ich es vermisse, jung zu sein. Ich vermisse meine Verspieltheit.

Ich begann also mit der Jagd nach einer Wohnung. Die erste, die ich besichtigte, hatte ich dort gefunden, wo, wie ich später erfahren würde, Millionen von anderen auch als Allererstes suchen, wenn sie einen Ort zum Leben finden wollen. Die Beschreibung klang perfekt. Sie lag in meiner Wunschgegend, in einer meiner Lieblingsstraßen, der Pestalozzistraße.

Was sollte schon schiefgehen?

Naja, diese nichtsahnende anglodeutsche Frau, tauchte mit nur einem einzigen Dokument auf, dem Pass, nicht mit den unzähligen Papieren, die notwendig waren. Ich war also denkbar schlecht ausgerüstet dafür, den Traum von dieser Wohnung Wirklichkeit werden zu lassen.

Zum Besichtigungstermin kam ich eine Stunde zu früh. Also schlenderte ich noch ein bisschen die lange lebhafte Straße herunter, vorbei an Wohnhäusern mit schönen Balkonen, kleinen Läden und größeren Geschäften. An einer Kreuzung sah ich das vertraute Logo von TK Maxx und verspürte Lust, mich der Menge der Schnäppchenjäger anzuschließen, die akkurat Schlangen gebildet hatten. Bald war ich dran und bahnte mir einen Weg in die Schuhabteilung. Plötzlich hörte ich von der anderen Seite des Regals vertrauten Lärm: eine israelische Mutter mit ihrer Tochter. Sie diskutierten heftig und immer heftiger. Ich bemerkte, wie die Leute sie anschauten, diese ungewohnte Szene beobachteten. Ich lächelte vor mich hin, während ich den Kadenzen der auf Hebräisch geführten Debatte lauschte. Für uneingeweihte Ohren klang es nach lautstarkem Streit. Während ich meine eigene Auswahl schnell zum Abschluss brachte, beschloss ich, Hallo zu sagen. Ich fragte die Mutter, ob sie in Berlin lebe oder hier zu Besuch sei. Die arme Frau guckte mich entgeistert an und fragte mich, warum ich das wissen wolle. Wer sind Sie überhaupt? Und sie hielt ihr Mädchen schützend auf Abstand von mir. Ich brauchte ein paar Sekunden, um die Angst zu erfassen, die ich mit meiner Frage provoziert hatte, und so erklärte ich ihr, dass ich eine mir kulturell sehr vertraute Sprache wiedererkannt und mich hingezogen gefühlt hatte zu ihrer Familiendebatte. So eine Intensität im öffentlichen Raum hatte ich in Deutschland noch nicht erlebt … Sie entspannte sich und stimmte mir zu, ja, genau, diese Art, zu kommunizieren werde in Deutschland häufig missverstanden. Das kenne sie. Wir plauderten noch etwas und sie berichtete, dass sie erst vor einem halben Jahr nach Berlin gezogen sei. Ich gestand ihr meinerseits meine Liebesgeschichte mit der Pestalozzistraße, so wünschten wir uns gegenseitig alles Gute und gingen jede zur Kasse mit unseren Schuhen.

Später dachte ich über meine »undeutsche« Art nach, Fremde anzusprechen, und wie dies als Irritation empfunden worden war, oder im schlimmsten Fall sogar als beängstigend. Und ich dachte, auch wenn viele jüdische Menschen aus Russland oder Israel nach Deutschland einwandern: Angst hängt noch in der Luft. Nichts kann einfach vorausgesetzt werden. Vielleicht wird das ja immer so sein – und meine Sehnsucht nach spontaner Kontaktaufnahme würde ein naiver Wunsch bleiben. So vieles sollte in diesen ersten Monaten über die Kultur gelernt werden, in die ich eingetaucht war, und ich musste erst noch herausfinden, ob sie ein Zuhause für mich bot.

Die Stunde war schnell vergangen und nun war es Zeit für die Wohnungsbesichtigung. Ich ging zurück und nahm meinen Platz in der immer weiter anwachsenden Schlange der Wartenden ein. Umgeben von lauter jungen Leuten, fühlte ich meine Chancen und mein Herz sinken. Als ich ein Paar aus der Wohnung kommen sah, sprach ich sie an. Zu meiner Freude waren sie nicht interessiert, ihnen war sie zu dunkel. Ich selbst hatte längst entschieden, sie zu nehmen, ohne dass ich sie gesehen hatte. Zusammen mit einem weiteren jungen Paar war ich schließlich an der Reihe. Wir betraten die Wohnung im ersten Stock. Ich sagte dem Makler, noch bevor wir im Flur waren, dass es von meiner Seite auf jeden Fall ein »ja« wäre. Er hatte schon einen kleinen Vorgeschmack von meiner Direktheit und meinem Enthusiasmus bekommen … Während die jungen Leute die Elektrogeräte studierten, schaute ich mir die Einrichtung und die Dinge in der Wohnung an. Brahms’ Sonaten auf einem Notenständer, deutsche Klassiker in den Bücherregalen! Alles Bestätigungen für mein Gefühl, nach Hause zu kommen. Ich nahm jede Kleinigkeit auf, fühlte es alles ganz körperlich. Die Türklingel, die Briefkästen, alles kam mir so vertraut vor: Als ob ich hier schon gewesen wäre.

Ich verließ die Wohnung widerstrebend und vereinbarte mit dem Makler ein Treffen am nächsten Tag, um den Papierkram zu erledigen, der mich in die engere Wahl der Bewerber aufnehmen würde. Ich war voller vorsichtiger Freude, wollte das Erlebnis feiern. Ich konnte es mir so gut vorstellen, mein Leben in dieser Straße! Ich empfand Verbundenheit, Vertrautheit auch draußen, in der Atmosphäre dieser Nachbarschaft; fühlte mich selbst vollkommen lebendig. Und ich genoss dieses Gefühl enorm.

Am nächsten Tag traf ich also den Makler, erledigte, was zu tun war; Einkommensnachweis, SCHUFA-Auskunft, der Countdown begann. Ich behielt meine Aufregung für mich. Bis zu jenem Moment drei Tage später, als ich per Telefon erfuhr, dass jemand anderes die Wohnung bekommen hatte. Die Wucht der Enttäuschung war mächtig. Ich hatte mich so nah dran gefühlt – und doch sollte die Pestalozzistraße nicht meine neue Adresse sein. Ich gebe zu, ich weinte bitterlich.

Und ich begriff, um erfolgreich zu sein, würde ich meinen Modus Operandi anpassen müssen.

2

Ankommen

Liebe Großeltern,

ich schreib euch aus Berlin! Und ich kann euch sagen, dass ich mich all dem Papierkrieg, all der Bürokratie, der anstrengenden Wohnungssuche zum Trotz, wie inmitten einer Liebesgeschichte fühle. Einer von Sehnsucht und Angst eingefärbten Liebesgeschichte. Jeder Rückschlag ist schmerzhaft, aber ich kehre in den Kampf zurück, müder und vielleicht etwas realistischer. Jedoch immer noch fest entschlossen, schließlich bin ich eine Lasker. Ich komme in Berührung mit Aspekten der deutschen Bürokratie, die nichts zu tun haben mit meinem Gefühl von Gerechtigkeit, »Richtigkeit«. Noch kritischer wird es, wenn ich an den Punkt gerate, an dem das heutige Geschehen ins Trauma der Vergangenheit kippt – die harmlosen Anträge heute nehmen plötzlich den Geschmack von den Papieren damals an, Papiere, mit denen ihr euch unaufhörlich auseinandersetzen musstet, um zu versuchen, nur noch ein wenig länger zu überleben. So ist dieser schlichte Vorgang, die richtigen Unterlagen für eine Wohnungsbewerbung heranzuschaffen, für mich nichts Unbelastetes, es fühlt sich alles sehr persönlich an. Aber ich bin entschieden. Das kann noch nicht das Ende der Hoffnung sein.

Es fällt mir schwer, rational zu sein, wenn mich eine Enttäuschung voll trifft, wie in jenem Moment, als ich erfuhr, dass ich die Wohnung in der Pestalozzistraße nicht bekommen würde. Mit dieser Schwierigkeit hatte ich seit jeher zu kämpfen. Und doch, wenn ich heute darüber nachdenke, was es so schwer gemacht hat, ist es vielleicht vor allem das Deutungsmuster, das über meinem Leben liegt: dass meine Enttäuschungen ja von banaler Natur seien, ohne große Konsequenzen, weit entfernt von Leben oder Tod; einfach Ausdruck dessen, dass etwas nicht nach meinem Willen geschieht. In dieser Beurteilung liegt Härte und auch eine Art Vorwarnung, die ich allerdings meist nicht beachtet habe: Sowohl meine Sehnsüchte als auch meine Enttäuschungen sind zu groß, zu viel für andere, von mir selbst ganz zu schweigen. Aber irgendwo in diesen aus Gegensätzen bestehenden Räumen muss doch Platz für Freude sein! Ich kenne meine Fähigkeit, mich zu freuen, aber meist ist sie dann prekär und ich behalte sie am besten für mich.

Und als jetzt meine Trauer und Enttäuschung in mir festsaßen, funktionierte keine meiner üblichen Verdrängungsstrategien und Ablenkungsmanöver. Gleichzeitig merkte ich, dass ich zu keinem Zeitpunkt dieser tränenreichen Woche »zurück nach Hause« wollte. Ich war ja zu Hause, im Sinne von: auf dem richtigen Boden.

Was ist das, was übrig bleibt, wenn so viel zerstört wurde? Und ist es etwas, das seinen festen Platz in der Seele hat, oder taucht es erst auf, wenn es Luft zum Atmen bekommt? Für mich ist es eine Kombination aus unbewusstem Gedächtnis und Instinkt, ein kraftvoller innerer Wegweiser, der mir sagt, dass ich am richtigen Ort bin. Dies hat nichts mit dem Leben zu tun, das ich bis hierher geführt habe – sondern ganz im Gegenteil mit dem Leben, das ich hätte führen können, hätte es den Holocaust nicht gegeben.

Ich stellte meiner Mutter, eurer Tochter Anita, heute zwei Fragen: »Mit welchem Wort würdest du den Status bezeichnen, den du hattest, als du 1945 in England ankamst?« Sie dachte kurz nach und antwortete: »Flüchtling«. »Und welches Wort würdest du für die Kinder dieser Flüchtlinge benutzen?« Ihre Antwort war dieselbe.