Broccoli Punch - Yuri Lee - E-Book

Broccoli Punch E-Book

Yuri Lee

0,0

Beschreibung

Für Menschen mit Knoten im Herzen Ein Freund, dessen Hand zu einem Brokkoli wird. Ein Vater, dessen Asche sich in eine sprechende Pflanze verwandelt. Das plötzliche Auftauchen des toten Exfreunds für eine letzte gemeinsame Kimchi-Mahlzeit. Ein Mann, dessen bester Freund Scott ein wunderschöner Flusskiesel ist. Die Web-Managerin eines K-Pop-Stars, die sich darüber selbst vergisst. Oder eine junge Frau, die unsichtbar wird. – In bester koreanischer Tradition erzählt »Broccoli Punch« von Menschen und ihren Metamorphosen. Die hier versammelten Geschichten sind so fantastisch und gleichzeitig tief verwurzelt in den realen Ängsten und Zwängen unseres Alltags, dass es fast unmöglich ist, sie wieder zu vergessen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 265

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ein Freund, dessen Hand zu einem Brokkoli wird. Ein Vater, dessen Asche sich in eine sprechende Pflanze verwandelt. Das plötzliche Auftauchen des toten Exfreunds für eine letzte gemeinsame Kimchi-Mahlzeit. Ein Mann, dessen bester Freund Scott ein wunderschöner Flusskiesel ist. Die Web-Managerin eines K-Pop-Stars, die sich darüber selbst vergisst. Oder eine junge Frau, die unsichtbar wird. – In bester koreanischer Tradition erzählt »Broccoli Punch« von Menschen und ihren Metamorphosen. Die hier versammelten Geschichten sind so fantastisch und gleichzeitig tief verwurzelt in den realen Ängsten und Zwängen unseres Alltags, dass es fast unmöglich ist, sie wieder zu vergessen.

LEE YURI wurde 1990 in Gangwon, Südkorea geboren. Ihre literarische Karriere begann 2020 beim Kyunghyang Shinmun New Year's Literaturwettbewerb. Sie hat zwei Kurzgeschichtensammlungen und einen Roman veröffentlicht. »Broccoli Punch« ist ihr Debüt.

TAMINA HAUSER ist Übersetzerin und Lektorin, ansässig in Südkorea. 2020 erhielt sie den Preis für angehende Übersetzer des renommierten Literaturübersetzungsinstituts Korea (lti Korea) und studierte infolgedessen von 2021–2023 an der Übersetzungsakademie des lti.

Lee Yuri

BroccoliPunch

Storys

Aus dem Koreanischen von Tamina Hauser

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel bei Moonji Publishing, Seoul.

This book is published with the support of the Literature Translation Institute of Korea (ltiKorea).

isbn 978-3-98568-181-5

eisbn 978-3-98568-182-2

1. Auflage 2025

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2025

Belziger Straße 35, 10823 Berlin

[email protected]

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor Umschlaggestaltung: heilmeyerundsernaugestaltung

Unter Verwendung einer Illustration von Daniela Raisich

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

Satz: heilmeyerundsernaugestaltung

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

www.kanon-verlag.de

Lee Yuri

Broccoli Punch

INHALT

ROTE FRUCHT

TREIBENLASSEN

BROCCOLI PUNCH

FINGERNAGELSCHATTEN

DER GRAUREIHER-CLUB

KÄSEMOND UND BISCOTTI

FLACHE WELT

DER LEGUAN UND ICH

NACHWORT DER AUTORIN

ROTE FRUCHT

Mein Vater hatte mich einst gebeten, seine Asche in einen Blumentopf zu pflanzen. Kompletter Unsinn, wenn man mich fragt, aber mein Vater war jemand, der ständig absurde Forderungen stellte, deshalb war mir automatisch ein »Klar doch« über die Lippen gekommen. Das ganze Ausmaß dieser Absurdität wurde mir erst bewusst, als ich bereits im Bus nach Hause saß, mit seiner Urne auf dem Schoß.

Im Bus waren einige Leute, die mit mir an der Haltestelle beim Krematorium eingestiegen waren, die alle entweder weinten, geweint hatten oder den Tränen nahe waren, und im Vergleich wirkte ich wie jemand, der mit einer Lunchbox auf dem Schoß zu einem Picknick unterwegs war. Das Wetter war tatsächlich perfekt für ein Picknick, die Sonne schien, es ging eine kühle Brise, und beim Gedanken an den Park in der Nähe meines Hauses und den Sandwich-Laden davor bekam ich Hunger. Ich schaute auf die Streckenkarte und beschloss, eine Haltestelle weiterzufahren und beim Park auszusteigen, aber dann brach hinter mir jemand in lautes Schluchzen aus, meine Stimmung war wieder im Keller, und ich ging nicht in den Park.

Zwei Jahreszeiten waren vergangen, als ich die Urne in einer Ecke des Vorratsschranks wiederentdeckte. In der Annahme, dieses Ding aus den Tiefen des Schranks sei Mehl, nahm ich einen Löffel des Pulvers und schnupperte daran. Ich wusste nicht, was die Urne in einem Schrank zur Aufbewahrung von Lebensmitteln zu suchen hatte, also machte ich den Deckel drauf und stellte sie über die Spüle, erleichtert, dass ich nicht davon gekostet hatte. Aber das war auch kein guter Platz dafür, denn jedes Mal, wenn ich unter der Abzugshaube stand, um zu rauchen, fiel sie mir ins Auge. Eines gemütlichen Morgens schaute ich mir die Urne schließlich genauer an und stellte fest, dass sie nicht wie gedacht aus Jade gefertigt war, sondern aus Plastik, das so bearbeitet worden war, dass es wie Jade aussah, und aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich an die absurde Bitte meines Vaters. Während ich einen langen Zug von meiner Zigarette nahm, dachte ich, dass ich vielleicht doch tun könnte, was er verlangt hatte. Schließlich war es keine große Sache.

Schon zu Lebzeiten hatte mein Vater oft so absurde Dinge gesagt, aber nachdem er krank geworden war, war es noch schlimmer geworden, sodass ich manchmal fest davon überzeugt war, er wolle mir nur das Leben schwer machen. Einmal schickte er mich plötzlich an die Westküste, weil er Lust auf gebratene Krabben hatte, oder befahl mir, beim Fernsehsender anzurufen, um herauszufinden, warum sein Lieblingsmoderator nicht mehr seine Lieblingssendung moderierte, oder trug mir auf, mitten in der Nacht heimlich zu einer Bar zu gehen, die er im Fernsehen gesehen hatte, und sie in Brand zu stecken, weil sie im japanischen Stil erbaut worden war. Damals hatte ich in spöttischem Ton geantwortet: »Und wenn ich erwischt werde, wer soll sich dann um dich kümmern? Du kannst ja nicht einmal alleine aufs Klo gehen.« Daraufhin hatte er mir den Rücken zugedreht und den ganzen Tag lang kein Wort gesagt, bis zum Abendessen, als er in gewohnter Manier fragte: »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen rotem und gelbem Paprika?« Da hörte ich auf, das Geschirr zu spülen, schaute mit seifigen Händen auf meinem Handy nach und erklärte ihm, dass roter Paprika gut gegen Osteoporose sei und gelber gegen Bluthochdruck.

Natürlich konnte ich nicht jeden Tag gute Miene zum bösen Spiel machen, manchmal verlor ich auch die Beherrschung. Einmal kramte er ein paar zerknüllte Geldscheine unter seiner Bettdecke hervor und bat mich, ihm zehn Goldfische zu kaufen. Da ich keinen Streit anfangen wollte, nahm ich das Geld und kaufte ihm stillschweigend die Goldfische für zweitausend Won pro Stück. Nachdem ich sie ihm überreicht hatte, wollte er ins Badezimmer, aber als ich einen Blick hineinwarf, nachdem er so lange nicht herausgekommen war, musste ich feststellen, dass er die Goldfische in der mit Wasser gefüllten Badewanne freigelassen hatte, sie einen nach dem anderen rausfischte, auf seiner Handfläche platzierte und streichelte. Als ich schrie: »Hast du den Verstand verloren?«, drehte mein Vater sich um, warf mir einen finsteren Blick zu und sagte: »Ich wollte nur wissen, ob es stimmt, dass Fische verbrennen, wenn sie von Menschen berührt werden.« Einen Augenblick lang stand ich fassungslos auf der Türschwelle zum Badezimmer, dann schrie ich erneut: »Was ist los mit dir? Du bist doch nicht mehr ganz dicht!«

Aber mein Vater ließ sich nicht leicht unterkriegen, und er hatte einen Trumpf im Ärmel, den er ohne Skrupel zückte, wann immer er es für nötig hielt. Eines Sommers, als ich sechs Jahre alt war, hatte er mich ins Schwimmbad mitgenommen. Ich schwamm im kniehohen Kinderbecken, aber mir wurde bald langweilig, und ich ging hinüber zum Erwachsenenbecken, rutschte aus und fiel hinein, ausgerechnet an diesem Morgen, an einem Wochentag, als außer meinem Vater niemand im Becken war.

Selbst jetzt, wo ich über dreißig bin, erinnere ich mich an jedes einzelne Detail dieses Vorfalls: die Schmutzschichten in den Ecken der Glasfenster an der Decke; wie das nach Chlor riechende Wasser in jede Pore meines Körpers eindrang, mein Blut verdrängte und drohte, von mir Besitz zu ergreifen; wie meine Zehen sich verzweifelt nach unten streckten, auf der Suche nach dem vertrauten Gefühl des Bodens. Jedes Mal, wenn ich daran zurückdenke, sehe ich mich mit dem Blick eines Betrachters, als würde ich gleichzeitig ertrinken und von der Hallendecke des Schwimmbeckens auf mich selbst herabschauen. Die Vorstellung ist so lebendig, als hielte ich eine Schneekugel in der Hand, in der ein hässliches Mädchen mit einer rot gepunkteten Badekappe langsam untergeht.

Aber an eines erinnere ich mich nicht: dass mein Vater mich gerettet hat. Das wiederum war das Einzige, woran er sich erinnerte. Er sagte, als er mich ins Wasser fallen sah, sei er sofort losgeschwommen, um mich zu retten. Das war seine Geheimwaffe. Jedes Mal, wenn ich einen Wutanfall bekam oder mich weigerte, seinen Anweisungen Folge zu leisten, grub er die Geschichte wieder aus. Wie mein kleiner Körper sich an seinen Hals geklammert hatte, wie ich seinen Kopf unter Wasser gedrückt hatte, um nach Luft zu schnappen. Seine Erzählung endete immer mit denselben Worten: »Wenn ich nicht gewesen wäre, wärst du damals ertrunken.« Ich zuckte jedes Mal mit den Schultern und sagte, dass es keine große Sache sei, wenn ein Vater seine Tochter rettete, aber aus irgendeinem Grund schnürte sich meine Kehle zusammen und mein Körper verkrampfte sich, und so ging ich im Morgengrauen zum Supermarkt, um das Kokoswasser zu kaufen, das er verlangte, oder rief die Herstellerfirma des Ventilators an, um zu fragen, warum die Rotorblätter sich nur nach links drehten.

Mein Vater lebte nicht mehr, aber immer, wenn ich seine Urne über dem Spülbecken stehen sah, überkam mich dasselbe hilflose Gefühl, mit dem einzigen Unterschied, dass ich die Urne im Gegensatz zu meinem lebenden, atmenden Vater einfach ignorieren konnte, sodass sie mich nicht allzu sehr störte. Ich stellte die Urne auf den Balkon und dachte, dass ich ja mal beim Blumenmarkt vorbeigehen könnte, wenn ich in Yangjae-dong war. Aber am nächsten Tag wachte ich auf, frühstückte und stieg kaum geschminkt in den Bus nach Yangjae-dong, als ob ich es geplant hätte, döste ein, und als ich aufwachte, stellte ich fest, dass ich wieder einmal in seine Falle getappt war.

Am Ende kam ich mit einem Sack Erde und einem dürren Bäumchen zurück. Die Erde war eine Sache, aber der Baum hatte nur ein paar dicke Blätter und je länger ich ihn betrachtete, desto jämmerlicher sah er aus. Als ich vor einem Stand im Blumenmarkt auf und ab gegangen war, war der übergewichtige Besitzer herausgekommen und hatte gefragt, wonach ich suchte, aber ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass ich die Asche meines Vaters einpflanzen wollte, und so murmelte ich nur etwas Unverständliches, woraufhin er mir mit den Worten »Dann nehmen Sie den hier« diesen verschrumpelten Baum in einem billigen Plastiktopf angeboten hatte. Er hatte auch einen Namen, aber ich vergaß ihn sofort, und als der Mann fünftausend Won verlangte, gab ich ihm das Geld, verließ den Blumenmarkt, und die Sache war erledigt.

Zu Hause angekommen, breitete ich im Wohnzimmer Zeitungspapier aus und stellte die Urne daneben. Ich schüttete den Inhalt aus, bohrte mit einer erhitzten Ahle ein Tropfloch in den Boden der Urne und mischte die Asche mit der Erde. Es war nur eine kleine Menge Asche und nicht besonders fein gemahlen, mit klumpigen Knochenfragmenten so groß wie Fingernägel. Es widerstrebte mir, sie anzufassen, aber gleichzeitig wollte ich sie mit meinen Fingerspitzen herumrollen. Am Ende siegte der zweite Impuls, ich nahm das größte Stück und hielt es ins Licht, während ich darüber nachdachte, wo im Körper meines Vaters dieser Knochen sich befunden haben könnte. Gegen Abend war ich damit fertig, die Erde und das Knochenpulver zu mischen und den Baum in etwas zu pflanzen, das sich jetzt Blumentopf nannte, aber ursprünglich eine Urne gewesen war, und nachdem ich ihn ausgiebig gegossen hatte, wie es sich für neue Pflanzen gehörte, kippte ich den Topf leicht an, damit das schlammige Wasser heraussickern konnte.

Nachdem ich mir die Hände mit warmem Wasser gewaschen hatte, war ich so erschöpft, dass ich früh zu Bett ging. Am nächsten Tag hatte ich den Blumentopf schon völlig vergessen und würdigte ihn danach keines Blickes mehr. Währenddessen wuchs das anfangs elende Pflänzchen von selbst, neue Blätter sprossen wie glänzendes grünes Leder aus der Rinde, und der Stamm wurde immer dicker. Eines Tages, als ich im Wohnzimmer Wäsche faltete, kam die Stimme meines Vaters vom Balkon.

»Wasser.«

Im ersten Moment war ich fassungslos, dann grummelte ich: »Herrje, das ist ja genau wie zu seinen Lebzeiten«, füllte ein Glas mit kaltem Wasser und goss es in den Topf, woraufhin mein Vater langsam und genüsslich seine Blätter zusammenrollte und die Flüssigkeit aufsaugte.

Danach wuchs mein Vater so schnell, dass ich den Topf zweimal gegen einen größeren austauschen musste, und trank so viel Wasser, dass eine Tasse nicht mehr ausreichte. Je mehr er wuchs, desto üppiger wurden seine Blätter und desto dicker sein Stamm, bis er anderen Bäumen in nichts nachstand, und auch wenn ich am liebsten einige der verdorrten Zweige und verwelkten Blätter abgeschnitten hätte, ließ mir sein Geschrei und Gejammer keine andere Wahl, als ihn weiter wild wuchern zu lassen. Manchmal bereute ich, dass ich nicht einen kleineren, hübscheren Setzling gekauft hatte, aber im Allgemeinen war mein Vater gut gelaunt und alles, was er brauchte, war Wasser und Licht, was ihn pflegeleichter machte als noch zu seinen Lebzeiten.

Und doch war mein Vater noch derselbe und stellte nach wie vor absurde Forderungen. Obwohl ich nicht wusste, wie er sehen oder hören konnte, bat er mich, ihn vor den Fernseher zu setzen, damit er den ganzen Tag eine Sendung über koreanisches Essen schauen konnte, oder befahl mir, seine Wurzeln auszugraben, da er überzeugt war, dass dort Ungeziefer herumkrabbelte. Als ich abwinkte, weil ich keinen Dreck unter meine Fingernägel bekommen wollte, kam er wieder auf den Pool-Vorfall zu sprechen: »Damals, als ich noch ein Mensch war, weißt du noch? Da waren wir im Schwimmbad, du mit deiner gepunkteten Badekappe …«, sodass ich am Ende klein beigab, Plastikhandschuhe anzog, meinen Vater ausgrub und mir die Wurzeln ansah, nur um festzustellen, dass da natürlich nichts war.

Als freiberufliche Übersetzerin französischer Romane und Zeitschriften arbeitete ich immer von zu Hause aus, und manchmal hatte ich überhaupt keine Aufträge. Gerade war ich mit der Übersetzung eines französischen Romans mit dem Titel Apfel von einem unbekannten Autor beschäftigt, in dem es um eine Frau ging, die glaubte, ein Apfel zu sein. Seit sie selbstständig denken konnte, hielt sie sich für einen Apfel, also rollte sie, anstatt zu gehen, polierte das, was sie für ihre Schale hielt, anstatt Makeup aufzutragen, und ernährte sich nur von klarem Wasser. Eines Tages sah sie auf der Straße einen Stand, an dem frisch gepresster Fruchtsaft verkauft wurde, und der Anblick schockierte sie so sehr, dass sie auf der Stelle in Ohnmacht fiel. Als sie zu sich kam, lag sie auf zwei Krankenhausbetten, da sie durch den Aufprall bei ihrem Sturz in zwei Hälften gespalten worden war. Nach einem Augenblick der Scham über ihr entblößtes Kerngehäuse und die Kerne darin stürzte sie in eine tiefe emotionale Krise. Es war so, als wäre auch ihr Geist in zwei Hälften geteilt worden, und niemand konnte sagen, in welchem Teil sich ihre Absichten, ihr Bewusstsein und ihre Willenskraft befanden.

Trotz sorgfältiger Behandlung begann die Frau zu verwesen. Mit letzter Kraft murmelte sie dem Arzt etwas zu, aber er konnte es nicht verstehen, und sie starb, bevor er nachfragen konnte. Die letzten Worte der Frau bestanden aus willkürlich zusammengesetzten Buchstaben, was den Arzt traurig stimmte, weil er annahm, dass es sich dabei wohl um die Sprache der Äpfel gehandelt haben musste. Als ich bis zu diesem Punkt übersetzt hatte, lachte ich laut auf, weil es so absurd war. Bei der Vorstellung einer Sprache der Äpfel konnte ich mir das Lachen nicht verkneifen, denn mein Vater war zwar ein Baum, aber er hatte kein Problem damit, mir zu befehlen, das Fenster zu öffnen oder ihm eine Cola zu bringen.

Wie auch immer, das war die Art von absurden Geschichten, die ich ohne Eile in Angriff nahm, obwohl ich mich auch in meine Arbeit stürzen konnte, wenn ich es wollte. Währenddessen stand mein Vater auf der Waschmaschine, sog das Sonnenlicht auf, und wenn der Sonnenstand sich änderte, rief er laut: »Hey, Yujin, Seo Yujin!« Daraufhin legte ich mein Französisch-Koreanisch-Wörterbuch auf den Tisch und ging auf den Balkon, um ihn ins Licht zu stellen. Dann beruhigte er sich, und ich konnte meine Arbeit fortsetzen.

Da ich meinen kranken Vater nicht mehr pflegen musste, hatte ich mehr Zeit und konnte schneller arbeiten, sodass ich etwas mehr Geld verdiente als früher. Wenn ich mein Honorar erhielt, kaufte ich mir neue Kleidung oder marinierte Rinderrippchen, und weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, wenn ich vor meinem Vater genüsslich schlemmte, besorgte ich ihm ein Pflanzenpräparat in einer gelben Flasche, die ich in den Topf steckte. Er sagte, dass er sich dadurch wieder jung fühlte. Ich fragte mich, ob er damit seine Zeit als Baby oder als Samenkorn meinte, und war so verwirrt, als wäre ich in zwei Hälften gespalten, deshalb hörte ich auf, darüber nachzudenken, und eine Zeitlang kamen mein Vater und ich gut miteinander aus.

Ein neues Jahr brach an. Mein Kurzhaarschnitt war nun ein schulterlanger Bob, und mein Vater war von der Größe einer Mundharmonika zu der einer Geige herangewachsen. Ich hatte mich inzwischen damit abgefunden, mit meinem zu einem Baum gewordenen Vater zusammenzuleben, er hatte sich ebenfalls an das Leben als Pflanze gewöhnt, und obwohl wir uns gelegentlich stritten und ich manchmal den Drang verspürte, ihn einfach abzuschneiden, war unser Zusammenleben durchaus harmonisch.

Als er größer wurde, war er es langsam leid, seine Tage auf dem Balkon zu verbringen. Ich hatte ihn dort hingestellt, damit er frische Luft schnappen und auf die Landschaft blicken konnte, und anfangs fand er Gefallen daran, Elstern, Tauben und die Motten auf dem Moskitonetz zu beobachten, aber bald wurde er auch dessen überdrüssig. Eines schönen Frühlingstages jammerte er: »Yujin, lass uns rausgehen. Ich will nach draußen.« Auf die Frage, ob ich ihn aus dem Topf nehmen solle, sagte er, Nein, er wolle nur nach draußen gehen. Mit einem Ruck hob ich den Blumentopf hoch, und obwohl er nicht so schwer war wie gedacht, würde ich nicht einfach damit herumlaufen können, also stellte ich ihn ab und sagte: »Vater, das geht so nicht. Du bist zu schwer.« Er ließ vor Enttäuschung die Blätter hängen. Da er eine Weile nichts erwiderte, ging ich staubsaugen und wäschewaschen. Als ich die Wäsche auf dem Balkon zum Trocknen aufhängte, sagte mein Vater plötzlich: »Weißt du noch? Als du mit sechs Jahren ins Wasser gefallen bist und meinen Kopf unter Wasser gedrückt hast …«

Am nächsten Tag ging ich zum örtlichen Haushaltswarenladen und kaufte einen Handwagen mit Rädern. »Wagen« war vielleicht ein zu großes Wort für den Karren, der aus einer Plastikbox mit Rädern und einem Griff bestand, aber als mein Vater sah, wie ich damit nach Hause kam, zitterten seine Blätter vor Freude. Ich setzte ihn hinein und schob ihn nach draußen, wie ein Baby in einem Kinderwagen, und obwohl es auf dem unebenen Boden etwas schwierig war, konnte ich mit ihm spazieren gehen. »Gehen wir in den Park. Nein, zur Bushaltestelle! Ich will ins Kino!«, rief mein Vater fröhlich, seine Blätter raschelten vor Aufregung. Ich flüsterte ihm zu, leise zu sein, aus Angst, jemand könnte ihn hören. Dann würden die nasa, die Nationale Sicherheitsbehörde oder Enthüllungsjournalisten mit ihren Kameras herbeieilen und ein Riesen-Trara wegen einer sprechenden Pflanze machen.

Wie mein Vater es angeordnet hatte, gingen wir in den Park, saßen eine Weile bei der Bushaltestelle und beobachteten die Leute, die ein- und ausstiegen, dann gingen wir zum Kino, um zu sehen, welche Filme herausgekommen waren, schlenderten zurück durch den Park, und dieser Weg wurde zu unserer Spazierroute. Alle zwei oder drei Tage ging ich mit meinem Vater im Handkarren auf derselben Strecke spazieren. Manchmal kaufte ich auf dem Rückweg Lebensmittel ein und verstaute sie im Karren, und wenn es regnete und wir nass wurden, funkelten die Blätter meines Vaters wie winzige Smaragde.

Eines Tages schob ich meinen Vater wie gewohnt im Karren durch den Park, aber auf der Bank, auf der wir uns sonst immer ausruhten, saß ein Mann und aß ein Sandwich. Ich hob meinen Vater hoch und stellte ihn auf die Bank daneben, dann setzte ich mich ebenfalls, rieb mir die Knie und überlegte, ob ich auf dem Rückweg auch ein Sandwich kaufen sollte, als mein Vater mir plötzlich zuflüsterte: »Yujin, schau mal da drüben. Schau doch.«

Erst da bemerkte ich neben dem Mann einen Blumentopf, etwa so groß wie der meines Vaters, in den ein offensichtlich gut gepflegter Baum mit runden, gesunden, üppigen Blättern gepflanzt war. Sowohl mein Vater als auch ich starrten ihn voller Bewunderung an. Der Mann schob sich das letzte Stück Sandwich in den Mund, zerknüllte die Plastikverpackung und warf sie in den nächstgelegenen Mülleimer. Der Plastikball landete in einem sauberen Bogen im Eimer. Es war albern, das Wegwerfen von etwas Schmutzigem als sauber zu bezeichnen, deshalb konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Der Mann bückte sich hinunter zu einem grünen Karren, genau wie meiner, der unter der Bank stand. Er zog ihn heraus, stellte den Topf mit dem Baum darauf und verließ den Park, wobei er den Karren genau wie ich vor sich herschob. Mein Vater und ich starrten ihm eine Weile schweigend nach, bevor wir aufstanden und nach Hause gingen, ohne an der Bushaltestelle oder beim Kino anzuhalten.

Als wir den Mann zwei Tage später wiedersahen, saß er wieder mit einem Sandwich auf derselben Bank, und nachdem er aufgegessen hatte, zerknüllte er die Verpackung und warf sie in den Mülleimer. Allerdings verfehlte er diesmal das Ziel, und aus irgendeinem Grund gefiel mir, wie er mit beschämtem Blick aufstand, um die Verpackung aufzuheben.

Währenddessen war der Blick meines Vaters auf die Topfpflanze des Mannes fixiert. Da ich ihm so etwas niemals zugetraut hätte, war ich verständlicherweise schockiert, als ich hörte, wie mein Vater plötzlich rief: »Was für wunderbares Wetter wir doch haben.« Und als die Topfpflanze des Mannes mit eleganter Frauenstimme antwortete: »Ja, wirklich wunderbar«, entwich mir lediglich ein seltsames, ersticktes Keuchen. Dem Mann ging es wohl ähnlich, denn mit vollem Mund schaute er zwischen den beiden Topfpflanzen hin und her, dann landete sein Blick auf mir, offensichtlich auf der Suche nach einer Erklärung. »Verzeihung, das ist mein Vater«, stammelte ich, im Bewusstsein, wie albern sich das anhörte. »Ach so«, antwortete der Mann, als hätte ich das Normalste der Welt gesagt. Als ich ihn nun wiederum mit fragendem Blick ansah, deutete er auf seine Topfpflanze und sagte: »Das ist meine Mutter.« »Ach so«, erwiderte ich, dann zauberte er wie aus dem Nichts ein neues, in Plastik eingewickeltes Sandwich hervor und bot es mir an. Ein Lachssandwich, meine absolute Leibspeise. Ich nahm es entgegen und verschlang es im Handumdrehen.

Von da an trafen wir uns fast jeden Tag zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Ich erfuhr, dass sein Name mit P. begann, er es aber vorzog, einfach P. genannt zu werden, dass er es liebte, zu illustrieren, was auch sein Beruf war, dass seine Illustrationen vor allem in Kinderbüchern und -zeitschriften erschienen, dass er Mentholzigaretten rauchte, Milchkaffee trank und ein Katzenmensch war.

In der Gegenwart von P.s Mutter wurde mein Vater gesprächiger, und wenn seine altmodischen Witze P.s Mutter manchmal zum Lachen brachten, tauschten P. und ich einen bedeutungsvollen Blick aus. Ich überredete P. zu einem langen Spaziergang durch den Park, damit unsere Eltern sich in Ruhe unterhalten konnten. Als wir zurückkamen und mein Vater verärgert sagte: »Schon wieder da?«, bemerkte ich, dass die Ränder der Blätter von P.s Mutter rosa gefärbt waren.

Eines Tages lud P. uns zum Abendessen zu sich nach Hause ein, und so ging ich mit meinem Vater gemeinsam hin. Ich trug ein neues Kleid, brachte eine Flasche süßen Portwein für P. und für seine Mutter deutschen Feststoffdünger, der angeblich bis zu zehn Jahre lang haltbar sein sollte. Mein Vater wollte ebenfalls gut aussehen, deshalb war er ruhig geblieben, als ich mit der Gartenschere auf ihn zugekommen war. Als wir bei P. ankamen, sah er ordentlich und gepflegt aus.

Sobald P. die Tür öffnete, wehte uns ein köstlicher Geruch entgegen, der meine Stimmung hob, bevor ich überhaupt eingetreten war. Die Wohnung war ähnlich aufgebaut wie meine, mit einem kleinen Wohnzimmer, einem Balkon und einem noch kleineren Schlafzimmer. Sie gefiel mir auf den ersten Blick. Es war offensichtlich, dass P. in aller Eile für seine Gäste aufgeräumt hatte, aber ich bemerkte trotzdem den Staub in den Ecken, die Fingerabdrücke auf den Fenstern und die Kratzer am Boden. Als ich ihm sagte, wie sehr mir diese sympathischen Spuren gefielen, wurde P. verlegen.

Wir setzten uns an den Tisch, den P. für vier Personen gedeckt hatte. P. saß mir gegenüber, mein Vater seiner Mutter gegenüber. Von den vier Weingläsern füllte er jeweils zwei mit Portwein und zwei mit Mineralwasser, dann reichte er mir den Wein und goss das Wasser über meinen Vater, wobei er einen nicht besonders lustigen Witz über das Trinken in Maßen machte, den mein Vater zum Schießen komisch fand. Ich schlug mir den Bauch voll mit all den köstlichen Speisen, die P. von irgendwo herzauberte und auf die Teller häufte. Als schließlich alle Teller leer waren, kratzte P. sich unbeholfen am Hinterkopf, murmelte etwas davon, dass er keine Zigaretten mehr habe, und noch bevor er weitersprechen konnte, stand ich schon bei der Tür und schlüpfte in meine Schuhe.

Es war eine Frühlingsnacht, die Luft roch nach Flieder. P. meinte, dass irgendwo in der Wohnanlage Fliederbäume seien, aber er habe sie nie ausfindig machen können, worauf ich nickte und erwiderte: »Ach so.« Eine Weile sagten wir nichts, gingen zum Supermarkt um die Ecke und kauften Zigaretten. Ich nahm an, dass wir auch auf dem Rückweg schweigen würden, aber als wir fast angekommen waren, schaute P. in Richtung der Sträucher in der Nähe des Gebäudes, als würde er nach einem Fliederbusch Ausschau halten, dann fragte er leise: »Möchtest du mit mir ausgehen?«, worauf ich antwortete, »Okay, warum nicht?«

Als ich meinem Vater am nächsten Tag davon erzählte, meinte er, das seien fantastische Neuigkeiten, dann wechselte er plötzlich das Thema und bemerkte, wie schön das Wetter sei. Da wurde mir klar, dass er gestern Abend während unserer Abwesenheit P.s Mutter dieselbe Frage gestellt haben musste, und dass sie auf ähnliche Weise wie ich geantwortet hatte.

P. und ich gingen beide nicht gerne aus, und so verbrachten wir die meiste Zeit bei ihm zu Hause. Seine Wohnung war voller Zeichenutensilien, und ich kritzelte damit oder las Comics, während ich ihm bei der Arbeit zusah. Ich wurde es nie leid, zuzusehen, wie die Farben auf dem weißen Papier zum Leben erwachten, so warm und einladend wie P. selbst. Er zeichnete stundenlang, vollkommen in die Arbeit vertieft. Wenn er dann plötzlich sagte: »Ich habe Hunger« oder »Meine Schultern sind verkrampft«, bereiteten wir uns eine Mahlzeit zu oder machten einen kurzen Spaziergang.

Mein Vater und P.s Mutter verbrachten ihre Tage ähnlich, streckten die Äste aus, um ihre Blätter übereinander zu legen, sonnten sich tagsüber und entspannten nachts. Wenn ich manchmal aus dem Augenwinkel sah, wie die dicken, gezackten Blätter meines Vaters die runden, kleinen Blätter von P.s Mutter in einer liebevollen Geste streichelten, wurde ich rot vor Scham.

Im Bett vor dem Einschlafen wurden P. und ich für gewöhnlich gesprächiger. An der Decke seines Schlafzimmers hingen ein paar verblichene, im Dunkeln leuchtende Sterne, unter denen wir uns über alles Mögliche unterhielten. Als ich ihm erzählte, wie ich fast ertrunken wäre und dass mein Vater immer noch davon sprach, lachte P. laut auf. Ich bat ihn, mir eine Geschichte über seine Mutter zu erzählen, und nachdem er eine Weile überlegt hatte, erzählte er mir, wie er mit acht Jahren mit ihr in ein Kaufhaus gegangen war und einen Wutanfall bekam, als sie ihm keinen Roboter kaufen wollte. Daraufhin hatte seine Mutter ihn genervt zu der Dame in der Spielzeugabteilung gebracht und gesagt, wenn er den Roboter unbedingt haben wolle, solle er doch die Verkäuferin zu seiner Mutter machen. Dann war sie alleine nach Hause gegangen. Mit einem Schulterzucken hatte P. sich gesagt: »Na gut, so ist es dann wohl«, und gewartet, bis die Dame Feierabend hatte, um mit ihr nach Hause zu gehen und zu Abend zu essen. Nachdem er noch ein paar Zeichentrickfilme schauen durfte, schlief er tief und fest, bis die Frau am nächsten Tag zur Arbeit ging und er den Bus nach Hause nahm. Ich krümmte mich vor Lachen. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich vor dem Einschlafen hören, wie mein Vater und P.s Mutter auf dem Balkon flüsterten. Die leisen Worte, die auf der nächtlichen Brise ins Zimmer getragen wurden, wiegten mich in den Schlaf.

Am nächsten Morgen stand ich auf und ging auf den Balkon, wo mein Vater und P.s Mutter mich mit übereinandergelegten Blättern herzlich begrüßten. Ich begann den Tag, indem ich ein halbes Glas lauwarmes Leitungswasser in ihre Töpfe goss.

Es dauerte nicht lange, bis mein Vater und P.s Mutter wie ein einziger Baum waren, vollkommen aneinandergeschmiegt, die Äste so ineinander verschlungen, dass man sie nicht trennen könnte, ohne sie zu brechen. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man sie nicht auseinanderhalten, was auch nicht nötig war, und da ich meinem Vater ähnelte und P. seiner Mutter, glichen wir vier uns immer mehr, was an sich nicht schlecht war.

Eines Abends lag P. entspannt im Wohnzimmer und las meine Übersetzung von Apfel, während ich überlegte, ob ich Instantnudeln essen sollte, als mein Vater plötzlich rief: »Kinder, kommt her.« P. und ich tauschten einen Blick aus, bevor wir auf den Balkon gingen. »Was willst du jetzt wieder?«, fragte ich. P. warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, aber mein Vater ignorierte meinen schnippischen Kommentar und sagte mit ernster Stimme: »Wir werden heiraten.« Ich schaute zu P., der sich ebenfalls zu beherrschen versuchte, und da konnte ich das Lachen nicht mehr unterdrücken. P. stieß mich schmerzhaft in die Seite, woraufhin ich schnell ernst wurde, aber innerlich lachte ich trotzdem nach Herzenslust. Auf meine Frage: »Aber warum?«, erwiderte mein Vater: »Wir bekommen ein Kind.«

Ich hatte Bilder einer Alraune vor Augen, deren Wurzeln wie ein menschliches Baby geformt sind und die laut aufheult, wenn man sie aus der Erde zieht, oder Baby Groot aus dem Film Guardians of the Galaxy Vol.2. Bei der Vorstellung musste ich schmunzeln, aber schließlich war mein Vater ja auch kein normaler Mensch mehr. Das »Kind«, von dem er sprach, sah jedoch ganz anders aus. Als P. vorsichtig das dichte Blätterwerk auseinanderschob, kam eine kleine, zusammengerollte Blütenknospe zum Vorschein. P.s Mutter sagte mit schüchterner Stimme: »Ich glaube, sie wird in den nächsten zwei Tagen aufblühen.« P. und ich sahen einander unsicher an. »Wie auch immer, herzlichen Glückwunsch«, sagte P., was bei mir wieder einen Lachanfall auslöste, denn sein Gesichtsausdruck war urkomisch.

Am Tag der Hochzeit unserer Eltern gingen P. und ich zum Blumenmarkt, kauften den größten und schönsten Topf und pflanzten meinen Vater und P.s Mutter sorgfältig zusammen darin ein. Dann zog ich ein hübsches Kleid an, P. einen Anzug, wir saßen um den Tisch herum, steckten Kerzen in eine Torte und stießen mit Champagner an. »Das ist eine Geburtstagsfeier, keine Hochzeit«, schmollte mein Vater, aber ich amüsierte mich köstlich. Wenn die Stimmung sentimental wurde, tat ich so, als würde ich mir die Tränen abwischen, und sagte: »So fühlen sich Eltern also, wenn das eigene Kind heiratet«, was alle zum Lachen brachte.

Als wir an diesem Abend im Bett lagen, sagte ich zu P.: »Jetzt sind wir wohl Geschwister«, worauf er antwortete: »Dann lass uns etwas tun, das Geschwister nie tun würden.« Wir verbrachten eine Nacht miteinander, bei der die im Dunkeln leuchtenden Sterne vor Verlegenheit von der Decke fielen – tatsächlich war es, weil das Bett gegen die Wand stieß. Am nächsten Morgen war die Knospe aufgeblüht, das Haus erfüllt von dem süßen Duft des gelben Blütenstaubs auf den rosa Blütenblättern.

Nachdem die Blume verwelkt war und abfiel, blieb an der Stelle eine kleine rote Frucht zurück.

Von da an sprachen mein Vater und P.s Mutter nur noch selten miteinander, aber manchmal kicherten sie oder schüttelten die Zweige, und es schien, als würden sie sich auch ohne Worte verstehen, was nur natürlich war, da sie nun ein und derselbe Baum waren.

Im Laufe der nächsten Monate wuchs die Frucht von der Größe eines Knopfes zu der eines Bonbons, dann eines Reiskuchens und schließlich einer Handfläche, und bekam eine glänzende, feste Schale. Wenn ich sie ansah, schien sie sich manchmal zu bewegen, und wenn ich sie vorsichtig mit den Fingerspitzen streichelte, fand ich sie sogar recht niedlich. Jeden Tag betrachtete ich sie, stupste sie an und sprach mit ihr, um zu sehen, ob sie reif war.

Eines Abends, als die Frucht sich dunkelrot gefärbt hatte und so groß wie ein zusammengerolltes Kaninchenbaby war, hörten P. und ich seine Mutter rufen: »Es ist so weit. Sie ist reif!« Wir eilten zum Balkon. Die Frucht versuchte mit aller Kraft, sich vom Stiel zu lösen, und dann, ohne Vorwarnung, brach sie ab und kullerte