Bruch und Kontinuität -  - E-Book

Bruch und Kontinuität E-Book

0,0
23,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Kulturpolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit ist nach wie vor nicht aufgearbeitet. Dabei war das Jahr 1945 auch in diesem Bereich nicht einfach eine Zäsur, wie oft angenommen wird. Die Beiträge dieses Buches stellen scheinbare Unvermeidlichkeiten in Frage und versuchen disziplinenübergreifend Möglichkeitsräume zu erschließen, die nicht frei von Widersprüchen sind. Einerseits werden Kunst und Kulturpolitik in der Nachkriegszeit in ihrer Verschiedenheit und unabhängig von ihrem späteren Erfolg betrachtet. Andererseits ist damit eine kritische Reflexion der Forschung und Erinnerung daran verbunden, die erst dazu beigetragen hat, bekannte Narrative zu tradieren und überdies erklärt, warum eine umfassende Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten und Brüchen im Bereich von Kunst und Kultur noch immer aussteht. MARIA NEUMANN ist Historikerin. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am documenta Institut und forscht dort zu den NS-Vergangenheiten der documenta-Akteur*innen.  FELIX VOGEL ist Professor für Kunst und Wissen an der Universität Kassel und Mitglied des documenta Instituts. Er forscht u. a. zur Theorie und Geschichte der Ausstellung und zur Conceptual Art.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 137

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bruch und Kontinuität

Bruch und Kontinuität

Kunst und Kulturpolitik

nach dem

Nationalsozialismus

Herausgegeben von

Maria Neumann und Felix Vogel

Inhalt

Kunst als »geistige Wohlfahrt der Nation«

Zur Einleitung

maria neumann/felix vogel

I. (K)ein Blick zurück: Ausstellungspraktiken und -rezeption nach 1945

Die Städtische Galerie im Lenbachhaus in der Nachkriegszeit

Akteur*innen, Erwerbungen, Ausstellungen

lisa kern

recto/verso

Die documenta im Büttenrand

julius lehmann

Von der Flakkaserne zur AOK

Über das Nachleben der Skulpturen Georg Kolbes aus dem Nationalsozialismus

wolfgang brauneis

II. Umgangsformen und Haltungsfragen: Zwischen Aufarbeitung und Vergangenheits-bewältigung

Im Nebeneinander der Aufarbeitung

Hildegard Brenner und die »Kunstpolitik des Nationalsozialismus«

moritz neuffer

Hildegard Brenner und ihre Quellen

Eine Kritik der »Kunstpolitik des Nationalsozialismus« am Beispiel von Otto Andreas Schreiber

nora jaeger

Gestaltung und Untergang

Design im Zeichen des Nationalsozialismus

michael braun

III. Weiter oder anders? Veränderte Fragestellungen und neue Narrative?

Verzerrte Erinnerung?

Eine historiografisch-methodologische Reflexion (zum ersten Nachkriegsjahrzehnt)

christian fuhrmeister

Kunst und Kultur nach dem Nationalsozialismus

Aktuelle Perspektiven der Forschung

jutta braun

Autorinnen und Autoren

Kunst als »geistige Wohlfahrt der Nation«

Zur Einleitung

maria neumann / felix vogel

Werner Haftmann hätte das Ziel der ersten documenta kaum höher ansetzen können: »Ihre Idee entspringt dem Bedürfnis einer deutschen geistigen Situation; ihr – gewiß nicht erreichter – Idealfall wäre für die geistige Wohlfahrt der Nation von hohem Belang.«1 Was Haftmann jedoch unter »geistige[r] Situation« verstand, legte er nicht offen, ja benannte die gerade erst zehn Jahre zurückliegenden nationalsozialistischen Verbrechen nicht einmal als solche. Vielmehr rief er lediglich vage eine »schmerzhafte Erinnerung« wach, »an jene jüngst vergangene Zeit, in der Deutschland aus der vereinten Anstrengung des modernen europäischen Geistes heraustrat, sich isolierte und in einem seltsam anmutenden Anfall von Bilderstürmerei die bereits erreichten Ergebnisse dieser Anstrengungen auf allen Gebieten des Geistes verwarf«.2 Es hilft nicht, die Verdrängung des Nationalsozialismus und die Erwartung, durch eine Kunstausstellung in Kassel zur »geistige[n] Wohlfahrt« der gesamten Bundesrepublik beizutragen, als Eigentümlichkeit des früheren SA-Mitglieds Haftmann abzutun, stehen seine Ausführungen doch geradezu exemplarisch für die Kulturpolitik der 1950er-Jahre. Mittels Kunst und Kultur, insbesondere durch eine Anknüpfung an die Zeit vor 1933, sollte eine Reinwaschung der Nation und ein Neuanfang vollzogen werden.

Doch was, wenn die erste documenta 1955 nicht den Beginn einer großen Ausstellungsreihe darstellt, sondern am Ende eines Ringens um Deutungshoheiten stand? Diese Frage, die sich von der gängigen ex-post-Perspektive der documenta-Forschung zu distanzieren versucht, war der Beginn dieser Auseinandersetzung mit Kunst und Kulturpolitik nach dem Nationalsozialismus.

Ausgehend von der These, dass 1945 ein »chaotisches Dazwischen«3 vorherrschte und nicht die viel beschworene »Stunde Null«,4 werden deshalb im Folgenden scheinbare Unvermeidlichkeiten infrage gestellt und herausgearbeitet, welche unterschiedlichen Positionen in den Nachkriegsjahren von diversen Akteur*innen vertreten wurden. Es geht konkret darum, Momente der Unentschiedenheit zu greifen und Prozesse einer Weichenstellung nachzuvollziehen, die den bundesrepublikanischen Kunst- und Kulturbetrieb nachhaltig prägte. Diese Frage nach den Alternativen deutet auf Handlungsoptionen hin. Und sie lässt Raum für Zufälle und Widersprüche. Der Historiker Dominik Rigoll plädiert dafür, die Akteur*innen und Ideen dieser fragmentierten Nachkriegsgesellschaft, die nicht für die Erfolgsgeschichte der Aufbaujahre stehen, in die Überlegungen einzubeziehen.5 Er zielt damit auf die in vielen Bereichen wahrgenommene Diversität und Offenheit der unmittelbaren Nachkriegsjahre, in denen mehr Schlüsselpositionen von im Nationalsozialismus verfolgten Menschen eingenommen wurden. Vor allem linke Parteigänger*innen waren von den Besatzungsmächten zonenübergreifend als unbelastet eingeschätzt worden. Und erst im Zuge der Staatsgründungen wurden sie politisch wie sozial wieder stärker ausgegrenzt. Nach 1949 übernahmen in der Bundesrepublik ehemalige Nationalsozialist*innen ihre Stellen, in der ddr hingegen verdrängten moskautreue Kommunist*innen zum Beispiel Sozialdemokrat*innen.6 Rigoll betont, dass er keine Gegengeschichte erzählen wolle, aber er plädiert für eine Erweiterung der standardisierten Erzählung hin zu einer integrativen Geschichte, die auch jene Akteur*innen inkludiert, die sich nicht durchsetzen konnten. Die Geschichte der documenta mit ihrem zeitgenössisch typischen Ordnungs- und Kanonisierungsbedürfnis etwa ist dann gleichermaßen ein Beitrag zur Kunstgeschichte wie zur Demokratiegeschichte der jungen Bundesrepublik.7

Voraussetzung dafür ist, Kunst und Kultur des ersten Nachkriegsjahrzehnts in ihrer Verschiedenheit und unabhängig von ihrem späteren Erfolg zu betrachten, um Möglichkeitsräume zu erschließen, wobei neben kunsthistorischen Fragen, politische Epochengrenzen, ökonomische Restriktionen oder infrastrukturelle Gegebenheiten innerhalb dieses Zeitrahmens mitzudenken sind:8 Auf der ersten documenta 1955 wurden zum Beispiel keine Arbeiten des Malers Rudolf Levy gezeigt. Auf den Listen der Künstler*innen, die potenziell ausgestellt werden sollten, tauchte sein Name nur einmal auf und verschwand dann wieder. Julia Voss deutet diese Entscheidung der Ausstellungsmacher*innen ideologisch.9 Levy war Jude und wurde von den Nationalsozialist*innen ermordet. Als solcher passte er nicht in das Konzept der documenta. Denn Werner Haftmann, der Levy persönlich gekannt hatte, war davon überzeugt, dass »nicht ein einziger der deutschen modernen Maler Jude war«.10 Der gleiche Befund zeigt sich unter anderem auch bei dem jüdischen Künstler Otto Freundlich, dessen Skulptur Der Große Kopf (1912) als Cover der Broschüre der Ausstellung Entarte Kunst (1937) diente und der ebenfalls auf einer frühen Teilnehmer*innenliste geführt, schließlich aber nicht ausgestellt wurde. Dass der hinter diesem Gedanke stehende Kanonbegriff 1955 noch nicht als gesetzt gelten kann, deutet demgegenüber Lisa Kern an.11 Wohl aber, wie ein solcher mittels dem breitenwirksamen Medium Ausstellung, das als das Instrument der Kanonbildung schlechthin verstanden werden muss, etabliert werden sollte. Ein Jahr vor der documenta veranstaltete die Städtische Galerie im Lenbachhaus in München eine Levy-Gedächtnisausstellung, in der 33 seiner Kunstwerke präsentiert wurden. Als Wanderausstellung machte die Schau anschließend Station in weiteren Städten, unter anderem Nürnberg, Braunschweig und Hannover.12 Diese Tatsache entschärft in keiner Weise Haftmanns These, aber sie verkompliziert die Geschichte. Lothar Sickel vermutet sogar, dass Levy in Kassel nicht gezeigt wurde, weil seine Werke aufgrund der Wanderausstellung nicht verfügbar waren.13 Kern hingegen hält die Frage der Verfügbarkeit für irrelevant. Man habe Levy sehr wahrscheinlich in Kassel ausstellen können, wollte es jedoch offenkundig nicht. Die Gründe dafür hat, wie erwähnt, Voss geliefert. Trotzdem ist aufschlussreich, wie die Levy-Ausstellung (auch im Vergleich zur documenta) realisiert und rezipiert wurde und ob Haftmanns Position dabei eine Rolle spielte.

Ein Blick in die Texte von Werner Haftmann zeigt, dass dort weit über die Bewertung einzelner Künstler*innen hinaus strategische und unverhohlen ideologische Entscheidungen, die für die Kulturpolitik nach dem Nationalsozialismus exemplarisch waren, getroffen wurden. In seiner ein Jahr vor der ersten documenta erschienenen Monografie Malerei im 20. Jahrhundert argumentiert er nicht nur stellenweise, sondern immer wieder mit völkischen Stereotypen und bekräftigt darüber hinaus auch offen seinen Antikommunismus. Da wird festgestellt, dass der »offizielle Kunststil totalitärer Länder […] überall der gleiche«14 sei, Stalin für die »sattsam bekannte ›Blut und Boden‹-Thematik«15 verantwortlich gemacht und die meisten (futuristischen) Künstler Italiens »mit der Ausnahme von Carrà […] ausnahmslos im antifaschistischen Lager«16 verortet. Zwar sei der »böseste und menschlich niedrigste Angriff des Totalitarismus auf die Freiheit des schöpferischen Menschen […] in Deutschland [erfolgt]«,17 doch hindert das Haftmann nicht daran, den Nationalsozialismus mit dem »russischen Bolschewismus«18 zu relativieren. Konsequenterweise – und denkt man an Levys Schicksal: entsetzlicherweise – ist für Haftmann die Verfolgung und Ermordung von Künstler*innen weniger relevant (»Die moderne Kunst verschwand im Untergrund, lebte aber dort weiter, getreu den Aufträgen, die sie zu erfüllen hatte«19) als die Indienstnahme des »Inhalt[s] und [die] propagandistische Bedeutung«20 der Kunst. Entsprechend entwickelt er eine Idee von autonomer Kunst, die nur noch sich selbst verpflichtet sei, was Haftmann schließlich für die documenta 2 im Schlagwort von einer »Weltsprache Abstraktion« zu fassen versucht, und mit einer solchen universalistischen Vorstellung einer Tendenz folgt, die in Westeuropa und Nordamerika längst etabliert war. Dass deren Entwicklung in Deutschland jäh unterbrochen wurde, will er als »Infektion des Totalitarismus«,21 also etwas Äußerliches, verstanden wissen. In der Einleitung zur ersten documenta beschrieb er die Ausstellung gar als einen »Schaden«, der »der Nation […], ihrem Bewußtsein von zeitgenössischer Kultur, ihrem passiven Kulturwollen [angetan]«22 wurde. Als ob es keine Nazis gegeben hätte.

In all dem ist allerdings nicht nur eine typische Verdrängung zu erkennen, und auch nicht nur ein antikommunistisches Ressentiment. Vielmehr mag im Ideal der autonomen Kunst – als ein vermeintlich politisch neutrales oder zumindest der liberalen Demokratie verpflichtetes Tun – ein Grund liegen, weshalb die kritische Auseinandersetzung mit Kunstinstitutionen so spät einsetzte. Der aus heutiger Sicht zu verbuchende Erfolg von Haftmanns kunsthistorischem Modell, der documenta sowie allgemein der »Weltsprache Abstraktion« darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies im Jahr 1955 nicht die einzige Option war. Es fanden im ersten Nachkriegsjahrzehnt, vor und während der ersten documenta, durchaus anders gelagerte Ausstellungen statt. Neben solchen zur Moderne und von im Nationalsozialismus verfemten Künstler*innen sei hier auf Ausstellungen der alten Meister oder über christliche Kunst verwiesen. Dahinter stand die Absicht, sowohl künstlerische als auch gleichsam kulturpolitische Interessen zu vertreten, und damit verbunden die Hoffnung auf Wiedergutmachung oder Rückbesinnung sowie die Stärkung einer gesellschaftlichen Integrität.23 Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld von Fragen: Unter welchen Bedingungen wurde Kunst gezeigt? Inwiefern bestimmten infrastrukturelle Situationen das Ausstellungsgeschehen und welche (ungewöhnlichen) Konzepte und Konstellationen ergaben sich daraus? Denn während Ausstellungsmacher*innen nach Kriegsende einerseits vor erheblichen logistischen Herausforderungen standen, ist andererseits zu konstatieren, dass schon im Sommer 1945 wieder erste Kunstausstellungen stattfanden, die in allen vier Besatzungszonen von den jeweiligen Militärregierungen gefördert und durchaus als Reaktionen auf die Bilderflut der Nationalsozialist*innen verstanden wurden.24 Wie legitimierten sich diese Ausstellungen (als Abgrenzung von der NS-Kulturpolitik oder als Anknüpfung an die Zwischenkriegszeit)? Auf welche internationalen und historischen Vorbilder wurde zurückgegriffen? Wie wurden relevante Lehrstühle,25 Ministerposten, Museumsposten (wieder)besetzt? Lässt sich eine Lagerbildung beobachten? Wer kam aus dem Exil zurück? Oder blieb lieber dort? Und wie prägte der beginnende Kalte Krieg diese Entscheidungen? In welcher Beziehung stand die Aufarbeitung der Vergangenheit und die erwartete Zukunft bzw. was wog schwerer? Schließlich, welche Zielgruppen sollten angesprochen werden? Und welcher Kunst- und Künstler*innenbegriff stand hinter all dem? Lisa Kern widmet sich diesen Fragen am Beispiel der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, die im Herbst 1945 wieder den Betrieb aufnahm. Julius Lehmann hingegen verknüpft seine Überlegungen mit alltagsgeschichtlichen und kunsthistorischen Fragen, indem er als Ausgangspunkt eine Postkarte wählt, die nach einem Besuch der documenta 2 (1959) verschickt wurde.

Damit verflochten ist die Berücksichtigung der Forschung und der Versuch, zu rekapitulieren, welche Themen im Zeitverlauf in den Vordergrund rückten, also gewissermaßen die Rekonstruktion eines historischen Forschungsstands: Wer hat sich nach 1945 mit Kunst im bzw. nach dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt, wie wurde diese Forschung rezipiert und inwiefern haben sich Forschungsfragen, Quellen und methodische Ansätze verändert? Wie gestaltete sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Zugang zu Archiven? Welche Rückschlüsse lassen diese Beobachtungen zu? Während mit Blick auf die Inhalte also Zäsur übergreifende Fragen relevant sind, sollen hinsichtlich der Forschung Zäsuren sichtbar gemacht werden. Hierbei fällt auch die Vielzahl der in den unterschiedlichen Studien gewählten Untersuchungszeiträume auf. Das Jahr 1945 zum Beispiel markierte nicht auf allen Ebenen und gleichermaßen einen Bruch. Vielfach wurde etwa auf personelle wie strukturelle Kontinuitäten im Bereich der Verwaltung oder in den Kirchen hingewiesen. Für die künstlerische Produktion stellt das Jahr 1945 ebenfalls keinen »Epochenwechsel« dar, wenngleich zahlreiche Museen und Publikationen genau mit diesem Datum den Wechsel von moderner zu zeitgenössischer Kunst (vergeblich) zu markieren versuchen. Hinzu kommt, dass sich die Deutschen ideell erst allmählich vom Nationalsozialismus distanzierten.26 Dementsprechend rekurrierten Teile der Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus auf eine »Friedenszeit«, die sie nicht vor 1933, sondern vor 1939 datierten.27 Für die Geschichte des Alltagsdesign und seiner Gestalter*innen bedeutete diese Chronologie eine Entlastung und legitimierte die unbefangene Übernahme maßgeblich unschuldiger Entwürfe. Die Forschung adaptierte dieses Narrativ (in Teilen). So schreibt Christian Rathke 1983 im Kunstforum International über die frühen Publikationen: »Wer manche Bücher über die 50er Jahre durchsieht, kann einen Eindruck bekommen, als würde er in Watte beißen.«28 Einerseits wurde die ideologische Distanz der Designer*innen zum Nationalsozialismus als deutlicher Bruch betont, indem sie sich zum Beispiel sprachlich davon abgrenzten. Andererseits wurden Kontinuitäten in der gestalterischen Praxis akzeptiert und nicht problematisiert: Das Prädikat »gute Form« war schon vor, während und eben auch nach dem Nationalsozialismus moralisch positiv besetzt, hatte als ästhetisches Kriterium also weiterhin Bestand und wurde nicht mit politischer Propaganda in Verbindung gebracht, wie der Beitrag von Michael Braun am prominenten Beispiel des KdF-Wagens nahelegt.29 »Die Haltung der Dinge«, wie der über alle Zäsuren hinweg tätige Produktdesigner Wilhelm Wagenfeld das genannt haben soll, wog dabei schwerer als die Haltung der Gestalter*innen oder die Produktionsbedingungen, unter denen diese Dinge entstanden waren.30 Dass hingegen, wer Nachfragen stellte, in diesen Jahren durchaus auf Stein anstatt in Watte beißen konnte und Durchhaltevermögen an den Tagen legen musste, verdeutlichen die Kunsthistorikerin Nora Jaeger und der Historiker und Kulturwissenschaftler Moritz Neuffer in ihren Texten über Hildegard Brenner, die als eine der ersten zur Kunstpolitik im Nationalsozialismus forschte und jene zeitgenössischen Akteur*innen kritisch befragte, die auf die Nationalsozialist*innen stets als die anderen verwiesen. Dass in diesem Band gleich zwei Texte zu Brenner versammelt sind, soll weniger deren Singularität unterstreichen (es hätten auch Beiträge zu u. a. Joseph Wulf31 oder, wenn auch etwas später, Berthold Hinz32 Aufnahme finden können), sondern anhand eines Beispiels die Komplexität eines solchen Forschungsvorhabens durch unterschiedliche Perspektiven aufzeigen.

Die vorliegende Publikation ist bewusst interdisziplinär angelegt. Dieser Ansatz soll Perspektiven zusammenführen trotz all der methodologischen oder theoretischen Herausforderungen, die er gleichzeitig mit sich bringt: Welche Schwerpunkte werden gesetzt, welche Quellen befragt? Wie wird auf einen Forschungsgegenstand geblickt? Welche Maßstäbe werden an ihn angelegt? Didaktische? Historische? Moralische? Und welche Rückschlüsse werden daraus gezogen? Christian Fuhrmeister reflektiert in diesem Kontext verzerrte Erinnerungen und verweist auf die Prägung und Bedeutung von Wissenschaftler*innen in der Geschichtsschreibung. Jutta Braun beschreibt die Konsequenzen, die sich daraus ergeben und benennt außerdem die zahlreichen Desiderate in diesem Forschungsfeld.

Unbestritten ist disziplinenübergreifend, dass der Untersuchungszeitraum von Brüchen wie von Kontinuitäten geprägt ist. Doch ist auf der Basis einer solchen Feststellung noch keine Aussage über die Deutungs- und Wirkmacht solcher Beobachtungen getroffen. Anstatt auf dieses Problem hinzuweisen, soll im Folgenden versucht werden, sich anhand von konkreten Forschungsbeispielen diesem anzunähern. Der vorliegende Band kann dabei allenfalls die Funktion eines Aufschlags übernehmen und ein Forschungsfeld umreißen, das noch nicht abgesteckt ist, wie Wolfgang Brauneis am Beispiel des Umgangs mit einer Statue von Georg Kolbe verdeutlicht: »Nach dem Nationalsozialismus« endet nicht 1955, sondern ist Gegenwart.

Zentral bleibt die übergeordnete Fragestellung, wie mit NS-Vergangenheiten in der frühen Nachkriegszeit umgegangen wurde. Das wiederum geschieht unter der Annahme, dass die aufgezeigten Brüche und Kontinuitäten bis in die Gegenwart relevant sein können, und zu reflektieren ist, was diese in den vergangenen Jahren immer populärer gewordene Formulierung eigentlich meint und welche Geschichten darunter subsumiert werden. Handelt es sich zum Beispiel um personelle Kontinuitäten und woran werden diese festgemacht? Geht es um Restitutionsfragen? Welche Rolle spielen dabei die Opfer des nationalsozialistischen Regimes? Oder geht es um das Fortschreiben von Formsprachen und Haltungen? Und wie verhält man sich heute zu Künstler*innen oder Kurator*innen, die etwa auch Täter*innen waren?

Noch einmal zur documenta: In der Trägergesellschaft und dem Arbeitsausschuss 1955 waren neben Künstlern, Kunsthistorikern und Hochschullehrern, auch Politiker, Vertreter von Finanzinstituten und Versicherungen sowie eine Journalistin. Die documenta war für sie nicht nur eine Kunstausstellung, sondern von Anfang an auch ein politisches Projekt mit einer vergangenheitspolitischen Agenda, dessen Bedeutung aufgrund des beginnenden Kalten Kriegs noch einmal verstärkt wurde. Statt eines »chaotischen Dazwischens« existierten nun wieder die scheinbar klaren Fronten eines Stellungskriegs, an denen sich Kunst und Kultur ebenfalls orientierten. Neben jene Erfolgsgeschichte, die mit der documenta verbunden ist, rückt vor diesem Hintergrund eine Verlustgeschichte, die in der Etablierung eines Kanons und damit einer verengten Sichtweise auf geltende/gültige künstlerische Positionen zum Ausdruck kam.33

Diesem Gedanken folgend möchte dieser Band dazu anregen, Ansätze für ein zentrales konzeptionelles Problem zu suchen: Wie lassen sich die vielen Einzelstudien in einen größeren Zusammenhang einordnen, welche interdisziplinär gültigen Begriffe und Narrative können gefunden werden, die Kunst und Kultur, Gesellschaft und Politik in den 1950er-Jahren und ihre Wirkung auf die folgenden Jahrzehnte miteinander verknüpfen?

1 Werner Haftmann, »Einleitung«, in: documenta. Kunst des XX. jahrhunderts, Ausst.-Kat. Museum Fridericianum, Kassel, München 1955, S. 15–25, hier S. 18.

2 Ebd., S. 19.

3 Sven Reichardt und Malte Zierenberg, Damals nach dem Krieg. Eine Geschichte Deutschlands 1945 bis 1949, München 2008, S. 7.

4 Die Idee einer Zäsur, die durch eine solche »Stunde Null« impliziert wird, stellt für den Gegenstand des vorliegenden Bandes eine besondere Herausforderung dar und zeigt die geringe Brauchbarkeit dieser (geschichtsphilosophischen) Vorstellung: Die untersuchten Institutionen (allen voran die documenta) sind durch eine Paradoxie gekennzeichnet, die durch die Behauptung eines Bruchs mit der Vergangenheit zugleich eine Kontinuität mit der künstlerischen Produktion vor 1933 behauptet.

5 Diese Überlegungen führte Dominik Rigoll im Rahmen eines Vortrags mit dem Titel Die verdrängte Linke. Zur Segregation von Nazigegnern aus Staat und Geschichte der Bundesrepublik auf dem Historikertag in Leipzig am 21.9.2023 aus.

6 Vgl. Karin Althaus u. a., »Kunst und Leben 1918 bis 1955. Zeitgeschichte im Spiegel unserer Sammlung«, in: Kunst und Leben 1918 bis 1955