Bruderlüge - Kristina Ohlsson - E-Book

Bruderlüge E-Book

Kristina Ohlsson

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Beschreibung

Wer Schwesterherz gelesen hat, darf Bruderlüge nicht verpassen.

Martin Benner befindet sich in der Hand von Unterweltboss Lucifer, der ihm den Auftrag erteilt, Mio zu finden – den Sohn der Serienmörderin Sara Texas. Wohl fühlt sich Benner damit nicht, schließlich arbeitet er nun für denjenigen, der Sara solche Angst einjagte, dass sie von einer Brücke gesprungen ist. Doch damit nicht genug: Jemand ist dabei, Benner zwei Morde anzuhängen, und er hat keine Ahnung, wer das ist. Als Benner von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird, begreift er, dass er nicht durch Zufall in die ganze Geschichte geraten ist, sondern dabei eine wichtige Rolle spielt.

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Seitenzahl: 485

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Kristina Ohlsson

Bruderlüge

Thriller

Deutsch von Susanne Dahmann

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Mios Blues« bei Piratförlaget, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2015 der Originalausgabe by Kristina Ohlsson

Published by agreement with Salomonsson Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Limes

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildung: plainpicture/Goto-Foto/Alison Morton; Mark Owen/Arcangel Images

BL ∙ Herstellung: sto

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18152-9V002

www.limes-verlag.de

»Es tut weh, Schwesterherz zu lesen. Mann, ich erinnere mich einfach noch so verdammt gut daran, wie alles anfing. Lucy experimentierte im Büro mit Sonnencremes herum, und ich hatte heimliche Dates. Aber nach Texas war das schöne Leben vorbei. Machen Sie sich daraufgefasst: Die Geschichte, die ich Ihnen gleich erzählenwerde, ist noch viel heftiger. Viel düsterer. Hier geht es nicht mehr um ein Schwesterherz. Jetzt ist Mio dran.«

MB

Auftakt

»Wer sind Sie?«

ABSCHRIFT DES INTERVIEWS MIT MARTIN BENNER (MB)

DURCH KAREN VIKING (KV), freie Journalistin, Stockholm

MB:

Wer sind Sie?

KV:

Ich heiße Karen Viking. Ich war eine enge Freundin von Fredrik Ohlander, mit dem Sie zusammengearbeitet haben.

MB:

Ach, ehrlich? Eine enge Freundin?

KV:

Ja. Aber ich kann verstehen, dass Sie misstrauisch sind. Deshalb sollen Sie die gleichen Informationen bekommen, die ich selbst bekommen habe. Als Fredrik gestorben ist … Sie wissen, dass er tot ist, oder?

MB:

Ja, das weiß ich. Und das tut mir sehr leid.

KV:

Mir auch. Er war einer meiner engsten Freunde, fast wie ein Bruder. Ich … Wie auch immer, vor ein paar Tagen bekam ich einen Anruf von Verner, seinem Partner. Der hat in Fredriks Bankfach einen dicken zugeklebten Umschlag mit meinem Namen darauf gefunden und den Hinweis – in fetten Buchstaben –, dass niemand anderes als ich den Umschlag öffnen dürfe.

MB:

Okay.

KV:

Ich hab den Umschlag noch am selben Abend bei Verner abgeholt. Er enthielt einen dicken Stapel Papier und einen kurzen Brief, in dem Fredrik mir erklärte, dass ich für den Fall seines Verschwindens oder Todes unbedingt mit Ihnen Kontakt aufnehmen müsse. Er schrieb, sie hätten sich getroffen, nachdem Sie in Schwierigkeiten geraten waren, und es sei immens wichtig, dass die Geschichte, die Sie ihm erzählt hatten, dokumentiert würde.

MB:

Als er noch lebte, hat er da je von unserer Zusammenarbeit erzählt?

KV:

Nein. Aber ein paar von uns ahnten, dass er an einer ziemlich heiklen Sache dran war.

(Schweigen)

KV:

Wenn ich es richtig verstanden habe, waren Fredrik und Sie noch nicht fertig. Die Geschichte ging noch weiter. Oder liege ich da falsch?

MB:

Nein, und wahrscheinlich fand Fredrik es deshalb so wichtig, dass wir zwei uns treffen. Er wusste, dass wir uns sozusagen erst in der Theaterpause befanden und dass ich sicher auch den zweiten Teil des Stücks dokumentiert haben wollte.

KV:

Und wie steht es jetzt? Ist der zweite Akt vorbei?

MB:

Ja. Jetzt ist alles vorbei.

(Schweigen)

KV:

Okay. Wie wollen Sie vorgehen? Wollen Sie erzählen, was passiert ist?

MB:

Gern. Wenn Fredrik diesen Auftrag an Sie weitergegeben hat, dann kann ich Ihnen vertrauen. Also tue ich das. Sie müssen allerdings die Grundregeln kennen und sich damit einverstanden erklären. Alles, was ich erzähle, muss unter uns bleiben. Nur wenn ich auch sterben sollte oder verschwinde, dürfen Sie die Geschichte veröffentlichen.

KV:

Absolut. Aber wie Sie sicher ahnen, hat Fredrik mir das in seinem Brief bereits erklärt.

MB:

Wie viel wissen Sie schon? Was hat Fredrik vor seinem Tod noch aufschreiben können? Alles?

KV:

Ja, ich glaube schon. Aber vielleicht lesen Sie sich das hier mal durch. Da gibt es einen längeren Text, den er geschrieben hat, dazu noch eine Zusammenfassung. Den längeren Text wollte er zu einem Buch verarbeiten. Fredrik hat ihm sogar schon einen fantastischen Titel gegeben.

MB:

Nämlich?

KV:

Schwesterherz.

Schwesterherz – eine Zusammenfassung

Mein Name ist Martin Benner, und ich bin Rechtsanwalt. Bis vor Kurzem noch hatte ich alles: Frauen, beruflichen Erfolg, ein verdammt großzügiges Leben und eine wunderbare Tochter. Inzwischen hat sich einiges verändert. Mein Leben ist ein anderes geworden. Und ich selbst bin nicht mehr sicher. Vielleicht liegt das daran, dass ich Schwächen habe. Ich bin ständig auf der Suche nach dem ultimativen Kick, sowohl privat als auch beruflich. Das ist mir leider teuer zu stehen gekommen, unter anderem hat es mich meine Liebesbeziehung zu Lucy gekostet, mit der ich zusammenarbeite und mit der ich manchmal noch Sex habe.

Ein Mann kam in meine Kanzlei. Er behauptete, Bobby zu heißen, und er wollte meine Hilfe. Seine Schwester habe irgendeinen Mist gebaut. Dann sei sie unschuldig angeklagt worden, fünf Morde begangen zu haben. In der Zeitung sei sie Sara Texas genannt worden. In Wirklichkeit hieß sie Sara Tell.

Bobby bat mich, seiner Schwester Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihren verschwundenen Sohn Mio zu finden. Ihr erster Anwalt hatte keine gute Arbeit geleistet, und Bobby meinte, ich würde es besser machen können. Es gab nur ein Problem: Sara war bereits tot. Sie hatte sich bei einem Freigang aus dem Untersuchungsgefängnis das Leben genommen, und zwar am Tag, bevor der Fall vor Gericht hätte kommen sollen. Sämtliche juristischen Experten waren sich einig, dass sie für alle fünf Morde verurteilt worden wäre. Es hatte hinreichend Beweise gegeben, außerdem war sie geständig gewesen.

Ich sagte trotzdem Ja, doch nur zum ersten Auftrag: Saras Unschuld posthum zu beweisen. Mio, ihr vermisster Sohn, interessierte mich nicht. Der war am selben Nachmittag aus seiner Kindertagesstätte verschwunden, an dem die Mutter Freigang gehabt hatte. Die Polizei ging davon aus, dass Sara ihn mit in den Tod genommen hatte, und es gab keinerlei Veranlassung, etwas anderes zu vermuten.

Ich stellte schnell fest, dass die polizeiliche Untersuchung Lücken aufwies. Scheinbar hatte man geschlampt, es gab diverse lose Fäden, die man hätte aufgreifen können. Sara hatte in den USA, genauer gesagt in Texas, als Au-pair gearbeitet, und dort sollte sie auch die ersten beiden Morde begangen haben. Allerdings war ihre beste Freundin Jenny, die damals ebenfalls Au-pair in Texas gewesen war, diesbezüglich mehr als skeptisch. Jenny suchte mich sogar auf, um mir mitzuteilen, dass sie Sara für den ersten Mord ein Alibi geben könne.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Jenny wurde ermordet – und dann auch Bobby. Nur war der Bobby, der starb, nicht derselbe Mann, der in meiner Kanzlei erschienen war. Die Polizei behauptete, es gebe einen Zeugen, der gesehen haben wolle, wie Jenny mit einem Wagen überfahren worden sei, der ausgesehen habe wie meiner. Ein Porsche. Diese Zeugenaussage plus der Umstand, dass ich zu beiden Opfern in Kontakt gestanden hatte, reichten aus, um mich in den Kreis der Verdächtigen aufzunehmen. Mit der Ermittlung betraut wurde mein alter Bekannter bei der Polizei, Didrik Stihl. Zu diesem Mann, der auch die Ermittlungen gegen Sara geleitet hatte, hatte ich eigentlich ein freundschaftliches Verhältnis, und er hatte mir schon manches Mal einen Gefallen getan, doch jetzt verwandelte er sich in jemanden, von dem ich mich, so weit es ging, fernhalten wollte.

Lucy und ich reisten nach Texas. Wenn es mir gelänge zu beweisen, dass Sara auch nur an einem der Morde unschuldig war, dachte ich, würde ich sie auch vom Mordverdacht in den anderen Fällen reinwaschen können. Und ich dachte, wenn ich Saras Unschuld beweisen könnte, dann würden sich auch meine eigenen Probleme lösen. Dann würde ich nicht wegen eines Doppelmords angeklagt und mein Leben wieder werden wie zuvor. Zu weiten Teilen wurde ich auch von meiner Liebe zu Belle angetrieben. Belle ist meine vierjährige Nichte, die bei mir lebt, seit ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Da war sie gerade mal neun Monate alt. Ich gebe mein Bestes, um ihr ein guter Vater zu sein, und liebe Belle über alles. Was sich, das kann ich jetzt schon vorwegschicken, ebenfalls als Schwäche erweisen sollte.

In Texas erfuhren wir mehr, als wir uns jemals hätten vorstellen können. Es stellte sich heraus, dass Sara den ersten Mord, der sie vor Gericht gebracht hätte, tatsächlich verübt hatte. Allerdings war es Notwehr gewesen. Und wir erfuhren auch, dass Sara als Prostituierte gearbeitet und zum Netzwerk eines Mafiabosses gehört hatte – zu einem Netzwerk, in dem ein groß angelegter Drogen- und Frauenhandel betrieben wurde. Der Mafiaboss nannte sich Lucifer.

Sara hatte eine ganz besondere Beziehung zu Lucifer. Sie war zunächst seine heimliche Geliebte gewesen. Als ihr dämmerte, dass sie von ihm schwanger geworden war, zog sie zurück nach Schweden. Doch so leicht konnte sie ihm nicht entkommen. Lucifer war ein Mann mit hervorragenden Kontakten und einem effizienten Nachrichtendienst. Er brachte in Erfahrung, wohin sie abgehauen war – und vor allem, warum.

Lucifer reiste also nach Stockholm und forderte Sara dazu auf, mit ihm nach Texas zurückzukehren. Sie weigerte sich. Als Strafe und um sie unter Druck zu setzen, drohte er ihr, dass er für jedes Nein von ihrer Seite einen Menschen ermorden und es so arrangieren würde, dass sie dafür später vor Gericht käme. Dreimal sagte sie Nein, dreimal löschte Lucifer in Stockholm ein Leben aus. Schon bald saß Sara in Polizeigewahrsam und war wegen nicht weniger als fünf Morden angeklagt: zwei in Texas, drei in Stockholm. Ihr Sohn Mio wurde zu Pflegeeltern gegeben.

Bei einem Freigang entkam Sara ihren Bewachern. Ich nehme an, dass sie sich selbst und ihren Sohn in Sicherheit bringen wollte, doch wir wissen nicht genau, wie es sich tatsächlich verhielt. Jedenfalls verschwand auch ihr Sohn. Er war nur wenig später weder in der Tagesstätte noch bei seinen Pflegeeltern aufzufinden. Aus schierer Verzweiflung sprang Sara von der Västerbron. Mio wurde nie gefunden.

Es verschwand allerdings noch ein Kind: meine allereinzige Belle. Ich hatte sie in Schweden zurückgelassen, als Lucy und ich in die USA reisten. Um sie so zuverlässig wie nur möglich zu schützen, brachte ich sie bei den Eltern ihres Vaters im Stockholmer Schärengarten unter. Zudem wurde sie von einem Mann namens Boris bewacht, einem früheren Klienten von mir. Klient … und seinerseits Mafiaboss. Doch nicht einmal das half. Sie verschwand, während ich in Texas war, wurde mir aber keine zwei Tage nach meiner Rückkehr wiedergebracht. Lucifer war kein Kindsmörder – er habe mich einfach nur ausbremsen wollen. Ein Mann rief anonym auf meinem Handy an und teilte mir mit, dass ich Belle wiederkriegen würde, allerdings nur unter Vorbehalt: Er habe sie mir bereits einmal weggenommen und sagte, dass er dies jederzeit wieder tun könne. Wenn ich ihm jedoch helfen würde, Lucifers verschwundenen Sohn Mio wiederzufinden, dürfte ich Belle behalten.

Und an diesem Punkt befinde ich mich jetzt. Meine Tochter ist bereits einmal gekidnappt worden, und wenn ich mich nicht zusammenreiße, könnte es passieren, dass ich sie für immer verliere. Ich muss alles tun, um Mio wiederzufinden. Außerdem muss ich versuchen herauszufinden, wer mir zwei Morde unterschieben will. Denn Lucifer behauptet immerhin, mit ausgerechnet diesem kleinen Detail nichts zu tun zu haben.

Lucifer. Ich wüsste nur zu gern, wer er ist. Damit das Böse ein Gesicht bekommt und ich den Wahnsinn hinter mir lassen kann. Der eine oder andere Umstand lässt darauf schließen, dass sich hinter dem Namen Esteban Stiller verbergen könnte – der Sheriff, den ich in Houston kennengelernt habe. Allerdings traue ich mich nicht, weiter in der Sache herumzustochern. Dann stirbt Belle.

Sie ist das Wichtigste in meinem Leben. Das weiß ich jetzt. Ihretwegen halte ich mich an die Spielregeln und versuche, nicht zu viele Informationen einzuholen. Doch der Jagdinstinkt liegt mir im Blut, und dagegen kann ich nichts ausrichten. Es ist, als würde ich auf einem Hochseil balancieren. Ich muss den Blick stur geradeaus halten und darf nicht in die Tiefe sehen.

Andernfalls stürze ich ab.

Teil I

»Als Mio verschwand«

ABSCHRIFT DES INTERVIEWS MIT MARTIN BENNER (MB)

DURCH KAREN VIKING (KV), freie Journalistin, Stockholm

MB:

Also, dann legen wir mal los. Ich erzähle, Sie schreiben. Genauso hab ich es mit Fredrik gemacht.

KV:

Wo wollen Sie anfangen? Mit dem, was geschehen ist, direkt nachdem Sie Belle zurückbekommen haben?

MB:

Natürlich. Die ersten Tage kann man kurz zusammenfassen. Erst sind wir im Krankenhaus vorbeigefahren, um Belle untersuchen zu lassen. Dann sind wir nach Hause in meine Wohnung gefahren und haben uns dort quasi verbarrikadiert. Ich hab das Haus nur verlassen, um Fredrik zu treffen und um die Polizei aufzusuchen, mehr nicht. Dann fing ich an, mich um die Aufträge zu kümmern, die ich bekommen hatte.

KV:

Welche waren das genau? Nur dass wir uns hier richtig verstehen.

MB:

Na ja, ich sollte ja herausfinden, was mit Mio, Sara Texas’ Sohn, passiert war. Das war der Auftrag, den ich von Lucifer erhalten hatte. Das musste ich als Allererstes tun, und dann musste ich herausfinden, wer da versuchte, mir zwei Morde unterzuschieben und warum. Denn Lucifer hatte damit nichts zu tun, das hatte er deutlich gemacht.

KV:

Und Sie hatten wirklich nicht den mindesten Grund zu der Annahme, dass das gelogen sein könnte?

MB:

Dazu kommen wir später noch. Erst mal muss ich noch was anderes klarstellen.

KV:

Okay?

MB:

Die Schwesterherz-Zusammenfassung zu lesen hat wirklich wehgetan. Mann, ich erinnere mich einfach noch so verdammt gut daran, wie alles anfing. Lucy experimentierte im Büro mit Sonnencremes herum, und ich hatte heimliche Dates. Aber nach Texas war das schöne Leben vorbei. Machen Sie sich darauf gefasst: Die Geschichte, die ich Ihnen gleich erzählen werde, ist noch viel heftiger. Viel düsterer. Hier geht es nicht mehr um ein Schwesterherz. Jetzt ist Mio dran.

KV:

Okay, dann frag ich mal so: Wenn Sie diese Geschichte selbst aufschreiben würden, wie würde dann Ihr erster Satz lauten?

(Schweigen)

MB:

Wahrscheinlich so: »In meinen Albträumen werde ich immer lebendig begraben.«

1

Sonntag

In meinen Albträumen werde ich immer lebendig begraben. Es ist jedes Mal dasselbe: Erst begreife ich gar nicht, was passiert. Stumme Menschen halten mich an den Armen fest und zwingen mich vorwärtszugehen. Nicht langsam, nicht schnell. Es ist Nacht und der Himmel schwarz, die Luft heiß und stickig. Die Umgebung erinnert mich an ein verlassenes Industriegebiet. Die Konturen riesiger dunkler Maschinen türmen sich um uns herum auf wie in Eisen gegossene Schatten. Ich will fragen, wo wir sind und wohin es geht, aber ich bin geknebelt. Der Knebel scheuert in meinem Mund und drückt in die Mundwinkel. Sitzt fest auf der Zunge. Irgendwas ist auch mit meinen Beinen, sie sind gefesselt, sodass ich nur ganz kurze Schritte machen kann und deshalb schneller gehen muss als meine Wächter. Das macht mir Angst.

Wie oft hat man als Erwachsener schon richtig Angst? Gar nicht oft, und das liegt hauptsächlich daran, dass es so wenige Dinge gibt, die uns noch Angst machen. Wir wissen, dass sich das meiste irgendwie schon lösen wird, dass man sich mit Kleinigkeiten nicht aufhalten muss. Es ist ein Geschenk, den ständigen Schrecken und Ängsten der Kindheit entwachsen zu sein und die Dinge besser einschätzen zu können. Das hat allerdings den einen Nachteil, dass es uns nur umso schmerzhafter bewusst macht, wovor es sich tatsächlich lohnt, Angst zu haben.

Vor dem Verlust eines geliebten Menschen.

Vor dem Verlust der eigenen Gesundheit oder des Lebens.

Und – in seltenen Fällen – vor Schmerzen oder Qualen.

Während ich also durch dieses verwaiste Industriegebiet halb gehe, halb gezerrt werde, weiß ich, dass ich sterben werde. Das ist übrigens interessant an Albträumen: Wir wissen, wie sie enden werden, weil wir auf irgendeiner unterbewussten Ebene ahnen, warum wir diesen Traum träumen. Wir wissen, welche konkreten Ereignisse und Erfahrungen gewisse Reaktionen bei uns auslösen, und die Angst schöpft aus diesen Ereignissen Energie. Das Unterbewusstsein besitzt eine fast uneingeschränkte Macht über unsere Gedanken.

Die Albträume begannen, mich zu quälen, nachdem wir in Texas gewesen waren und ich Belle zurückbekommen hatte. Im Traum versuchte ich, dem Ganzen standzuhalten. Aufzuwachen. Aber es gelang mir kein einziges Mal. Die Albträume gingen weiter, ohne dass ich es je geschafft hätte, sie zu beeinflussen. Diese stummen Männer in Schwarz bewegten sich ebenso unaufhaltsam voran wie eine Flut. Ich kaute verzweifelt auf dem Knebel, versuchte, Laute von mir zu geben, aber es ging nicht. Und niemand wollte mir sagen, wohin wir unterwegs waren. Niemand wollte mir erzählen, was ich getan hatte.

Am Ende ist es mir trotz allem klar. Ich kenne die Gegend, ich weiß, was für Maschinen da herumstehen und was sie einst mit unserer Erde angestellt haben. Ich bin schon einmal dort gewesen, hatte aber niemals vor, wieder zurückzukehren. Ich beginne zu heulen und Widerstand zu leisten. Doch die Männer machen einfach weiter. Ich hänge in ihren Armen, und meine Füße und Knie schleifen über den Boden. Meine Jeans reißt, und dann beginnt es wehzutun.

Die ganze Zeit höre ich nicht auf, trotz des Knebels zu sprechen. Nicht mal, als wir neben der bereits fertig ausgehobenen Grube stehen. Ich will um Verzeihung bitten, sagen, dass alles bloß ein tragisches Unglück war. Doch es gelingt mir nicht, auch nur einen einzigen verständlichen Laut herauszubringen. Dann kommen die Tränen. Das heisere, heiße, verzehrende Weinen. Ich zittere am ganzen Leib und flehe um mein Leben. Niemand hört mir zu. Stattdessen werde ich der Länge nach in die Grube gestoßen. Sie ist tief, mindestens zwei Meter. Ich lande hart auf dem Bauch und spüre, wie etwas bricht. Eine Rippe? Zwei? Etwas setzt den linken Lungenflügel in Brand, und ich versuche, mich umzudrehen.

Zu diesem Zeitpunkt haben sie schon Spaten in der Hand und beginnen, Erde und Sand auf mich zu werfen. Schweigend und methodisch wollen sie mich lebendig begraben. Sie halten keinen Moment inne, nicht als ich mich auf die Knie stemme, nicht als ich mich aufrappele. Die Hände sind hinter meinem Rücken gefesselt, und ich weiß, dass ich nicht aus der Grube rauskommen werde. Aber ich stehe zumindest da und stoße stumme Schreie aus, während die Angst den letzten Rest Vernunft in mir auffrisst. Ich begegne dem Tod im Stehen. Als die Erde mir schon bis zum Kinn geht, flimmert es mir vor Augen.

Ich wache immer erst auf, wenn auch mein Kopf von Erde bedeckt ist.

»Wovon träumst du eigentlich immer, Martin?«

Lucy versuchte, über den Frühstückstisch hinweg meinen Blick aufzufangen. Viel zu viele Nächte hintereinander hatte sie mich schweißgebadet zwischen den Laken liegen sehen. Als ich nicht antwortete, fuhr sie fort: »Ist es immer wieder derselbe Traum? Ist es so?«

»Ich weiß nicht mehr. Aber wäre es verwunderlich, wenn ich nach allem, was wir durchgemacht haben, eine Menge Mist träume?«

Nach allem, was wir durchgemacht hatten. Eine Lüge, aber das konnte Lucy ja unmöglich wissen. Die Träume hatten einen einzigen Ursprung: Texas. Aber das sagte ich natürlich nicht.

Ich nahm einen Schluck Kaffee und verbrannte mir den Mund.

»Verdammt!«

Lucy sah mich unverwandt an.

»Du wälzt dich von einer Seite zur anderen«, sagte sie leise. »Und schreist.«

Ich stellte den Kaffeebecher weg.

»Ach so«, sagte ich. »Und was schreie ich?«

Ich fragte hauptsächlich, weil sie von mir erwartete, dass ich fragte.

»›Ich weiß, wo er ist.‹ Du schreist: ›Ich weiß, wo er ist.‹ Aber das weißt du nicht, oder?«

Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen.

»Martin, das weißt du doch nicht, oder? Wo Mio ist?«

Ich schreckte aus meinen Gedanken und schüttelte den Kopf.

»Natürlich nicht.«

Wir beendeten unser Frühstück schweigend. Dass Geheimnisse genauso waren wie jeder andere Mist auch! Man konnte sie so tief begraben, wie man nur wollte – früher oder später arbeiteten sie sich doch wieder an die Oberfläche. Vor allem, wenn man sich eigenständig an den Tatort zurückbegab.

Lucy meinte, ich würde schreien, ich wüsste, wo Mio steckte. Aber nur ich allein wusste, wovon ich eigentlich redete oder von wem.

Ich weiß, wo er ist.

Ja, ich wusste es. Aber der, von dem ich da schrie, hatte überhaupt nichts mit Mio zu tun.

Oder doch?

2

Die Lebenden und die Toten. Dass die Unterscheidung aber auch so haarscharf sein musste. So schmerzhaft und erschreckend. Wann immer ich Albträume gehabt hatte, war ich hinterher zutiefst erschöpft. Das wird man, wenn man zweier Morde verdächtigt wird, eine wahnwitzige Blitzreise nach Texas unternommen und dann seine Tochter verloren und wiederbekommen hat. Ich hatte kein Gefühl mehr dafür, wie viel Zeitdruck auf dem Auftrag lag, Mio zu finden. Und es war mir ehrlich gesagt auch egal. Zumindest anfänglich. Der Bibel zufolge wurde die Erde in sechs Tagen erschaffen. Am siebten Tag ruhte Gott. Wir gingen es andersherum an – sechs Tage lang ruhten Lucy und ich uns aus. Dann fingen wir an zu arbeiten. An einem Sonntag.

»Was willst du zuerst tun?«, fragte sie.

Das war eine gute Frage.

»Versuchen, ihm ein Gesicht zu geben. Und den Ort besuchen, an dem er verschwunden ist. Die Kindertagesstätte.«

Ich hatte bislang keine Ahnung, wie Mio ausgesehen hatte. War er klein oder groß für sein Alter gewesen? Dick oder dünn? Lange Haare, kurze? Es störte mich, dass so viel Zeit vergangen war, ehe mir überhaupt gedämmert hatte, dass es kein einziges Bild von ihm gab. Nicht in einem einzigen Zusammenhang war mir ein Foto von dem Jungen begegnet. Nicht in den Vorermittlungen, nicht in den Medien. Zuvor hatte ich gute Verbindungen zur Polizei gehabt und hätte jederzeit eine Antwort auf die Frage bekommen können, wohin zum Teufel sämtliche Fotos von Mio verschwunden waren (wenn es überhaupt je welche gegeben hatte). Doch derartige Verbindungen existierten nicht mehr. Außerdem wollte ich keinesfalls die Aufmerksamkeit der Polizei erregen.

Wer mochte außer der Polizei noch ein Bild von Mio haben? Es gab eine Großmutter und eine Tante mütterlicherseits. Jeanette und Marion. Ich versuchte, zu beiden Kontakt aufzunehmen. Keine rief zurück. Die Stunden vergingen. Verdammter Mist. Ich hatte noch andere wichtige Dinge zu tun. Zum Beispiel den Ort zu besuchen, an dem Mio zuletzt gesehen worden war.

Das Auto heulte auf. Mein rattenscharfer Porsche 911. Er roch immer noch nach Leder, als wäre er fabrikneu. Ansonsten fühlte er sich nicht sonderlich neu an. Schicke Autos eignen sich nicht gerade gut für kleine Kinder. Belle gab sich wirklich alle Mühe, trotzdem hatte sie überall Spuren hinterlassen. Allerdings war Belle hier kaum das größte Problem. Nach allem, was geschehen war, machte es einfach nicht mehr allzu viel Spaß, zu fahren. Nach unserer Rückkehr aus Texas hatte ich die Jungs von Boris – dem Mafiaboss – das Auto absuchen lassen, und sie hatten einen Sender ausfindig gemacht, den die Polizei angebracht hatte, um mich im Blick behalten zu können. Um meinen Widersachern das Leben ein bisschen schwerer zu machen, hatten Boris’ Jungs den Sender daraufhin unter einem Kurierwagen installiert. Mein neues Bewegungsmuster würde den Ermittlern sicher Rätsel aufgeben.

Inzwischen war es bereits Nachmittag, und ich holte erst mal Belle ab. Anschließend würde ich mit ihr in den Süden der Stadt fahren. Belle hatte den Tag bei ihrer Großmutter, meiner Mutter Marianne, verbracht. Als klar wurde, dass wir nicht direkt nach Hause fahren würden, war sie schier aus dem Häuschen. Sie sprühte nur so über vor Begeisterung. Manchmal erschreckte mich ihr kurzes Gedächtnis zu Tode. Wie konnte sie so fröhlich sein? Es war gerade erst eine knappe Woche her, seit ihre anderen Großeltern bei einem Brand ums Leben gekommen waren und irgendjemand sie selbst gekidnappt hatte. Hätte sie nicht außer sich sein müssen vor … was weiß ich … Trauer, Angst, Sorge? Der Entführung selbst maß ich keine allzu große Bedeutung zu. Belle war keine achtundvierzig Stunden lang verschwunden gewesen und hatte wahrscheinlich die meiste Zeit davon mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt geschlafen. Dass sie davon nichts mehr wusste, war natürlich klar. Aber an ihre Großeltern erinnerte sie sich noch und fragte manchmal nach ihnen. Die hätte sie also betrauern müssen. Vermissen. Fand ich, der ein Erwachsener war.

Belles Perspektive war da eine andere. Ich hatte ihr erklärt, dass Oma und Opa weg seien und nie wiederkommen würden. Nun ist Belle kaum älter als vier Jahre. Worte wie »nie« versteht sie nicht. Sie begreift nicht, dass manche Dinge oder Zustände für alle Zeiten gelten.

»Sie sind gestorben«, sagte ich. »Genau wie deine Mama und dein Papa.«

Und Belle nickte verständig und völlig unsentimental. Sie weiß, dass ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind, als sie ein Baby war. Sie weiß, dass ich nicht ihr richtiger Papa bin, sondern ihr Onkel. Aber das heißt nicht, dass sie versteht, was meine Erklärung bedeutet. Sie versteht nicht, dass sie ein ganz anderes Leben gehabt hätte, wenn meine Schwester und mein Schwager nicht gestorben wären. Ein anderes Leben mit zwei anwesenden, hingebungsvollen Eltern, die im Sommer gerne grillten und eine Hütte auf Öland mieteten, die im Winter Ski fuhren und sich an den Wochenenden Filme ausliehen. Normale Menschen mit einem normalen Leben und normalen Sorgen. Die andere Familien mit Kindern zum Abendessen einluden und ihr garantiert noch ein, zwei Geschwister verschafft hätten.

Ich parkte den Wagen ungefähr einen Häuserblock entfernt von dem Ort, zu dem wir hinwollten.

»Hier steigen wir aus«, sagte ich und half ihr aus dem Auto.

Ich nahm ihre Hand, als wir den Bürgersteig entlanggingen. Sie war ihrer Mutter wirklich ähnlich. Das war mir nie zuvor so deutlich aufgefallen, aber so war es. Und ist es immer noch. Vom Aussehen her ist Belle ganz ihre Mutter.

»Wo gehen wir denn hin?«, fragte sie.

»Wir gehen nur bei einer Tagesstätte vorbei«, antwortete ich.

Bei Mios Tagesstätte. Dem Trollgarten. Aber das sagte ich ihr nicht.

Eigentlich hätte ich an der Tagesstätte auch vorbeifahren können, bevor ich Belle abholen ging, aber ich wollte sie dabeihaben. Das sah besser aus. Männer, die spätnachmittags um eine Kindertagesstätte herumschleichen, wirken verdächtig, vor allem wenn sie aussehen wie ich: schwarz und groß. Die Hautfarbe ist in Schweden immer noch der höchste Trumpf. Es spielt keine Rolle, dass ich ein schweineteures Hemd und handgefertigte Schuhe aus Mailand trage. Wenn andere Schweden mich sehen, dann denken sie mitnichten als Erstes: Der hat Erfolg.

Auf dem Spielplatz der Tagesstätte spielten noch ein paar wenige Kinder. Womöglich gab es nicht viele andere Spielplätze in der Nähe, und deshalb musste auch am Sonntag der von der Tagesstätte herhalten. Die Sonne stand recht hoch am Himmel. Man konnte den Sommer noch ein wenig genießen, zumindest wenn man Zeit hatte. Ich hatte keine.

Belle sah die Kinder interessiert an.

»Sollen wir mit denen spielen?«, fragte sie und machte einen Schritt in deren Richtung.

Automatisch verstärkte sich mein Griff um ihre Hand.

»Nein«, sagte ich. »Wir gehen nur vorbei.«

Wenn Belle nicht verstand, was es hieß, dass ihre Eltern tot waren, dann verstand sie unter Garantie auch nicht, was daran toll sein sollte, an einem Spielplatz vorbeizuspazieren, ohne hingehen und mitmachen zu dürfen.

»Warum?«, fragte sie.

Ich konnte ihr anhören, dass die Fröhlichkeit in Enttäuschung und Schmollen umschlug. Der Umschwung kam so schnell wie Sonne und Schnee im April.

»Weil wir die Kinder auf dem Spielplatz nicht kennen.«

Ich war mit meiner Antwort zufrieden und Belle womöglich auch, zumindest schwieg sie.

Als wir am Tor zur Tagesstätte angekommen waren, wurde ich langsamer. Nicht so sehr, als dass wir gleich stehen geblieben wären, aber doch genug, um meine Beobachtungsgabe mal wieder auf den Prüfstand zu stellen. Fotos zu machen war keine Option. Wenn ich Bilder bräuchte, müsste ich später noch mal zurückkommen.

Hier ist er verschwunden, dachte ich.

Aber wie?

Kinder verschwanden nicht. Sie gingen verloren, weil Erwachsene nicht richtig auf sie aufpassten. Ich hatte den Ermittlungsbericht gelesen, den die Polizei zu Mios Verschwinden angefertigt hatte. Die Erzieherinnen hatten von einem ganz normalen Tag berichtet. Mio war von seinen Pflegeeltern am Morgen gebracht worden, er war leicht verschnupft und müde gewesen, aber bis zum Mittagessen war es ihm wieder ein bisschen besser gegangen. Um vierzehn Uhr hatten die Betreuer die Kinder angezogen und waren mit ihnen rausgegangen. Eine Stunde später hatten sie draußen eine Zwischenmahlzeit eingenommen, obwohl es Herbst und kühl gewesen war. Doch die Sonne hatte so schön geschienen, und die Kinder hatten so nett gespielt. Es war, wie eine der Erzieherinnen es formuliert hatte, alles sehr friedlich zugegangen.

Vielleicht lag da genau das Problem. Dass alles so friedlich gewesen war. Vielleicht hatte das die Betreuer eingelullt, und zwar so sehr, dass sie am Ende nicht bemerkten, dass eins der Kinder plötzlich nicht mehr da war. Und zwar so lange nicht, bis die Pflegemutter kam, um es abzuholen. Da war die Sonne mittlerweile weg, und niemand wusste, was passiert war.

Ich ließ den Blick über den Hof schweifen. Das Gelände war von einem sicher siebzig Zentimeter hohen Metallzaun umgeben. Im Beet davor wuchsen Büsche, doch die verdeckten nicht den ganzen Zaun. Eine erwachsene Person, die ein Bein über den Zaun schwingen wollte, konnte das sicherlich leicht tun, ohne sich in den Pflanzen zu verheddern. Doch ein vier Jahre altes Kind? Wohl kaum.

Ich suchte nach Schwachstellen. Ein Loch im Zaun oder eine Stelle, wo er ganz fehlte. Es gab keine solchen Stellen. Als Mio die Tagesstätte zum letzten Mal verlassen hatte, musste er durchs Tor hinausgegangen sein. Oder ein Erwachsener musste ihn über den Zaun gehoben haben.

Belle schleifte die Füße hinter sich her. Ihre Sandalen scharrten über den Asphalt, weil sie die Füße nicht ordentlich hochnahm. Noch ein paar Minuten, und sie würde so richtig sauer werden. In dieser Hinsicht kam sie überhaupt nicht nach ihrer Mutter. Meine Schwester war immer richtig schlecht darin gewesen, sich durchzusetzen und ihre Meinung zu sagen. Ich hab es immer gehasst, zusehen zu müssen, wie sie sich gegenüber den Menschen in ihrer Umgebung – ihrem Chef, ihrem Mann, ihren Kollegen, mir – kleinmachte.

»Ich will nach Hause«, sagte Belle.

»Gleich«, erwiderte ich.

Eins der Kinder auf dem Hof hatte mich entdeckt. Es sah Belle und mich wachsam und mit gerunzelter Stirn an.

Ich mochte es nicht, wenn ich beobachtet wurde, nicht mal von einem kleinen Kind, also nahm ich wieder Belles Hand und sagte: »Jetzt fahren wir heim und kochen Spaghetti bolognese.«

Wir machten kehrt und gingen zum Auto zurück. Ich half Belle mit dem Sicherheitsgurt und setzte mich hinters Steuer. Dann wendete ich und fuhr ein letztes Mal an der Tagesstätte vorbei. Belle sah zu den Kindern hinüber, die auf den Schaukeln saßen, sagte aber nichts. Sie ist keine, die viel klagt. Sie weiß, dass es sich nicht lohnt, dass sie ihren Willen nicht immer durchsetzen kann.

Der Trollgarten lag in Flemingsberg. Ich bog auf den Huddingevägen ein und fuhr nach Norden in Richtung Innenstadt.

»Ich hab Hunger«, sagte Belle, als wir in den Söderledstunnel fuhren.

Ich sah auf die Uhr. Nein, sie hatte keinen Hunger, ihr war einfach nur langweilig.

»Gleich sind wir zu Hause«, sagte ich.

Es war Sommer – und Sonntag. Kaum Verkehr. Der Puls der königlichen Hauptstadt war merklich gesunken. Trotzdem war die Party noch nicht zu Ende.

Es passierte am Zebrastreifen gleich vor der Einkaufspassage an der Hamngatan. Ein Lastwagen kam aus der Gegenrichtung. Eine alte Dame wartete am Zebrastreifen. Ich stieg auf die Bremse.

Nichts geschah.

Ich trat noch einmal nach, eher erstaunt als panisch. Das Bremspedal unter meinem Fuß rührte sich nicht. Die Dame war drauf und dran, auf die Straße zu treten.

»Verdammte Scheiße!«

Ich hupte und hupte. Stampfte auf das elende Bremspedal und dachte: Soll das hier jetzt der nächste Mensch sein, den ich umbringe?

3

Doch es kam nicht dazu. Die alte Dame sprang erschrocken rückwärts und sah mich vorbeirasen. Der überirdisch unangenehme Gedanke, den mein verzweifeltes Gehirn soeben formuliert hatte, verschwand wieder, als hätte er aus eigener Kraft begriffen, wie wenig willkommen er war.

Instinktiv trat ich auf die Bremse, so fest ich nur konnte – so fest, dass ich fast im Sitz stand. Und da war es, als würde unter dem Pedal etwas zerplatzen. Das Auto bremste so abrupt, dass die Airbags ausgelöst wurden.

Belle schrie laut auf. Hinter mir hörte ich die Reifen mehrerer Autos über den Asphalt quietschen. Ich hielt die Luft an (das tut man gern, wenn man von einem Airbag zerdrückt wird) und wartete darauf, dass jemand auf uns draufknallte. Aber nichts passierte.

Immer noch verwirrt schob ich die Autotür auf und schaffte es irgendwie rauszukommen. Ich rannte ums Auto herum und zog Belle von ihrem Sitz.

»Alles gut«, sagte ich und wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Ist ja noch mal … gut gegangen.«

Immer mehr Passanten waren stehen geblieben und starrten die Autos an, die hinter uns gehalten hatten. Die alte Dame kauerte schockiert, aber unbeschadet auf dem Bürgersteig.

»Komm«, sagte ich und nahm Belle an der Hand.

Ich lief zum Fahrersitz zurück, ging in die Hocke und betrachtete den Wagenboden. Was zum Teufel roch da so? Ich lehnte mich nach vorn. Erst kapierte ich gar nichts, aber diesen Geruch … den kannte ich. Belle klammerte sich an mir fest, als ich den Kopf tiefer unter den Sitz schob und endlich begriff, was passiert war.

Eine Apfelsine. Die Belle eigentlich ihrer Oma hatte mitbringen wollen, dann aber im Auto verloren hatte. Weder in ihrer noch in meiner Vorstellungswelt war es möglich gewesen, dass sie unters Bremspedal gerollt wäre. Mehr war es nicht gewesen. Diesmal.

Lucy musste so sehr lachen, dass ihr die Tränen kamen (wie herrlich es doch war, dieses wunderbare Lachen wieder zu hören!), als wir nach Hause kamen und ich ihr erzählte, was passiert war. Mir selbst fiel es kein bisschen schwer, ernst zu bleiben.

»Bis das alles vorbei ist, fang ich noch an, den Porsche zu hassen«, sagte ich.

»Den Porsche?«

»Lucy, ich war so verdammt sicher, dass jemand die Bremsen manipuliert hätte. So verdammt sicher.«

Lucy strich mir über die Wange.

»Ich hab schon mal mit dem Kochen angefangen«, erwiderte sie.

»Es riecht gut«, sagte ich.

Und dachte bei mir: Was zum Teufel läuft hier gerade? Wir spielen jetzt doch wohl nicht Pärchen?

Seit ich Belle zurückbekommen hatte, war Lucy jede Nacht dageblieben, und ich hatte keinerlei Grund gehabt, das infrage zu stellen. Belle und ich brauchten sie, mehr war dazu nicht zu sagen. Doch jetzt waren schon mehrere Tage vergangen, und das genügte schon, um langsam in Panik zu verfallen. Belle ist der einzige Mensch, mit dem ich als Erwachsener je zusammengewohnt habe, und ich glaube, das war auch gut für mich. Ich bin nicht dafür gemacht, andere Menschen allzu nah um mich herumzuhaben. Nicht mal als Lucy und ich noch ein Paar waren, haben wir zusammengewohnt. Das war hauptsächlich mein Fehler oder mein Verdienst gewesen. Andere haben Angst vor Kriegen oder Umweltkatastrophen – ich vor der Gewohnheit. Ich muss mich zurückziehen können, die Batterien aufladen. Allein oder meinetwegen in Gesellschaft einer Frau, und das alles nur, um die Gewohnheit auf Abstand zu halten.

Die meisten in meiner Umgebung finden, dass ich bescheuert war, mich zu weigern, mit Lucy zusammenzuziehen. Ich sei immer noch nicht erwachsen, bekam ich zu hören. Es könne keine ewige Leidenschaft geben, alle Verliebtheit verwandele sich früher oder später nun mal in Liebe. Man könne nicht auf Dauer vor Routinen und dem Alltag fliehen. Das sei etwas, was man akzeptieren, was man zu lieben lernen müsse.

Gedankenverloren rührte ich Lucys Hackfleischsoße um. Ich war und bin aus einem anderen Holz geschnitzt. Ich mag Gewohnheiten einfach nicht.

»Wie war es?«, fragte Lucy. »Habt ihr was gesehen?«

Wie Maschinengewehrkugeln schossen die Erinnerungen auf mich ein. Kinder. Asphalt. Mehrere Gebäude. Ein Spielplatz. Ein Junge, der den Blick nicht von mir hatte abwenden können.

Ich beschrieb alles.

»Als Mio verschwand, waren die Kinder draußen«, sagte ich. »Ich frage mich, wie es vonstattengegangen sein könnte. Ein kleines Kind wie Mio kann nicht selbst über einen so hohen Zaun klettern. Und es kann das Tor nicht selbst öffnen.«

»Das hatten wir uns ja schon überlegt«, sagte Lucy. »Also, dass er nicht selbstständig verschwunden sein kann. Wir wissen nur noch nicht, wer ihn mitgenommen hat.«

»Stimmt«, sagte ich. »Aber wir reden hier von einem verdammt offenen Gelände. Das ist kein großer, eingewachsener Garten mit Nischen und Höhlen, in denen man sich verstecken kann. Derjenige, der Mio mitgenommen hat, muss es direkt vor den Augen der Erzieherinnen getan haben. Oder auf der anderen Seite der Tagesstätte. Aber es hätte doch jemand reagieren müssen, wenn Mio dorthin gegangen wäre. Auf der anderen Seite ist nichts zum Spielen.«

Ich trat vom Herd zurück und begann, den Tisch zu decken. Lucy ließ die Nudeln ins kochende Wasser fallen. Ich war nicht nur zum Lebensgefährten geworden, sondern auch noch zum Privatdetektiv, und zwar zu einem, der an einem Sonntag um halb verwaiste Kindertagesstätten schlich und zählte, wie viel Meter der Zaun darum herum maß.

»Als Mio verschwand, war es quasi dunkel«, sagte ich. »Es war November und ging auf vier Uhr nachmittags zu.«

»Da müssen der Hof und der Spielplatz doch beleuchtet gewesen sein«, meinte Lucy. »Und außerdem muss es doch dort Straßenlaternen geben, die um die Zeit eingeschaltet werden.«

»Natürlich«, erwiderte ich, »aber das heißt nicht, dass es nirgends schattige oder dunkle Stellen gab.«

Lucy träufelte Öl über die Nudeln.

»Keine von den Erzieherinnen erinnert sich, gesehen zu haben, wie er wegging«, sagte ich. »Oder dass er von seinen Pflegeeltern abgeholt worden wäre. Man spaziert da doch nicht einfach rein und nimmt ein Kind mit. Man meldet sich bei den Betreuern und fragt, wie der Tag gelaufen ist.«

Ich konnte kaum glauben, dass ich es war, der hier redete. Ich, der niemals hatte Kinder haben wollen. Und nun stand ich hier in meiner Küche und erzählt Lucy, wie man ein Kind aus der Tagesstätte holte. Als hätte sie das nicht genauso gut gewusst wie ich.

Dann rief Lucy, dass das Essen fertig wäre, und Belle kam mit einer Puppe unter jedem Arm in die Küche.

»Nicht mehr als eine Puppe am Tisch«, ermahnte ich sie.

Sie ließ die kurzhaarige zu Boden fallen. Die andere setzte sie in den Kinderstuhl, der neben ihrem eigenen Platz am Tisch stand.

»Aber was ist jetzt mit dem Auto?«, fragte Lucy.

Ich verzog das Gesicht und sah auf die Uhr.

»Wenn wir fertig gegessen haben, bringe ich es in die Werkstatt«, sagte ich. »Apfelsine riecht grässlich, wenn sie anfängt zu gammeln.«

Und das war das Letzte, was ich an diesem ersten Arbeitstag tat. Ich brachte meinen Porsche in eine Werkstatt, die auch sonntags geöffnet hatte. Dann fuhr ich mit einem Mietwagen wieder nach Hause, ohne zu wissen, was für ein genialer Schachzug das gewesen war.

4

Montag

Das Telefon klingelte um kurz nach Mitternacht. Das Erste, was ich dachte, als ich die Augen aufschlug, war: Ich hatte nicht mal angefangen zu träumen. Lucy wachte kurz nach mir auf. Da ich rein formal immer noch eines Doppelmords verdächtig war, nahmen wir an, dass mein bisheriges Handy abgehört wurde, also hatte ich inzwischen mehrere Telefone. Geklingelt hatte das älteste und einzige, das ich schon damals gehabt hatte, als diese ganze bizarre Geschichte ihren Anfang nahm. Dasjenige Handy, von dem ich vermutete, dass es von der Polizei abgehört wurde.

»Geh schon ran«, murmelte Lucy.

Sie war ungeduldig geworden. Genau wie ich.

Ich drückte mehrere falsche Tasten, ehe das Klingeln endlich aufhörte.

»Martin Benner?«

Meine Stimme klang kratzig und verschlafen.

»Ich weiß, wonach Sie suchen.«

Es wurde still. Eine Frauenstimme, die ich nicht wiedererkannte. Ich hatte keine Ahnung, wer da anrief.

»Wie bitte?«

»Ich … Ich muss Sie treffen. Ihnen was erzählen. Von Mio.«

Mein Puls schoss in die Höhe.

»Wer sind Sie?«

Ich wollte das Gespräch so kurz wie möglich halten. Die Polizei musste um jeden Preis rausgehalten werden, das hatte ich Lucifer versprochen.

»Will ich lieber nicht sagen. Können wir uns treffen?«

»Was, jetzt?«

»Wäre das möglich?«

In meinem müden Kopf schrillten mindestens ein Dutzend Alarmglocken. Woher wusste sie, wer ich war? Bisher hatte nichts von mir in den Zeitungen gestanden. Es war überhaupt erstaunlich wenig geschrieben worden. Ich hatte ein paar kleinere Artikel über zwei Unfälle mit Fahrerflucht in der Innenstadt gefunden, aber niemand schien die beiden Fälle miteinander in Verbindung zu bringen. Und auch dass ein Verdächtiger von der Polizei vernommen worden war, hatte nirgends Erwähnung gefunden. Warum eigentlich nicht? War die Polizei in dieser Hinsicht nicht sonst immer löchrig wie ein Sieb? Was war da los? Wie konnte es sein, dass zwei Morde, die mit dem viel beachteten Fall Sara Texas in Verbindung standen, in der Presse keine Aufmerksamkeit erhielten?

»Wäre das möglich?«, fragte die Stimme erneut. »Dass wir uns jetzt treffen?«

Und schlagartig war ich verärgert.

»Nicht, wenn Sie mir nicht wenigstens erzählen, wer Sie sind und warum Sie sich einbilden, dass ich mich mitten in der Nacht mit Ihnen treffen müsste«, entgegnete ich.

Lucy sah mich mit großen Augen an. Ich strich mit dem Finger über ihre nackte Schulter. Es würde schon überzeugende Argumente erfordern, mich aus dem Bett zu holen.

»Bobby hat mir von Ihnen erzählt.«

Ich erstarrte mitten in der Bewegung.

»Das glaube ich nicht«, gab ich zurück.

»Bevor er starb. Wir haben uns getroffen. Er sagte, dass Sie mich und die anderen von der Tagesstätte aufsuchen würden, um herauszufinden, was mit Mio passiert ist. Er hat mir Ihre Telefonnummer gegeben.«

Mein Mund war mit einem Mal knochentrocken. Das hier konnte die Polizei ruhig hören.

»Das heißt, Sie arbeiten in Mios Tagesstätte?«

»Ja.«

»Sie müssen mir schon mehr geben«, sagte ich. »Erzählen Sie mir, warum wir uns sehen müssen.«

»Weil ich was weiß«, erwiderte die Frau. »Dinge, über die ich am Telefon nicht reden will. Aber ich kann Ihnen so viel sagen, dass ich an dem Nachmittag etwas gesehen habe. Als Mio verschwand.«

Den letzten Satz hatte sie geflüstert.

»Sie haben etwas gesehen?«

»Ja«, sagte sie. »Kommen Sie?«

Sämtliche vernunftbegabten Teile meines Gehirns protestierten. Nein, ich würde mich nicht allein in die Nacht hinausbegeben. Nein, ich würde keiner Frau trauen, die mich auf meinem Handy anrief und mir ihren Namen verschwieg. Doch die Neugier war zu groß. In dieser Hinsicht war ich mir noch immer treu. Ich hatte immer schon den Kick gesucht und konnte einfach nicht anders.

»Sie müssen mir Ihren Namen sagen«, beharrte ich.

Sie zögerte.

»Susanne«, sagte sie dann. »Susanne heiße ich. Kommen Sie?«

Ich schluckte und wich Lucys Blick aus.

»Ich komme«, erwiderte ich. »Und jetzt will ich Ihre Telefonnummer, damit ich Sie von einem anderen Handy aus anrufen kann.«

Susanne hatte womöglich ihre Gründe, vor der Polizei Angst zu haben, denn sie weigerte sich, mir ihre Telefonnummer zu geben. Es endete damit, dass ich ihr eine neue Handynummer gab, auf der sie anrufen sollte – eine, die ich bis zu diesem Moment für sicher gehalten hatte, die jetzt aber binnen eines Tages wertlos wäre, falls die Polizei mich wirklich abhörte. Denn wenn die Polizei beschließt, die Gespräche einer Person abzuhören, ist die Berechtigung dazu immer auf eine oder wenige Nummern beschränkt. Wenn sich herausstellt, dass derjenige, den man abhört, noch weitere Telefone oder Nummern benutzt, muss die Polizei erneut zum Staatsanwalt gehen und um Erlaubnis bitten, auch diese Nummern abhören zu dürfen. Das ist ein Prozess, der für gewöhnlich Stunden oder gar Tage in Anspruch nimmt.

Es wäre falsch zu behaupten, dass Lucy meinen Ausflug gutgeheißen hätte, nachdem ich ihr erzählt hatte, was ich tun wollte.

»Du spinnst wohl«, sagte sie laut, während ich mich anzog.

»Psst, du weckst noch Belle«, ermahnte ich sie.

»Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein«, sagte sie. »Kapierst du nicht, dass du da nicht allein hinfahren kannst?«

Doch, das kapierte ich. Aber der Einzige, der mir einfiel und der tatsächlich eine Unterstützung gewesen wäre, war Boris, der Mafiaboss. Und den wollte ich nach allem, was passiert war, während er auf Belle aufpassen sollte, nicht unnötig aufschrecken. Je weniger Kontakt wir im Augenblick hatten, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei uns miteinander in Verbindung brachte.

Meine Angst vor der Polizei – das war auch so was, worüber man fast hätte lachen können. Noch nie zuvor hatte ich vor denen Angst gehabt – aber inzwischen musste ich sie wohl oder übel als irrational agierenden Gegner betrachten, der das Potenzial hatte, mein Leben zu zerstören.

»Ich fahre zu dieser Adresse.« Ich gab Lucy einen Zettel, auf den ich alle wesentlichen Informationen gekritzelt hatte. »Wenn du innerhalb einer Stunde nichts von mir hörst, rufst du die Polizei an. Und dann hoffen wir mal, dass sie etwas Vernünftiges tun.«

Lucy schüttelte den Kopf. Sie saß mit angezogenen Knien im Bett. Die roten Locken tanzten über ihre Schultern. Sie hatte nur eine Unterhose und ein dünnes Hemdchen an. Der eher erotisch orientierte Teil meines Gehirns – bis dato, um ehrlich zu sein, der größere Part – erwachte schlagartig zum Leben. Was hätte ich nicht gegeben, um jetzt zu Hause bleiben und mit Lucy Sex haben zu können.

»Bin gleich wieder zurück«, sagte ich und verließ das Schlafzimmer.

Ich schob die Autoschlüssel in die Tasche. Ich würde mich mit der Frau, die sich mir als Susanne vorgestellt hatte, im Blå Soldat am Gullmarsplan treffen – einem obskuren Lokal mit seltsamen Öffnungszeiten. Sobald ich den Zündschlüssel herumdrehte, gab das Auto ein surrendes Geräusch von sich, und erst in diesem Augenblick begann das Adrenalin, durch meinen Körper zu pumpen. Bobby war gründlich gewesen, das musste ich ihm lassen. Er hatte weitaus mehr Strippen gezogen, als mir klar gewesen war. Es störte mich, dass er nicht mehr am Leben war und die Früchte seiner harten Arbeit nicht mehr selbst ernten konnte. Stattdessen arbeitete ich nun für einen anderen Auftraggeber. Ich war dabei, den schlimmsten Albtraum von Bobbys Schwester zu verwirklichen, nämlich Mio mit seinem leiblichen Vater wiederzuvereinen. Allerdings konnte man die Sache auch anders sehen. Ich war drauf und dran, das Leben meiner Tochter zu retten. Und mein eigenes. Das entschuldigte zumindest einiges. Auch Bobby gegenüber.

Das Auto rollte durch ein vibrierendes Stockholm. Ich mag Städte, die nie schlafen, und auch Stockholm ist ein wenig so. Da sind immer Menschen unterwegs, zumindest solange man sich in der Innenstadt aufhält. Sowie man über die großen Brücken hinausfährt, ist das natürlich anders. Dort sind die Straßen dunkler, und immer weniger Menschen sind draußen unterwegs.

Doch kein Ort, an dem ich vorüberfuhr, war so menschenleer wie jener, an dem ich die geheimnisvolle Susanne treffen sollte. Der Blå Soldat war verrammelt. Ein großer Zettel an der Tür setzte mich davon in Kenntnis, dass das Lokal seit zwei Wochen wegen Konkurses geschlossen war und auch so bald nicht wieder eröffnet würde.

Ich stand eine Weile auf dem Bürgersteig und wartete. Abgesehen von entfernten Motorengeräuschen auf der Ausfallstraße war es mucksmäuschenstill. Ein Stück südlich erhob sich weiß und gewaltig der Globen. Ich sah auf die Uhr. Fünf Minuten würde ich Susanne noch geben, dann würde ich wieder nach Hause fahren.

Der Sekundenzeiger bewegte sich wie ein Projektil über das Zifferblatt. Zehn Minuten später stand ich immer noch da, inzwischen allerdings von einer Unruhe gepackt, die ich bis dato nie empfunden hatte. Ich hatte irgendetwas übersehen. Etwas Wesentliches. Mich schauderte, und zögerlich bewegte ich mich zum Auto zurück.

Hau ab, verdammt noch mal, flüsterte mir eine Geisterstimme in meinem Kopf zu.

Und dann eine andere: Schon zu spät.

Als hätte ich soeben erfahren, dass der Blå Soldat binnen drei Sekunden in die Luft gehen würde, fing ich an zu rennen. Ich ließ den Motor aufheulen und raste davon – die eine Hand am Lenkrad, und mit der anderen fummelte ich nach dem Sicherheitsgurt. Dann rief ich Lucy an.

»Alles okay?«, fragte ich.

»Durchaus. Und bei dir?«

Sie klang beunruhigt.

»Bin auf dem Weg nach Hause«, erwiderte ich knapp und legte auf.

Nachdem Susanne ihre Telefonnummer unterdrückt hatte, gab es keine Möglichkeit, sie ausfindig zu machen. Allerdings hätte sie mich anrufen können, sofern sie sich verspätet und es nicht rechtzeitig zu unserem Treffpunkt geschafft hätte. Doch das hatte sie nicht getan. Es kamen nur zwei Gründe infrage: Entweder war sie durch ein Ereignis aufgehalten worden, das es ihr nicht nur unmöglich gemacht hatte, pünktlich zu kommen, sondern auch, Bescheid zu geben.

Oder sie hatte überhaupt nie vorgehabt aufzutauchen.

Alles in allem war es völlig egal, welche der beiden Möglichkeiten zutraf. In beiden Fällen war das Gefühl, neuerlich in eine Falle getappt zu sein, gleichermaßen stark.

5

Nach der Apfelsinengeschichte hegte ich die Hoffnung, dass sich der Charakter meiner Albträume verändern würde – vergeblich. Wieder und wieder wurde ich stehend in einer Grube begraben. Wieder wachte ich schweißgebadet und ins Bettlaken verwickelt auf. Wenn nur die verdammte Sonne endlich aufgegangen wäre, damit ein neuer Tag anfing!

»Du schläfst so gut wie gar nicht mehr«, sagte Lucy besorgt.

»Ach was, nicht so schlimm«, erwiderte ich.

Doch mein Kopf war wie betäubt, und die Augen juckten. Diese Albträume waren ein Omen, nichts anderes. Ich wusste genau, wo ihr Ursprung lag, und genauso wusste ich, warum sie angefangen hatten, mich zu plagen, nachdem ich in Texas gewesen war. Trotzdem konnte ich mich nicht von ihnen freimachen. Am liebsten hätte ich mich zusammengekauert und darum gebettelt, in Ruhe gelassen zu werden. Aber so was funktioniert nur, wenn es Menschen sind, die man anfleht, nicht die Sünden aus der Vergangenheit.

Schlaflosigkeit ist verdammt destruktiv. Ich selbst werde dünnhäutig und gedankenträge, was eine ganz miese Kombination für jemanden ist, der mit einem Damoklesschwert über dem Kopf lebt. Mein nächtlicher Ausflug ließ mir keine Ruhe. Die Überzeugung, dass ich in eine Falle getappt war oder mich auf irgendeine andere Weise in Schwierigkeiten gebracht haben könnte, setzte mich massiv unter Druck.

»Muss doch gar nicht sein, dass es schon wieder jemand auf dich abgesehen hat«, meinte Lucy, als wir Frühstück machten.

Brei für Belle, Joghurt mit frischen Beeren für Lucy und Kaffee und ein Butterbrot für mich. Ich stehe ja auf dem Standpunkt: Zur Hölle mit allen Diäten. Mittelmaß ist sonst selten die beste Lösung, aber was Essen angeht, besteht für mich kein Zweifel. Nicht zu viele Süßigkeiten essen, nicht zu viel Limonade trinken, nicht zu wenig Ballaststoffe und Proteine zu sich nehmen. Und sich nicht zu viele Gedanken machen. Das Leben ist auch so schon zerbrechlich genug. Wer weiß, nächstes Mal sind Sie vielleicht derjenige, der die Mafia am Hals hat.

»Nein, natürlich nicht«, sagte ich. »Es war reiner Zufall, dass sie mich mitten in der Nacht angerufen und erzählt hat, dass sie etwas über Mios Verschwinden wüsste. Wahrscheinlich war es nur eine Art Kinderstreich.«

Lucy verdrehte die Augen.

»So war das nicht gemeint. Ich denke eher, dass es vielleicht eine ganz logische Erklärung dafür gibt, dass sie nicht gekommen ist.«

»Und auch nicht angerufen hat?«

Lucy zuckte mit den Schultern.

»Gib ihr ein bisschen Zeit. Bestimmt meldet sie sich wieder.«

Belle kam im Schlafanzug in die Küche, setzte die Puppe in den Kinderstuhl, und dann waren wir bereit, in den neuen Tag zu starten. Seit dieses ganze Inferno losgegangen war, waren Lucy und ich uns einig gewesen, dass wir unser Bestes tun wollten, um einen normalen Alltag aufrechtzuerhalten. Einerseits für Belle, aber auch damit von außen nicht zu deutlich sichtbar wurde, dass unser Leben kollabiert war. Schließlich wurde ich des Mordes bezichtigt. Wir wollten der Polizei zeigen, dass ich nicht rumlief und nur darauf wartete, festgenommen zu werden. Ich war unschuldig und würde mich auch genau so verhalten: zur Arbeit gehen, das Kind zur Tagesstätte bringen und zweihundert Runden in dem Hamsterrad abreiten, das sich für gewöhnlich Alltag nennt.

»Was machst du heute?«, wollte Lucy wissen.

»Ich hab die Namen der Leute, die in Mios Kita gearbeitet haben, als er verschwand«, antwortete ich. »Die werd ich mal durchleuchten.«

Lucy wirkte zögerlich.

»Es ist ja nicht so, als hätte das noch niemand gemacht«, wandte sie ein. »Die Polizei hat doch mit allen vom Personal gesprochen, und …«

»Danke, ich hab die Protokolle auch gelesen. Als ich sagte, dass ich sie durchleuchten wollte, meinte ich natürlich nicht, dass ich noch mal mit allen reden würde.«

Lucy zog die Augenbrauen kraus.

»Sondern?«

»Ich will herausfinden, was sie heute machen. Ob sie immer noch in dieser Kita arbeiten. Ob sie am Leben sind. Ob jemand von ihnen Susanne heißt.«

Belle klatschte mit dem Löffel wiederholt auf ihren Brei ein, sodass Milch und Marmelade auf den Tisch schwappten. Das hatte sie nicht mehr getan, seit sie zwei gewesen war.

»Hör auf damit«, sagte ich streng.

Sie hörte auf, aß aber nichts. Dieses schlechte Essverhalten hatte nach dem Brand und der Entführung angefangen. Deshalb wurde ich auch so schnell böse. Ich hatte einfach Angst, dass sie verhungern und ich sie auf diese Weise verlieren würde.

Lucy legte mir die Hand auf den Arm.

»Belle, willst du nicht ein bisschen essen?«, fragte sie.

Ihre Stimme war viel sanfter als meine.

Doch Belle schüttelte den Kopf.

»Das hat nicht geschmeckt«, murmelte sie.

Ich sah auf ihren Teller.

»War es die falsche Marmelade?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht.

»Und wenn du bei mir sitzen darfst?«, fragte Lucy. »Wenn du auf meinem Schoß sitzen darfst und wir gemeinsam versuchen zu essen? Wäre das besser?«

Wortlos rutschte Belle von ihrem Stuhl und schlich um den Tisch herum. Dann kletterte sie auf Lucys Schoß und presste das Gesicht an ihre Brust. Die Sorge drillte sich wie Nägel in meine Seele. Ich hatte verdammt noch mal einfach keine Ahnung, was sie in der Gewalt der Entführer hatte durchmachen müssen. Im Krankenhaus hatten sie keinerlei Spuren von Gewalt oder anderen Übergriffen feststellen können, aber in ihrem Blut Spuren eines Schlafmittels gefunden. Selbst schien sie ab dem Zeitpunkt, da sie aus der Hütte ihrer Großeltern im Schärengarten entführt worden war, keine einzige Erinnerung mehr zu haben.

Die Polizei und die Ärzte hatten gemutmaßt, dass sie im Schlaf betäubt und dann hinausgetragen worden sein könnte, ehe das Haus in Brand gesetzt worden war. Wann immer ich Belle fragte, woran sie sich erinnerte, dann antwortete sie, dass sie eingeschlafen sei, während ihre Großmutter ihr eine Geschichte vorgelesen habe, und erst wieder aufgewacht sei, als ich neben ihr lag. Nur dass das nicht mehr im Sommerhaus der Großeltern, sondern in einem Hotelzimmer im Stockholmer Grand Hôtel gewesen war. Niemand hatte je herausgefunden, wie sie dorthingekommen war.

»Heute nicht Kita gehen«, sagte Belle.

Kleinkindsprache ohne flektierte Verben. Wann hatten wir das denn bitte zuletzt hören müssen?

Meine Intuition sagte mir, dass sie so schnell wie möglich ihre gewohnten Routinen wieder aufnehmen musste, und die Kita war ein wichtiger Teil davon. Nur vielleicht nicht, wenn sie so erschöpft war und dann nicht mal etwas aß.

»Ich ruf Signe an«, sagte ich.

Unser Kindermädchen Signe zählte zu der rapide schrumpfenden Schar Menschen, denen ich immer noch vollends vertraute, was vor allem daran lag, dass ich von ihr abhängig war.

»Und ich ruf in der Kita an«, sagte Lucy.

Sie fütterte Belle, als wäre sie ein Baby, und griff gleichzeitig zum Telefon. Ein Löffel, zwei Löffel, drei Löffel. Dann drehte Belle den Kopf weg. Lucy lockte sie mit einem Schluck Saft. Dann noch ein Löffel.

Einer für Mama, einer für Papa, mahlte eine Stimme in meinem Kopf.

Eine halbe Stunde später war Signe da, und Lucy und ich fuhren zur Kanzlei. Lucy, um zu arbeiten, und ich, um das Kind von jemand anderem zu suchen. Als wir uns ins Auto gesetzt hatten, war es halb neun gewesen. Zwanzig Minuten später waren wir in der Kanzlei auf Kungsholmen. Lucy verschwand in ihrem Büro, und ich selbst hockte mich an meinen Schreibtisch und holte die Unterlagen aus der polizeilichen Ermittlung zu Mios Verschwinden heraus. Als ich das nächtliche Gespräch angenommen hatte, war ich verwirrt und müde gewesen. Sie hatte behauptet, sie heiße Susanne, aber hatte damals überhaupt jemand mit diesem Namen in der Kita gearbeitet?

Nach wenigen Sekunden hatte ich die Antwort: Nein. Im Trollgarten hatte es keine Susanne gegeben. Natürlich hatte sie mir einen falschen Namen genannt. Ich versuchte, mir einzureden, dass dies absolut verständlich wäre, nur wollte ich sie trotzdem finden, schließlich hatte die Frau am Telefon behauptet, dass sie dort arbeiten würde. Und sie hatte meine Telefonnummer von Bobby bekommen, bevor er gestorben war.

Warum sollte sie mich sonst mitten in der Nacht zu einem Ausflug aus dem Haus locken?

Ich hasste es, mit so vielen Fragen und nur so wenigen Antworten dazusitzen. Und immer wieder durchlebte ich das unangenehme Gefühl, wie ich den Porsche vor dem Zebrastreifen nicht mehr zum Stehen hatte bringen können. Das hätte richtig übel enden können. Ich hätte ein Menschenleben auslöschen können.

Noch eins …

Ich rieb mir mit den Fäusten über die Stirn, fest, immer fester. In meinem Schädel gellte ein einziger Gedanke: Ich bin kein Mörder. Ich bin kein Mörder.

Lucy klopfte und trat ein.

»Ich hab eine Besprechung außer Haus. Sollen wir später zusammen mittagessen?«

Lucy und ich. Ich und Lucy. Allmählich fühlte es sich klaustrophobisch an. Ich hatte immer ein recht großes Netzwerk gehabt, für das ich tunlichst Sorge getragen hatte. Zum Teufel, das konnte doch nicht einfach alles weg sein? Oder war es in den Sommermonaten immer so gewesen? Dass die Leute aus der Stadt verschwunden waren und diejenigen, die übrig blieben, die Einsamsten der Einsamen waren?

»Klar«, sagte ich. »Wir essen zu Mittag, wenn du wieder da bist.«

Sie nickte und wandte sich zum Gehen. Plötzlich schoss mir durch den Kopf, dass sie sich womöglich genauso isoliert fühlte wie ich.

»Übrigens«, sagte ich noch.

»Ja?«

Ich schluckte. Eigentlich gab es Grenzen für das, was ich Lucy abverlangen konnte. Trotzdem sprudelten die Worte wie von selbst aus mir heraus.

»Wenn die Polizei aus irgendeinem Grund fragen sollte, wo ich gestern Nacht war …«

»Dann sag ich, dass du die Wohnung nicht verlassen hast«, erwiderte Lucy. »Sonst noch was?«

Ich schüttelte den Kopf. Ein falsches Alibi, einfach so. Als wäre das für einen Anwalt die einfachste Sache der Welt.

Lucy verließ die Kanzlei, während ich weiter dasaß und mich fragte, was aus uns geworden war. Und dann beschloss, dass es an der Zeit war, einen neuen Ansatz auszuprobieren.

6

Es gibt immer Zeugen. Immer. Selbst wenn jemand in völliger Abgeschiedenheit beraubt oder vergewaltigt wird, ist zumindest der Täter (und das Opfer, sofern es überlebt) Zeuge der Tat. Solche Personen muss man finden, wenn man herausfinden will, was passiert ist. Personen, die etwas gesehen oder gehört haben.