Bucht der Schmuggler - Ulf Schiewe - E-Book

Bucht der Schmuggler E-Book

Ulf Schiewe

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Beschreibung

Karibik 1635: In den spanischen Kolonien hat der Schwarzhandel überhand genommen. Der neue Gouverneur von Hispaniola schwört, jeden Schmuggler, den er erwischt, eigenhändig aufzuhängen. Die schöne Doña Maria zittert um ihren Gemahl, einem reichen Pflanzer, der heimlicher Drahtzieher des verbotenen Handels ist. Und im fernen Bremen hat der junge Handelsherr Jan van Hagen nur die Wahl zwischen Schuldturm und Flucht in die Neue Welt, um als Schmuggler das verlorene Familienvermögen wieder herzustellen. Noch in der Nacht entkommt er den Schergen und nimmt Kurs auf Westindien. Seine Suche nach dem Gold des Südens hat begonnen. »Bucht der Schmuggler« ist bei Knaur als eSerie unter dem Namen »Gold des Südens« erschienen.

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Seitenzahl: 523

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Ulf Schiewe

Bucht der Schmuggler

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Karibik 1635: In den spanischen Kolonien hat der Schwarzhandel überhand genommen. Der neue Gouverneur von Hispaniola schwört, jeden Schmuggler, den er erwischt, eigenhändig aufzuhängen. Die schöne Doña Maria zittert um ihren Gemahl, einen reichen Pflanzer und heimlichen Drahtzieher des verbotenen Handels.

Inhaltsübersicht

Die PersonenTeil 1 – Die FluchtAnkunft in BremenDoña MariaJans FluchtTeil 2 – Der Wind der FreiheitAuf der NordseeCornelis van DoornDas AbendessenDer AuftragDer GejagteBrennende FelderDon Miguel kehrt heimDie BiskayaSklavenkaufTeil 3 – Die Bucht der SchmugglerDon Alonsos PläneMann über BordDas SklavenkindDominicaDie Bucht der MückenDie DurchsuchungAuf der TabakfarmDie VerschwörerSanto DomingoTeil 4 – Die dunkle FestungDie Sophie auf ReedeDie Kanonen der FestungBabatunde und der BukanierFestungshaftDon Alonso in RageDie EinladungGäste auf der haciendaDon Miguels StolzIn den Casas RealesEin tropisches FestTeil 5 – Die Insel der PiratenElsje und der DoctorDer SpionZwischen MangrovenBabatundeDer HinterhaltMarias PrüfungSchuss in der NachtTreffpunkt an der MühleMaria BenignaEpilog
[home]

Die Personen

Hauptfiguren

Jan van Hagen – Junger Kaufherr und Seekapitän aus Bremen

Don Miguel Garcia Hernandez – Reicher Pflanzer und Zuckerbaron auf Hispaniola

Doña Maria Carmen de Alvarez y Ortega – Don Miguels junge Gemahlin

Don Alonso Calderón de la Higuera – Neu ernannter Vizegouverneur von Hispaniola

Cornelis van Doorn – Holländischer Kaufmann aus Amsterdam

Martin van Doorn – Seekapitän und Cornelis’ Sohn

Padre Anselmo – Franziskanermönch und Don Miguels Bruder

 

Die Mannschaft der Sophie

Hein Köppers – Steuermann und Navigator

Lars Erikson – Bootsmann

Ole Penning – Zimmermann

Hasko Lübben – Schiffskoch

Doctor Emanuel Almeida de Souza – Schiffsarzt, Portugiese aus Pernambuco

Fiete Boom – Schiffsjunge

Brun Enders – Matrose

Christjan Luttmann – Matrose

Jelle Appelhoff – Matrose

Geerke Buhr – Matrose

Klaas van Hove – Matrose

Piet Möller – Matrose

Johan Hendriks – Waffenmeister

Aart Jonkers – Gehilfe des Waffenmeisters

Elsje Smit – Prostituierte aus Amsterdam

 

Weitere Personen auf Hispaniola

Don Diego de Oliveira – Pflanzer und Portugiese

Don Rodrigo de Molina – Präsident des Königlichen Gerichts von Santo Domingo

Doña Ana – Don Rodrigos junge Frau

Doña Matilda – Don Diegos Frau

Pedro Fernandez – Aufseher des Don Diego

Octavio Faustino – Verwalter der hacienda von Don Miguel

Francisco Pérez – Anführer der vaqueros auf der hacienda von Don Miguel

Señor Carlos – Aufseher auf der Tabakpflanzung von Don Alonso

Tom Degger – Jäger und Bukanier, Deutscher

Luis Cabrón – Hafenmeister von Santo Domingo

Coronel Rivera – Kommandant der Truppen von Santo Domingo

Capitán Morales – Kapitän der Galeone Santa Trinidad

Leon – Don Alonsos Diener

Alejandro Mendoza – Händler in Santo Domingo

 

Die Sklaven

Olu – Heißt eigentlich Jaime Olufemi und ist Doña Marias Beschützer

Marta – Köchin auf Don Miguels hacienda

Consuela – Dienstmädchen auf Don Miguels hacienda

Juan – Schreiner auf Don Miguels hacienda

Abeni – Junge schwangere Sklavin auf der Sophie

Babatunde – Entlaufener Sklave, ursprünglich von Don Diegos hacienda

Dada – Babatundes Frau

Maria Benigna – Köchin auf Don Alonsos Tabakpflanzung

 

Andere

Willem van Hagen – Jans Vater

Der alte Geerke – Sekretär des Vaters

Greetje Hanssen – Jans Verlobte

Hendrikje van Doorn – van Doorns Gemahlin

Katrien van Doorn – Ältere Tochter

Agnes van Doorn – Jüngere Tochter

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Teil 1

Die Flucht

 

 

 

Ankunft in Bremen

Fast lautlos und nur unter Toppsegel glitt die Sophie auf der nachtschwarzen Weser dahin, mehr von der Flut getragen als vom leichten Südwestwind, der über die Landschaft strich.

Ein Halbmond spiegelte sich im Flusswasser, ließ den hellen Ufersand und die Umrisse der vorüberschwebenden Büsche und Bäume erkennen, die Nebelstreifen über den dunklen Wiesen, die gespenstisch in den Himmel gereckten Flügel einer Mühle, das geduckte Dach einer Bauernkate.

An waldfreien Stellen nahm der Wind zu. Dann lehnte sich das Schiff unter leisem Ächzen der Takelage ein wenig zur Seite, und das Gurgeln des Kielwassers war deutlicher vernehmbar. Es brauchte nicht viel, um die Sophie in Fahrt zu bringen. Sie war ein schnelles, schlankes Schiff nach holländischer Bauart, eine dreimastige Fleute, mit gutem Stauraum für den Ostseehandel und auf jeder Seite mit zwei leichten Kanonen bestückt.

Trotz des schwachen Windes war es kalt auf dem Achterdeck. Jan van Hagen stand fröstelnd an der Reling, schlug den Kragen seiner Segeljoppe höher und zog die Mütze tiefer ins Gesicht. Es war eine verdammt lange Reise gewesen, und bald schon würde man den ersten Advent feiern. Er freute sich, endlich nach Hause zu kommen und ein paar Tage an Land zu verbringen. Vielleicht sogar über Weihnachten. Besonders wenn die Weser wieder wie letztes Jahr zufrieren würde.

Vor allem freute er sich auf seine Greetje, die gewiss schon sehnsüchtig auf ihn wartete. Er hatte ein Geschenk für sie, ein goldgefasstes Bernsteinamulett. Im Frühjahr wollten sie heiraten, obwohl ihr Vater, der Ratsherr Frithjof Hanssen, strikt dagegen war. Aber sie würden ihn schon überzeugen, da war er zuversichtlich.

Jedenfalls konnte sich der Erfolg der letzten Reise sehen lassen. Auch sein eigener Vater, Willem van Hagen, würde hoffentlich zufrieden sein, denn Jan brachte kostbare Felle aus Narva heim, Honig aus Riga, tonnenweise Pökelfleisch aus Schweden und einen Berg von Stockfisch aus der norwegischen Stadt Bergen. Dazu ein hübsches Sümmchen, das von seiner ursprünglichen Ladung Bier übrig geblieben war. Und das, wie er wusste, auch nötig gebraucht wurde, um dem arg gebeutelten Handelsunternehmen der van Hagens wieder auf die Beine zu helfen. Man konnte nur hoffen, dass dies auch Frithjof Hanssen seinem zukünftigen Schwiegersohn gegenüber gnädiger stimmen würde.

Er starrte aufmerksam voraus, denn unter der mondhellen Oberfläche der Weser verbargen sich so manche Untiefen. Kein Kapitän, der nicht ortskundig war, würde des Nachts die Weser heraufsegeln. Doch Jan kannte jede Meile und jede Biegung. Allerdings war das Flussbett in den letzten fünfzig Jahren, je mehr man sich Bremen näherte, immer seichter geworden. Es war bereits so schlimm, dass die größeren Schiffe gar nicht mehr bis zur Stadt durchkamen und ihre Ladung schon im neuen Vegesacker Hafen löschen mussten.

Nicht so seine Sophie, die sich durch einen besonders geringen Tiefgang auszeichnete. Solange sie im Fahrwasser blieben, würden sie keine Schwierigkeiten haben, selbst bei Ebbe nicht. Trotzdem, in der Nacht täuschten die Entfernungen, und im Schlick stecken zu bleiben, das hätte ihm den Hohn und Spott ganz Bremens eingebracht.

Etwas weiter voraus entdeckte er jetzt den kaum sichtbaren Schatten der im Flussbett verankerten Tonne, nach der er Ausschau gehalten hatte. Daneben eine Reihe von Stecken, die eine Sandbank markierten. Er warf einen Blick zu Hein Köppers hinüber. Aber der knorrige, alte Seebär hatte die Tonne schon gesehen und war dabei, eine leichte Kursänderung anzuordnen.

»Zwei Strich steuerbord«, knurrte er dem Rudergänger zu. Und zu den wachhabenden Seeleuten an Deck rief er: »Toppbrassen, Jungs!«

Der neue Kurs, etwas näher am Wind, schien dem Schiff zu bekommen, denn es legte sich bei dichter eingeholten Segeln leicht auf die Seite und nahm Fahrt auf.

Wenn einer den Fluss noch besser kannte als Jan, dann war es Hein Köppers, sein graubärtiger Steuermann. Der hatte schon alle Winkel der Nord- und Ostsee befahren, bevor Jan überhaupt aus den Windeln gewesen war. Karten verachtete er. Die seien alle falsch, war sein Urteil. Er verließ sich auf sein Gedächtnis, auf die Farbe des Meeres und auf sein Gespür für Wind und Wellen und für die Gezeitenströme in den nördlichen Gewässern.

Die Sophie war das schönste und beste Schiff, das den van Hagens geblieben war. Zwei andere hatten sie aufgeben müssen. Nur die Katrine segelte noch unter der Flagge des Hauses, ein betagter, dickbäuchiger Kahn, für den man nicht mehr viel bekommen hätte. Heutzutage war der Vater gezwungen, Frachtraum auf anderen Schiffen anzumieten. Das war früher ganz anders gewesen. Da hatten sie eine ganze Flotte besessen, waren ein führendes, angesehenes Handelshaus gewesen. Doch seit Jahren schien alles schiefzugehen. Eigentlich seit dem Tod der Mutter.

Ja, der Niedergang hatte vor sieben Jahren mit Mutters Tod seinen Anfang genommen. Das lange Siechtum seiner geliebten Frau Sophie hatte den Vater schwer belastet, mehr als er ihr und sich selbst hatte eingestehen wollen. Frohsinn und Zuversicht waren ihm nach ihrer langen Krankheit völlig abhandengekommen. Ihr Tod war zuletzt fast eine Erlösung gewesen. Auch Jan versetzte es jedes Mal einen Stich, wenn er an seine Mutter dachte. Sie war der lebenslustige Gegensatz zu seinem eher strengen, kalvinistisch erzogenen Vater gewesen. Und nun war nichts als die Erinnerung an sie übriggeblieben. Und das Schiff, das ihren Namen trug.

Dass die Geschäfte schlecht gingen, war nicht zu übersehen, besonders nicht nach der nordfriesischen Flutkatastrophe im letzten Jahr, die auch seinen älteren Bruder Thomas in den Tod gerissen hatte. Eine weitere Tragödie für die Familie. Besonders für Vater, denn Thomas war ausersehen gewesen, die Geschäfte zu übernehmen. Jan war eben nicht der kühle Rechner wie sein Bruder. Und jedes Mal, wenn er seinem Vater Hilfe im Kontor anbot, wich der aus, wollte alles selbst in der Hand behalten. Auch Fragen nach dem Stand der Geschäfte beantwortete er nicht.

Nun, Jan fand ohnehin keinen Gefallen an der staubtrockenen Arbeit im Kontor und dem Gefeilsche in den Handelsstuben. Nicht wie Thomas. Nein, Jan hatte immer die Freiheit der See geliebt und war bei Hein Köppers in die Lehre gegangen. Er verstand es, mit Schiffen umzugehen und mit den Männern, die auf ihnen fuhren. Als Seekapitän konnte er dem Vater mehr nützen, als wenn er lange Zahlenreihen aufaddierte.

Dennoch wünschte er, Vater würde seine Sorgen mit ihm teilen. Die Vernichtung ihrer Ländereien in Nordfriesland hatte zum Verkauf der Schiffe geführt. Dies und Thomas’ Tod waren zu viel für Vater geworden. Er redete nicht darüber, aber sein Gesundheitszustand war beunruhigend. Er schien, besonders in letzter Zeit, immer mehr in sich zusammenzusinken, war erschreckend abgemagert und kränkelte häufig, wie auch Geerke, der alte Sekretär der Familie, bestätigte.

Und doch gönnte sich Willem van Hagen keinen Tag der Erholung, sondern schlich sich jeden Morgen mit gebeugtem Rücken ins Kontor, um die wichtigsten Geschäfte persönlich zu erledigen, Briefe zu schreiben, Anweisungen zu geben. Ein guter Protestant legte sich nicht ins Bett, egal wie krank er war. Das war seine Devise.

Jan atmete tief durch. Trotz der schwierigen Lage des Familienunternehmens war er guten Mutes. Das lag in seiner Natur. Ganz gleich, was geschah, er ließ sich selten von Schicksalsschlägen unterkriegen. Ging etwas nicht wie geplant, versuchte er es auf andere Weise, immer in der Gewissheit, dass ihm über kurz oder lang das Glück wieder hold sein würde. Darin war er wie seine Mutter. Ein Träumer nannte Vater ihn, aber nicht ohne Wohlwollen.

Jan dachte zufrieden an die volle Ladung und den prallen Geldsäckel, den er heimbrachte. Noch ein paar solcher Reisen, und sie würden aus dem Gröbsten raus sein. Er würde Greetje heiraten und eine Familie gründen können. Irgendwann würde Vater ihm die Geschäfte übergeben, und der Name van Hagen würde in neuem Glanz erstrahlen. Wer weiß, vielleicht würde er eines Tages sogar in den Rat der Stadt gewählt werden. Stadtrat Johannes van Hagen! Das wäre es in der Tat. Das hatte Klang. Und einmal im Stadtrat, wüsste er in Bremen schon so einiges zu verändern. Den behäbigen, alten Patriziern würde er Beine machen.

Inzwischen passierten sie das Licht der Hafeneinfahrt von Vegesack. Dahinter ragten ein paar Masten in die Höhe. Noch eine knappe Stunde, dann wären sie in Bremen.

»Wir ankern vor der Schlacht im Fluss«, befahl er Köppers. »Morgen früh suchen wir uns dann einen Liegeplatz und beginnen mit dem Ausladen.«

»Is gut, Käptn«, war die Antwort. »Soll ich das Beiboot klarmachen lassen?«

»Tu das. Ich werde an Land gehen. Behalte die Mannschaft aber an Bord. Sonst müssen wir sie morgen früh wieder aus den Kneipen zerren.«

Jan stieg durch den Niedergang zu seiner engen Kajüte hinab, die direkt unter dem Achterdeck lag, und begann sich umzuziehen. Strümpfe, Kniehosen und Schnallenschuhe. Ein sauberes Hemd mit weitem Spitzenkragen, eine einfache Leinenweste, darüber eine kurze, enganliegende Jacke aus gutem Tuch. Fehlten nur noch Gürtel und sein Rapier, eine feine Waffe, mit der er durchaus umzugehen verstand. In den Hafenstädten, besonders im Osten, trieben sich oft Halsabschneider und Halunken herum. Aber hier in Bremen? Er beschloss, das Schwert an Bord zu lassen.

Als er fertig war, schlug die Schiffsglocke acht Glasen – Mitternacht und Wachwechsel. Fiete, der Schiffsjunge, oder wer gerade oben Wache hatte, würde jetzt zum letzten Mal auf dieser Reise die Sanduhr umdrehen. Jan lächelte zufrieden, während er seinen breitkrempigen Hut vom Haken nahm. In guter Stimmung kletterte er wieder an Deck und setzte den Hut auf.

»Zeit, die Schlafmützen aus den Kojen zu holen, Käptn. Wir sind gleich da«, brummte der alte Hein.

Als Jan nickte, pfiff der Steuermann kurz auf der Bootsmannspfeife, die er immer an einem Lederriemen um den Hals trug. Kurz darauf hörte man nackte Seemannsfüße durch das Schiff trampeln. Luken öffneten sich und Männer kamen an Deck. Die Mannschaft bestand nur aus fünfzehn Leuten. Eine Fleute ließ sich mit weniger als der Hälfte der für diese Schiffsgröße sonst üblichen Mannschaft segeln, was den Seetransport enorm verbilligte. Mit ein Grund, warum Fleuten so beliebt waren und warum die Holländer anderen Schiffern das Geschäft stahlen.

Die Männer waren dabei, den Anker vorzubereiten, die Toppgasten enterten an den Wanten auf, andere standen an Brassen und Schoten, bereit für das letzte Segelmanöver. Bremens Wall und Graben hatten sie schon passiert. Die Stadt lag im Dunkeln. Nur ein paar Lichter aus den Hafenspelunken erhellten Teile der Schlacht, dem langen Hauptkai der Stadt. Hier lagen dicht an dicht Segelschiffe und Flusskähne vertäut. Hein Köppers leitete die Wende ein, die Segel flatterten mit Getöse, dann rafften die Männer im Topp das Tuch zusammen, die Sophie verlor an Fahrt.

»Anker ab!«, hallte Heins Ruf übers Deck. Gleich darauf ließ sich das Rumpeln der Ankerkette hören. Die Flut erfasste noch einmal das Schiff und ließ es langsam rückwärts treiben, bis die Ankerflunken sich im weichen Flusssand eingegraben hatten. Ein viel geübtes Manöver. Kein Handgriff zu viel, keiner zu wenig. Es war eine Freude, dieser eingespielten Mannschaft bei der Arbeit zuzusehen.

»Ganz ordentlich«, sagte Jan.

Der Steuermann hielt es für unter seiner Würde, das Lob seines jungen Kapitäns zu quittieren, gab stattdessen den Befehl, das Beiboot klarzumachen. Kaum hatten die Männer es aus der Verankerung gelöst, als ein schwacher Ruf über das Wasser tönte. Gleich darauf stieß etwas gegen die Bordwand. Jan beugte sich über die Reling und spähte hinunter.

»Geerke!«, rief er. »Was zum Teufel tust du hier? Um diese Uhrzeit?«

Unter ihm schaukelte ein kleines Ruderboot auf dem Fluss. Ein Bootshaken an der Verankerung der Wanten hielt es am Schiffsrumpf fest. Einer der Knechte aus dem Lagerhaus hatte den alten Sekretär des Vaters herausgerudert. Sein schütteres, weißes Haar leuchtete im Mondlicht.

»Es ist dringend, Jan«, rief Geerke herauf. Der Alte schien Atem zu holen, um sich zu stärken für das, was er zu sagen hatte. »Tut mir leid, mien Jung, aber dein Vater liegt im Sterben.«

Jans Herz begann zu hämmern. »Mein Gott«, murmelte er. »Bist du sicher?«

Er griff nach der Strickleiter, die an Deck lag, und warf sie über die Reling. Dann schwang er sich hinterher und begann, zu Geerke hinunterzuklettern. Vorsichtig setzte er einen Fuß ins Boot und ließ sich neben dem Alten nieder.

»Schon seit Tagen halte ich Ausschau nach euch«, sagte der. »Und heute die ganze Nacht. Hab irgendwie gehofft, dass du noch rechtzeitig kommst. Aber ihr dürft um Himmels willen nicht anlegen.«

»Warum nicht?«

»Erklär ich dir gleich.« Er musste plötzlich husten. »Verdammte Kälte«, krächzte er, als er wieder zu Atem kam. »Ich hol mir noch den Tod hier auf dem Wasser.« Er zog fröstelnd den Kragen seiner Joppe höher und bedeutete dem Knecht, an Land zu rudern.

Während der Mann das Boot abstieß, schaute Jan nach oben, wo Köppers’ Kopf über die Reling ragte. »Hast du gehört? Alle bleiben an Bord!«, rief er hinauf.

Der Knecht begann gegen die schwächelnde Flut anzurudern, um zur Schlacht hinüberzugelangen. Langsam entfernte sich das Boot vom Schiff. »Nun erzähl schon«, sagte Jan. »Was ist passiert? Wie geht es Vater?«

»Nicht gut, Jan.« Geerke schüttelte den Kopf. »Gar nicht gut. Die Ärzte haben ihn aufgegeben. Und der Priester ist auch schon da gewesen.«

»Mein Gott!«

Der Alte saß mit hängenden Schultern im Boot. »Aber das ist noch nicht alles«, sagte er betrübt.

»Was zum Teufel denn noch?«

Geerke holte tief Luft. »Du weißt, wir hatten so einige Schwierigkeiten in letzter Zeit. Und statt besser ist es schlimmer geworden. Jetzt kreisen die Gläubiger ums Haus wie die Aasgeier. Alles ist verpfändet. Die Katrine haben sie schon an die Kette gelegt. Und für morgen wird ein Gerichtsbeschluss erwartet. Dann greifen sie sich das Haus, dein Schiff und den Rest.«

Jans Herz schien für einen Augenblick auszusetzen. »Was sagst du da?«, hauchte er. Dann fiel ihm das pralle Geldsäckel ein, das er dem Vater überbringen wollte. »Ich hatte eine gute Reise«, sagte er. »Mit dem Gewinn könnten wir doch einen Teil der Schulden tilgen.«

Der alte Sekretär schüttelte den Kopf. »Das hilft jetzt auch nicht mehr. Es ist wie ein riesiges schwarzes Loch. Was immer du hineinwirfst, es wird nimmer reichen.«

Einen Augenblick lang glaubte Jan sich in einem Albtraum, aus dem er gleich erwachen würde. Aber es half auch nicht, dass er sich in den Arm kniff. Dies war kein Traum.

»Und was machen wir jetzt?«

»Zunächst mal müssen wir vorsichtig sein, dass uns keiner sieht. Die sind fähig, dich sofort in den Schuldturm zu stecken.«

Doña Maria

Nur wenige Stunden zuvor, in Santo Domingo auf der Insel Hispaniola, saß Doña Maria Carmen im Garten ihres Hauses im Schatten eines großen Sonnensegels und las Cervantes. Sie versuchte es zumindest, denn bei der Hitze fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren.

Mit Unbehagen dachte sie an den langweiligen Empfang am Abend in den Casas Reales, zu dem sie mit ihrem Gemahl geladen war. Aber jetzt war es erst früher Nachmittag. Noch durfte sie hier in ihrem kleinen Garten verweilen, umgeben vom süßlich betörenden Duft tropischer Pflanzen und Blüten. Bunte Vögel schwirrten zwischen den Zweigen umher, Eidechsen sonnten sich auf den Mauern. Die Pracht und Fülle der Natur auf dieser gesegneten Insel hatten sie vom ersten Tag an verzaubert.

Mit ihrem Fächer versuchte sie, sich ein wenig Kühlung zu verschaffen. Natürlich waren ihr die heißen Sommer ihres heimatlichen Sevilla vertraut, aber nicht diese feuchtschwüle Hitze, die keine Jahreszeiten zu kennen schien. Auf den Feldern ihrer hacienda wehte meist ein angenehmer Wind, aber hier in der Stadt war es unerträglich stickig um diese Tageszeit, weshalb sich niemand ohne Not auf die Straße traute. In der Abgeschiedenheit ihres Hauses durfte sie wenigstens ein leichtes Baumwollgewand tragen, aber ihr graute davor, sich am Abend in die engen Mieder und langen, steifen Röcke zu zwängen, die Mode und Anstand von ihr verlangten.

Santo Domingo, wo sie nun lebte, war kurz nach der Entdeckung der Neuen Welt, vor über hundertvierzig Jahren, die erste Stadtgründung gewesen. Die erste erfolgreiche zumindest, denn ein paar Fehlschläge hatte es zuvor schon gegeben. Von hier aus hatte Rodrigo de Bastidas seine Erforschung der Küsten Kolumbiens und Panamas unternommen, von hier waren Cortez und Pizarro gesegelt, um Mexiko und Peru zu erobern. Auf Hispaniola hatten die ersten Kolonisatoren gesiedelt, die Indianer bezwungen und es nach einigen Anfangsschwierigkeiten zu Wohlstand gebracht.

Zunächst hatten Goldfunde in den Bergen die Gier der Spanier befeuert. Zum Leidwesen Tausender versklavter Indianer, die in den Minen verreckt waren. Wie es überhaupt nur noch wenige ihrer Art auf der Insel gab. Eingeschleppte Krankheiten und brutale Unterdrückung hatten sie dahingerafft. Die meisten Spanier ließ das kalt, für sie waren es nur Wilde. Doch Doña Maria schauderte es bei dem Gedanken. Ein ganzes Volk praktisch ausgelöscht. Sie stellte sich vor, es wäre den Menschen in Spanien so ergangen, einschließlich ihrer eigenen Familie. Wie zu Zeiten der Pest.

Der Goldrausch hatte allerdings nicht lange gewährt. Als Nächstes ließ Europas Hunger nach Zucker große Plantagen in den fruchtbaren Ebenen entstehen. Da es an Arbeitskräften mangelte, begann der Handel mit Afrikanern zu blühen. Bald gab es weit mehr schwarze Sklaven auf Hispaniola als Europäer.

Als die Portugiesen den Markt mit brasilianischem Zucker überschwemmten, verlegten sich viele der Pflanzer auch auf Tabak oder auf die Züchtung gewaltiger Rinderherden im Inneren der Insel. Denn Leder erzielte gute Preise in der Alten Welt, besonders wenn wie jetzt dieser fürchterliche Krieg in Europa herrschte und kein Ende in Sicht war. Auch die Krone war im Augenblick mehr damit beschäftigt, die Protestanten zu bekämpfen, als sich um die fernen Kolonien zu kümmern.

Lange Zeit war Santo Domingo Hauptstadt des sich rasch ausdehnenden spanischen Kolonialreiches gewesen. Und obwohl Orte wie Havanna oder Panama ihr inzwischen den Rang abliefen, war die Stadt immer noch ein wichtiger Verwaltungssitz. Nach modernen, geometrischen Richtlinien angelegt, kreuzten sich ihre Straßen im rechten Winkel, geradlinig wie ein Schachbrett.

An der Flussmündung stand die wuchtige Fortaleza de Ozama, deren Kanonen den lebenswichtigen Hafen sicherten. Diese Festung, nach dem Fluss benannt, hatte den Ruf, uneinnehmbar zu sein, hatte sie doch im Jahre 1586 sogar den Angriffen des berüchtigten Francis Drake widerstanden, El Drake, wie die Spanier ihn nannten, ein Name, mit dem man den Kindern Angst machte, wenn sie nicht gehorchen wollten.

Neben der Festung befand sich der weitläufige Palast der reichen Familie Bastidas, dessen Erbauer nach seinen Erkundungsreisen für das Eintreiben der Zölle verantwortlich gewesen war und sich entsprechend bereichert hatte.

Am gleichen Ufer, etwas weiter nördlich, hatte Diego Colón, Sohn des berühmten Entdeckers der Insel und wie sein Vater ebenfalls Vizekönig von Westindien, einen noch gewaltigeren Palast errichten lassen, den Alcázar de Colón, mit seinen fünfundfünfzig Sälen und Gemächern.

Damals waren ihm und seiner Gattin, einer Frau von hohem adeligen Geblüt, zahlreiche Hofdamen nach Santo Domingo gefolgt, wo sie Residenz in feinen Villen gleich hinter der Festung an der Calle de la Fortaleza bezogen. Diese war dadurch zur elegantesten Straße der Stadt geworden, überhaupt die erste gepflasterte Straße in der Neuen Welt. Und weil die edlen Damen auf dem Weg zur gerade eben fertiggestellten Kathedrale hier gern flanierten und ihren teuren Putz zur Schau stellten, wurde sie bald in Calle de las Damas umbenannt.

Jetzt, mehr als hundert Jahre später, war die Stadt von einer starken Mauer umgeben und von mehreren Forts geschützt, um allen Angriffen von Seeräubern zu widerstehen, zu denen es schon häufig in ihrer kurzen Geschichte gekommen war. Santo Domingo war nach den Verwüstungen durch Drakes Freibeuter wieder gewachsen und hatte erneut seinen Platz als wichtiges Handelszentrum eingenommen. Auf der Hauptgeschäftsstraße, der Calle de Conde, waren Schmuck und kostbares Tuch, Schwerter aus Toledo, feines Olivenöl, spanischer Wein und andere begehrte Waren aus dem Mutterland zu haben. Und immer noch war es ein ganz besonderes Privileg, an der Calle de las Damas ein Haus zu besitzen.

Und eben ein solches Haus war das der jungen Doña Maria. Sie war sich dieses Privilegs durchaus bewusst. Sie genoss die Annehmlichkeiten, die ihr der Reichtum ihres Gemahls bescherte, maß ihnen aber keine übermäßige Bedeutung bei. Was sie dagegen an der Stellung ihres Mannes störte, waren die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die sich nicht vermeiden ließen. Wie der heutige Empfang zu Ehren des frisch ernannten Vizegouverneurs, eines Mannes, den sie nur flüchtig kannte, aber dennoch verabscheute. Der Mensch war Kommandant der kleinen Seestreitmacht der Insel gewesen, ein ehrgeiziger Karriereoffizier, der ihr schon einige Male auf unangenehme Weise schöne Augen gemacht hatte. Nein, auf diesen Empfang hätte sie gern verzichtet.

Doña Maria ließ das Buch auf den Schoß sinken. Consuela, eine Haussklavin und ihre persönliche Magd, war mit einem Tablett in den Garten getreten und stellte es neben ihr ab.

»Etwas Limonade, Señora?«, fragte sie mit einem Lächeln, in dem die schönen Zähne wie der Schnee auf der Sierra Nevada leuchteten. Überhaupt war Consuela ein hübsches Ding, wenn man davon absah, dass sie schwarz wie die Nacht war.

»Danke, Consuela. Ist Don Miguel schon zurück?«

»Nein, Señora. Kann ich sonst noch etwas für die Señora tun?«

»Du kannst Gott um kühleres Wetter bitten«, seufzte Doña Maria. »Mich scheint er nicht erhören zu wollen.«

»Wenn Ihr wollt, opfern wir heute Abend einen Hahn für die Señora. Das beruhigt die Geister.«

»Untersteh dich. Kein afrikanisches Zauberzeug!«

Consuela lachte und lief ins Haus zurück.

Doña Maria trank ein wenig von der Limonade und stellte dann das Glas neben sich auf einen zierlichen Beistelltisch. Seit fünf Jahren war sie nun in der Caribe, und es war ihr immer noch ungewohnt, mit Sklaven umzugehen. Sie sei zu nachgiebig mit ihnen, hieß es, eine feste Hand sei vonnöten. Aber was sollte das sein, eine feste Hand? Musste man schroff sein, sie ständig wie unartige Kinder behandeln, bei jeder Verfehlung bestrafen oder gar auspeitschen lassen? Schlimme Geschichten hatte sie vernommen, wie manche der Pflanzer mit ihren Sklaven umsprangen. Nein, das war nicht ihre Art. Sie mochte ihre afrikanischen Diener, ihre fröhliche Unbekümmertheit, ihre Tänze und Gesänge. Nur ihre dunkle Magie verabscheute sie. Oder war es gar ein wenig Furcht vor diesen Geistern? Ach was, schalt sie sich. Nichts als dummer Aberglaube.

Die Zeilen des Buches tanzten vor ihren Augen. Es war einfach zu heiß zum Lesen. Ein Ausritt auf ihrer Lieblingsstute über die weiten Felder der hacienda wäre ihr jetzt lieber, als in der Stadt zu schwelen. Bald war es Zeit für die Zuckerernte. Täglich würden die Schnitter über mehrere Monate hinweg die unersättliche ingenio füttern, die Zuckermühle ihres Mannes. Dann würde Hochbetrieb auf der hacienda herrschen. Das war viel unterhaltsamer, als ihre Tage untätig in Santo Domingo zu verbringen. Sie mochte das Leben auf der hacienda, sah gern den Schwarzen beim Schneiden des Zuckerrohrs zu oder dem alten Zuckermeister bei seiner komplizierten Arbeit.

Don Miguel, ihr Gemahl, hatte ihr beigebracht, auf was es bei der Verwaltung des Besitzes ankam, und sie versuchte, sich nützlich zu machen. Am Anfang hatten diese Bemühungen ihn eher belustigt. Welche Frau kümmerte sich schon um Männerangelegenheiten? Doch inzwischen nahm er sie ernster und unterstützte sie sogar dabei. Das war eine der vielen guten Eigenschaften ihres Mannes.

Doña Maria war gerade erst vierundzwanzig Jahre alt. Sie entstammte einem ehrwürdigen Adelsgeschlecht, und ihr voller Name war Maria Carmen Isabella Eugenia de Alvarez y Ortega, ein stolzer Name von historischer Bedeutung. Besonders väterlicherseits waren die Alvarez tapfere Ritter gewesen, die sich in vielen Schlachten gegen die Mauren ausgezeichnet hatten. In der Tat ließ sich die Familie bis zu den Kreuzzügen zurückverfolgen.

Vielleicht war das auch der Grund, warum Doña Maria auf die Bemühungen der feinen Gesellschaft von Hispaniola etwas belustigt herabblickte. Denn im Grunde waren es ungehobelte Kolonialisten, die es in einem wilden Land zu etwas Wohlstand gebracht hatten und sich nun bemühten, der Eleganz des königlichen Hofes nachzueifern. Am lächerlichsten dabei waren ihre Gemahlinnen, meist dicke Matronen mit kichernden Töchtern im Gefolge, die sich als große Damen aufführten und mit Schmuck und Seide ihre bäurische Ungeschliffenheit zu verbergen suchten.

Die Abneigung beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit, das konnte sie deutlich spüren. Ihre adelige Herkunft, das reine Kastilisch, das sie sprach, ihre leichte Hand mit den Sklaven – all das rief Misstrauen und Missgunst hervor. Dazu kam, dass Doña Maria eine außergewöhnliche Schönheit war, der die Männer bei jeder Gelegenheit den Hof machten. Wäre sie hässlicher gewesen, hätte man sie gewiss mit mehr Wohlwollen in den Kreis der ersten Damen der Stadt aufgenommen.

Im Grunde gehörte sie gar nicht hierher. Im Grunde hätte sie einen brillanten Edelmann aus guter Familie heiraten sollen, einen mit Aussichten bei Hofe in Madrid oder in der königlichen Verwaltung in Sevilla. Das Elend war nur, dass ihr Zweig der Familie arm war. Ausgerechnet im reichen Sevilla, wo alle sich die Taschen füllten am Handel mit der Neuen Welt, war es ihrem Vater nicht gelungen, den alten Glanz der Familie aufzupolieren. Für die ältere Schwester hatte es noch zu einer bescheidenen Mitgift gereicht. Auch für den Kauf des Offizierspatents ihres Bruders. Der kämpfte jetzt in den fernen deutschen Landen auf der Seite der Habsburger. Nur ihr selbst, der jüngsten der Geschwister, war nichts geblieben als ein erlauchter Name und ihr gutes Aussehen. Daher waren die Eltern nur allzu erfreut und erleichtert gewesen, als ein reicher Pflanzer aus den Kolonien um sie zu werben begonnen hatte.

Don Miguel Garcia Hernandez war nicht adelig, ein Niemand eigentlich. Seine Vorfahren waren einfache Menschen, die sich vor Generationen auf Hispaniola niedergelassen hatten. In Sevilla hätte kaum jemand ihn beachtet – aber er besaß Land, viel Land. Und dazu eine Schar von Sklaven, eine gutgehende Zuckermühle und eine Menge Rinder. Allein diesem Reichtum war es zu verdanken, dass man ihm in Sevilla Zugang zu den guten Kreisen gewährt hatte. Er war vor Jahren Witwer geworden und nach Spanien gekommen, um sich eine Frau zu suchen. Als Mittfünfziger vielleicht schon etwas alt für eine Vermählung, aber mit Geld ließ sich im käuflichen Sevilla immer einiges erreichen. Und da er sein Herz an die junge Maria Carmen de Alvarez verloren hatte, war man sich schnell einig geworden.

Doña Maria wusste nur zu gut, dass man in ihren Kreisen nicht aus Liebe heiratete. Umso glücklicher schätzte sie sich, dass in den Jahren zwischen ihr und ihrem Mann trotz des Altersunterschieds eine innige Verbundenheit entstanden war. Don Miguel war ein gebildeter Mann, der für koloniale Verhältnisse eine große Bibliothek besaß, hervorragend Cembalo spielte, ein elegantes Stadthaus sein Eigen nannte und überhaupt viel Verständnis und Zärtlichkeit für seine junge Frau aufbrachte, die die Freude seiner reifen Jahre war.

Sie dagegen liebte ihn für seine Weisheit und sein freundliches, verständnisvolles Wesen. Sie bewunderte ihn für die Tatkraft, mit der er wie eh und je seine Geschäfte führte, mit Klugheit und einer gewissen, ja, man durfte es wohl so nennen – Gerissenheit. Denn nicht alles, was er unternahm, war im Rahmen der königlichen Gesetze. Aber man war eben Spanier – Gott zuerst, dann die Familie und schließlich der König.

Sie wollte gerade ihre Lektüre fortsetzen, als sie seine Stimme im Haus vernahm und die Begrüßungen der Diener, die herbeigeeilt waren, um ihm den Gehstock und seinen eleganten, breitkrempigen Hut abzunehmen. Gleich darauf trat er in den Garten, immer noch ein stattlicher Mann, dessen langes, welliges Haar und gepflegter Knebelbart – beide inzwischen mehr weiß als grau – in lebhaftem Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut standen.

Lächelnd beugte er sich über seine Frau und küsste sie auf die Wange. »Mi corazón. Ich hoffe, du hast dich nicht gelangweilt.« Mit einem kleinen Seufzer ließ er sich neben ihr nieder.

»Nicht mit Cervantes«, erwiderte Doña Maria, legte das Buch aber nun zur Seite und reichte ihm ihr noch halbvolles Glas mit Limonade. »Hier, du musst durstig sein.« Sie rief Consuela und verlangte nach mehr.

»Und etwas Wein«, ließ ihr Mann verlauten.

»Nein, nein«, widersprach sie ihm. »Nicht in der Hitze. Das tut dir nicht gut.«

Don Miguel leerte das Glas in einem Zug und betrachtete wohlwollend seine junge Frau. Es freute ihn, dass sie sich um ihn sorgte. Hier im Haus trug sie das Haar frei und ungebunden, so, wie er es am liebsten hatte. In langen Flechten fiel es ihr bis weit über den Rücken hinunter. Ihre dunklen Augen ruhten lächelnd auf ihm. Wenn man genau hinsah, war ihr Gesicht nicht ohne Makel. Die schlanke Nase war ein wenig zu lang, der Mund ein wenig zu breit geraten, aber alles in allem war der Eindruck wie immer umwerfend.

»Ich hoffe, du wirst dich heute Abend besonders schön machen«, sagte er.

»Damit mich alle Weiber wieder giftig anstarren?«

»Tun sie das?«

»Am liebsten würden sie mich vor der Kathedrale öffentlich verbrennen. So wie sie es in Spanien mit den Ketzern tun.«

Don Miguel lachte herzlich. »Ich bin sicher, du übertreibst.«

»Sag mir, Miguel, müssen wir heute auf diesen Empfang gehen? Können wir den Abend nicht hier verbringen? Du wolltest mir doch das Stück von diesem Frescobaldi vorspielen.«

Girolamo Frescobaldi war ein italienischer Komponist, dessen Stücke gerade in Mode waren.

»Ich fürchte, querida, das muss warten. Don Alonso hat vor zwei Tagen die Ernennung des Königs zum stellvertretenden Gouverneur erhalten. Das will er bekanntgeben. Es wäre eine unverzeihliche Kränkung, wenn wir nicht erscheinen würden.«

»Wie kann der König diesen aufgeblasenen Emporkömmling zum Vizegouverneur machen?«

Dass der Kerl ihr schon zweimal auf der Calle de Conde unziemliche Avancen gemacht hatte, verschwieg sie. Es hätte Don Miguels Ehre gekränkt, und wer weiß, was aus so etwas entstehen könnte?

»Du hast recht«, sagte er. »Seine Familie ist von niederem Adel und völlig bedeutungslos. Aber er ist ein verdienter Seeoffizier und aufgrund seines Dienstgrades auch Oberbefehlshaber der Garnison, wie du weißt. Bis endgültig ein neuer Gouverneur gefunden ist«

»Aber der Mann ist doch erst seit zwei Jahren auf der Insel. Was versteht der schon von Politik und Verwaltung? Und von Hispaniola? Jedenfalls nicht so viel wie dein Freund Bartolomé Diaz.«

Don Miguel nickte betrübt, als sie ihn an diese Geschichte erinnerte. »Eine Tragödie«, sagte er. »Eine wahre Tragödie.«

Bartolomé Diaz de Balboa war lange Jahre Gouverneur der Insel gewesen. Hatte gut gewirtschaftet, darüber waren sich alle einig. Natürlich hatte er auch so einiges in die eigene Tasche abgezweigt, dazu seinen Neffen, Vettern und Schwiegersöhnen gute Posten zugeschanzt. Aber mein Gott, wer tat das nicht? Und natürlich hatte er beim Schmuggel beide Augen zugedrückt, etwas, das die Krone selbstverständlich missbilligte. Irgendjemand musste ihn bei Hofe angeschwärzt haben. Wie einen Dieb hatten sie ihn in Ketten nach Spanien transportiert, wo er nun auf seinen Prozess wartete.

»Ich vermute mal«, sagte Don Miguel, »dass er Bartolomés unrühmlichen Abgang benutzt hat, um sich bei der königlichen Verwaltung lieb Kind zu machen. Er soll versprochen haben, den Schmugglern das Handwerk zu legen.«

»Ich wette, er selber ist es, der die Anschuldigungen gegen Don Bartolomé in die richtigen Ohren gestreut hat.«

Don Miguels Miene verfinsterte sich noch mehr. »Mag sein. Aber dann verstehst du, warum wir mit dem Mann vorsichtig umgehen müssen.«

Beide wussten, dass das Einkommen der hacienda zu großen Teilen vom Schmuggel abhängig war. Auch anderen Landbesitzern ging es ganz ähnlich. Per Gesetz besaßen die Kaufleute von Sevilla und Cadiz das alleinige Handelsrecht mit den Kolonien. Niemand sonst durfte ihnen auch nur eine Schiffsladung Zucker, Tabak oder Leder abkaufen. So ließ sich einfacher der quinto real einziehen, das berühmte Fünftel, das bei jedem Handel der Krone zustand. Aber Sevilla kam gar nicht nach, den Bedarf der Kolonien zu decken. Und wenn, dann lieferten sie zu überteuerten Preisen. Auch umgekehrt erzielten Zucker und Kuhhäute weit bessere Gewinne in Amsterdam, Brest oder London als bei den spanischen Zwischenhändlern. Die Wahrheit war: Ohne Schmuggel lief gar nichts auf Hispaniola.

»Müssen wir uns Sorgen machen, Miguel?«

Ihr Gemahl zog etwas ratlos die Schultern hoch. Dann grinste er beruhigend. »Es heißt, der Mann habe außer seinem Sold nur wenig an persönlichem Vermögen. Eine kleine Tabakpflanzung, das ist alles. Vielleicht bedarf es nur ein paar der üblichen Gefälligkeiten, du weißt schon, hier und da eine kleine Beteiligung an profitablen Geschäften. Möglich, dass es gar nicht so viel kostet, Don Alonso zu beschwichtigen und seine Wachsamkeit ein wenig einzuschläfern.« Er hob sein Glas und trank ihr augenzwinkernd zu.

Natürlich hatte Don Miguel im Prinzip recht. So liefen die Dinge auf Hispaniola und anderswo in der spanischen Welt. Aber der Empfang später am Abend in den ehrwürdigen Casas Reales verhieß etwas gänzlich anderes, sehr zur Ernüchterung der geladenen Gäste.

Die Casas Reales, im Jahre 1511 in strengem, spanischem Stil errichtet, war ein großes Gebäude und beherbergte zur Hälfte die Amtsräume des Gouverneurs, wo auch der Empfang stattfand. Die andere Hälfte wurde von der Real Audiencia, dem königlichen Gericht, beansprucht, eine Einrichtung, die neben juristischen Aufgaben auch dazu diente, den jeweiligen Gouverneuren auf die Finger zu schauen. Zu diesem Zweck besaßen die Richter sogar das königliche Siegel und konnten eigenständig Edikte erlassen.

Vor dieser ehrwürdigen Kulisse hatte am Abend Don Alonso Calderón de la Higuera, wie er mit vollem Namen hieß, seinen großen Auftritt. Hoch aufgerichtet, mit militärisch durchgedrücktem Kreuz, stand er neben dem Vorsitzenden des Hohen Gerichts, Don Rodrigo de Molina, und hörte zu, wie dieser die Proklamation des Königs verlas, die ihn zum vorübergehenden Gouverneur der Insel ernannte. Höflicher Applaus folgte dem Vortrag.

»Hast du gehört? Nur vorübergehend«, raunte Don Miguel seiner jungen Gemahlin zu.

Ein anderer Pflanzer, der diese Bemerkung gehört hatte, flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Das Verflixte an vorübergehend ist, dass es meist dabei bleibt.«

Der neu ernannte Don Alonso, Mitte dreißig und ein hochgewachsener, hagerer Mann, räusperte sich umständlich und bat um Aufmerksamkeit. Sein Blick glitt über die versammelten Mitglieder der feinen Gesellschaft von Santo Domingo, Landbesitzer, Kaufleute und Kolonialbeamte an der Seite ihrer herausgeputzten Damen.

Sie alle waren etwas steif und pompös in dunklen Farben nach Tradition des spanischen Hofes gekleidet. Die Herren trugen lange Strümpfe und Pumphosen, an den Schultern ausgepolsterte Wämser mit engen Taillen, die den Korpulenteren die Luft zum Atmen nahmen, darüber trugen die meisten breite, weiße Spitzenkragen, denn Halskrausen waren aus der Mode gekommen. Was die Damen betraf, so waren sie in steifen, bis ans Kinn hochgeschlossenen Kleidern erschienen, mit langen Ärmeln und Röcken aus schwerem Tuch. Dazu strenge Hauben, die das Haar versteckten. Alles in allem keine passende Kleidung für tropische Breitengrade. Entsprechend müffelte es in den heiligen Hallen nach dem Schweiß ungewaschener Leiber, nur unzureichend übertüncht von schweren Rosenöl- und Lavendeldüften.

Don Alonso dagegen war in einem schlichten, schenkellangen Offiziersrock erschienen, mit Kniehosen und weißen Strümpfen, ganz als wäre er gerade vom Deck eines Kriegsschiffes Seiner Majestät gestiegen. Im Vergleich zu den Versammelten machte er einen geradezu asketischen Eindruck, so dass man sein Äußeres schon fast als eine Vorankündigung dafür deuten konnte, dass von nun an andere Sitten herrschen würden.

Entsprechend war sein kurzer Vortrag. In Europa herrsche Krieg, sagte er, der König benötige alle verfügbaren Mittel, um die gotteslästerlichen Protestanten zu besiegen. Es gehe deshalb nicht an, dass es immer noch einige auf dieser Insel gebe – hierbei sah er sich mit drohender Miene um – die ihre Treuepflichten gegenüber der allerkatholischsten Majestät von Spanien nicht ernst genug nähmen. Durch rechtswidrigen Handel gingen der Krone jährlich immense Summen verloren. Man habe ihn deshalb beauftragt, mit dem Schmuggel und den Bestechungen von hohen Beamten endlich Schluss zu machen. Und um diesen Zweck zu erfüllen, seien weitere Truppen und Kriegsschiffe unterwegs.

Zu diesen forschen Worten nickte unentwegt der brave Richter Don Rodrigo, obwohl alle wussten, dass auch er gewissen Zuwendungen keinesfalls abgeneigt war. Die anderen Versammelten nahmen die Ansprache mit betretenen Mienen zur Kenntnis. Nur aus den vordersten Reihen ließ sich ein halbherziger Applaus vernehmen, der gleich darauf aber unter verlegenem Hüsteln und Räuspern verstummte.

Livrierte schwarze Diener reichten Erfrischungen, und Don Alonso mischte sich selbstbewusst und mit siegesgewissem Lächeln unter die Gäste. Viele hielten sich zurück, andere preschten vor, um zu gratulieren und sich bei dem neuen Mann einzuschmeicheln. Don Alonso ging von Gruppe zu Gruppe, und nach einer Weile hatte er die Stelle erreicht, wo Don Miguel und seine Frau mit zwei anderen Pflanzerehepaaren plauderten. Den Herren nickte er gönnerhaft zu, und von den Damen küsste er allein Doña Maria die Hand. Dann verneigte er sich höflich vor ihrem Gemahl.

»Ich hoffe, Ihr werdet mich in meinen Bemühungen unterstützen, Don Miguel«, sagte er. »Schließlich seid Ihr einer der bedeutendsten Männer des Landes. Auf Euch hören auch die anderen.«

»Ich werde mich bemühen«, erwiderte Don Miguel etwas steif. »Ich hoffe nur, die neue Strenge wird sich nicht allzu verheerend auf den Wohlstand unserer Insel auswirken.«

Don Alonsos Augen verengten sich. »Wie meint Ihr das?«, fragte er dünnlippig und mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.

Aber Don Miguel achtete nicht darauf, auch nicht auf das Zupfen an seinem Ärmel, mit dem seine Frau ihn zur Zurückhaltung mahnen wollte. Vielleicht war es, weil er sich diesem Ehrgeizling und Habenichts überlegen fühlte, eben weil er selbst schon lange eine gewichtige Stimme in der Gemeinschaft der Insel hatte, doch besonders, weil ihn der hochmütige Ton dieses Kerls geärgert hatte.

»Ich ehre den König wie jeder andere«, sagte er. »Doch was bringt es der Krone, wenn wir hier bald am Hungertuch nagen? Statt mit Kriegsschiffen zu drohen, sollte man lieber das verdammte Monopol von Sevilla brechen. Dann brauchte niemand mehr zu schmuggeln, und es würden auch mehr Steuereinnahmen fließen.« Hitzig deutete er mit dem Finger auf Don Alonsos Brust. »Kümmert Euch lieber um die verdammten Piraten, sage ich.«

Bei diesen Worten war es sehr still im Saal geworden. Aller Augen richteten sich auf die beiden Männer.

»Wollt Ihr etwa andeuten, ich tue nicht meine Pflicht?«, war Don Alonsos scharfe Entgegnung. »Ob es Euch gefällt oder nicht, ich werde den Schmuggel unterbinden.«

Don Miguel lachte auf. »Und wie? Wollt Ihr uns alle einsperren lassen oder unsere Häuser mit Kanonen zusammenschießen?«

Daraufhin wurde der neue Vizegouverneur richtig wütend. Mit rotem Gesicht trat er dicht an Don Miguel heran. »Ich weiß, dass Ihr der größte Halunke unter den Schmugglern seid. Ich kenne die geheimen Buchten, in denen Ihr mit den verdammten Holländern Eure schmutzigen Geschäfte treibt. Aber ich werde Euch erwischen. Und dann gnade Euch Gott!«

Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte in die Mitte des Saals. Aller Augen richteten sich auf ihn, denn offensichtlich hatte er noch etwas zu verkünden.

»Damit es alle wissen«, rief er immer noch voller Zorn und Entschlossenheit. »Mein Vorgänger war viel zu milde mit denen, die Spanien durch diesen verbotenen Handel schaden. Mit Strafzöllen und Beschlagnahmungen ist es nicht länger getan, das schwöre ich. Den nächsten Schmuggler, den wir bei frischer Tat ertappen, werde ich persönlich hängen und seinen Leichnam an der Festungsmauer zur Schau stellen. Als Abschreckung!«

Damit verließ er den Saal. »Das Strafmaß bestimme immer noch ich«, brummelte der Richter Don Rodrigo entrüstet. Aber niemand achtete auf ihn, denn Don Alonsos Worte hatten für große Unruhe gesorgt.

»Was ist nur in dich gefahren?«, zischte Doña Maria ihrem Mann zu. »Jetzt hast du ihn dir zum Feind gemacht.«

»Wenn der es ernst meint, dann ist er unser aller Feind, so oder so.«

Jans Flucht

Die Anlegestelle der Bremer Schlacht war schon gegen Ende des letzten Jahrhunderts befestigt worden. Sie bestand aus einer langen Reihe tief in den Ufergrund gerammter Pfähle. Dahinter hatte man aufgeschüttetes Erdreich festgestampft und bepflastert.

Zwischen zwei Schiffsrümpfen kletterte Jan aus dem Ruderboot und über eine kurze, eiserne Leiter zum Kai hinauf. Es roch wie immer nach fauligem Uferschlick, Tran und Fischabfällen und dem Kot der Lasttiere, die tagsüber das Ladegut zu den Speichern schleppten.

»Seit wann geht es ihm denn so schlecht?« Jan reichte Geerke die Hand, um ihm hochzuhelfen.

Der Alte antwortete nicht, denn er hatte einige Mühe, die Leiter zu erklimmen. Endlich oben, holte er tief Luft und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. In fünfzig Schritt Entfernung brannte eine einsame Laterne, die ihr Licht auf den großen Hebekran warf. Keine Nachtwache zu sehen, nur ein paar Betrunkene, die aus einer Schenke getorkelt kamen. Gegenüber auf dem Wasser lag die Sophie in tiefer Dunkelheit. An Bord schien sich nichts zu regen.

Den Knecht wies Geerke an, sich nicht vom Fleck zu rühren. Sie würden bald wiederkommen. Und vor allen Dingen habe er den Mund zu halten. Niemand sollte wissen, dass die Sophie angekommen war. Zur Belohnung warf er ihm eine Münze zu, die kurz im Mondlicht aufblitzte, bevor der Mann sie fing.

»Los jetzt«, raunte Geerke. »Wir sollten uns beeilen, wenn du deinen Vater noch lebend antreffen willst.« Er hastete voraus, und einige Schritte weiter bog er in eine schmale Gasse ein, die so dunkel war, dass man kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. »Komm, hier entlang. Hier sieht uns keiner.«

Es roch nach Unrat und Urin. Irgendwo über ihnen wurden Läden zugeschlagen. Sie tappten sich im Dunkeln vor, bis Jan auf etwas Weiches trat und gleich darauf jemand schrecklich aufjaulte. Der Kerl stank nach Bier und Kotze. Wahrscheinlich ein Obdachloser, der sich für die Nacht hier eingerichtet hatte. Statt einer Entschuldigung knurrte Jan ihn an, er solle sich verdammt noch mal ins Haus der Seefahrt scheren, statt hier im Wege zu liegen. Dafür bezahle man schließlich. Das Haus der Seefahrt war eine Einrichtung für Bedürftige, die von jeder Schiffsladung einen kleinen Beitrag erhielt, um die Not von kranken oder arbeitslosen Seeleuten zu lindern.

Jan stolperte fluchend hinter Geerke her, der an der nächsten Ecke auf ihn wartete. »Müssen wir unbedingt über die Hinterhöfe schleichen?«, fragte er unwirsch. »Glaubst du wirklich, die warten um diese Uhrzeit vor dem Haus?«

Er konnte es irgendwie noch gar nicht glauben, was Vaters Sekretär ihm da von Gläubigern und Pfändungen erzählt hatte. Geerke antwortete nicht, marschierte nur eilig weiter. Der Alte musste den versteckten Weg schon einige Male gegangen sein, denn trotz der Dunkelheit zögerte er nicht im Gewirr der Gässchen, durch die sie eilten.

»Seit wann geht es ihm denn so schlecht? Du hast mir vorhin nicht geantwortet.«

Geerke blieb stehen. »Hör zu, Jan. Wir müssen den Dingen ins Auge sehen, so schrecklich sie sind. Deinem Vater geht es mehr als schlecht, er liegt im Sterben.«

»Aber so plötzlich?«

»Er ist schon lange krank, auch wenn er versucht hat, das zu verbergen. In letzter Zeit ist es rasch schlimmer geworden. Kein Wunder, wenn du mich fragst. Wollte sich nie schonen. Selbst bei Fieber. Vor einer Woche ist er dann im Kontor zusammengebrochen, kam nicht mehr auf die Beine.«

»Habt ihr den Arzt gerufen?«

»Natürlich. Doktor Lukas. Du kennst ihn doch.«

»Und?«

»Ich versteh das Kauderwelsch der Ärzte nicht. Irgendwas von Körpersäften und schwarzer Galle. Täglich hat er ihm Blut abgenommen, aber geholfen hat’s nicht. Nur noch Fisch sollte dein Vater essen. Und ungesalzene Suppe. Aber der kriegt seit einer Woche überhaupt keinen Bissen mehr runter. Sagt, die Eingeweide brennen ihm so schlimm wie das Höllenfeuer. Tut mir leid, Jan.«

Geerke wandte sich ab und nahm den Weg wieder auf. Jan folgte ihm. »Leidet er sehr?«

»Doktor Lukas hat ihm Laudanum verordnet, und die Köchin flößt ihm davon wie befohlen alle paar Stunden ein. Seitdem ist er ruhiger.«

»Es geht ihm also besser?«, fragte Jan hoffnungsvoll.

Geerke schüttelte den Kopf. »Den Schmerz scheint es zu lindern, aber jetzt regt er sich fast gar nicht mehr, dämmert nur noch dahin. Manchmal meint man, er habe ganz aufgehört zu atmen. Dann plötzlich röchelt er wieder. Glaub mir, es geht zu Ende mit ihm. Der Arzt sagt, er könne nichts mehr tun.«

Jan war wie benommen. Ein Gefühl der Trostlosigkeit hatte ihn erfasst. Erst war die Mutter von ihnen gegangen, dann sein Bruder Thomas während der großen Flutkatastrophe im letzten Jahr. Da hatte halb Nordfriesland unter Wasser gestanden. Ganze Küstengebiete waren verlorengegangen, Inseln auseinandergebrochen, zum Teil im Meer versunken. Zehntausende hatten in den Fluten den Tod gefunden. Auch an die fünfzigtausend Stück Vieh waren elendig ersoffen. Eine fürchterliche Strafe Gottes und ein unglaublicher Schaden. Auch für die van Hagens, die dort zuvor Getreideland aufgekauft hatten, um billiger an den Rohstoff für ihr Bier zu kommen. Jetzt war der Boden auf Generationen versalzen. Thomas hatte die ganze Nacht mit vielen anderen verbissen gekämpft, um den kostbaren Besitz vor der Flut zu retten. Als der sturmgepeitschte Deich dann schließlich gebrochen war, hatte es ihn mitgerissen. Nicht einmal seine Leiche war auffindbar gewesen.

»Aber wenn Vater stirbt«, murmelte Jan, »dann musst du mir helfen, die Geschäfte weiterzuführen. Er hat mich in nichts eingeweiht.«

»Da ist nichts mehr da, was man weiterführen könnte«, brummte Geerke bitter.

Jan schluckte schwer. Nichts mehr da vom ehrwürdigen Handelshaus van Hagen? Das konnte doch nicht wahr sein. Geerke musste sich irren.

Der Alte öffnete eine kleine Pforte, deren rostige Angeln unangenehm kreischten. Sie traten hindurch, schlichen sich durch einen Küchengarten, öffneten eine zweite Pforte, gingen an einem Abort vorbei und dann in einen dunklen Hof. Plötzlich erkannte Jan, dass sie vor der Hintertür seines Elternhauses standen. Seltsam, dass er den Weg nicht gleich erkannt hatte.

Sie fanden Willem van Hagen im Schlafzimmer der Eltern, ein Ort, den Jan nur selten zuvor betreten hatte. Der Sterbende lag auf einem Berg von Kissen, denn man hatte versucht, es ihm so bequem wie möglich zu machen. Eine Kerze brannte auf dem Nachttisch. In der gediegenen, aber streng eingerichteten Kammer herrschte ein Mief nach Siechtum, als habe man tagelang die Fensterläden nicht geöffnet. Wiebke, die Köchin, stand am Bett und wischte sich verlegen die Hände an der Schürze ab.

»Ich glaube, er schläft«, sagte sie.

»Gut. Geh jetzt«, befahl Geerke.

Jan trat an das hohe, mit vier Pfosten und einem Baldachin versehene Bett und ließ sich vorsichtig auf der Kante nieder. Das Antlitz seines Vaters hatte etwas Skelettartiges. Er war erschreckend abgemagert. Weiße Bartstoppeln bedeckten die fahlen, eingefallenen Wangen. Jan erinnerte sich, dass er ihm auch schon vor seiner Reise magerer als sonst vorgekommen war, dass er sich gebeugt und schlurfend durchs Haus bewegt hatte. Doch nie hatte er über irgendetwas geklagt, hatte immer seine Arbeit im Kontor erledigt. Nun plötzlich schien da ein ausgelaugter Greis vor ihm zu liegen. Dabei war Vater noch gar nicht so alt. Was immer seine Krankheit sein mochte, sie hatte den einst großen, kräftigen Leib ausgezehrt, sämtliches Fleisch von den Knochen gebrannt und nichts als eine zerbrechliche Hülle hinterlassen.

Jan beugte sich vor und näherte sein Ohr dem halboffenen Mund des Sterbenden. »Glaubst du, er atmet noch?«, fragte er erschrocken.

Geerke nahm einen kleinen Spiegel vom Nachttisch und hielt ihn dem Vater vor den Mund. Der Spiegel begann, leicht zu beschlagen. Geerke nickte und zeigte es Jan.

»Er atmet. Aber so geht das schon seit gestern«, sagte er. »Ich glaube, er will nicht sterben, weil er auf dich gewartet hat.«

Jan saß still da und starrte lange ins Gesicht seines Vaters. Er versuchte, ihn im Geiste wieder lebendig werden zu lassen, so wie er einst gewesen war. Ein tatkräftiger, strenger Herr, der ihn zwar nie geschlagen, aber vor dem er sich doch immer etwas gefürchtet hatte. Sein Bruder Thomas hatte in allem dem Vater nachgeeifert, war ein guter Schüler gewesen, hatte ganze Bibelpassagen hersagen können, war auch Geerke früh im Kontor und im Speicher zur Hand gegangen.

Jan dagegen war ein verspielter Junge gewesen, voller Fantasien und verrückter Einfälle, hatte Dummheiten gemacht, sich mit den falschen Jungs herumgetrieben und immer wieder den Zorn des Vaters auf sich gezogen. Wenn er erwischt wurde, hatte er niederknien und Gott um Verzeihung bitten müssen. Als Strafe hatte Vater tagelang nicht mit ihm gesprochen. Das war das Schlimmste für ihn gewesen, denn trotz allem hatte Jan seinen Vater geliebt. Ein Lächeln, eine sanfte Berührung, und es war der Himmel auf Erden. Ja, Willem van Hagen hatte auf seine Art Menschen für sich gewinnen können, auch seine Söhne. Aber nun lag er da, am Ende seines Weges, kaum noch wiederzuerkennen, ein Skelett fast schon.

Mit feuchten Augen ergriff Jan die welke Hand, die auf der Bettdecke lag, beugte sich vor und küsste sie. Da flogen die Augen des Sterbenden auf, blinkten ein wenig, als könnten sie das Licht der Kerze nicht ertragen, und richteten sich dann langsam auf den Sohn. Die Lippen formten sich zu einem Flüstern.

Jan beugte sich vor. »Was ist, Vater?«

»Du bist gekommen«, hörte er jetzt deutlicher.

Gleich darauf verzog sich das Gesicht vor Schmerzen, aber nur einen Augenblick lang, wie ein kurzer Krampf, der wieder verging. Jan war versucht, seinen Vater zu beruhigen, dass es ihm bestimmt bald bessergehen würde, aber es hätte wie Hohn geklungen. Stattdessen drückte er ihm innig die Hand.

»Ja, Vater. Ich bin hier.«

Willem van Hagen öffnete den Mund, doch es fiel ihm sichtlich schwer, einen Ton hervorzubringen. »Du bist wie deine Mutter, Jan«, flüsterte er schließlich nach mehreren Anläufen. »Warst immer mein Liebling.«

Er schaffte sogar den Hauch eines Lächelns. Dann schloss er wieder die Augen. Die Worte schienen ihn erschöpft zu haben. Seine Hand aber erwiderte sanft den Händedruck des Sohnes.

Jan war tief betroffen. Sein Liebling? Hatte er richtig gehört? Dabei war doch Thomas sein Liebling gewesen. Das hatte er jedenfalls immer angenommen. Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von der Wange. Vater würde ihn doch wohl nicht belügen? Nicht auf dem Sterbebett. Er wollte ihm etwas sagen, aber es fehlten ihm die Worte.

Wieder gab Willem einen Laut von sich. »Es tut mir leid«, glaubte Jan zu hören. »Es tut mir leid.«

»Was tut dir leid, Vater?«

Aber Willem antwortete nicht, warf nur einen verschleierten Blick zu Geerke hinüber auf der anderen Seite des Bettes und nickte unmerklich mit dem Kopf. Dann schloss er die Lider, und ein Zittern ging durch seinen Leib. Aber immer noch hing er am Leben fest, denn Jan spürte weiterhin seinen Händedruck, als wollte er sich an ihm festhalten.

Der alte Geerke hatte Willems Blick als Aufforderung verstanden, alles zu erklären. »Der verdammte Krieg dauert nun schon siebzehn Jahre, wie du weißt«, sagte er. »Mal haben die Katholischen die Oberhand, mal wir Protestanten. Dann hat der verdammte Dänenherzog alles verloren, und es hätte nicht viel gefehlt und Wallenstein hätte sogar Bremen belagert. Zuletzt haben die Schweden eingegriffen und die Katholischen vor sich hergetrieben. Aber was rede ich, das weißt du ja alles selber.«

»Gustav Adolf ist aber inzwischen tot. Ich sehe nicht, was das mit uns zu tun hat.«

»Ja, Gustav Adolf ist tot. Aber die Schweden waren ja noch keinesfalls besiegt, im Gegenteil. Der Herzog von Sachsen-Weimar war einer ihrer siegreichen Feldherrn. Und der brauchte Nachschub, Ausrüstung für seine Männer, Waffen, Kanonen. Eine gute Gelegenheit, viel Geld zu verdienen.«

Jan ahnte fast, was da kommen würde. »Ihr habt euch auf Kriegsgeschäfte eingelassen?« Er warf einen Blick auf Vaters Gesicht, aber da war keine Regung zu erkennen.

»Die Flutkatastrophe im letzten Jahr hatte uns fast das Genick gebrochen. Du weißt es selbst«, erwiderte Geerke. »Das Land hatte dein Vater zum Teil mit Darlehen gekauft. Nun war es unbrauchbar geworden. Ein großer Lieferauftrag für den Herzog hätte uns aus allem retten können. Der Mann war doch ein erfolgreicher Feldherr. Ein gutes Geschäft also. Dein Vater lieh sich nochmals Geld, allerdings zu horrenden Zinsen.«

Jan starrte ihn an. »Aber euer glorreicher Herzog ist geschlagen worden, sein Heer vernichtet. In Riga habe ich davon gehört.«

Geerke fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Eben«, sagte er leise. »Wir hatten vertragsgemäß geliefert, aber das Geld, das ist jetzt verloren. Nur mit Not ist der Herzog selbst nach Straßburg entkommen, und sein Land in Württemberg, das plündern die Katholischen. Da ist nichts mehr zu holen. Und nun ist es zu spät. Für deinen Vater ohnehin. Und dich werden sie in den Schuldturm stecken.«

»Wieso mich? Ich habe doch gar nichts damit zu tun.«

»Du hast im Namen deines Vaters Geschäfte betrieben, bist sein Erbe und Miteigentümer. Damit hängst du drin.«

In Jan stieg der Zorn hoch. »Aber wie konntet ihr ein solches Wagnis auf euch nehmen, euch so verschulden? Gerade du, Geerke, hättest es besser wissen müssen.«

Der aber zuckte mit den Schultern. »Dein Vater wollte dir ein ordentliches Erbe hinterlassen, deiner Hochzeit mit Greetje nicht im Wege stehen.« Er seufzte. »Es ist, wie es ist. Man kann es nicht mehr ändern. Die Katrine ist bereits gepfändet, auch das Warenlager und die Brauerei. Um das Haus wird noch gestritten, aber wenn sie die Sophie hier entdecken, ist auch sie verloren.«

Jan starrte ihn an. »Herr im Himmel«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Herr im Himmel!«

Mehr fiel ihm im Augenblick nicht ein. Nie hätte er sich so etwas träumen lassen. War er denn blind gewesen? Hätte er es kommen sehen müssen? Vielleicht hätte er sich mehr in Vaters Geschäfte einmischen sollen, statt zu seinem Vergnügen auf den Meeren herumzuschippern.

»Und jetzt?«, stieß er hervor.

Geerke seufzte noch einmal schwer, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »War deine Reise wenigstens erfolgreich?«

Als habe das noch irgendeine verdammte Bedeutung. Trotzdem zählte Jan auf, was er geladen hatte, und erwähnte auch das Geld, das er gehofft hatte, dem Vater zu übergeben.

Geerke nickte befriedigt. »Das ist gut, Jan. Wenigstens etwas. Jetzt ist nur noch eines wichtig. Du und dein Schiff, ihr müsst euch in Sicherheit bringen.«

»Aber das wäre doch Diebstahl. Wenn die Pfändungen rechtmäßig sind.«

»Das sind sie. Leider. Aber was soll’s? Du hast ein gutes Schiff, eine Mannschaft, wertvolle Ladung unter Deck und etwas Geld obendrein. Mach, dass du davonkommst. Jetzt sofort.«

Jan runzelte die Stirn. »Aber ich kann doch Vater nicht allein lassen. Und außerdem, ich könnte mich dann nie mehr in Bremen blicken lassen.«

Plötzlich hörte er Willem stöhnen. Erschrocken sah er ihn an. Der Sterbende hatte zitternd und mit großer Mühe den Kopf gehoben und heftete einen wilden Blick auf seinen Sohn. »Geh, Jan!«, krächzte er. »Weg von hier. So weit du kannst.« Dann fiel sein Kopf auf die Kissen zurück, und er lag da wie tot. Aber er war nicht tot, denn seine Brust hob und senkte sich immer noch, wenn auch nur ganz leicht. Jan war verwirrt. Was sollte er tun? Sein ganzes Leben schien plötzlich aus den Fugen geraten zu sein.

Es war lange still, bis Geerke sich umständlich räusperte. »Dein Vater und ich haben nachgedacht. Die alte Hanse ist zwar nichts mehr wert, aber wenn es darum geht, jemanden zu verfolgen, dann hat sie immer noch einen langen Arm. Ost- und Nordsee solltest du deshalb meiden. Aber in der Neuen Welt ist das was anderes.«

»In der Neuen Welt?«

»Westindien, Virginia, Brasilien. Die brauchen doch Waren aus Europa. Und natürlich umgekehrt. Zucker, Indigo, Häute, Tabak. Das ist die Zukunft, mien Jung. Dagegen ist der Ostseehandel nichts.«

»Aber die Spanier verbieten den Handel mit ihren Kolonien. Und die Engländer auch.«

»Gerade deswegen kann ein gewiefter Händler ein Vermögen machen. Man muss die Kontrollen umgehen.«

Jan hob die Brauen. »Ich soll schmuggeln?«

Dass der alte Geerke ihm einen solchen Vorschlag machen würde, hätte er nie im Leben für möglich gehalten. Und dann auch noch in Abstimmung mit seinem Vater, dem Abbild protestantischer Rechtschaffenheit.

»Die Holländer haben da drüben ihre Finger ganz dick im Geschäft«, fuhr Geerke fort, auf ihn einzureden. »Sie liegen im Krieg mit Spanien, wie du weißt. Vor sieben Jahren hat ihre Westindien-Kompanie bei Kuba die spanische Silberflotte gekapert. Ein gewaltiges Vermögen, sag ich dir. Dann sind sie nach Brasilien und haben den Portugiesen Olinda entrissen und das ganze Umland dazu samt den Zuckerrohrplantagen. Und letztes Jahr die Salzstrände von Curaçao. Du weißt, wie wichtig Salz ist. Mit den spanischen Inseln treiben sie einen florierenden Schmuggelhandel. Ihre Waren aus Indien und aus der Neuen Welt verkaufen sie in ganz Europa. Kein Wunder, dass Amsterdam die reichste Stadt der Welt geworden ist.«

»Aber was hat das alles mit mir zu tun?«

»Da fragst du noch? Du bist Händler. Du hast ein Schiff. Ich sage dir, was die Holländer können, das kannst du auch. Dein Vater möchte, dass du nach Amsterdam segelst und seinen alten Handelspartner aufsuchst. Cornelis van Doorn. Der wird dir helfen. Ich habe schon einen Brief an ihn aufgesetzt. Mach Amsterdam zu deinem Umschlagplatz. Die Stadt gehört nicht zur Hanse. Es kann dich dort also niemand festnehmen, hörst du?«

Er fasste in sein Wams und zog ein versiegeltes Schreiben hervor. Jan steckte es ein, ohne hinzusehen.

»Du meinst, ich soll so mir nichts, dir nichts?«

»Ja, sofort. Es hat keinen Zweck, lange darüber zu grübeln. Es eilt. Wenn du nicht in den Schuldturm willst, musst du gleich los. Eigentlich hätte ich dich gar nicht an Land lassen dürfen.«

»Aber«

»Keine Sorge. Ich kümmere mich um alles. Dein Vater stirbt so oder so. Wir können es nicht ändern. Und er hat seinen Frieden damit gemacht. Ihm können sie nichts mehr antun. Aber du sollst nicht für seine Fehler büßen. Das ist ihm das Wichtigste.« Geerke erhob sich. »Mach dir keine Sorgen um uns. Es ist noch etwas Geld im Haus. Das reicht für eine Beerdigung. Und ich komme bei meiner Schwester unter. Ich habe über die Jahre gespart. Für ein bescheidenes Leben langt es.«