Der eiserne Herzog - Ulf Schiewe - E-Book

Der eiserne Herzog E-Book

Ulf Schiewe

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Beschreibung

Die Krone Englands - und zwei Männer, die um sie kämpfen


Nur dank der Hilfe einiger weniger Getreuer konnte Guilhem als Kind die Verfolgung durch seine Widersacher überleben. Doch er hat sich durchgekämpft und als Herzog der Normandie behauptet. Als es ihm gelingt, den letzten Widerstand zu brechen, und sein Werben um die schöne Matilda erfolgreich ist, scheint er am Ziel all seiner Träume zu sein. Erst recht, als sein Onkel, König Eadweard von England, ihn überraschend zum Thronerben erklärt. Englands Krone - wer würde das ablehnen? Matilda aber hat größte Bedenken, denn Guilhem hat einen mächtigen Gegner: Harold Godwinson, dessen Familie ebenfalls Anspruch auf den Thron erhebt ...


England am Vorabend der berühmten Schlacht von Hastings - Ulf Schiewes neuer Roman macht Geschichte lebendig


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Seitenzahl: 745

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumAlte OrtsnamenDie PersonenBuch I – AD 1049–1053 – MachtkämpfeMatilda von FlandernDer ungestüme WerberDie Belagerung von BrionnaDie DorneninselEin Bote aus der NormandieDer Rat der WeisenDer Hammer von AnjouVorfall in DoverMachtkampfBuch II – AD 1064–1065 – Der SchwurSchiffbruchHarold und GuilhemDer StreitDer SchwurAufstand im NordenDer Tod des KönigsBuch III – AD 1066– Die EntscheidungSchwurbruchDer Brennende SternDie tosende SeeDie Küste von SussexEaldgythDie SchlachtAnmerkungen des Autors

ÜBER DAS BUCH

Die Krone Englands – und zwei Männer, die um sie kämpfen

Nur dank der Hilfe einiger weniger Getreuer konnte Guilhem als Kind die Verfolgung durch seine Widersacher überleben. Doch er hat sich durchgekämpft und als Herzog der Normandie behauptet. Als es ihm gelingt, den letzten Widerstand zu brechen, und sein Werben um die schöne Matilda erfolgreich ist, scheint er am Ziel all seiner Träume zu sein. Erst recht, als sein Onkel, König Eadweard von England, ihn überraschend zum Thronerben erklärt. Englands Krone – wer würde das ablehnen? Matilda aber hat größte Bedenken, denn Guilhem hat einen mächtigen Gegner: Harold Godwinson, dessen Familie ebenfalls Anspruch auf den Thron erhebt …

England am Vorabend der berühmten Schlacht von Hastings – Ulf Schiewes neuer Roman macht Geschichte lebendig

ÜBER DEN AUTOR

Ulf Schiewe wurde 1947 im Weserbergland geboren und wuchs in Münster auf. Er arbeitete lange als Software-Entwickler und Marketingmanager in führenden Positionen bei internationalen Unternehmen und lebte über zwanzig Jahre im Ausland, unter anderem in der französischen Schweiz, in Paris, Brasilien, Belgien und Schweden. Schon als Kind war Ulf Schiewe ein begeisterter Leser, zum Schreiben fand er mit Ende 50.

www.ulfschiewe.de

ULF SCHIEWE

DER EISERNE

HERZOG

HISTORISCHERROMAN

LÜBBE

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch-Download erschienen

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Karte: Markus Weber, Guter Punkt, München

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Umschlagmotiv: © liubov/stock.adobe.com; Vector Tradition/stock.adobe.com; damiurg/stock.adobe.com; thomas owen/stock.adobe.com; thomas owen/stock.adobe.com; Leoniek van der Vliet/stock.adobe.com; Cameo/stock.adobe.com; jessicahyde/stock.adobe.com

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2834-8

luebbe.de

lesejury.de

ALTE ORTSNAMEN

Ich habe in diesem Roman so weit wie möglich die damals üblichen Ortsnamen verwendet. Die heutigen, modernen Namen scheinen mir nicht so recht zu den Geschehnissen im 11. Jahrhundert zu passen.

Abbevila

Abbeville (Stadt im Département Somme)

Bebbanburg

Bamburgh (Stadt im Norden Englands)

Brionna

Brionne (Stadt in der Normandie)

Brugis

Brügge (Stadt in Belgien)

Cantwaraburg

Canterbury (Ort in Kent)

Cornwalum

Cornwall

Diva

Dives (Fluss in der Normandie)

Dubhlinn

Dublin

Englaland

England

Gleawecestre

Gloucester (nahe der walisischen Grenze)

Hamvic

Southhampton

Hæstingacestre

Hastings (in Sussex)

Hunefleth

Honfleur (Hafenstadt in der Normandie)

Jorvik

York

Juliobona

Lillebonne (im Département Seine-Maritime)

Lemanes

Le Mans (Ort in Frankreich)

Leuconay

Saint-Valery-sur-Somme (an der Somme-Mündung)

Lundene

London

Kaem

Caen (Stadt in der Normandie)

Kouenon

Fluss in der Bretagne

Northantone

Northhampton (in den Midlands)

Pefensea

Pevensey (Ort an der Küste von Sussex)

Sandvice

Sandwich

Soluente

der Solent

Temes

River Themse

Tinan

River Tyne

Tolca

Touques (Fluss in der Normandie)

Torneie

Thorney Island, Dorneninsel, Westminster

Wadeherst

Wadhurst (Ort in Sussex)

Whit

Isle of Wight

Wintanceaster

Winchester (Ort in Hampshire)

DIE PERSONEN

Die mit (*) gekennzeichneten Personen sind fiktiv, alle anderen sind historisch.

Ich habe in diesem Roman so weit wie möglich die alten historischen Namen der Personen verwendet. Zum Beispiel Eadweard statt modern Edward, Guilhem statt Guillaume oder William. Drei für den Roman wichtige Frauen hießen eigentlich alle Ealdgyth oder, wie heute, Edith. Um Verwirrung zu vermeiden, habe ich die Königin Edythe genannt (eine ebenfalls alte Form des Namens), Harolds Frau ist Ealdgyth geblieben, und Harolds zweite Frau habe ich Aldgyth genannt, eine weitere alte Variante des Namens.

Normandie

DIE FAMILIE

Guilhem

Herzog der Normandie, wurde mit sieben Jahren Halbwaise

Matilda

seine Gemahlin, Tochter des Grafen Baldowin von Flandern und der Adela von Frankreich

Baldowin

Graf von Flandern, Matildas Vater

Adela von Frankreich

Gräfin von Flandern, Matildas Mutter, Schwester König Henris von Frankreich, in erster Ehe mit Herzog Richard der Normandie (Guilhems Onkel) verheiratet

Baldowin

Matildas Bruder

Robert

erstgeborener Sohn des Herzogspaars der Normandie. Insgesamt hatten sie zehn Kinder (vier Söhne und sechs Töchter). Robert wurde später Herzog der Normandie, William Rufus und Henry nacheinander Könige von England.

Odo

Guilhems Halbbruder und Bischof von Bayeux

Robert

Guilhems Halbbruder und Graf von Mortain

Herleva

Guilhems Mutter, Tochter eines Gerbers aus Falaise und Geliebte von Herzog Robert I.

Herluin

Herlevas späterer Ehemann und Vater von Guilhems Halbbrüdern Robert und Odo

Robert I.

Guilhems Vater und Herzog der Normandie, verstarb während einer Pilgerreise nach Jerusalem

Richard II.

Guilhems Onkel und Herzog vor seinem Bruder Robert I., war vor seinem frühen Tod mit Adela von Frankreich verheiratet

DIE GEFÄHRTEN UND ANFÜHRER

Bertran d’Arques*

Anführer der herzoglichen Leibwache

Guille fitz Osbern

Guilhems Kindheits- und Jugendfreund, später Earl of Hereford

Roger de Mongomery

Seigneur de Montgomery, später Earl of Shrewsbury and Arundel

Gauthier Giffard

Seigneur de Longueville, später Baron of Long Crendon

Raoul de Tosny

Seigneur de Tosny, später Lord of Flamstead und anderer Besitzungen

Robert d’Eu

Graf von Eu, später Lord of Hastings Castle

Eustache

Graf von Boulogne

Alan Rufus

bretonischer Anführer, später 1st Lord of Richmond

Guy

Graf von Ponthieu

ANDERE

König Henri

König von Frankreich, Gräfin Adelas Bruder und Matildas Onkel, Guilhems offizieller Lehnsherr

Geoffroy Martel

Graf von Anjou und Widersacher Guilhems

Pater Guillelmus

Guilhems Kaplan

Robert de Jumièges

Abt von Jumièges, später Erzbischof von Canterbury

Grimoald

Seigneur de Saint Plessis, einer der Rebellen, versuchte während der Aufstände, Guilhem zu ermorden

Onfroy*

Grimoalds Sohn

Robert fitz Wimarc

normannischer Truchsess am englischen Hof König Eadweards

Guy von Brionna

Seigneur de Brionne, Anführer der Rebellen gegen Guilhem

Hild*

eigentlich Eoforhild, Sklavin, ursprünglich aus Nordumbria und persönliche Magd der Herzogin

Henrik*

Sohn eines Kaufmanns

Jehan*

Guilhems Steuermann der Mora

Josse*

Fischerjunge

Brun*

Fischer

England

EADWEARDS FAMILIE

König Eadweard

Sohn König Æthelreds und Emma der Normandie. Als Æthelred starb und der Däne Knut England eroberte, wurden Eadweard (13), seine Schwester Goda (12) und sein Bruder Alfred (11) zum Schutz an den Hof ihrer normannischen Verwandten geschickt, während die Mutter Emma in England blieb und Knut ehelichte. Eadweard verbrachte sechsundzwanzig Jahre in der Normandie, bevor er den englischen Thron bestieg.

Königin Edythe

Eadweards Gemahlin, Earl Godwins Tochter und Schwester der Godwin-Geschwister Swein, Harold, Tostig und andere

Emma der Normandie

König Eadweards Mutter, selbst zweimal Königin von England durch Heirat mit Æthelred und Knut

Alfred

Eadweards Bruder, wurde bei seiner Landung in England ermordet

Goda

Eadweards Schwester, heiratete Drogo de Mantes in erster Ehe, dann Eustache de Boulogne in zweiter Ehe

Hartheknut

Eadweards Halbbruder durch Emma und bis zu seinem frühen Tod vorübergehend König von England

HAROLDS FAMILIE

Harold Godwinson

Earl Godwins zweiter Sohn, späterer Erbe der Besitzungen und Titel der Godwin-Familie, König von England

Ealdgyth

Harolds Ehefrau nach dänischer Art, also nicht christlich getraut, genannt Swann hnesce (sanfter Schwan). Sie gebar ihrem Mann sechs Kinder.

Godwin

Harolds ältester Sohn, weitere Geschwister sind Eadmund, Magnus, Gunhild, Githa und Ulf

Aldgyth von Mercia

Witwe des walisischen Königs Gruffydd ap Llywelyn, heiratete 1066 in zweiter Ehe Harold Godwinson und wurde dadurch für kurze Zeit Königin. Sie gebar Harold einen Sohn (ebenfalls Harold genannt), der zur Sicherheit nach Norwegen geschickt wurde.

Earl Godwin

Earl von Wessex und Stammvater der Godwins, Vasall König Knuts und später Königmacher Eadweards, mächtigster Earl Englands

Githa

Godwins dänische Gemahlin und Stammmutter der Godwins. Sie schenkte ihrem Mann zehn Kinder.

Swein Godwinson

Harolds ältester Bruder, Earl diverser Grafschaften

Tostig Godwinson

Harolds Bruder, Earl von Nordumbria

Leofwine Godwinson

Harolds Bruder, Earl von Kent und Essex

Gyrth Godwinson

Harolds Bruder, Earl von Middlesex

Wulfnoth Godwinson

Harolds Bruder, Geisel in der Normandie

Hakon Sweinson

Sweins Sohn, Geisel in der Normandie

ANDERE

Knut

König von Dänemark und England, heiratete in zweiter Ehe Emma der Normandie und hatte mit ihr zwei Kinder: Harthaknut und Gunhilda

Leofric

mächtiger Earl der Grafschaft Mercia, Großvater von Eadwine und Morcar

Siward

Earl von Nordumbria, bevor die Grafschaft an Tostig ging

Eadwine

Earl von Mercia, Leofrics Enkel und Harolds Schwager durch die Heirat seiner Schwester Aldgyth

Morcar

Eadwines Bruder und Earl von Nordumbria nach Tostig und Harolds Schwager

Stigand

Erzbischof von Canterbury nach Robert de Jumièges

Cynesige

Erzbischof von Jorvik

Cenric*

Anführer von Harolds Leibwache

Gospatric

Earl von Cumbria

Godric*

Earl von Babbanburg

Æthelric*

Anführer von Ealdgyths Leibwache

Wigberht*

einer von Harolds Kommandanten

Hrodulf*

einer von Harolds Kommandanten

Eardwulf*

Kommandant von Dover Castle

Eadric*

Harolds Bote unter weißer Flagge

Osgar*

Harolds Schiffsführer

BUCH I

AD 1049–1053

MACHTKÄMPFE

MATILDA VON FLANDERN

Flandern, Dezember 1049

Kurz nach Mitternacht beginnt ein heftiger Wind, die Kronen der Bäume durchzuschütteln, und nimmt in den folgenden Stunden immer mehr zu. Die eiskalten Luftmassen bringen Schnee aus dem Nordosten und begraben Flandern unter einer weißen Decke. Die flache Küstenlandschaft bietet den Elementen wenig Widerstand. So fährt der Sturm heulend über Wiesen und Felder, lässt Bäche und Brunnen zufrieren, bringt noch mehr Schnee, wirbelt ihn hier und da hoch und sorgt für Verwehungen an Hecken und Bauernkaten.

Jetzt, im fahlen Licht des Nachmittags, sind die Wege kaum noch auszumachen. Wenn man überhaupt weiter als dreißig Schritt sehen kann. Einen solchen Schneesturm hat es seit Menschengedenken nicht mehr gegeben. Niemand wagt sich vor die Tür. Und wenn, dann dick vermummt und nur, um ein paar verstreute Tiere in den Stall zu holen, bevor sie erfrieren. Ansonsten hockt man vor dem heimischen Feuer und hofft, dass der Sturm nicht das Dach wegreißt.

Ausgerechnet in diesem Wetter ist ein Trupp Reiter unterwegs. Trotz ihrer dicken Pelze und wollenen Umhänge sind die Männer bis auf die Knochen durchgefroren, die Gesichter rot vom scharfen Wind, die Finger in den Handschuhen so steif, dass sie kaum noch die Zügel halten können. Auch die Tiere leiden. Keuchend kämpfen sie gegen den Sturm an, stapfen durch Schneeverwehungen und stolpern über gefrorene Radfurchen. Endlich erreichen die Reiter den Schutz eines kleinen Waldes und halten an, um ein wenig Wärme in die steifen Finger zu hauchen.

»Verflucht!«, brüllt einer laut genug, um das Heulen in den Bäumen zu übertönen. »Wir hätten einen Tag oder zwei abwarten sollen.« Er klopft den Schnee von seinem Umhang, ein nutzloses Unterfangen.

Ein Zweiter zieht den Handschuh von der Rechten, reibt sich über die vom Wind geröteten Wangen. »Nicht mal einen Köter jagt man bei dem Wetter vor die Tür.«

»Schluss mit Jammern!«, fährt ein junger Mann auf einem kräftigen Grauschimmel sie an. Der pelzbesetzte Umhang, in den er gehüllt ist, betont seine breitschultrige Gestalt. Um den Hals ist ein dicker Wollschal gewickelt, der sein Kinn bedeckt. Unter dem Normannenhelm mit dem breiten Nasenschutz ist von seinem Gesicht wenig zu erkennen, aber die Autorität in der Stimme ist unverkennbar. »Ein bisschen Wind und Schnee, und ihr wollt euch verkriechen. Ausgerechnet du, Robert! Du hältst dich doch immer für den Härtesten.«

Der so Gerügte wirft ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Sieh dich doch an, Guilhem! Wie ein verdammter Schneemann siehst du aus! Fehlt nicht viel, und dir wachsen Eiszapfen unter der Nase.« Er reibt sich die behandschuhten Hände, als ob es helfen würde, sie warm zu kriegen.

Guilhem lacht nur, obwohl ihm eigentlich nicht danach ist. Sein Bruder hat recht, es war eine verrückte Idee, sich bei diesem Sturm wieder auf den Weg zu machen. Sie hätten in ihrer Unterkunft bleiben sollen.

»Und du, Gauthier!«, ruft Robert in bitterem Spott. »Siehst aus wie ein Untoter, frisch aus dem Grab gestiegen.«

»Halt die Klappe!«, erwidert Gauthier mürrisch.

Guilhem lässt den Blick über seine Gefährten wandern. Im dichten Schneegestöber und dem fahlen Licht des Nachmittags sähen sie tatsächlich wie eine Schar der Unterwelt entstiegener Geisterreiter aus, wenn nicht ihre roten Nasen wären. Pelze und Umhänge sind weiß vom Schnee. Auch auf dem Stahlgrau der Helme und den Mähnen der Pferde kleben Schneeflocken.

Gauthier klopft sich das Zeug fluchend von Schultern und Armen. Und dann fährt eine Sturmböe zwischen den kahlen Bäumen hindurch und wirbelt ihnen noch mehr Schnee ins Gesicht. Nicht weit von ihnen kracht es, und ein dicker Ast fällt dumpf zu Boden.

»Wir sollten weiterreiten. Unter den Bäumen ist es zu gefährlich«, sagt ein hünenhafter Kerl namens Bertran, der etwas abseits auf seinem Pferd wartet. Der Mann ist so groß, dass sein Pferd dagegen klein wirkt. In der Faust hält er den Schaft eines eingerollten Banners. Es ist das Banner der Herzöge der Normandie.

»Wie weit haben wir’s noch?«, fragt Guilhem.

»Nicht mehr weit«, erwidert Bertran. Seine Stimme geht im Sturm fast verloren. »Vor Einbruch der Nacht sollten wir dort sein.«

Guilhem ruft den anderen zu: »Also los, Männer. Die paar Stunden schaffen wir auch noch.« Er wendet sich an Bertran. »Du übernimmst wieder die Führung!«

Bertran nickt, packt die Zügel fester und stößt seinem Gaul die Sporen in die Flanken. Fast widerstrebend stapft das Tier los. Guilhem und die anderen folgen ihm. Als sie den Wald verlassen und sich wieder auf freiem Feld gegen den Wind stemmen, kann Robert es nicht lassen, noch einmal zu sticheln: »Und alles nur wegen einem Weib! Dabei bekommst du die Flamin eh nicht, Guilhem, so viel ist sicher.«

Guilhem antwortet nicht. Eine heftige Böe fällt über die Reiter her, schleudert ihnen Schnee und winzige Eiskristalle ins Gesicht, die sich anfühlen, als würde man ihnen in die Haut schneiden. Bertrans Gaul wirft wiehernd den Kopf hoch und stellt sich rücklings zum Wind, weigert sich weiterzugehen. Auch die anderen halten an. Erst als die Böe abschwächt, setzen sie ihren Weg fort.

***

In der Abenddämmerung kämpfen sich die Reiter immer noch ihrem Ziel entgegen. Die Wege sind zugeschneit, der Horizont kaum auszumachen. Ein Wunder, dass sie sich nicht verirrt haben. Wie zuvor werden sie ab und an von Windböen durchgeschüttelt, doch das Schlimmste scheint vorüber zu sein. Auch schneit es kaum noch.

Die vier jungen Männer an der Seite des Herzogs gehören zum engsten Kreis seiner Getreuen. Da ist sein Halbbruder, Robert, in diesem Jahr zum Grafen von Mortain ernannt, nicht immer der Hellste, aber trotz seines vorlauten Mundes treu bis zur Selbstaufgabe. Dann Guille, eigentlich Guilhem fitz Osbern, mit dem der junge Fürst aufgewachsen ist und dessen Vater sein Betreuer war, bis Mörder ihn umbrachten. Gauthier Giffard, der gerade an seiner Seite reitet, ist einige Jahre älter und ein erfahrener Kriegsmann und Heerführer. Und allen voraus reitet Bertran d’Arques, seit Jahren Guilhems treuer Schildträger, Leibwächter und Mann für heikle Aufgaben.

In der Runde fehlt nur Odo, Guilhems anderer Halbbruder. Aber der ist gerade Bischof von Bayeux geworden und hat sich um andere Dinge zu kümmern, als in einem Schneesturm durch Flandern zu reiten.

»Ich mache mir Sorgen«, sagt Gauthier. »Wir hätten Montgomery nicht allein lassen sollen.«

»Unser Freund ist kein Dummkopf«, erwidert Guilhem.

Die Rede ist von Roger de Montgomery, auch er einer der engsten Vertrauten des Herzogs. Ihm hat Guilhem während seiner Abwesenheit die Belagerung von Brionna übertragen, der Festung, in die sich Guy, der Letzte der besiegten Aufständischen, nach der Schlacht von Val-ès-Dunes mit seinen Männern verschanzt hat. Alle anderen Rebellenburgen haben sie inzwischen geschleift, nur Brionna leistet immer noch zähen Widerstand.

»Nein, ein Dummkopf ist er nicht. Aber es mangelt ihm an Erfahrung«, erwidert Gauthier. »Glaubst du, er ist Guy gewachsen und kann ihn weiter in Schach halten? Wäre nicht gut, sollte es Guy gelingen auszubrechen. Nicht nach drei Jahren Belagerung. Der Widerstand im Land könnte wieder aufflackern. Du hättest wenigstens mich zurücklassen sollen.«

Guilhem schüttelt den Kopf. »Guy wird sich nicht aus seiner verdammten Burg trauen. Nicht mitten im Winter. Und Montgomery hat mein volles Vertrauen. Er hat nicht deine Erfahrung, das ist wahr, doch er ist ein guter Mann.«

Gauthier nickt. »Das ist er. Aber Guy ist ein listiger Hund. Unterschätz ihn nicht.«

Ja, Guy ist ein listiger Hund. Guilhem weiß das nur zu gut. Aus eigener schmerzhafter Erfahrung, denn diesem Guy, der sein eigener Vetter ist, ist es gelungen, einen gewaltigen Aufstand gegen ihn anzuzetteln und sich mit überlegener Heermacht gegen ihn zu stellen. Wäre König Henri nicht zu Hilfe geeilt, wäre es mit Guilhem zu Ende gewesen, und seine Gebeine würden jetzt auf dem Schlachtfeld von Val-ès-Dune vermodern.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Guilhem. »Montgomery hat genug Krieger, um jeden Ausbruch zu verhindern. Außerdem hat er das Zeug zum Anführer. Und Erfahrungen kann man nur sammeln, indem man sie macht.«

Guilhem selbst ist durch eine harte Schule gegangen. Er ist jung, nicht älter als dreiundzwanzig. Doch das Schicksal hat ihn seit der Kindheit gefordert, ihn gestählt und früh reifen lassen. Schon als Halbwüchsiger musste er seinen Mann stehen. Sonst hätte er das Chaos der Jahre nach dem Tod seines Vaters nicht überlebt. Viel zu jung musste er lernen, wozu Machtgier Menschen treibt, sogar die eigenen Verwandten. Intrigen, Hinterlist und Verrat waren die Begleiter seiner Jugend. Vier seiner Betreuer wurden ermordet, er selbst ist Anschlägen mehrfach nur mit knapper Not entkommen.

Dennoch hat er den Mut nicht verloren, sich durchgebissen, aber auch gelernt, dass er allein nur wenig bewirken kann, dass er tatkräftige Männer um sich braucht, um zu überleben, um seinen Titel zu verteidigen, um seine Herrschaft zu etablieren und zu festigen. Den altgedienten Grafen und Baronen traut er nicht. Zu oft haben sie ihn verraten. Sogar sein eigener Oheim. Deshalb schart er junge Männer um sich, jeder von ihnen ein unbeschriebenes Blatt. Sie haben nichts zu verlieren und können an seiner Seite nur gewinnen. Die meisten haben schon bei Val-ès-Dune mit ihm gekämpft. Er weiß, dass er auf sie zählen kann, dass sie für ihn durchs Feuer gehen. Sie sind eine eingeschworene Gemeinschaft.

In einem Moment der Windstille hält Bertran an und dreht sich im Sattel um. Sein Atem bildet Wölkchen in der kalten Luft. »Gleich sind wir da!«, sagt er.

Wohin man auch blickt, ist die Landschaft in Weiß gehüllt und menschenleer. Hier und da sind die Dächer zugeschneiter Bauernkaten zu sehen oder das Grau ferner, winterkahler Gehölze. Bertran deutet auf eine flache dunkle Masse in der Ferne. »Das da vor uns ist Brugis.«

»Bist du sicher?«, fragt Guilhem.

Bertran nickt. »Vorhin sind wir an einem Galgen vorbeigekommen. An den kann ich mich gut erinnern. Da hingen im Sommer zwei Wegelagerer.«

»Na endlich!«, knurrt Robert und haut sich die Arme um die Schultern. »Wird auch verdammt Zeit. Mir sind Hände und Füße schon fast abgestorben. Ihr werdet mich nachher vom Gaul heben und ins Haus tragen müssen.«

»Wir rollen dich. Das ist leichter«, spottet Guille.

Nur einer lacht. Der Humor ist ihnen vergangen. Kälte und Müdigkeit sitzen ihnen in den Knochen.

»Also los!« Guilhem treibt seinen Grauschimmel weiter. »Das letzte Stück schaffen wir auch noch.«

Robert schließt zu seinem Bruder auf. »Die werden Augen machen, wenn wir so unangemeldet auftauchen.«

»Graf Baldowin hat mich eingeladen.«

»Das ist aber schon eine Weile her.«

»Na und?« Guilhem lacht. »Wir feiern Christi Geburt. Warum nicht diesmal in Flandern?«

»Ach, hör doch auf damit! Deshalb sind wir nicht hier. Du bist auf diese Matilda neugierig, gib’s zu. Wahrscheinlich ist sie potthässlich und hat Pickel auf der Nase. Außerdem, nach dem Verbot des Papstes ist eine Heirat ausgeschlossen.«

»Das weiß ich selbst, verdammt noch mal. Und jetzt Schluss damit!«

Der Wind hat tatsächlich nachgelassen. Den keuchenden Pferdemäulern entweichen ganze Wolken von dampfendem Atem. Jeder Tritt der Hufe erzeugt ein Knirschen, das nur noch gelegentlich vom Heulen einer einzelnen Böe übertönt wird. Wenig später sind die grauen Umrisse einer von Palisaden gekrönten Umwallung zu erkennen. Das ist sie also, die Festung der Grafen von Flandern.

Tage vor ihrem Ritt hat Guilhem sich bei Mönchen in seinem Gefolge schlaugemacht. Anscheinend gab es hier bereits zu Römerzeiten eine befestigte Siedlung. Doch erst vor etwa zweihundert Jahren, nach wiederholten Wikingerangriffen, wurden die alten Verteidigungsanlagen erneuert und erweitert.

Bertran, der schon einige Male hier war, hat seinem Herrn den Ort genau beschrieben. Und doch ist der Befestigungsring mit seinen drei hölzernen Wachtürmen größer und beeindruckender, als Guilhem ihn sich vorgestellt hat. Natürlich ist Brugis weit mehr als eine Wallburg, wie die vielen Giebel im Inneren der Palisade beweisen. Nicht zu übersehen das Kreuz einer Kirche. Und auch außerhalb der Umwallung erstrecken sich zu beiden Seiten die eingeschneiten Dächer vieler Behausungen, als sei die Stadt zu groß für die Umwallung geworden.

Sie reiten an Hütten vorbei dem Wasserlauf entgegen, der den Ort mit dem Meer verbindet und den Graben speist, der den gesamten Wall umschließt. Darüber führt eine Brücke, von der Brugis seinen Namen hat. Am Ufer, zwischen Schneewehen, liegen flache Kähne, gut vertäut und gegen den Sturm gesichert. Sie dienen dem Warentransport zwischen Stadt und naher Küste. Denn Brugis ist eine Handelsstadt und verbindet seit jeher das Festland mit den britischen Inseln. Von dort stammt die Wolle, die von flämischen Webern zu Tuch verarbeitet wird.

Am Ufer halten sie kurz an, und Guilhem schaut sich um. Rauch steigt von den Dächern, in der Luft liegt der Geruch von Holzfeuern. Ansonsten aber wirkt die Stadt verlassen. Nicht einmal ein Hund oder eine streunende Katze ist zu sehen. Kein Wunder bei dem Wetter. Nur ein paar verirrte Möwen treiben im Wind. Ihre Schreie klingen wie verlorene Seelen aus der Unterwelt.

Eine Böe fährt über die vereiste Oberfläche des Flüsschens und rüttelt an der Brücke, als die Reiter sie schließlich überqueren. Vor dem verschlossenen Tor der Festung halten sie an. Über dem Torturm wehen die vom Sturm zerfetzten Reste eines Banners.

Es ist inzwischen beinahe dunkel. Tiefgrau liegt die Dämmerung über der Festung. Mit dem Schaft der eingerollten Standarte hämmert Bertran gegen die dicken Bohlen. Nichts regt sich. Noch einmal versucht er es, diesmal kräftiger, bis das Tor dröhnt. Keine Antwort.

Guille fitz Osbern zieht eine Grimasse. »Die sitzen im Warmen und wollen nicht gestört werden. Wer will bei der Kälte schon vor die Tür gehen?«

»He, ihr Hurensöhne, macht auf!«, brüllt Robert. »Wir frieren uns den Arsch ab!«

Noch einmal hämmert Bertran gegen die Bohlen. Diesmal mit mehr Erfolg, denn kurz darauf zeigt sich über ihnen das verkniffene Gesicht eines Wachmanns, Helm auf dem Kopf und Speer in der Faust. Er ruft ihnen etwas auf Flämisch zu. Klingt nicht sehr freundlich.

»Was sagt er?«, fragt Guilhem.

Bertran, der aus dem Norden der Normandie stammt, versteht Flämisch. »Wir sind zu spät, meint der Kerl. Das Tor ist für die Nacht geschlossen. Wir sollen uns woanders eine Herberge suchen.«

»Zeig ihm das Banner«, knurrt Gauthier. »Und sag ihm, Graf Baldowin röstet ihm die Eier, wenn er nicht sofort aufmacht.«

Bertran grinst und löst die Verschnürung des bestickten Banners, das sogleich im Wind flattert. »Der Herzog der Normandie verlangt Einlass«, ruft er dem Wachmann auf Flämisch zu. »Und zwar sofort. Wir sind halb erfroren. Also beeil dich, du Rindvieh, sonst ziehen wir dir die Haut ab!«

Das scheint zu wirken. Der Kopf des Wachmanns verschwindet, sie hören ihn nach anderen rufen, und schließlich öffnet sich langsam und knarrend das Tor. Die Reiter lenken ihre erschöpften Pferde auf eine Art Vorplatz, wo sie von Wachleuten empfangen werden, unter ihnen der Kerl, der sie abweisen wollte. »Verzeiht, Herr«, sagt er in schlechtem Fränkisch zu Bertran, den er für den Herzog hält, und verbeugt sich mehr als unterwürfig. »Hab Euch nicht gleich erkannt. Werde Euch zum Herrenhaus bringen.«

»Nicht nötig«, brummt Bertran. »Ich kenne den Weg.«

Er reitet voran, die anderen folgen, auch eine Handvoll der Wachleute. Zwei von ihnen stapfen eilig voraus, um sie anzukündigen. Die engen Gassen sind menschenleer. Die Häuser im Inneren der Umwallung machen einen solideren Eindruck als die bescheidenen Hütten vor dem Tor, wo das gemeine Volk haust. Wie auch in Rouen herrscht die Pfostenbauweise vor, mit lehmverputztem Flechtwerk in den Zwischenräumen. Nicht wenige Häuser sind zweistöckig.

»Die Stadt sieht wohlhabend aus«, meint Guilhem. Er hat sich den Handschuh ausgezogen und bläst warmen Atem in die hohle Hand. Nicht, dass es viel hilft.

Bertran deutet auf eines dieser zweistöckigen Häuser. »Die gehören Handwerkern, vor allem Webern. Unten die Arbeitsräume, oben die Familie.«

»Ich wünschte, wir hätten daheim ebenso viele Handwerker und Tuchweber.«

Sie erreichen einen freien, von unzähligen Fußspuren durchkreuzten Platz, in den mehrere Gassen münden. Ein aus groben Feldsteinen errichtetes Gebäude begrenzt die Ostseite des Platzes. Das Haus ist breiter und höher als alle anderen. Den Giebel zieren geschnitzte Pferdeköpfe, und statt mit Stroh ist es mit Holzschindeln gedeckt. Vor den Doppeltüren des Eingangsportals stehen vermummte, schwer bewaffnete Krieger, die die Ankömmlinge neugierig anstarren. Der Wachmann vom Tor redet mit ihnen, worauf einer der beiden sich ins Innere begibt, um sie anzumelden.

Neben dem Palast des Grafen, etwas zurückgesetzt, befinden sich Pferdeställe. Von den Wachleuten gerufen, tauchen Knechte auf, um die erschöpften Reittiere in Empfang zu nehmen. Steif und durchgefroren sitzen die Männer ab. Mit klammen Fingern nimmt Guilhem die Satteltaschen von seinem Grauschimmel und schlingt sie sich über die Schulter.

»Achte gut auf ihn«, ermahnt er den Knecht, der den Hengst in den Stall führen will. »Gib ihnen zu saufen. Aber nicht zu viel auf einmal.« Er dreht sich zu Bertran um. »Verstehen die uns hier eigentlich?«

»Keine Sorge. In Flandern werden beide Sprachen gesprochen. Im Westen und Süden eher Fränkisch, besonders in der Grafschaft Artois.«

Guilhem nimmt den Helm ab, bückt sich und reibt sich eine Handvoll Schnee ins Gesicht. Das weckt die Lebensgeister. Als er sich aufrichtet, öffnet sich das Portal zur Halle, und Licht fällt auf den zertretenen Schnee. Davor zeichnet sich die kräftige Gestalt eines Mannes ab, der, von einem halben Dutzend anderer gefolgt, ins Freie tritt. Ein Wolfsfell liegt um seine Schultern. Am Hals glitzert ein schwerer Goldreif.

»Bertran!« Der Mann grinst breit, als er den großen Normannen erkennt. »Ihr kommt unerwartet. Aber wir freuen uns natürlich.« Er wirft einen neugierigen Blick auf die übrigen Normannen »Und wer von euch ist nun der Herzog?«

»Das bin wohl ich«, erwidert Guilhem und tritt vor. »Tut mir leid, dass wir unangemeldet auftauchen. Es war eine plötzliche Eingebung, die uns hergeführt hat.«

Baldowin tritt auf Guilhem zu und legt ihm beide Hände auf die Schultern. »Nun, das nenne ich eine äußerst glückliche Eingebung! Willkommen in Brugis! Endlich lernen wir uns kennen.«

Guilhem grinst und nickt zustimmend. Sie haben in den letzten Monaten Botschaften ausgetauscht, mit Hilfe von Guilhems Bruder Odo sogar Verhandlungen geführt, sich bisher aber nie persönlich getroffen. Das herzliche Willkommen des Grafen wärmt Guilhem das Herz. Er schätzt den Mann auf Ende vierzig. Nicht mehr jung, aber auch nicht alt. Er trägt die Haare lang, und ein prächtiger roter Bart ziert Kinn und Wangen. Darüber eine fleischige Nase, Lachfalten an den hellen Augen und buschige Brauen.

»Du hattest mich schon vor langer Zeit eingeladen«, sagt Guilhem. »Leider war ich bisher unabkömmlich.«

»Von deinen Schwierigkeiten habe ich gehört. Bertran hat uns berichtet. Sind die Aufständischen denn nun besiegt?«

»Größtenteils. Eine ihrer Burgen hat sich noch nicht ergeben. Darin hat sich der Anführer der Rebellion verkrochen. Ich bin zuversichtlich, dass wir sie bald einnehmen werden.«

»Gut, gut!«, sagt Baldowin. Dann legt er einem jungen Mann an seiner Rechten die Hand auf die Schulter. »Mein ältester Sohn«, stellt er ihn vor. »Er heißt Baldowin wie ich. Wenn du dich wunderst: Der Name ist seit Generationen in der Familie. Immer der Erstgeborene.«

Guilhem begrüßt den jungen Mann. Das ist also der Thronfolger. Noch nicht zwanzig soll er sein, hat Guilhem sich sagen lassen, und sieht doch schon aus wie eine jüngere Ausgabe des Grafen, wenn auch schlanker und etwas größer.

»Vater, es ist eisig hier draußen«, hört Guilhem ihn sagen. »Siehst du nicht, unsere Gäste sind halb erfroren?«

»Recht hast du«, erwidert der Graf. Doch bevor er sich dem Haus zuwendet, deutet er auf einen jungen Burschen an seiner linken Seite. »Dies hier ist Robert. Unser Jüngster.«

»Willkommen, Sire«, sagt der Junge artig. Seine Stimme ist noch die eines Knaben vor dem Stimmbruch.

Guilhem nickt ihm zu. »Ich danke dir, Robert«, sagt er ernst. »Ich freue mich, euch alle kennenzulernen.«

»Und jetzt lauf, Junge«, sagt Baldowin. »Sag den Mägden, dass wir hungrigen Besuch haben.« Er wendet sich zu den fünf Normannen: »Kommt ins Haus, Männer, und setzt euch ans Feuer! Ihr müsst schrecklich durchgefroren sein. Man holt sich den Tod in dieser verfluchten Kälte! Kann mich nicht erinnern, jemals einen solchen Winter gehabt zu haben.«

***

In der großen Kleiderkammer der Damen des Hauses ist es dank der brennenden Kerzen und der Glut in einer Feuerschale einigermaßen warm. Trotzdem fröstelt es Matilda, denn sie hat außer langen Strümpfen nur ein leinenes Unterkleid am Leib. Ihre Mutter, Gräfin Adela, ist schon fertig angezogen. Sie trägt ein schlichtes, hochgeschlossenes Wollkleid mit langen Ärmeln. Beide machen sich für das abendliche Mahl unten in der Halle zurecht.

Die Gräfin nimmt nicht oft an den abendlichen Versammlungen teil. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie die Öffentlichkeit scheut. Im Gegenteil. Die Speisungen der Armen beaufsichtigt sie persönlich, regelmäßig besucht sie mit ihrer Familie die heilige Messe, und bei der Einweihung von Stiftungen und Klöstern steht sie immer an der Seite ihres Gemahls, um neben der seinen auch ihre Unterschrift unter die Urkunden zu setzen.

Von den Abenden in der Halle hält sie sich jedoch am liebsten fern, denn dem wilden Gelage und Gegröle betrunkener Männer, zu denen die Treffen meistens ausarten, kann sie nichts abgewinnen. Ständig legt sie dem Grafen ans Herz, dass Fluchen eine Sünde ist, dass man abgenagte Knochen nicht achtlos auf den Boden wirft, weil das Ratten und Mäuse anlockt, und dass die Sklavinnen nicht dazu da sind, angegrabscht zu werden. Jedes Mal nickt er ernst und gibt ihr recht. Doch viel bewirken ihre Vorhaltungen nicht.

Auch heute würde sie den Abend am liebsten in ihrer Kammer verbringen, aber ihr Gemahl hat ausdrücklich um die Anwesenheit seiner Damen gebeten. Schließlich ist heute der vierte Sonntag vor Adventus Domini. Adela ist eine fromme Frau und keine, die ihre Pflichten vernachlässigt.

Die Magd, die den beiden Frauen beim Ankleiden hilft, holt Schuhe aus einer Truhe. Als Matilda hineinschlüpft, fällt ihr auf, dass es unten laut geworden ist. Männerstimmen, die durcheinanderreden.

»Es muss jemand gekommen sein«, sagt sie. »Vielleicht haben wir Besuch.«

Ihre Mutter hat nicht darauf geachtet. Sie ist damit beschäftigt, sich das lange Haar auszukämmen. Etwas, was sie nie der Magd überlässt, denn sie ist stolz auf ihr dunkles, seidiges Haar. »Bei diesem Wetter, Kind? Das kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem feiern wir bald Christi Geburt. Da bleibt man doch zu Hause.«

»Hörst du denn nicht? Es wird Fränkisch gesprochen.«

Adela hält inne und lauscht. »Du hast recht«, sagt sie erstaunt. »Wer kann das sein?« Sie wendet sich an die Magd: »Geh, und sieh nach, was da los ist. Aber trödle nicht. Du musst mir gleich die Haare flechten. Wo ist meine Haube?«

»Bleib hier!«, befiehlt Matilda der Magd und schlingt sich rasch einen Wollschal um die Schultern. »Ich geh selbst.«

»Du bist doch noch gar nicht angezogen«, ruft die Mutter ihr hinterher. »Sei nicht immer so neugierig!« Aber da ist Matilda schon zur Tür hinaus.

Die Kleiderkammer liegt eine Treppe hoch gleich neben dem Schlafgemach der Gräfin im hinteren Bereich des großen mehrstöckigen Hauses, dem einzigen aus Stein gebauten in ganz Brugis. Ein Palast, wenn auch ein finsterer mit kleinen Fenstern, die wenig Licht einlassen. Schwer erträglich im Winter, wenn sie mit dünnem Pergament bespannt sind und man in ewigem Halbdunkel lebt.

Matilda eilt die Stufen hinunter und den dunklen Flur entlang, der an Vorratsräumen und Küche vorbei zur großen Halle führt. In ihrem dünnen Unterkleid spürt sie die Kälte, die in den Gängen herrscht. Sie hat nicht vor, die Halle zu betreten, nur ihre Neugierde will sie befriedigen.

»Wer ist da gekommen?«, fragt sie eine Küchenmagd, die gerade aus der Halle kommt.

»Normannen, Herrin.«

»Normannen, sagst du? Und wer?«

»Ich glaube, der Herzog selbst.«

Herzog Guilhem? Was, bei allen Heiligen, will der denn hier? Sie weiß von den Verhandlungen mit ihrem Vater, aber niemand hat mit seinem Besuch gerechnet. Matilda tritt an den schweren Vorhang vor dem Eingang zur Halle und späht durch einen Spalt.

In der großen, in Stein gefassten Feuerstelle vor dem Hochsitz ihres Vaters lodern die Flammen und werfen einen rötlichen Schein auf das Innere der Halle und auf die Männer, die in einer Gruppe stehen, durcheinanderreden, über Scherze lachen und sich gegenseitig auf die Schultern klopfen.

Sie erkennt ihre Brüder sowie Mitglieder des Hofes und einige Vasallen des Vaters. Letztere sind ihr natürlich vertraut. Nicht aber die fünf Neuankömmlinge, deren Gesichter noch rot vom scharfen Wind sind. Fellmützen, Umhänge oder was sie sonst gegen die Kälte trugen, hat man ihnen abgenommen, wie auch die Schwerter. In ihren wollenen oder gefütterten Lederwesten sehen sie nicht viel anders aus als die Flamen. Nur die seltsame Haarmode unterscheidet sie, vorne fingerlang, am Hinterkopf kurz, fast kahl.

Einer von ihnen, ein großer Kerl mit tätowiertem Stiernacken, tritt ans Feuer und hält die Hände gegen die Flammen. In ihm erkennt sie den Mann, der im Sommer hier war, zusammen mit Odo, dem Bruder des Herzogs. Hieß er nicht Bertran? Und wer ist denn nun der Herzog?

Dann sieht sie, wie ihr Vater einen der Männer bei der Hand nimmt und ihn zu einem bequemen, mit Schafsfellen bedeckten Sessel dicht neben dem eigenen Hochsitz führt. Das muss er sein, der Mann, den sie hätte heiraten sollen, wenn Papst Leo es nicht verhindert hätte.

Der Vater und ihre Brüder setzen sich, ebenso die anderen adeligen Herren. Nun, da alle einen Platz gefunden haben, wird es in der Halle ruhiger. Mägde verteilen Bierkrüge, die Männer trinken sich zu, dann richtet sich aller Aufmerksamkeit auf den jungen Herrscher der Normannen.

Sie betrachtet ihn genauer. Er ist breitschultrig und offensichtlich muskulös. Sicherlich kampferfahren. Aber wie jung er ist! Vielleicht kommt es ihr nur so vor, weil er keinen Bart trägt wie die meisten anderen Anwesenden. Er hat ein kantiges Kinn und strohblondes Haar, an den Seiten kurz, vorn aber fällt es ihm wild zerzaust in die Stirn. Seine Nase steht ein wenig schief, oder täuscht sie sich? Es ist jedenfalls ein starkes Gesicht. Der Wikinger darin ist kaum zu übersehen. Ab und zu grinst er, und dann blitzt es schalkhaft in seinen Augen. Außerdem fällt ihr auf, dass er beim Reden gern mit den Händen gestikuliert. Irgendwie wirkt er gar nicht so würdevoll, wie sie es von einem Herzog erwartet hätte. Eher jungenhaft. Und doch strahlt er etwas aus, das die Anwesenden um ihn herum gefangen hält.

Matilda wird bewusst, dass sie zu ihrer Mutter zurückkehren und sich fertig ankleiden sollte, und kann sich seltsamerweise doch nicht losreißen. Jetzt nimmt er einen tiefen Schluck aus seinem Bierhumpen und beginnt, von der langen Reise zu erzählen, die er und seine Gefährten hinter sich haben. Anscheinend wurden sie fünfzig Meilen westlich von hier, in einem Dorf, in dem sie übernachtet haben, vom Sturm überrascht. Umkehren wollten sie aber nicht, und so mussten sie sich den ganzen Tag durch Schnee und Eis kämpfen.

Matilda staunt über seine sonore Stimme, die nicht recht zu seinem jugendlichen Aussehen zu passen scheint. »Mein Bruder Robert hier behauptet, ihm seien mindestens zwei Zehen abgefroren«, hört sie ihn lachend sagen.

»Und ich wette, ich habe nicht gelogen«, erwidert einer der Normannen, offensichtlich jener Bruder, zieht sich den rechten Stiefel aus und reibt sich stöhnend die Zehen. »Die sind doch tatsächlich noch dran. Da hab ich aber Glück gehabt.«

Alle in der Halle lachen, auch Graf Baldowin.

Matilda schüttelt den Kopf. Sie findet das nicht lustig. Zieht der Kerl sich doch tatsächlich die Stiefel aus und massiert sich in aller Öffentlichkeit die stinkenden Zehen. Mutter hat recht: Diese Normannen sind Halbwilde! Haben nicht gelernt, wie man sich an einem Fürstenhof benimmt. Wissen die überhaupt, was eine Kirche ist, oder beten die immer noch zu ihren blutrünstigen Göttern? Sie ist froh, dass sich die Heirat mit diesem Guilhem zerschlagen hat.

***

»Mach dich auf was gefasst«, sagt Matilda spöttisch, als sie wenig später wieder bei ihrer Mutter ist. »Herzog Guilhem gibt uns die Ehre.«

Adela fährt herum. »Der Normanne? Was will der denn hier?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und wie lange müssen wir den ertragen?«

Matilda zuckt mit den Schultern. »Wir werden’s schon erfahren.«

»Ich wette, der ist deinetwegen hier.«

»Meinetwegen?«

»Dein Vater hätte diese Verbindung nie in Betracht ziehen dürfen. Ich war von Anfang an dagegen. Dem Himmel sei Dank, dass der Papst ein Einsehen hatte und es dir erspart bleibt.«

»Es war doch Onkel Henri, der das eingefädelt hat, nicht Vater.«

»Mein Bruder ist ein Tölpel.«

»Er ist unser König, Mutter.«

»Er ist trotzdem ein Tölpel. Was musste er ausgerechnet diesen Normannenbastard unterstützen? Ohne Henris Hilfe hätten die Rebellen den Kerl vernichtet.«

»Onkel Henri ist nicht nur unser, sondern auch Guilhems Lehnsherr. Da war es doch seine Pflicht, ihn gegen die Rebellen zu unterstützen.«

»Ach, Kindchen. Was weißt du schon von Politik? Durch Henris Eingreifen sitzt der Mann jetzt fest im Sattel. Er schlägt jeden Widerstand nieder und wird von Tag zu Tag stärker. Irgendwann könnte er selbst dem Königreich gefährlich werden. Er und seine Brut gehören vernichtet. Je eher desto besser!«

»Ist es immer noch wegen der alten Geschichte?«

»Du weißt, was ich von den Normannen zu erdulden hatte. Besonders von dem Vater dieses Kerls.«

»Das ist lange her, Mutter.«

»Mag sein. Aber es ist noch so deutlich in meinem Kopf, als wäre es gestern gewesen. Niemand soll eine fränkische Prinzessin so behandeln, wie sie mich behandelt haben. Ich habe dir und deinen Brüdern beigebracht, stolz auf eure Familie und auf eure Herkunft zu sein. Ich sage dir, die Normannen sind Barbaren. Dumm und ungebildet dazu. Keiner von denen ist einer Frau wie dir, einer Nichte des Königs der Franken, würdig.«

Matilda ist sich bewusst, welchen Wert die Mutter auf ihren Rang legt. Und wie wichtig ihr Wissen und Bildung sind. Sie spricht fließend Latein und liest nicht nur täglich in der Bibel, sondern auch in anderen Traktaten, die die Mönche ihr bringen. Augustinus ist einer ihrer Lieblingsautoren. Nur wenige Männer des Hochadels beherrschen die Schrift, für eine Frau ist es noch viel ungewöhnlicher. Dennoch mussten auch ihre Kinder Lesen und Schreiben lernen und Latein studieren. Matildas Brüder haben sich damit gequält. Sie selbst ist wissbegierig und hat gern gelernt.

»Beruhige dich, Mutter. Die Vermählung ist längst abgesagt.«

»Dem Herrn sei Dank! Ich weiß wirklich nicht, wie dein Vater sich von meinem Bruder hat überreden lassen, dich mit diesem Bastard zu verheiraten, dem Sohn einer Gerberin.« Das letzte Wort klingt wie eine Beleidigung.

Matilda fragt sich, warum ihre Mutter so verbittert ist. An allem und jedem hat sie etwas auszusetzen. Ob sie unseren Vater überhaupt noch liebt? Es hat nicht den Anschein, obwohl sie sich selten streiten. Adela war einmal eine ausgesprochene Schönheit und ist es eigentlich immer noch. Doch in letzter Zeit gibt sie nicht mehr viel auf ihr Äußeres, sieht man von ihren schönen Haaren ab. Die meiste Zeit verbringt sie mit ihrem Beichtvater, ihren Büchern und in der Kirche. Die größte Freude scheint ihr die Einweihung eines neuen Klosters zu bereiten. Dann blüht sie förmlich auf.

Während die Magd der Gräfin hilft, die mit Goldfäden bestickte Haube aufzusetzen und mit einer langen Nadel festzustecken, zieht Matilda einen weinroten Surcot über, gürtet sich mit einem schmalen goldverzierten Gürtel und legt sich eine dünne Kette um den Hals, an der ein dunkler Opal hängt. Zuletzt ein nachtblauer Umhang. Dann betrachtet sie sich in Mutters Spiegel aus poliertem Silber. Die Wangen kommen ihr blass vor. Sie mag es nicht, wenn sie so blass ist. Im Winter kommt man zu selten vor die Tür, denkt sie und verreibt ein winziges bisschen Schminke auf den Wangen.

»Sei nicht so eitel, Matilda«, sagt die Mutter, die sie missbilligend beobachtet. »Das war schon immer dein größter Fehler.«

»Ich wünschte, ich hätte dein dunkles Haar geerbt. Nicht unbedingt Vaters. Wer mag schon Rothaarige.«

»Sei mit dem zufrieden, was Gott dir gegeben hat.«

»Ja, Mutter, ich bemühe mich. Bist du jetzt so weit? Wir sollten die Gäste begrüßen.«

Die Gräfin seufzt. »Nicht so eilig. Je betrunkener sie sind, umso weniger Zeit müssen wir mit ihnen verbringen. Setz dich, Kind. Ich hab dir was zu sagen.«

Matilda lässt sich auf einem Hocker nieder. »Was ist denn? Du klingst so ernst.«

Adela schickt die Magd aus der Kammer, zieht einen zweiten Hocker heran und lässt sich darauf nieder. »Es beunruhigt mich, dass dieser Guilhem aufgetaucht ist. Das hat etwas zu bedeuten. Ausgerechnet zum bevorstehenden Fest.«

»Warum sollte dich das beunruhigen?«

»Hast du ihn gesehen, als du unten warst? Wenn er nach seinem Vater kommt, sollte er ein gut aussehender Mann sein.«

Matilda spitzt nachdenklich die Lippen. »Er ist beileibe kein Schönling. Hässlich ist er aber auch nicht. Ganz normal, würde ich sagen.« Dass Guilhem Eindruck auf sie gemacht hat, verschweigt sie. Heißt es nicht ohnehin, der erste Eindruck täuscht in den meisten Fällen? »Ein ganz normaler Mann«, sagt sie bestimmt. »Ich konnte nichts Außergewöhnliches an ihm erkennen.«

»Gut!«, sagt Adela. »Das beruhigt mich. Ich möchte nicht, dass du dich in einen solchen Kerl verguckst.«

Matilda hebt erstaunt die Brauen. »Oh nein, Mutter! Da musst du dir keine Sorgen machen.«

Adela mustert ihre Tochter nachdenklich. Dann sagt sie: »Trotzdem sollst du wissen, mit wem du es zu tun hast.«

Matilda kann sich denken, was jetzt kommt. Es ist nicht das erste Mal, dass ihre Mutter von der Erniedrigung spricht, die ihr Guilhems Vater angetan hat. Dennoch hört sie höflich zu. Vor zweiundzwanzig Jahren, Adela war damals achtzehn, wollte ihr Vater, König Robert der Fromme, die kampfstarken Normannen enger an sich binden, wenn schon nicht als Vasallen, dann durch Heirat. Daher wurde Adela Guilhems Oheim Richard angetraut, der damals Herzog war. Seine Herrschaft war jedoch nicht unangefochten, und sein Bruder Robert, Guilhems Vater, rebellierte gegen ihn. Richard konnte sich zwar durchsetzen, verstarb aber kurz darauf auf ungeklärte Weise und noch im Jahr seiner Hochzeit mit Adela. Es gab Gerüchte, sein Bruder habe die Hand im Spiel gehabt, auch wenn nichts bewiesen werden konnte. Robert erbte den Herzogtitel und verbannte als erste Amtshandlung die Witwe aus der Normandie.

»Sogar die Güter, die Richard mir geschenkt hatte, hat er mir genommen. Wie eine Hündin hat er mich vom Hof gejagt. Mich, die Tochter des fränkischen Königs!«

»Im Jahr darauf hast du Vater geheiratet.«

»Dein Vater ist ein guter Mann. Die Ehe mit ihm habe ich nie bereut.«

Dass sie ihn liebt, sagt sie nicht, denkt Matilda. Irgendwie kann sie es sich auch nicht vorstellen. Die beiden sind so verschieden: Vater liebt die Jagd und ist gesellig, während Mutter die Zeit am liebsten mit ihren Büchern verbringt.

»All das hast du uns Kindern ja schon erzählt«, sagt sie leise. »Ich habe nur nie verstanden, warum Herzog Robert dich so gehasst hat.«

»Er hat gemerkt, dass ich ihn nicht mochte.«

»Das ist doch kein Grund.«

»Nun ja.« Adela macht ein verlegenes Gesicht. Sie atmet tief durch und seufzt. »Du hast recht. Da war noch mehr. Ich habe nie davon erzählt, weil es mir mehr als peinlich ist, aber jetzt sollst du es wissen.«

Matildas Augen weiten sich. »Ein Geheimnis?«

»Wie man’s nimmt.« Die Gräfin sieht ihre Tochter einen Augenblick lang prüfend an. Dann redet sie leise und in vertraulichem Ton weiter. »Robert war ein gut aussehender Mann, und das war ihm auch sehr bewusst. Er konnte die Finger nicht von den Weibern lassen. Auch mir hat er nachgestellt, obwohl ich gerade erst mit Richard verheiratet war. Ich weiß nicht, ob irgendetwas an meinem Benehmen ihn ermutigt hat. Mein Gott, ich war so unerfahren! Dass ich ihn nicht an mich herangelassen habe, hat ihn geärgert. Immer wieder hat er es versucht, wann immer sich eine Gelegenheit ergab. Was sollte ich tun? Ich konnte doch Richard nichts sagen. Das Verhältnis zwischen den beiden war ohnehin schon schlecht.«

»Ist mehr passiert?«, fragt Matilda erschrocken.

Die Gräfin nickt. »Leider.« Sie hält einen Moment inne, um sich zu bekreuzigen. Dann fährt sie fort: »Richard war auf der Jagd – so glaubte ich jedenfalls –, als Robert mich allein vorfand. Nicht einmal eine Magd war anwesend. Er bedrängte mich, und als ich nicht nachgeben wollte, riss er an meinen Kleidern. Ich schrie um Hilfe, und zum Glück kam ein alter Diener, und Robert ließ von mir ab. Augenblicke später kehrte Richard heim. Robert war schon gegangen, sonst hätte die Sache blutig geendet. Aber ich konnte es ihm nicht länger verheimlichen.«

»Mein Gott! Waren die Brüder deshalb so verfeindet?«

»Es hat sicher dazu beigetragen. Aber die beiden konnten sich schon vorher nicht leiden. Und dann war ich plötzlich Witwe. Achtzehn Jahre alt und schon Witwe! Richard war kaum bestattet, da wollte Robert mich heiraten. Eine Königstochter als Weib, das hätte ihm gefallen. Vielleicht war er in mich verliebt. Ich war damals eine hübsche Frau.«

»Das bist du immer noch, Mutter.«

»Jedenfalls habe ich ihn abgewiesen. Und ihm den Giftmord an seinem Bruder ins Gesicht geschleudert. Und das in aller Öffentlichkeit, vor dem Rat seiner Getreuen. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen.«

»Glaubst du wirklich, er hat Richard vergiften lassen?«

»Ich sage dir, der war zu allem fähig. Er wollte mich heiraten, obwohl er schon diese Schlampe geschwängert hatte, Guilhems Mutter. Aber auch das Verhältnis hat nicht lange gehalten. Später muss er seine Sünden bereut haben.«

»Weil er nach Jerusalem gepilgert ist?«

»Warum sonst? Aber Gott hat die Buße nicht angenommen und ihn für seine Freveltaten bestraft. Auf dem Heimweg ist er krank geworden und gestorben. Ich habe gejubelt, als wir davon hörten. Du warst damals vier Jahre alt.«

Matilda legt die Hand auf die Brust und atmet tief durch. »Was für eine Geschichte! Weiß Vater davon?«

Die Gräfin schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht! Ich habe es ihm nie erzählt. Und auch du sollst es für dich behalten. Du solltest nur wissen, wessen Sohn dieser Guilhem ist. Lass dich nicht von schönen Worten verführen!«

»Mach dir keine Sorgen, Mutter. Es wird keine Hochzeit geben. Die Sache ist doch längst erledigt.«

Sie schweigen eine Weile, während Matilda sich vorzustellen versucht, was ihrer Mutter widerfahren ist. Erklärt dies ihr Verhalten? Fühlt sie sich vielleicht sogar schuldig am Tod ihres ersten Mannes? Ist sie deshalb so fromm?

»Hast du ihn sehr geliebt?«, fragt sie schließlich.

»Wen?«

»Richard.«

Adela zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Kaum waren wir verheiratet, da war ich auch schon Witwe. Im Gegensatz zu seinem Bruder war Richard kein schlechter Kerl, wenn auch ungebildet und ein Barbar wie alle diese Normannen.« Sie steht auf und seufzt. »Ich glaube, wir müssen jetzt in den sauren Apfel beißen und nach unten gehen. Dein Vater macht mir sonst die Hölle heiß.«

DER UNGESTÜME WERBER

Trotz des klirrend kalten Wetters ist die Halle an diesem Abend gut gefüllt. In Windeseile hat sich die Kunde verbreitet, dass der Herzog der Normandie anwesend ist. Die Neugierde hat die adeligen Herren aus ihren Häusern getrieben. Es sind Vasallen der Grafschaft, enge Vertraute und Söldnerführer, sogar einige bedeutende Kaufleute sind gekommen. Mit Ausnahme der Gräfin und ihrer Tochter, deren beider Anwesenheit zu erwarten ist, sind keine Frauen zugegen.

Sklavinnen eilen hin und her, holen Speisen aus der Küche, schenken Bier nach, ersetzen abgebrannte Kerzen oder Binsenlichter und versorgen das Feuer mit trockenem Holz. Was auch immer geschieht, das Feuer in der düsteren Halle darf nie ausgehen, vor allem nicht in der kalten Jahreszeit.

In aller Eile wurden Bänke gerückt, Tafeln aufgebockt und für das Mahl hergerichtet, für die fremden Gäste und den engsten Kreis des Grafen eine lange Tischreihe vor der Feuerstelle, wo es am wärmsten ist, zwei weitere Tafelreihen für die übrigen Anwesenden. Feuerschalen entlang der Wände sorgen dafür, dass niemand frieren muss. Der Saal ist groß und schwer zu beleuchten. Die Tische mit ihren Kerzen- und Binsenlichtern dagegen bilden Inseln des Lichts und erhellen die Gesichter der Männer.

Ab und zu rüttelt der Wind am Dach, und es weht kalt vom Rauchabzug ganz oben im Gebälk. Doch das tut der guten Laune keinen Abbruch. Während die Herren auf das Erscheinen der beiden Damen warten, vertreiben sie sich die Zeit mit dem für die kommenden Feiertage gebrauten Bier, was zu einer zunehmend ausgelassenen Stimmung führt. Kein Wunder bei den Mengen, die sie in sich hineinschütten. Als gäbe es einen Wettkampf, wer zuerst unter den Tisch sinkt. Gelächter hallt von den Wänden wider, alle reden durcheinander, anzügliche Scherze werden mit fröhlichem Gebrüll belohnt, und die Sklavinnen, die Bier nachschenken, haben Mühe, sich den grabschenden Händen zu entziehen.

Die Flamen treiben es dabei schlimmer als die Normannen. Sie sind ja hier zu Hause. Guilhem dagegen hat seinen Gefährten eingeschärft, sich höflich zu benehmen. Von Mäßigung beim Trinken hat er jedoch nichts gesagt. Sein Bruder Robert ist schon so benebelt, dass er schielt. Guilhem selbst, der Baldowin an der Tafel gegenübersitzt, hat sich zurückgehalten. Mit gutem Grund, denn er wartet mit Ungeduld auf die Tochter des Hauses.

Als die beiden Edelfrauen endlich die Halle betreten, bleiben sie einen Augenblick lang stehen, um sich umzusehen. Da der Eingang nur spärlich beleuchtet ist, dauert es eine Weile, bis man sie bemerkt. Dann aber wird es ruhiger, und endlich verklingt auch das letzte Gelächter. Erst jetzt schreiten sie in den Saal.

Graf Baldowin erhebt sich, geht ihnen ein paar Schritte entgegen und geleitet sie zur Tafel. Dort wendet er sich an seinen Gast: »Mein lieber Fürst, erlaube mir, dir meine Gemahlin Adela vorzustellen.«

Nun sollte auch Guilhem sich erheben, aber beim Blick auf Matilda hat es ihm die Sprache verschlagen. Erst als Gauthier ihn mit dem Ellbogen anstößt, kommt er auf die Füße und verbeugt sich vor der Gräfin.

»Verzeiht, edle Adela«, stammelt er verlegen. Dann sagt er mit festerer Stimme: »Verzeiht vor allem, dass wir Euch so unangemeldet überfallen. Und das auch noch kurz vor dem heiligen Fest. Wir fühlen uns geehrt, Gäste in Eurem Hause zu sein.«

Die Gräfin ringt sich ein säuerliches Lächeln ab. »Willkommen, Hoheit. Auch wir freuen uns.«

Graf Baldowin nickt eifrig. Sein grinsendes Gesicht ist vom Bier gerötet. »Meine Söhne kennst du inzwischen, mein lieber Guilhem. Und nun«, er greift nach der Hand seiner Tochter, »möchte ich dir unsere Matilda vorstellen.«

Jetzt kann Guilhem ihr endlich seine ganze Aufmerksamkeit schenken. Schließlich ist er ihretwegen gekommen. Mittelgroß ist sie, erlesen gekleidet. Ihr nachtblauer Umhang wird von einer goldenen Fibel gehalten, darüber sieht er ein hübsches Gesicht, rotblondes üppiges Haar und, ja … ein verdammt hübsches Gesicht! Er bleibt bei seiner kurzen Musterung an ihren Augen hängen, an diesem durchdringenden Blick aus klaren, eisblauen Augen, der ihm für einen Moment den Atem stocken lässt. Aufmerksam, aber kühl und distanziert sieht sie ihn an, nicht feindselig, aber ohne jede Wärme, ohne den Hauch eines Lächelns.

»Willkommen in Brugis, Herzog Guilhem«, sagt sie in einem Fränkisch mit flämischer Färbung. Ihre Stimme ist ebenso kühl wie ihre Augen und einige Tonstufen tiefer als die der Gräfin. Sie berührt etwas in ihm.

Er nickt ihr zu, versucht, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen, obwohl ihm die Worte fehlen und ihm die Röte ins Gesicht gestiegen ist.

Baldowin scheint es nicht aufzufallen. »So setzt euch doch«, hört er ihn sagen, »und genießt das Mahl.«

Guilhem wartet, bis die Damen Platz genommen haben, Adela zu Baldowins Rechten, Matilda, dem hohen Besuch zuliebe, zu seiner Linken, dort, wo sonst der älteste Sohn sitzen würde, den es heute aber ans Ende der Tafel verschlagen hat. Erst dann lässt auch Guilhem sich etwas ungelenk auf seinen Stuhl fallen. Es ist ihm kaum möglich, den Blick von ihr zu wenden. Verdammt noch mal! Zum ersten Mal in seinem Leben bringt ihn ein Weib so aus der Fassung.

»Eine Schönheit«, raunt Gauthier ihm zu. »Das hast du wohl nicht erwartet.«

Nein, das hat er nicht erwartet. Eher eine grobknochige Flämin mit großen Brüsten und breiten Hüften. Bertran hat zwar erwähnt, dass sie recht ansehnlich sein soll, aber viel mehr auch nicht. Und sein Bruder Odo hat ihm nur von den Vorteilen einer Verbindung zwischen Flandern und der Normandie vorgeschwärmt und Matilda selbst kaum erwähnt. Guilhem fragt sich, ob Odo ihr überhaupt begegnet ist. Es geht bei solchen Verhandlungen schließlich nicht um Liebe, sondern um handfeste Interessen, um Macht und politischen Vorteil. Eine Allianz mit dem reichen Grafen wäre für beide Seiten von großem Nutzen gewesen.

Dennoch hat gerade der Mangel an Genauerem über die Frau, um die es bei den Verhandlungen ging, seine Neugierde entfacht. Er musste sie endlich zu Gesicht bekommen, trotz des vor Kurzem ausgesprochenen päpstlichen Verbots einer solchen Verbindung. Eine herbe Enttäuschung für beide Parteien, aber ein Urteil, dem sich niemand widersetzen würde, der um sein Seelenheil besorgt ist. Insofern war die lange Reise eine völlige Zeitverschwendung, wie Robert schon sagte.

Aber nun ist er hier und sitzt ihr gegenüber, zum Anfassen nahe. Er möchte sie nicht ungebührlich anstarren und wagt doch einen erneuten Blick in ihre Richtung. Sie achtet nicht auf ihn, hört gerade einem der Flamen am anderen Ende der Tafel zu, der etwas Unterhaltsames zum Besten gibt. Das erlaubt ihm, sie näher in Augenschein zu nehmen.

Jung ist sie, achtzehn Jahre alt, wie er weiß, obwohl ihr selbstbewusstes Auftreten sie reifer erscheinen lässt. Helle, aufmerksame Augen, ein großzügiger Mund, ein Hauch von Sommersprossen auf makelloser Haut und eine leichte Röte, vermutlich von der Wärme der Kerzen. Sie trägt keine Kopfbedeckung wie ihre Mutter. Ihr ovales Gesicht ist von einer rotblonden Lockenpracht umrahmt, die ihr bis weit über die Schultern fällt. Sie hält einen Kelch in der schlanken Hand, aus dem sie nippt. Auf einmal sieht er sie lachen, wobei ihr Gesicht sich verändert; plötzlich strahlt es Wärme und Frohsinn aus, sodass er unwillkürlich in ihr Lachen einstimmen möchte. Sie ist also doch nicht so kalt und unnahbar, wie der erste Eindruck vermuten ließ. Wenn er sie doch nur auch so zum Lachen bringen könnte!

»Liebe Versammelte«, hört Guilhem jemanden sagen. Als er aufblickt, sieht er einen Priester in Mönchsgewand am Ende der Tafel. In der Halle wird es still. »Mit großer Freude erwarten wir in wenigen Tagen die Geburt unseres Herrn Jesus Christus, der von Neuem in die Welt kommt, um unsere Sünden auf sich zu nehmen. Lasset uns dieses großen Ereignisses in Vorfreude gedenken und unseren Erlöser mit einem Gebet willkommen heißen.«

Er faltet die Hände und spricht in lateinischer Sprache ein kurzes Gebet. Die Männer an den Tafeln senken die Köpfe und verharren in andächtiger Stille, bis der Priester geendet hat. Dann kehrt das Gemurmel der Gespräche zurück, der Priester setzt sich, und Graf Baldowin befiehlt, das Essen aufzutragen.

Viel Gebratenes wird hereingetragen: Tauben und Wachteln, Wildschwein und Reh. Dazu duftendes Brot, frisch und warm aus dem Ofen, Bohnen und gedünsteter Kohl. An den Tafeln macht man sich darüber her.

Auch Guilhem greift zu. Ein Wirrwarr an fröhlichen Stimmen und Gelächter füllt die Halle. Er sieht kauende Mäuler und schmatzende Lippen, gerötete Gesichter und fettige Finger, die nach weiteren Stücken greifen. Sklavinnen räumen die Teller mit abgenagten Knochen weg und tragen den nächsten Gang auf, dazu schäumendes Bier in großen Krügen. Guilles Lachen klingt Guilhem im Ohr. Baldowin nagt an einer Schweinerippe, während Robert große Reden hält, dabei aber bedenklich wankt und sich kaum noch aufrecht halten kann.

All das berührt Guilhem kaum. Immer wieder blickt er verstohlen zu Matilda hinüber und beobachtet, wie sie mit spitzen Fingern eine halbe Wachtel auf ihre Brotunterlage legt, die Brust des Vogels mit dem Messer sauber abtrennt und in kleine Stücke schneidet, bevor sie sich das erste in den Mund steckt. Er hat noch nie jemanden mit so feinen Manieren essen sehen.

Beim Blick in die Runde fällt ihm auf einmal der feindselige Gesichtsausdruck auf, mit dem die Gräfin ihn mustert. Als ihre Blicke sich kreuzen, sieht sie schnell weg. Auch sie ist eine schöne Frau, wenn auch reif an Jahren. Was hat sie gegen mich?, fragt er sich.

»Du bist so still«, sagt Gauthier neben ihm. »Das kennen wir gar nicht von dir.«

»Ich bin wohl müde vom langen Ritt.«

»Komm, trink mit mir.« Gauthier hebt einen Krug und füllt Guilhems Becher nach. »Dann kannst du nachher gut schlafen.«

Sie stoßen an, und Guilhem nimmt einen langen Zug. Er schiebt den Teller weg und steckt kurz die Finger in eine der zu diesem Zweck bereitstehenden Wasserschalen. Eine Sklavin reicht ihm ein Leinentuch, um sie zu trocknen.

»Du hast ja kaum was gegessen«, sagt Gauthier.

Matilda hat ihn gehört und blickt zu ihnen herüber. »Schmeckt es Euch nicht, Hoheit?«, fragt sie. Es ist seit der Begrüßung das erste Mal, dass sie das Wort an ihn richtet. »Vielleicht seid Ihr besseres Essen gewohnt. Ist die normannische Küche so anders?«

Wieder trifft ihn ihr kühler Blick bis ins Mark. Diese Augen werden ihn heute Nacht bis in den Schlaf verfolgen. »Oh, es ist alles bestens«, erwidert er. »Vielleicht ist es Euer Anblick, Teuerste«, fügt er mit schalkhaftem Grinsen hinzu. »Verzeiht, wenn ich Euch angestarrt habe.«

Matilda runzelt die Stirn. »Mein Anblick hat Euch den Appetit verdorben?«

»So meinte ich das nicht. Ganz im Gegenteil. Meine Kameraden und ich sind seit drei Jahren im Kampf und haben praktisch nur im Sattel gesessen. Ich bin den Umgang mit so schönen Frauen wie Euch nicht mehr gewohnt.«

»Ach so«, sagt sie und starrt ihn mit gerunzelten Brauen an, etwas von oben herab, wahrscheinlich zweifelnd, ob das nur ein flotter Spruch war oder ernst gemeint ist. Dann ringt sie sich zu einem Lächeln durch. »Solange Ihr mich nicht für Euren Hungertod verantwortlich macht … Das könnte ich mir sonst nicht verzeihen.«

Hat er etwa das Eis gebrochen? Das wäre zu gut, um wahr zu sein.

Guilhem will noch etwas sagen, aber da erhebt sich Baldowin von seinem Sitz. »Hört mir mal zu!«, ruft er in den Saal. In der Rechten hält er seinen Humpen, mit der Linken stützt er sich kurz auf, denn auch er steht wohl nicht mehr ganz sicher auf den Beinen.

Einer ruft: »Seid mal alle ruhig!«

Langsam sterben Gelächter und Gespräche. In der nachfolgenden Stille hört man das Knistern des Feuers. Über ihnen rüttelt ein heftiger Windstoß am Dach, und durch die Halle fährt kurz ein eisiger Hauch, der die Flammen in den Feuerschalen aufflackern lässt.

Baldowin deutet nach oben ins Gebälk. »Ist noch nicht vorbei, der verdammte Sturm. Man kann nur hoffen, dass er nicht zu viel Schaden angerichtet hat.« Er blickt zu Guilhem hinüber und grinst jovial. »Umso mehr freuen wir uns über unsere Gäste. Trotz Schnee, Eis und Kälte haben sie zu uns gefunden.« Er hält seinen Humpen hoch. »Trinken wir auf Herzog Guilhem und seine tapferen Gefährten!«

Er setzt den Humpen an die Lippen und trinkt, wobei ihm etwas Bier in den Bart läuft. Die Flamen heben ebenfalls die Becher und lassen die Gäste lautstark hochleben.

Baldowin setzt den Humpen ab und wischt sich mit dem Ärmel über die Lippen. »Ich bin noch nicht zu Ende!«, ruft er den Männern zu.

Wieder wird es still. Jemand rülpst laut, und alle lachen. »Gesundheit, Bruder!«, ruft Baldowin.

Dann zeigt er auf Guilhem. »Der Herzog hat bewiesen, dass er nicht nur dem Eissturm trotzen kann, sondern auch seinen Widersachern im eigenen Land. Unser Gast ist jung, aber ein Mann von Entschlossenheit und Stärke. So einen hätte ich mir als Schwiegersohn gewünscht. Leider sieht die Heilige Kirche das anders. Und leider müssen wir uns fügen. Trotzdem, Männer: Es lebe die Freundschaft zwischen Flamen und Normannen!«

Seinen Worten folgt zustimmendes Trommeln auf den Tischplatten. Alle blicken erwartungsvoll zu Guilhem herüber. Ihm wird klar, dass er ebenfalls ein paar Worte sagen muss. Er schiebt den Stuhl zurück und kommt auf die Füße.