Bullshit-Bingo - Ina Taus - E-Book

Bullshit-Bingo E-Book

Ina Taus

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Beschreibung

Endlich ist Haley Studentin an der Penn University und lebt ihren Traum. Doch dann verliert ihr Vater seinen Job und sie weiß nicht, wie sie in Zukunft die Studiengebühren und ihr Zimmer im Wohnheim bezahlen soll. Als sie erfährt, dass die Mitglieder der »Crossbones« – eine Studentenverbindung – seit Jahren in einem geheimen Spiel gegeneinander antreten, scheint »Bullshit-Bingo« die Rettung für Haley zu sein. Nachdem sie der Verbindung beigetreten ist, wartet allerdings bereits die nächste Schwierigkeit: Adam Carter, ihr ehemaliger Nachbar und der Mensch, dem sie gern weiterhin aus dem Weg gehen möchte. Doch leider ist das nicht so einfach, denn Adam ist ebenfalls Verbindungsmitglied und wirklich hilfreich beim Lösen der gestellten Aufgaben. Je länger die beiden zusammenarbeiten, desto klarer wird, dass sie zwar ein Spiel gewinnen, aber möglicherweise auch ihr Herz verlieren könnte ...

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BULLSHIT-BINGO

DAS SPIEL BEGINNT

INA TAUS

Copyright © 2021 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Mira Manger – Herzgestein Lektorat

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlagdesign: NH-Buchdesign

Bildmaterial: Shutterstock

978-3-95991-867-1

Alle Rechte vorbehalten

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Danksagung

Drachenpost

Für Emma und Karoline,

weil ihr mein Schwarz

in den schönsten Farben erstrahlen lasst

KAPITEL1

Man könnte meinen, der Wagen meines Bruders wäre wie von Zauberhand auf den winzigen Parkplatz geglitten. Doch die Wahrheit war, dass er einfach ein besserer Fahrer war als ich. Vielleicht, weil in seinem Kopf keine Folge eines Fast-and-Furious-Einparkmanövers ablief, während er das Auto rückwärts in eine winzige Lücke quetschte.

Schwungvoll zog er die Handbremse seines Dodge Dart an, der mich durch die türkise Farbe – Easton bestand darauf, dass sein Wagen grün war, nicht türkis – an Rusty aus dem Pixar-Film Cars erinnerte. Was natürlich mehr über meine Liebe zu Animationsfilmen aussagte als über Eastons Leidenschaft für alte Autos, die er sogar zum Beruf gemacht hatte. Er träumte zwar immer noch davon, irgendwann mal Rockstar zu werden, aber zumindest machte ihm sein normaler Job auch Spaß.

Der Motor gab ein letztes tuckerndes Geräusch von sich, bevor Easton ihn mit dem Drehen des Schlüssels zum Schweigen brachte. »Das ist es also«, murmelte er und blies sich auf eine nachlässig gechillte Art eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. Er besaß tatsächlich die Frechheit, entspannt oder eher gelangweilt zu klingen. Ein Wunder, dass er nicht auch noch gähnte. Könnte er doch nur solch eine Begeisterung für die Wahl meines Colleges aufbringen wie für alles, was vier Reifen oder zwei Brüste hatte.

Ihn ignorierend drückte ich mir die Nase an der Fensterscheibe platt und starrte das rote Backsteingebäude ehrfürchtig an.

»Gregory College House«, flüsterte ich, und der Respekt, der in meiner Stimme mitschwang, war kaum zu überhören. Es war schon immer mein Traum gewesen, an einem Ivy-League-College zu studieren, und nun war ich hier. An der University of Pennsylvania, kurz Penn genannt. Eine der ältesten und renommiertesten Bildungsstätten des Landes.

East schnaubte. »Haley, du klingst, als würdest du dir gleich vor Ehrfurcht ins Höschen machen.«

Schwachsinn.

Ich drehte mich zu ihm um und boxte gegen seine Schulter. »Dafür«, ich zeigte mit dem Daumen über meine Schulter auf mein zukünftiges Wohnheim, »habe ich mir während der gesamten Highschool-Zeit den Hintern aufgerissen. Und jetzt halt die Klappe und nimm an diesem bedeutungsvollen Moment in meinem Leben teil, du Ignorant.«

Natürlich tat mein älterer Bruder genau das Gegenteil davon.

»Ich weiß nicht …«, murmelte er und spähte über meine Schulter hinweg ebenfalls nach draußen. »Das Haus wirkt nicht unbedingt eindrucksvoll.«

Ich konnte froh sein, dass ich überhaupt einen Wohnplatz bekommen hatte. Alle Wohnheime für Erstsemester waren längst voll gewesen, aber zum Glück hatte man hier noch ein Zimmer für mich aufgetrieben.

East verzog das Gesicht, als wäre er ein Wohnheimkritiker, und musterte den Altbau mit arrogant erhobener Augenbraue. »Rote Backsteine«, stellte er fest. »Das wirkt so, als würde das Gebäude absichtlich auf altmodisch machen.«

Wir waren nicht bei American Idol, und East hatte kein Recht, hier irgendwas zu kritisieren. Er hatte keine Ahnung, denn dieses Wohnheim war perfekt. Einen – für ihn langweiligen – Vortrag über mein neues Wohnheim würde ich mir definitiv sparen, denn er wüsste ihn sowieso nicht zu schätzen. Wobei …

»Wusstest du, dass es an der Penn zwölf verschiedene Häuser für die Studierenden gibt?«

Er grinste mich an. »Und da landest du ausgerechnet im Gregory House? Waren Haus Baratheon, Targaryen, Stark, Frey, Arryn, Lennister, Graufreud und Martell schon voll?« Schlagartig verfluchte ich unseren gemeinsamen Serienmarathon im Sommer. Wer hätte auch ahnen können, dass mein Bruder mit seinen einundzwanzig Jahren noch vergaß, die Klobrille runterzuklappen, aber sich jeden noch so kleinen Game-of-Thrones-Fakt merkte? Sein Hirn war ein Sieb, das im Normalfall nur Blödsinn filterte. Wie zum Beispiel Jingles für Cornflakes-Werbungen, die er dann andauernd schief summte. Oder GoT-Facts.

Gott, war ich bereit, auszuziehen.

»Halt die Klappe, East«, murmelte ich mit einem Schmunzeln. Zugegeben, auch wenn Easton mich seit jeher mit Leidenschaft ärgerte, würde ich ihn vielleicht doch etwas vermissen. Bevor ich noch sentimental wurde, riss ich mich zusammen. Was jetzt kam, war eine wirklich große Sache für mich.

Das schien auch Easton zu bemerken, und er rettete mich vor meiner eigenen Gefühlsduselei, indem er den Schlüssel abzog und die Autotür öffnete. Die kurze Schonfrist, in der ich in aller Ruhe die Lage abchecken konnte, war offensichtlich zu Ende. Also tat ich es East gleich und stieg mit zittrigen Beinen aus. Möglicherweise, und das würde ich nie zugeben, hatte er nämlich recht und ich war tatsächlich ein kleines bisschen aufgeregt. Aber verdammt noch mal, ich hatte mein ganzes bisheriges Leben darauf hingearbeitet, irgendwann gemeinsam mit meinem Sportler-Freund – der nun mein Ex-Freund war – auf ein Ivy-League-College gehen zu können. Und jetzt war ich tatsächlich hier. Im Gegensatz zu ihm.

Nach der angenehm kühlen Luft im Auto raubte mir die flirrende Augusthitze Philadelphias kurz den Atem. Ich blieb wie festgefroren auf dem Gehweg stehen und starrte auf die Hausfassade. Auch wenn ich es ungern zugab, hatte Easton teilweise recht. Die roten Backsteine wirkten nicht unbedingt modern, aber dafür zählte die Universität zu den ältesten des Landes. Die Penn war so wie meine Highschool-Freundin Gretchen. Von außen betrachtet zum Verkaufen von Bibeln bestens geeignet, doch in ihrem Inneren so versaut, dass selbst der Teufel sich vor ihr verneigen würde. Dem ich, nur nebenbei bemerkt, meine Seele verkauft hätte, nur um hier studieren zu dürfen.

Ich nahm einen tiefen Atemzug, der zum Glück nicht nach Schwefel roch. Es hatte also doch Vorteile, es aus eigenem Antrieb an eine gute Universität zu schaffen. Ganz ohne ewige Verdammnis und Höllenfeuer.

Easton stellte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schulter. »Und? Riecht die Luft hier anders als zu Hause?«

»Ja, akademischer.«

Das brachte ihn zum Lachen. »Wer’s glaubt, Superhirn.«

Bei der Erwähnung meines Kosenamens wurde ich schon wieder etwas rührselig, denn ich wusste, dass er wahnsinnig stolz auf meine Zielstrebigkeit war. Als die bei seiner Geburt verteilt wurde, stand er immer noch beim Sarkasmus an, deshalb fehlte ihm diese Eigenschaft völlig.

Aus einem Impuls heraus drehte ich mich zu ihm und schlang meine Arme um ihn. East war ein wenig wie Olaf, der Schneemann aus Frozen. Der stand ebenfalls tierisch auf Umarmungen und nahm, was er bekommen konnte. Ich hielt es da wie Elsa. Aber genug von meiner Obsession für Animationsfilme. Und genug von dieser nicht enden wollenden Umarmung.

»Lass los. Du kennst die Zehn-Sekunden-Regel«, brummte ich. Ich war noch nie besonders touchy gewesen, ganz im Gegensatz zu dem übergroßen Stofftier-Olaf in Form meines Bruders, der sich immer noch an mich klammerte.

Natürlich ließ er mich nicht los. »Die tritt außer Kraft, wenn du eine Umarmung initiierst.«

»Wo steht das?«

»Geschwisterhandbuch, Kapitel vier, Absatz fünf. Wird großen Brüdern bei der Geburt eines Geschwisterchens geschenkt«, log er.

»Wenn du das sagst.« Ich versuchte trotzdem, ihn von mir zu schieben. »Aber langsam wird es merkwürdig. Nachher denken die heißen College-Jungs noch, dass ich mich von meinem Freund verabschiede. Und schon habe ich keine Chancen mehr, jemanden abzuschleppen.« Vermutlich würde das niemand denken, da East und ich uns ziemlich ähnlich sahen. Wir hatten die gleichen langweiligen braunen Haare und grünen Augen. Aber sicher war sicher und die zehn Sekunden bei Weitem überschritten, also schob ich ihn von mir.

Demonstrativ steckte Easton sich seine Finger in die Ohren. »La, la, la, la. Ich habe nichts gehört. La, la, la, la.«

Ich ging zum Kofferraum und öffnete die Klappe. »Sei nicht so prüde, East, und werd erwachsen. Du weißt schon, dass ich die ganze Highschool-Zeit über einen festen Freund hatte und dass wir in meinem Zimmer nicht nur gelernt haben, oder?«

»Nein«, ächzte er, als er sich neben mich stellte. »Aber ich werde es auf die Liste mit Dingen setzen, die ich nie über meine Schwester wissen wollte.«

Ich klimperte übertrieben mit meinen Augen. »Stets zu Diensten, Rockstar.« Auch ich hatte für Easton einen Spitznamen. Ich fand ihn ziemlich passend, da er seit seiner Jugend mehr Zeit mit seiner Gitarre verbrachte als mit Lernen oder seinen immer wechselnden Freundinnen.

Unser Geplänkel war für East wohl beendet, denn er klopfte auf einen der Umzugskartons. »Weißt du überhaupt, wo wir hinmüssen?«

»Ja, natürlich. Meine Zimmernummer wurde mir vorab mitgeteilt, ich muss nur noch den Schlüssel holen. Warte mal kurz hier.«

»Okay. Ich lehne mich einfach gegen den Wagen und sehe gut aus.« Vielleicht sollte ich Eastons Ego mitnehmen, sonst könnte es in der Hitze einen Sonnenstich bekommen.

Über die Schulter winkte ich ihm zu und ging dann das Gebäude entlang, um den Eingang zu finden. An sich eigentlich kein schwieriges Unterfangen.

Sollte man meinen.

Wenn man allerdings Haley Evans hieß, gestaltete sich die Suche nach einer Tür offensichtlich schwieriger als gedacht. Mein Orientierungssinn war mies. Man müsste mich vermutlich nur einmal mit geschlossenen Augen im Kreis drehen und ich würde nicht mehr zurück zum Wagen finden.

Aber da ich bereits in ein paar Stunden auf mich allein gestellt sein würde, sollte ich langsam damit anfangen, ohne Hilfe zurechtzukommen. Besser spät als nie.

Ich ging das große Gebäude entlang.

Fenster.

Fenster.

Noch mehr Fenster.

Das konnte doch nicht wahr sein. Der erste Tag am College, und ich scheiterte bereits daran, den Eingang zu meinem Wohnheim zu finden. Mein Orientierungssinn ließ wirklich zu wünschen übrig. Das, oder East hatte schlecht geparkt.

Na toll, immer noch keine Tür in Sicht. Dafür fand ich einen kleinen Durchgang, markiert durch eine Mülltonne. Ich nahm an, dass ich einfach auf der falschen Seite des Gebäudes gesucht hatte, also ignorierte ich den Gestank des Abfalls, hielt die Luft an und ging weiter.

Obwohl ich bereits durch meinen miesen Orientierungssinn gezeichnet und durch den kurzweiligen Verlust meines Geruchssinns eingeschränkt war, setzte das Universum noch einen drauf, indem es mich halb blind machte. Und das alles nur wegen der Sonne, die mich blendete und versuchte, mir die Sehkraft zu rauben.

Übertrieb ich?

Definitiv. Aber ich wollte verdammt noch einmal endlich einen Eingang finden.

Für einen kurzen Moment konnte ich wegen meines neuen Feindes – des Sonnenlichts – nur Schemen sehen, und wurde quasi von oben niedergestreckt.

Nicht von Gott. Nur von … keine Ahnung. Dem Schmerz nach zu urteilen, musste es ein Amboss gewesen sein. Mist, tat das weh.

Wer zur Hölle wirft am helllichten Tag mit Ambossen um sich?

Fassungslos starrte ich auf das Ding, das sich bei genauerem Hinsehen als Rucksack entpuppte und nun unschuldig zu meinen Füßen lag. Ich trat trotzdem nach dem verdammten Teil, das mich mit der Feuerkraft eines Dodgeballs am Kopf getroffen hatte, und rieb mir den Schädel. Ich hatte Völkerball immer schon gehasst. »Eliminiert.« Aber so was von.

Ein wenig benebelt sah ich nach oben und stellte fest, dass in diesem Moment ein Kerl aus einem offenen Fenster im ersten Stock sprang und souverän auf beiden Beinen landete, als würde er jeden Tag diese Superhelden-Moves abziehen.

Wer machte denn bitte so was?

Andererseits … es gab ja auch nirgendwo Türen, da war es scheinbar völlig normal, hier aus Fenstern zu springen.

Suchend sah er sich nach seinem Rucksack um, entdeckte aber nur das Mädchen, das sich immer noch den schmerzenden Kopf rieb.

»Fuck«, hörte ich ihn mit rauer Stimme sagen, die mir seltsam bekannt vorkam. »Geht es dir gut?«

»Ob es mir gut geht?«, murmelte ich und fixierte den Kerl mit mörderischem Blick. »Sehe ich so aus, als würde es mir …«

Mitten im Satz brach ich ab und starrte in die meerblauen Augen meines ehemaligen Nachbarn. Wobei ehemalig nicht ganz richtig war. Seine Eltern wohnten immer noch im Haus nebenan, nur Adam hatte ich den ganzen Sommer über nicht gesehen. Und den davor ebenfalls nicht.

»Adam Carter?«, kam es völlig verblüfft aus meinem Mund, und ich versuchte erst gar nicht zu verbergen, dass ich nicht damit gerechnet hatte, ihm an meinem ersten Tag in Philadelphia über den Weg zu laufen. Oder überhaupt jemals wieder in meinem Leben.

Aber er war es. Definitiv. Irrtum ausgeschlossen.

Adam hatte sich kaum verändert, sah aber trotzdem irgendwie anders aus. Erwachsener, möglicherweise. Und das, obwohl er immer noch die gleichen schwarzen Chucks – oder zumindest dasselbe Modell – trug, kombiniert mit einer schwarzen Jeans samt Rissen an den Knien und einem schwarzen kurzärmligen T-Shirt, das einen Blick auf seine tätowierten muskulösen Arme freigab. Im Gegensatz zu seinem tristen Kleidungsstil bewies er wenigstens dort Mut zur Farbe.

Wie es aussah, hatten so ziemlich alle Farbschattierungen der Welt auf Adams Haut eine Orgie gefeiert und sich in rasendem Tempo miteinander vereinigt. Zumindest konnte ich mir nicht anders erklären, warum das Punisher-Zeichen, das er sich in der Highschool auf den Unterarm hatte stechen lassen, plötzlich eine Party mit dem kompletten Marvel-Cast feierte. Ein Superheld reihte sich an den nächsten. Was aber zunächst wie eine ungeordnete Ansammlung wirkte, setzte sich erstaunlicherweise zu einem wirklich spannend anzusehenden Gesamtbild zusammen.

War Adam Carter immer schon so … so … so tätowiert einschüchternd gewesen? Anders konnte ich mir nicht erklären, dass plötzlich das Wort heiß im Zusammenhang mit ihm in meinem Kopf herumspukte. An den hellbraunen Haaren, die er offensichtlich immer noch nicht richtig stylen konnte, lag es bestimmt nicht. Dieser heiße Studentenlook war doch zum Kotzen. Dazu noch dieses penetrante Sonnyboy-Lächeln mit leicht nach oben gezogener Augenbraue, die ihn wirken ließ, als würde er die ganze Welt hinterfragen wollen.

»Haley Evans.« Keine Frage, sondern eine Feststellung. Kam jetzt der Moment, in dem er sein »Geht es dir gut?« zurücknahm und mir stattdessen ein »Kannst du nicht aufpassen?« an den Kopf warf?

Ich lag falsch. So verdammt falsch, denn er sagte: »Schön, dich zu sehen.«

War das wirklich Adam? Der Junge von nebenan, Eastons ehemaliger bester Freund und der Typ, der irgendwann nur noch mit einsilbigem Brummen auf Fragen von mir reagiert hatte?

Skeptisch sah ich ihn an. »Fällt mir gerade nicht leicht zu glauben, nachdem du mich beinahe mit deinem Rucksack ermordet hast.« Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und versuchte, ihn grimmig in Grund und Boden zu starren. Was nicht besonders einfach war, wenn man bedachte, dass ich viel kleiner war als er. Angsteinflößend sah definitiv anders aus. Ungefähr einen Meter achtzig mit Bad-Ass-Marvel-Tattoos. Nicht dass ich immer noch darauf starren würde.

Adam pflügte mit den Fingern durch sein Chaoshaar. »Kannst du kurz aufhören, so … so … haleymäßig zu sein, um mir endlich zu sagen, wie du dich nach meiner Attacke fühlst?«

»Also gibst du zu, dass es vorsätzlich war?«

»Nein, aber es tut mir echt leid«, entschuldigte er sich. »Das mit dem Rucksack war ein Versehen. Ich wollte dich nicht damit abschießen. Aber hör jetzt endlich auf auszuweichen und sag mir, ob du okay bist.«

»Ich denke, ich habe durch den Schlag auf den Kopf meinen Orientierungssinn verloren.«

Vorwurfsvoll sah er mich an. »Du hattest noch nie einen. Und deinem eigenartigen Sinn für Humor ist auch nichts passiert.«

Mist! Da hatte ich einen sexy Zusammenstoß, aus dem sich eine romantische College-Lovestory ergeben könnte, nur leider mit einem Kerl, an dem ich keinerlei Interesse hatte. Was noch dazu auf Gegenseitigkeit beruhte.

Mit seiner Hand winkte Adam vor meinem Gesicht herum. »Tut dir irgendetwas weh? Fühlst du dich anders als sonst?«

»Na ja, dieses unfreiwillige Treffen hat mich ziemlich durcheinandergebracht.«

»Ernsthaft?«

»Nein.« Ja! Denn immerhin sprach er heute in einem normalen Tonfall mit mir. Das verwirrte mich. »Aber ich würde wirklich gern wissen, wieso du wie ein Stunt-Double aus dem Fenster gesprungen bist.«

»Die Tür quietscht und ich wollte unauffällig verschwinden.«

»Aha.« Das erklärte gar nichts. »Und in deinem Rucksack befinden sich irgendwelche Juwelen, die du da drinnen gestohlen hast?«

Adams Augenbrauen wanderten nach oben. »Nette Theorie. Das kannst du aber auch deutlich besser. Was ist der Wahrscheinlichkeit nach der häufigste Grund, aus denen Kerle in Fenster oder aus Fenstern klettern?«

Sex.

»Weil sie ihren Schlüssel vergessen haben?«

Ein belustigtes Schnauben kam aus Adams Mund, und ich fühlte mich geschmeichelt, dass ich ihn immer noch zum Lachen bringen konnte, wenn er mehr als einen Satz am Stück mit mir sprach. Was sich eigenartig anfühlte … vertraut, aber irgendwie auch neu. War der Adam, der wohl von Aliens entführt und gegen eine unhöflichere Version seiner selbst getauscht worden war, nun wieder zurück?

Irgendwie wollte ich nicht daran glauben, denn in den Jahren, bevor er aufs College abgehauen war, hatte er mich entweder ignoriert oder angebrummt. Ich rechnete jeden Moment mit einem Hirnkrampf, da die ganze Situation einfach nicht in meinen Kopf wollte, während Adam mich völlig unverblümt mit seinen unergründlichen Augen musterte. Diesen Blick kannte ich nur zu gut. Ihm folgte in den meisten Fällen irgendein dummer Kommentar.

In spätestens drei, zwei, eins …

»Und? Was hast du so in den letzten Jahren gemacht? Wie ich sehe, stehst du immer noch auf diesen Disney-Kram.« Er deutete mit einer nachlässigen Handbewegung auf mein Shirt und gab mir somit das Gefühl, wieder ein kleines Kind zu sein.

Und was war dann Marvel? Das Disney für Erwachsene, oder wie durfte ich das verstehen? Disney war kein Kleinkind-Kram. Es war eine verdammte Lebenseinstellung, aber Mister Obercool hatte vermutlich vergessen, dass er bei König der Löwen wie ein Baby geheult hatte. Mit zwölf! Aber was kümmerte es mich. Mein Grinsekatzen-Shirt, meine Arielle-Unterhose – die ich natürlich unter supersüßen und supersexy Shorts trug – und ich würden jetzt verschwinden. Klar, ich hatte bestimmt eine Million Fragen an Adam, doch die Angst, dass er sie in seinem altbekannten Arschlochtonfall beantworten würde, hinderte mich daran, sie zu stellen. Besser, ich trat den Rückzug an und vergaß, dass ich Adam heute wiedergesehen hatte.

»Ja, Disney ist offensichtlich mein Marvel«, spottete ich nach einem Blick auf seine Arme. »Wenn du erlaubst, würde ich jetzt in mein neues Wohnheim gehen.« Falls ich jemals einen Eingang finden würde.

Zur Untermauerung meiner Worte wollte ich an Adam vorbeirauschen und ihn einfach stehen lassen, doch er griff nach meinem Unterarm. »Halt! Warte.«

Seufzend blieb ich stehen. Natürlich. Es war ein großer Zufall, dass wir uns hier über den Weg gelaufen waren. Und hätte Adam sich in den Jahren bis zu seinem Highschool-Abschluss nicht wie ein unausstehlicher Arsch aufgeführt, wäre ich einem bisschen Small Talk nicht abgeneigt gewesen. Vor allem, da die Frage Wohnst du auch in diesem Gebäude? ganz oben in meinem Fragenkatalog stand. Aber die Dinge lagen nun einmal anders zwischen uns, deshalb würde ich mich zurückhalten. Die Angst vor Abweisung oder dämlichen Antworten war einfach zu groß.

Demonstrativ blickte ich auf meinen Arm, den Adam gar nicht mehr loslassen wollte. So viel Körperkontakt zu ihm war ich nicht gewohnt. Außerdem tickte die Uhr, denn die Zehn-Sekunden-Regel galt auch für ihn.

»Sorry.« Der kam ja heute aus dem Entschuldigen gar nicht mehr raus. »Ich hab dich schon ewig nicht mehr gesehen und du läufst einfach weiter, als würden wir uns nicht seit unserer Kindheit kennen.« Seine Stimme klang anklagend, was mich unfassbar wütend machte. Denn er hatte kein Recht, mir irgendwelche Vorwürfe zu machen.

Mit vor der Brust verschränkten Armen wandte ich mich ihm zu. »Na rate mal wieso.«

»Weil ich auf der Highschool ein unausstehliches Arschloch war?«

Ding, ding, ding. Tausend Punkte für den Kandidaten. »Ja, das bringt die Sache so ziemlich auf den Punkt.«

»Menschen ändern sich.«

»Newsflash!«, zischte ich wütend. »Glaub mir, niemand weiß das besser als ich. Denn mein ehemaliger Nachbar hat mich von einem auf den anderen Tag nicht mehr angesehen, während er mit meinem Bruder immer noch auf best friends forever gemacht hat.«

Easton!

Ich schlug mir die Hand vor die Stirn, was vermutlich genauso doof aussah, wie ich befürchtete. Mein Bruder war ja auch noch hier und würde mich hoffentlich vor Adam retten. Sofort machte ich auf dem Absatz kehrt und ging zielstrebig zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war.

»Haley, dafür gibt es eine Erklärung.«

Vermutlich, doch ich wollte sie nicht hören. Oder eher nicht mehr, denn sie kam ein paar Jahre zu spät. »Und warum läufst du überhaupt von mir davon?«, fragte Adam, der mir hinterhertrottete wie ein Hund seinem Herrchen. Was sollte das?

»Ist das nicht offensichtlich?« Unbeirrt ging ich weiter und versuchte, Adam zu ignorieren. Leider war das unmöglich, denn Adam war für mich wie das ätzende Geräusch von Kreide auf einer Schiefertafel.

»Ja, schon. Aber wir sind doch erwachsen und können darüber reden.«

Nach einer halben Drehung, zu der mir jede Ballerina gratuliert hätte, blaffte ich ihn an: »Nennst du mich jetzt auch noch kindisch?« Und das Schlimmste war, ich konnte es ihm nicht einmal verübeln, denn er hatte recht. Ich verhielt mich unlogisch und wie eine Zicke, die ich eigentlich nicht war.

Meine Schultern sackten nach unten. »Du hast recht.«

»Was?« Adams Stimme überschlug sich beinahe vor Unglauben.

»Ich sagte, du hast re-hecht.«

Doch Adam schien mir gar nicht mehr zuzuhören, da er über meine Schulter starrte. »Steht East da vorn?«, fragte er abgelenkt.

Ich drehte mich in die entsprechende Richtung und erkannte, dass mein Bruder wie angekündigt an seinem Wagen lehnte und Löcher in die Luft starrte. Vielleicht genoss er auch einfach nur die Sonne. Die verspiegelte Brille wäre zumindest ein Hinweis darauf.

»Ja, tut er. Er hat mich hergefahren.«

Sofort setzte Adam sich in Bewegung. »Wohnt er immer noch in Sheffield?«

Okay, offensichtlich war East nun interessanter und ich schon wieder Luft für Adam. Mein Plan ging besser auf als gedacht.

»Ja«, antwortete ich einsilbig.

Adam schien es eilig zu haben, Easton zu erreichen, und ich lief ihm hinterher. Keuchend blieben wir – okay, ich keuchte, Adam sah immer noch aus, als wäre er eben aus dem Bett gefallen – vor meinem Bruder stehen.

Ich rang mir ein Lächeln ab. »Sieh mal, wer mir gerade seinen Rucksack auf den Kopf geschmissen hat.« Der wohl eigenartigste Satz, der jemals meinen Mund verlassen hat.

»Habe ich mich eigentlich schon dafür entschuldigt?«

»Komischerweise bereits gefühlte hundert Mal.« Ich musste wohl erst wieder lernen, mit der netten Version von Adam umzugehen.

Easton, der bekanntlich die Aufmerksamkeitsspanne einer Fliege hatte, schien schnell zu verdauen, dass sein ehemaliger bester Freund unerwartet vor ihm stand. »Bei Haleys Dickschädel würde es mich wundern, wenn sie sich ernsthaft verletzt hätte.« Danach hielt er seinem Highschool-Freund die Hand hin, und nach ein paar ziemlich kompliziert aussehenden Handschlägen grinsten sie sich an.

Ernsthaft jetzt? So einfach war das zwischen Jungs? Keine Vorwürfe? Nichts? Ich war offensichtlich zu kompliziert. Und nachtragend.

Besser, ich kümmerte mich zuerst um den Schlüssel, danach um … das hier. Adam und Easton hatten sich bestimmt eine Menge zu erzählen, und ich würde ihnen nicht fehlen.

»Ich werde dann mal weiter versuchen, einen Eingang in diese Festung zu finden«, murmelte ich. Im Notfall würde ich einfach versuchen, durch das Fenster zu klettern, aus dem Adam gekommen war.

Ich wollte gerade wieder den gleichen Weg wie zuvor nehmen, da hielt Adam mich auf, indem er mir nachrief: »Haley. Andere Richtung.«

KAPITEL2

Fünfzehn Minuten, ein paar ausgefüllte Formulare und eine Schlüsselübergabe hatten ausgereicht, um einzusehen, dass ich die Zicke in mir nicht mehr auf Adam loslassen würde. Er war kein schlechter Kerl, und ich hatte mich ein klitzekleines bisschen hineingesteigert. Klar, früher hatte er sich wie der Oberfiesling eines Highschool-Dramas verhalten, aber ganz tief in mir drin wusste ich, dass Adam viele gute Seiten hatte. Unter den ganzen bunten Tattoos steckte der kleine Junge, der gemeinsam mit seiner Granny, seiner Mom und mir Kekse gebacken hatte, weil er wusste, dass ich Santa Claus sonst kein selbst gemachtes Gebäck auf den Kaminsims stellen konnte. Dad war ein zu miserabler Bäcker und Santa wäre mit einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus gelandet.

Außerdem vermisste ich den Adam, mit dem East und ich jeden Nachmittag unsere Hausaufgaben gemacht hatten. Sein Grandpa hatte alles kontrolliert oder uns abgefragt. Damals war Adam so was wie mein bester Freund gewesen.

Ich hoffte einfach, dass der hormongebeutelte Teenager, der nur einmal schmallippig lächeln musste, um alles zu bekommen, ohne dass er einen Funken Dankbarkeit gezeigt hätte, die Pubertät endlich überstanden hatte. Denn ihn hatte ich gehasst, weil er mich einfach aus seinem Leben gestrichen hatte. Das Mehrgenerationenhaus, in dem er mit seinen Eltern und Großeltern gelebt hatte, hatte ich in dieser Zeit nur noch von außen gesehen. Genauso wie den fetten SUV Land Cruiser, den der Arzt- und Anwaltsspross zu seinem sechzehnten Geburtstag bekommen und in dem er alle seine Freunde – und so ziemlich jedes Mädchen aus der Highschool – mitgenommen hatte. Nur mich nicht. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes nur noch Zaungast gewesen. Und das nahm ich ihm auch heute noch verdammt übel. Doch am schlimmsten fand ich die Tatsache, dass ich damit begonnen hatte, Adam insgeheim zu hassen, da er mir durch seine Ablehnung etwas viel Wichtigeres genommen hatte: seine Familie, die auch ein wenig meine gewesen war. Klar, East und ich hatten Dad. Und er war ein großartiger Dad, hatte uns Pausenbrote geschmiert, uns abends ins Bett gebracht und sich an den Wochenenden intensiv Zeit für uns genommen. Ich hatte ihm nie einen Vorwurf daraus gemacht, dass er unter der Woche nur wenig Zeit fand, denn er tat sein Allerbestes, damit es uns gut ging. Aber als Mädchen hatte ich mich nach weiblichen Vorbildern in meinem Leben gesehnt, und diese in Form von Adams Granny und seiner Mom Edith auch bekommen.

Ich konnte darüber hinwegsehen, dass Adam zur Highschool-Zeit ein überhebliches Arschloch geworden war, und auch, dass er bis nachts um zwölf mit seinen Freunden um die Häuser gezogen war und trotzdem gute Noten geschrieben hatte, während ich rund um die Uhr versucht hatte, den Schulstoff in mein Hirn zu prügeln, um etwas aus meinem Leben zu machen. Aber dass er jedes Mal das Gesicht verzogen hatte, wenn ich auch nur in die Nähe seines Hauses gekommen war, hatte mich damals mehr verletzt, als ich jemals zugeben würde. Und deshalb hatte ich irgendwann damit aufgehört, auch wenn Granny und Edith nicht müde geworden waren zu betonen, dass ihre Tür immer offen stand. Bis heute.

Trotz allem wollte ich Adam eine neue Chance geben. Man sollte mir einen Mutter-Theresa-Orden verleihen, aber ich wollte daran glauben, dass er sich wirklich geändert hatte, auch wenn es naiv war. Jeder verdiente eine zweite Chance, und bestimmt tat ihm sein Verhalten leid.

Oder auch nicht …

Viel schneller als gedacht zerplatzte mein Vorsatz – puff – wie eine Seifenblase. East stand allein beim Wagen und tippte gelangweilt auf seinem Smartphone herum. Irritiert sah ich mich nach Adam um, doch er war so schnell verschwunden, wie er gekommen war. So etwas brachte nur Adam zustande: zuerst mit der Schnelligkeit eines Wanderfalken im Sturzflug aufzutauchen und sich danach mit dem Tempo eines Gepards wieder aus dem Staub zu machen. Boah, ich sollte mir nachts weniger Tierdokumentationen reinziehen.

»Wo ist Adam?«, fragte ich und war stolz, dass ich dabei nicht zickig klang. Ich hasste es, wenn Menschen einfach verschwanden, denn das erinnerte mich auf unangenehme Weise an meine Mom, die einfach eines Nachts abgehauen war und nichts als einen lächerlichen Brief hinterlassen hatte.

Easton sah auf. »Carter?« Wieso mussten Männer sich eigentlich immer mit Nachnamen ansprechen?

»Ja, Adam Carter«, betonte ich seinen vollen Namen und klang dabei genervter, als ich war. »Der Typ, der im Haus neben uns aufgewachsen ist und den wir eben wiedergesehen haben«, wiederholte ich für den Fall, dass das Sieb, das er als Gehirn benutzte, diese Info mit einem Werbejingle überschrieben hatte.

Ein verwirrter Ausdruck erschien auf Eastons Gesicht. »Ich dachte, du wolltest, dass ich ihn für dich loswerde?«

»Wieso? Weil er der einzige Mensch in Philadelphia ist, den ich kenne und der mich davor bewahren könnte, mich in einer Stadt mit über eins Komma fünf Millionen Einwohnern zu verlaufen?« Ich hätte mir lieber ein College in einer Kleinstadt aussuchen sollen.

»Du hast Google Maps auf deinem Smartphone. Benutz es.« Ja klar, als wäre ich so vernünftig und würde jeden Tag meinen Akku aufladen. »Außerdem hasst du Carter.«

East wusste, was zwischen Adam und mir abgelaufen war, und auch, wie sehr es mich belastet hatte. Doch er hatte keinen Finger gerührt, um die Sache zwischen Adam und mir wieder hinzubiegen. Womöglich war es ihm auch egal, denn für ihn war Adam einfach nur sein bester Freund gewesen und der Rest seiner Familie die netten und freundlichen Leute von nebenan. Für mich allerdings waren sie lange Zeit meine Ersatzfamilie gewesen.

»Ich habe ihn lange nicht gesehen.« Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern und hoffte, dass die fiese Haley schön in ihrem Käfig sitzen blieb. Jetzt war definitiv kein Moment, um in den Ring zu steigen. »Offenbar ist der Hass abgeflaut, und außerdem … East, er war nett zu mir.«

»Du warst ja auch jahrelang so etwas wie eine kleine Schwester für ihn«, erinnerte mich East.

»Und die ignoriert man dann in der Highschool?«

»Das kommt häufiger vor, als du denkst. Gretchen und ihr Bruder hassen sich doch auch wie die Pest.«

So hatte ich das noch nie gesehen und ich musste zugeben: East hatte komischerweise recht.

Eigenartiges Gefühl.

»Fürs Protokoll. Oder dein komisches Geschwisterhandbuch, dessen Existenz ich immer noch anzweifle«, sagte ich zu Easton und bohrte ihm meinen Zeigefinger in die Brust. »Ich hege Adam gegenüber so was von überhaupt keine geschwisterlichen Gefühle.«

Easton betrachtete mich mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Ach, das ist mir neu.«

»Was ist dir neu?« Die Verwirrung, die in meiner Stimme mitklang, war unüberhörbar.

»Dass du scharf auf Adam bist.«

Was? Wie kam er denn auf so einen Schwachsinn? Ich konnte nicht abstreiten, dass die äußere Hülle von Adam ganz ansehnlich war. Jedes Mädchen im Umkreis von drei Meilen würde ihm vermutlich sein Höschen zuwerfen. Nur ich nicht. Er wüsste Arielle gar nicht zu schätzen.

»Ja klar, du Irrer. Du schickst Adam weg, weil du denkst, dass ich ihn loswerden will, aber im nächsten Moment unterstellst du mir, dass ich auf ihn abfahre?«

»Ja, offensichtlich«, antwortete er irritiert. Danach schüttelte er über sich selbst den Kopf. »Okay«, kam es nach kurzem Nachdenken von ihm. »Ich sehe selbst, wie lächerlich das war. Tut mir leid.«

»Schön. Dann können wir ja endlich was Produktives machen.« Ich nahm Easton den Autoschlüssel ab und ging zum Kofferraum, der immer noch offen stand. Nachdem ich den ersten Umzugskarton in meinen Händen hielt, griff sich East, der Angeber, natürlich gleich zwei. Ich würde ihm gern zu seiner Stärke gratulieren, war mir aber sicher, dass er aus Faulheit lieber schwerer schleppte, als mehrfach zu gehen.

Ich balancierte den Karton umständlich auf meinem Knie, um die Klappe des Kofferraums zu schließen und die Zentralverriegelung zu betätigen.

»Komm mit«, wies ich meinen Bruder an und ging voraus. Dieses Mal sogar in die richtige Richtung. Es geschahen doch noch Wunder.

»Also, wie war es für dich, Adam wiederzusehen?« Das Thema Adam nagte an mir, und ich wollte unbedingt erfahren, was passiert war, während ich endlich den Eingang in die Festung, wie ich mein Wohnheim inzwischen insgeheim nannte, gefunden hatte.

»Wie war es für dich?«, stellte er sofort eine Gegenfrage.

»Wir müssen hier rechts rein«, sagte ich. »Es war nicht besonders aufregend, wenn man von dem Umstand absieht, dass er mich mit einem Rucksack erschlagen wollte.« Leicht zuckte ich mit den Schultern, was mit dem Umzugskarton in meiner Hand gar nicht so einfach war. »Ich bin mir nur noch nicht ganz sicher, was ich von seiner plötzlich wiedergekehrten Freundlichkeit halten soll. Und von der Tatsache, dass mein Hirn ebenfalls ein Sieb zu sein scheint, denn ich habe nicht mehr daran gedacht, dass er hier studiert …«

Easton schloss zu mir auf und wir sahen uns kurz an. »Irgendwie habe ich in den letzten zwei Jahren überhaupt nicht oft an ihn gedacht. Komisch, oder?«

»Schon, wenn man bedenkt, dass es euch zwei euer ganzes Leben lang nur noch im Doppelpack gab.«

Unbehagliches Schweigen breitete sich zwischen East und mir aus, was wirklich selten vorkam. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen sagte mir, dass er intensiv nachdachte. Vermutlich darüber, warum die beiden nicht mehr wie siamesische Zwillinge durch die Welt liefen.

Sofort überkam mich das schlechte Gewissen, denn ich hatte mich insgeheim darüber gefreut, dass Adam unseren Heimatort verlassen hatte. So hatte ich wieder im Nachbarhaus ein und aus gehen können, ohne dass man versucht hatte, mich mit Blicken zu töten. Edith war die geborene Mom und hatte es sich trotz ihres Jobs als Anwältin nie nehmen lassen, sich neben ihrer eigenen Familie auch noch um mich zu kümmern. Sie war für mich da gewesen, als ich meine Periode bekommen und mich auf unserer Toilette eingeschlossen hatte, weil ich nicht gewusst hatte, wie ich damit umgehen sollte. Als ich meinen ersten Freund hatte, war sie mit mir zum Frauenarzt gegangen und hatte mir die Pille besorgt. Außerdem hatte ich auch einen Vortrag darüber bekommen, wie wichtig es war, trotzdem immer Kondome zu verwenden.

Vor dem Abschlussball war sie es gewesen, die mit mir ein Kleid ausgesucht hatte, nachdem Dad sie überfordert um Hilfe gebeten hatte. Außerdem war sie diejenige, die mich nach der Trennung von Will ermutigt hatte, auf die Penn zu gehen und mein eigenes Ding durchzuziehen.

East wollte gerade etwas sagen, doch ich schnitt ihm das Wort ab. »Macht es mich eigentlich zu einem schlechten Menschen, dass ich Edith nie nach Adam gefragt habe?«

Wir erreichten die Eingangstür, die ich vorsorglich bereits offen gelassen hatte, und ich ging voraus, um East den Weg zu meinem Zimmer zu zeigen.

Es wuselten gefühlt eine Million Menschen in diesem Wohnheim herum, und ich hatte Mühe, mich an einem Elternpaar vorbeizuquetschen, das immer noch auf ihre pinkhaarige Tochter einredete. Die drei waren mir schon zuvor aufgefallen.

Beim Vorbeigehen warf mein Bruder dem Mädchen interessierte Blicke zu. Zwei Umzugskartons in den Armen waren wohl kein Hindernis, um Mädels klarzumachen. »East, wir müssen in den ersten Stock«, versuchte ich seine Aufmerksamkeit wieder zurückzuerlangen. Das Schneckentempo, das er plötzlich hinlegte, machte mich irre und die Box in meinen Händen wurde sekündlich schwerer.

»Wie … was?«, kam es abgelenkt von meinem großen Bruder.

Mit dem Kinn deutete ich zu der Tür, die zum Treppenaufgang führte. »Da rauf.«

»Ach so. Bin da.«

Körperlich vielleicht. Geistig war er immer noch bei dem Mädchen. Kopfschüttelnd ging ich voran. Es wunderte mich, dass er mir tatsächlich folgte und sogar verspätet auf meine Frage antwortete. »Du bist übrigens kein schlechter Mensch. Adam hat sich dir gegenüber wie der letzte Arsch verhalten. Ich würde mich auch nicht nach dem Kerl erkundigen, der mich in der Grundschule in den Spind gestopft hat.«

Mein Mund klappte auf und ich hielt mitten in der Bewegung inne. Auf dem Treppenabsatz stehend drehte ich mich zu Easton um. »Dich hat jemand in den Spind gestopft?«

»Keine große Sache. Er war größer und stärker als ich. An der Highschool habe ich dann ihn in seinen Spind gestopft. Alles gut.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Easton Evans, so löst man keine Probleme.«

»Hab auch nie behauptet, dass es richtig war.«

Kopfschüttelnd setzte ich meinen Weg fort und stolperte prompt im Treppenhaus über meine eigenen Füße. Der Karton fiel mir aus den Händen und ich landete auf den Knien. »Autschi«, wimmerte ich.

»Haley«, rügte East mich genervt. »Pass doch auf.«

Ich stand auf und zischte: »Ich bin doch nicht absichtlich gestolpert.« Beleidigt bückte ich mich nach dem Karton und ging weiter. Ohne mich mit East zu unterhalten, um weitere Unfälle zu vermeiden.

Oben angekommen, kämpfte ich damit, den Karton nicht ein weiteres Mal fallen zu lassen, während ich die Tür mithilfe von meinem Fuß aufstemmte. Easton schlüpfte vor mir durch, und nun befanden wir uns auf einem langen, nicht besonders breiten Gang, von dem zahlreiche Türen abgingen. »Jetzt links. Es ist die letzte Tür auf der linken Seite, hat der Schlüsselverwaltungstyp gesagt«, gab ich weitere Anweisungen.

Stumm ging Easton voran. »Nicht unbedingt das schlechteste Zimmer. Dann laufen nicht immer alle Studenten an deiner Tür vorbei.«

»Finde ich auch«, stimmte ich zu, kam dann aber wieder auf unser ursprüngliches Thema zurück. »Also, wohnt Adam auch hier im Wohnheim? Hast du ihn das gefragt?«

»Ja.«

»Ja, er wohnt hier, oder ja, du hast gefragt?«

Easton schnaubte belustigt. »Er lebt nicht im Studentenwohnheim«, präzisierte er.

»Aber was hat er dann hier gemacht?« Diese Nach-dem-Sex-durch-das-Fenster-Geschichte wollte ich einfach nicht glauben.

Easton blieb abrupt stehen und ich lief in ihn hinein. Die Unglückskette riss einfach nicht ab. »Kannst du mich nicht vorwarnen?«, beschwerte ich mich.

»Kannst du nicht aufpassen?« Halb drehte East sich zu mir um. Das Grinsen auf seinem Gesicht passte überhaupt nicht zu seinen schroffen Worten. »Was denkst du denn, was er gemacht hat?«

»Eine Bombe gelegt?« Immerhin war er wie ein Ninja durch das Fenster gesprungen.

»Was stimmt mit dir nicht?«

»Daran bist du schuld. Jahrelang habe ich neben Adam und dir gesessen, als ihr blöde Ballerspiele auf der Konsole gezockt habt. So was prägt junge Menschen.«

Mit meiner Aussage brachte ich Easton dazu, die Augen zu verdrehen. »Klar. Ich bin schuld daran, dass du verkorkst bist.« Eigentlich hätte ich diesen Umstand eher dem Fehlen meiner Mom zugeschrieben, aber wenn East sich als Sündenbock anbot, würde ich mich ihm nicht in den Weg stellen.

»Er war bei einem Mädchen«, stellte Easton klar. »Und das nicht zum Lernen.«

Er drehte sich wieder um und ging weiter.

»Und das weißt du nach so kurzer Zeit? Wie macht ihr Männer das?«

»Wir labern eben nicht ewig herum.«

»Und wie kann ich mir das vorstellen?«

»Haley, verdammt. Willst du einen Mitschnitt des Gesprächs?«

»Ich bin eben neugierig«, verteidigte ich mich.

Wir erreichten die Tür meines zukünftigen Zimmers und Easton stellte die Kartons ab. Ich packte meinen gleich noch obendrauf.

»Gut«, sagte er genervt. »Dann bekommst du eine kurze Zusammenfassung. Das Gespräch verlief ungefähr so: Nachdem du endlich den richtigen Weg genommen hast, hat er gefragt: Ist sie immer noch so orientierungslos? Und ich so: Merkt man das nicht? Dann haben wir geschnaubt und uns über den gemeinsamen Insider gefreut. Als Nächstes habe ich so was gesagt wie: Was machst du hier? Und er so: Studieren. Und dann ich wieder so: Nein, vor dem Wohnheim, in das Haley einzieht. Falls sie jemals die Tür findet.« An dieser Stelle boxte ich Easton verständlicherweise, aber der ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. »Dann haben wir wieder gelacht. Daraufhin meinte Carter: Ich wohne nicht direkt auf dem Campus. Hab nur eine Freundin besucht, die ich eine Weile nicht gesehen habe. Ich habe ihn wissend angeblickt und genickt, er hat dreckig gegrinst und mir war klar, dass er ein Mädel flachgelegt hat.«

Ja klar. Unverbindlicher Sex im Wohnheim war bestimmt nichts Ungewöhnliches.

»Geht die Geschichte noch weiter?«, wollte ich wissen und zog den Schlüssel aus meiner Hosentasche.

»Ein wenig. Ich hab ihn dann gefragt, warum er im Sommer nicht zu Hause war. Dann hat er mich angesehen und mit den Schultern gezuckt. Nach einer Weile hat er dann gesagt: Hab nicht mehr besonders viel Kontakt zu den Leuten in Sheffield. Mit meinen Eltern und Großeltern war ich im Urlaub. Und danach hatte ich die Wahl, hier in der Stadt mit Freunden abzuhängen oder allein zu Hause. Dann habe ich ihn angesehen, weil mir schon länger leidtat, dass wir uns aus den Augen verloren haben, und gesagt: Solange ich in Sheffield wohne, wirst du dort immer Freunde haben.«

»Was für den Rest der Welt, die mundfauler Mann nicht fließend sprechen, so viel heißt wie: Lass uns wieder Freunde sein?«

»Klar. Was sonst?«, fragte East.

Ich nickte. Obwohl ich gar nichts verstand. »Und das geht unter Männern wirklich so einfach?«

»Jup.«

Ich deutete in Richtung seiner Jeans. »Das erste Mal beneide ich dich um deinen kleinen Freund. Ein Streit unter Frauen ist so viel komplizierter. Da wird gleich der ganze Freundeskreis involviert, Gruppen bilden sich, man spricht schlecht übereinander. Und es herrscht Krieg. Krieg, verdammt.«

»Darum hängst du die meiste Zeit mit mir ab.«

»Das stimmt gar nicht. Ich treffe durchaus auch andere Leute. Aber du bist am pflegeleichtesten. Regelmäßig füttern und hin und wieder an die frische Luft bringen reicht.«

Easton tätschelt mir den Kopf. »Klar, Haley.«

Danach war das Adam-Thema erledigt. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss, doch die Tür würde bereits von innen aufgerissen.

Vor mir stand eine hübsche Blondine. Sie war einen Kopf größer als ich, was nicht besonders ungewöhnlich war. Das weiße Kleid, dessen Rock hin und her schwang, weil sie aufgeregt auf und ab wippte, stand ihr so gut, dass ich mich in Shorts und Shirt underdressed fühlte. Ehrlich gesagt hätte ich jetzt mit einem O-Gott-ich-bin-so-aufgeregt-Gekreische gerechnet.

Mir war zumindest danach.

Stattdessen sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen: »Wollt ihr noch lange vor der Tür herumlungern und quatschen oder reinkommen?«

KAPITEL3

Ein wenig überfordert folgte ich dem Mädchen ins Innere unseres Miniapartments, das aus einem kleinen Vorraum, einem Bad und zwei Einzelzimmern bestand. Das wusste ich bereits dank des Plans, den ich mir auf der Website des Wohnheims angesehen hatte. Es hätte auch noch andere Wohnvarianten gegeben. Einzel-, Dreier- oder auch Viererbelegung war hier möglich, doch ich war froh, überhaupt noch ein Zimmer bekommen zu haben. Vor allem, weil man laut Website der Universität das erste Jahr in einem der Wohnheime wohnen musste. Ausnahmen ausgeschlossen.

Wäre ich jetzt allein gewesen, hätte ich mich einfach mitten in den Wohnraum gelegt, mich danach hin und her gerollt und laut gequietscht. Okay … ich hätte es auch gemacht, wenn nur East im Zimmer gewesen wäre, aber so wollte ich meine neue Mitbewohnerin nicht gleich verschrecken.

Artig streckte ich ihr die Hand entgegen. »Hey, mein Name ist Haley. Du musst Madison sein.« Man hatte mir schon im Vorfeld den Namen meiner Mitbewohnerin genannt, deshalb musste ich nicht mehr lang danach fragen.

Madison lächelte mich herzlich an, ignorierte die ausgestreckte Hand und zog mich stattdessen kurz an sich. »Ich bin eine große Freundin von Umarmungen«, erklärte sie, und drückte mich weiter wie ein übergroßes Stofftier an ihre Brust. Ein weiblicher Olaf also.

Als sie mich wieder losließ, strahlte sie über das ganze Gesicht. »Gewöhn dich dran.«

O mein Gott. Sie war nicht nur wie Olaf, sondern auch wie Easton. Nur eben in weiblich. Ich hatte schon immer eine große Schwester statt eines nervigen, ständig vor sich hin pupsenden Bruders gewollt. Das hier war das Paradies.

Madison war auf den ersten Blick aber nicht nur ein weiblicher Easton, sondern auch eine Mischung aus girly Girl und toughem Mädchen. Optisch würde sie meiner Meinung nach eher vor eine Kamera gehören statt ans College, denn sie war unbeschreiblich hübsch. Große blaue Augen, volle Lippen, gerade Nase mit genau dem richtigen Grad an Stupsigkeit, um als niedlich durchzugehen.

Am besten sah ich jetzt nicht zu East, der bestimmt schon den Boden vollgesabbert hatte.

»Du bist direkt«, stelle ich fest. »Das mag ich.«

»Dann kommen wir bestimmt gut miteinander aus«, sagte sie gut gelaunt. Wieder wippte sie auf ihren Zehen auf und ab, als hätte sie zu viel Energie, um ruhig stehen zu bleiben. Vielleicht trank sie aber auch einfach zu viel Red Bull, genau wie ich.

Nach diesem ersten gegenseitigen Beschnuppern standen wir uns etwas unschlüssig gegenüber, mussten aber beide lachen, als uns ganz offensichtlich gleichzeitig klar wurde, dass es irgendwie dämlich war, sich stumm zu mustern.

»Na, hol endlich deinen Freund rein«, sagte Madison dann und zeigte auf Easton, der im Türrahmen stehen geblieben war und meinen ersten Mitbewohnerinnen-Moment gnädigerweise nicht durch dämliche Kommentare gestört hatte. Manchmal konnte er sich ja doch benehmen.

Erst etwas verspätet kam der Sinn von Madisons Worten bei mir an. Sofort schüttelte ich den Kopf. »O nein. Nein, nein, nein und noch mal nein«, schrie ich beinahe. »Das ist nicht mein Freund.«

»So was von absolut nicht«, kam mir auch Easton zu Hilfe und klang tatsächlich ein wenig angewidert. So schlimm war ich nun auch wieder nicht.

»Aber ihr zankt euch wie ein altes Ehepaar. Entweder habt ihr so ein abgedrehtes Hass-Ding am Laufen oder …« Nun schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Sorry, manchmal habe ich wirklich ein Brett vor dem Kopf. Ihr seid Geschwister, oder?«

»Jup«, bestätigte mein Bruder. »Ich bin Easton.« Er schlenderte auf Madison zu. Dieser Dummkopf war eindeutig auch auf eine Umarmung – oder mehr – von Madison scharf.

»Denk nicht einmal dran, Easton Evans«, rügte ich ihn. »Meine Mitbewohnerin ist für dich tabu.«

Meine Warnung wäre aber gar nicht notwendig gewesen, denn Madison reichte ihm nur die Hand, die Easton sichtlich enttäuscht schüttelte. An mich gewandt sagte sie: »Mach dir keine Sorgen. Ich bin glücklich vergeben und keine brüderverschlingende Mitbewohnerin aus der Hölle.« Es war offiziell. Ich würde nie wieder eine bessere Mitbewohnerin als Madison bekommen.

»Wohnt dein Freund auch hier?«, fragte ich nach. Erstens weil es mich interessierte und zweitens, damit East auch tatsächlich verstand, dass er die Pfoten von Madison lassen sollte. Er schüttelte nämlich immer noch ihre Hand.

Eine hochgezogene Augenbraue von Madison reichte, und schon ließ er los. »Nein, er lebt in einem Verbindungshaus.«

»Und du nicht?«

Sie wollte gerade antworten, doch endlich kam ein wenig Bewegung in meinen Bruder, denn Easton, der sein Interesse in dem Moment an Madison verloren hatte, in dem das Wort Freund endlich in seinem Gehirn angekommen war, murmelte: »Ich hol mal die restlichen Kartons aus dem Auto.«

Ich warf ihm seinen Autoschlüssel zu. »Danke.«

»Also«, begann Madison und öffnete die Tür zu einem weiteren Raum. Sie trat hinein und ich folgte ihr. »Nummer eins.«

Das Zimmer war nicht besonders groß und mit einem Einzelbett, Schreibtisch, Kommode und einem kleinen Schrank nur spärlich eingerichtet. Die Möbel waren nicht neu, aber relativ modern und in einem hellen Braunton gehalten. Mit ein bisschen Deko würde ich mich hier bestimmt wohlfühlen.

»Komm, sehen wir uns noch das zweite Zimmer an«, sagte Madison und ich trottete ihr hinterher. Auf dem Weg durch den Vorraum antwortete sie verspätet auf meine Frage. »Ich hätte dieses Jahr auch ins Verbindungshaus ziehen können, aber ich wollte nicht.« Sie öffnete die Tür zum zweiten Zimmer. Während ich mich auch hier umsah – alles war gleich, nur spiegelverkehrt –, bekam ich gleichzeitig einen Einblick in Madisons Leben. »Es ist so, dass mein Freund der Verbindungspräsident der Crossbones ist. So nennt sich Rho Kappa Eta selbst. Er studiert im fünften Semester und wir haben uns bereits kennengelernt, bevor ich mich an der Uni eingeschrieben habe. Und das nur dank meiner besten Freundin Piper. Sie studiert auch hier, ebenfalls fünftes Semester, und hat mir Colton vorgestellt, als ich sie mal an einem Wochenende besucht habe.« Colton. Freund. Piper. Beste Freundin. Das musste ich mir unbedingt merken. »Aber du weißt ja, wie das ist. Damals war ich noch an der Highschool und Colton eben hier, und es war für uns beide nichts Ernstes.« Sie setzte sich auf die nackte Matratze des Bettes, während ich mich immer noch in der Nähe der Tür herumdrückte. »Aber ich wollte unbedingt an die Penn, weil Piper hier studiert und da es ein gutes Schwimmteam gibt. Ein bisschen waren auch die ganzen Sportler ausschlaggebend, die hier studieren.« Madison wurde um die Nase herum ein wenig rot.

»Und wieso wohnst du dann nicht mit Piper zusammen?«

»Oh, das haben wir. Voriges Jahr, aber Piper ist ebenfalls Mitglied bei Rho Kappa Eta, und nach zwei Jahren im Wohnheim wollte sie lieber ins Verbindungshaus ziehen.«

»Warte!« Ich hob die Hände, um sie am Weitersprechen zu hindern. »Die sind in der gleichen Verbindung? Ich dachte immer, es gibt nur Bruder- oder Schwesternschaften?«

»Zum Glück sind einige Verbindungen bereits im 21. Jahrhundert angekommen.«

»Scheint so.« Mir gefiel der Gedanke, dass es gemischtgeschlechtliche Studentenverbindungen gab, allerdings wusste ich auch, dass das nichts für mich war. Ich war eher der Typ Mensch für einen kleinen, aber feinen Freundeskreis. »Erzähl weiter. Denn wenn jetzt sowohl deine beste Freundin als auch dein Freund im gleichen Verbindungshaus wohnen, wieso bist du dann im Wohnheim?«

»Weil ich beim Lernen gern meine Ruhe habe. Und in Verbindungshäusern ist es komischerweise noch lauter als in den Studentenwohnheimen.« Sie legte den Kopf schief. »Wäre es okay, wenn ich dieses Zimmer nehme?«, fragte Madison plötzlich. »Ich fühle mich hier ganz wohl. Muss ich auch, so redselig, wie ich gerade bin.«

»Es sind ja beide Räume gleich, also ja«, stimmte ich zu und freute mich darüber, dass es mit Madison so unkompliziert war, denn ich war von der spiegelverkehrten Anordnung in Zimmer Nummer eins begeistert.

»Super.« Erfreut klatschte sie in ihre Hände. »Aber zurück zum Thema. Als Piper voriges Jahr bei der Wahl zur neuen Verbindungspräsidentin mitgemacht hat und Vizepräsidentin wurde, wusste ich, dass ich niemals in dieses Verbindungshaus einziehen könnte. Denn ich höre den ganzen Tag extreeeeem viel Verbindungsgequatsche. Genug für zwei Leben. Und aus diesem Grund habe ich mich dieses Jahr für ein Zimmer in Gregory House beworben. Und jetzt sind wir hier.«

»Ich muss gestehen, dass mir deine Geschichte gut gefallen hat.« Auch wenn ich mich wegen der vielen Infos wie eine Biene fühlte, die in einem mörderischen Tempo von Blume zu Blume raste. Mir schwirrte ein wenig der Kopf. »Klingt wie eine Netflixserie, die ich mir definitiv ansehen würde. Wenn der Rest deines Lebens auch so spannend ist, werden wir uns gut verstehen.«

Madison zwinkerte mir zu. »Ich werde dir jeden Tag eine Gutenachtgeschichte erzählen«, machte sie ein nicht ernst zu nehmendes Versprechen. »Oder noch besser: Ich mache dein Leben hier am Campus zu deiner eigenen Serie.«

Schmunzelnd sah ich sie an. »Versprochen?«

»Versprochen.«

Von draußen erklang ein lautes Rumpeln. »Haley? Flechtet ihr euch schon die Haare?« Mein Platz neben der Tür stellte sich als ziemlich nützlich heraus, denn so brauchte ich mich nicht viel bewegen, konnte aber sehen, was im Vorzimmer vor sich ging. Easton hatte mit meinen Umzugskartons einen bemerkenswert großen Turm gebaut.

Gerade als ich ihm antworten wollte, kam mir Madison zuvor: »Nein«, rief sie, »wir sind erst beim Knüpfen der Freundschaftsbänder, aber gleich werden wir unsere Menstruationszyklen abgleichen. Dieser Teil war im Mitbewohnerinnenhandbuch passenderweise rot markiert.« Bewundernd sah ich Madison an, denn ich hatte noch nie jemanden getroffen, der so fließend sarkastisch sprach wie sie.

Ich schenkte ihr einen Brüder-können-so-nervig-sein-Blick und ging zu Easton. Am liebsten wäre ich mit der Begeisterung einer Cheerleaderin auf und ab gehüpft, da ich den Jackpot in der Mitbewohnerinnen-Lotterie gewonnen hatte. Leise flüsterte ich: »Sie ist toll.«

»Ja, das ist sie«, stimmte Easton mir zu. Dass er Madison auf eine ganz andere Art gut fand als ich, war mir klar. Trotzdem freute ich mich über seinen Zuspruch.

Madison erschien im Türrahmen. »Wir haben schon die Zimmer eingeteilt«, ließ sie Easton wissen und zeigte auf den Raum, den wir zuerst besichtigt hatten. »Haley zieht hier ein.«

Mein Bruder sah zwischen meiner neuen Mitbewohnerin und mir hin und her, schnappte sich den ersten Umzugskarton vom schiefen Turm und betrat meine neue Heimat.

Auch ich nahm mir eine Box und sah mich irritiert um. »Hast du nichts mit?«

»Doch.« Madison winkte ab. »Aber als ich vor dem Sommer mein altes WG-Zimmer geräumt habe, wollte ich das meiste Zeug nicht nach Hause schleppen, also habe ich es bei Colton abgestellt.«

Sie ging zu einer kleinen Bank neben der Tür, die gleichzeitig auch ein Schuhregal war, und fischte ein Smartphone aus ihrer Handtasche. Da ich ihr etwas Privatsphäre gönnen wollte, folgte ich Easton in mein Zimmer, der schon den ersten Karton geöffnet hatte. Die Bettwäsche, die ich dank seines Tipps erst zum Schluss eingepackt hatte, lag bereits auf der Matratze.