Bürgerbeteiligung - Siegfried Mauch - E-Book

Bürgerbeteiligung E-Book

Siegfried Mauch

3,8

Beschreibung

Bürgerbeteiligung ist ein zentrales gesellschaftspolitisches Thema. Dieses Buch beschäftigt sich insbesondere mit den Anforderungen an die Führung und Steuerung von Beteiligungsprozessen. Der Autor beschreibt, welche Bedeutung die Wissensgesellschaft für die Bürgerbeteiligung hat. Er zeigt auf, wie die klassischen staatlichen Interventionsstrategien an Kraft verloren haben und welche Maßnahmen diese ersetzen. Dabei wird deutlich, dass diese Veränderung nicht nur das Außenverhältnis des Staates zur Gesellschaft, sondern auch die innere Modernisierung der Verwaltung wesentlich bestimmt. Das Buch baut auf den Schulungsinhalten des Lehrgangs "Bürgerbeteiligung" auf. Die Lehrgangsinhalte wurden gemeinsam von der Führungsakademie Baden-Württemberg, den Hochschulen für Öffentliche Verwaltung in Kehl und Ludwigsburg und der Universität Hohenheim entwickelt.

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MAUCH

Bürgerbeteiligung

Schriften zur BürgerbeteiligungHerausgegeben vonJürgen KegelmannSiegfried MauchBirgit Schenk

Führungsakademie Baden-WürttembergAnstalt des öffentlichen RechtsHans-Thoma-Straße 176133 [email protected]

Bürgerbeteiligung

Führen und Steuern von Beteiligungsprozessen

Dr. Siegfried Mauch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

epub-ISBN 978-3-415-05350-2Print ISBN 978-3-415-05179-9

© 2014 Richard Boorberg Verlag

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagbild: © Dr. Siegfried Mauch, 2012 | Bearbeitung RBV

E-Book-Umsetzung: Datamatics Global Services Limited

Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG | Scharrstraße 2 | 70563 Stuttgart Stuttgart | München | Hannover | Berlin | Weimar | Dresdenwww.boorberg.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Entwicklungslinien

1.1 Neue Steuerung und Bürgerbeteiligung

1.2 Von Government zu Governance

1.3 Von der Wissenschafts- zur Wissensgesellschaft

1.4 „Re-Inventing“ von Regieren und Verwalten

1.5 Bürgerbeteiligung als Systemveränderung

1.6 Steuerung von Systemveränderungen

1.7 Gemeinsames Lernen in sich verändernden Systemen

1.8 Bewertung

2. Akteure bei Bürgerbeteiligungsprozessen

2.1 Akteure und Rollen

2.2 Konfliktfelder und Lösungen

2.2.1 Verwaltung versus Bürger

2.2.2 Gemeinderat versus Bürger

2.2.3 Verwaltung und Bürger versus Wirtschaft

2.3 Akteure und Interessen

2.4 Wer sind die Bürger?

2.5 Mobilisierung von Milieus

2.6 Bewertung

3. Führen und Steuern von Beteiligungsprozessen

3.1 Transformation und laterale Führung

3.1.1 Verständigung

3.1.2 Vertrauen

3.1.3 Macht

3.1.4 Bewertung

3.2 Indirekte Führung

4. Management von Veränderungen

4.1 Veränderungsmanagement in der Verwaltung

4.2 Interventionsfelder bei transformationalen Veränderungen

4.3 Anpassung oder Lernprozess

4.4 Selbsteinschätzung

5. Steuerung von Beteiligungsprozessen

5.1 Steuerungskreise

5.2 Entwicklung einer Beteiligungsstrategie

5.2.1 Normatives Beteiligungsmanagement

5.2.2 Eine Beteiligungspolitik muss verfasst sein

5.2.3 Eine Beteiligungskultur muss entstehen

5.2.4 Nutzung strategischer Erfolgfaktoren

5.2.5 Beteiligung der Öffentlichkeit

5.2.6 Umsetzung und Verstetigung der Konzeption

5.2.7 Evaluation der Konzeption

5.3 Aufbau einer Beteiligungsstruktur

5.3.1 Aufbau einer Projektorganisation Bürgerbeteiligung

5.3.2 Das Management von Beteiligungsprojekten

5.3.3 Die Gewinnung relevanter Informationen

5.3.4 Die Einbindung in das Steuerungsmanagementsystem

5.4 Prüfung der Beteiligungsrelevanz

5.4.1 Bestimmung der Aufgaben und Aufgabenziele

5.4.2 Frühzeitige informelle Beteiligung

5.4.3 Ergänzende nichtförmliche Beteiligung

5.4.4 Feststellung der Beteiligungsrelevanz

5.4.5 Bestimmung der Beteiligungsziele

5.4.6 Bestimmung der Beteiligungstiefe

5.4.7 Bestimmung der passenden Methoden und Instrumente

5.4.8 Vereinbarung eines Beteiligungsfahrplanes

5.4.9 Öffentlichkeitsbeteiligung bei vorgelagertem Trägerverfahren

5.5 Herstellung von Öffentlichkeit

5.6 Durchführung des Beteiligungsprozesses

5.6.1 In- oder Outsourcing

5.6.2 Spielregeln im Beteiligungsprozess

5.6.3 Rollen im Beteiligungsprozess

5.6.4 Zum Prozessverlauf

5.6.5 Verzahnung von förmlichen und nicht förmlichen Verfahren

5.7 Feststellung des Beteiligungsergebnisses

5.8 Information über die Umsetzung beschlossener Maßnahmen

5.9 Evaluation des Beteiligungsprozesses

5.10 Beobachtung von Entscheidungsfolgen

6. Anforderungen an das Beteiligungsmanagement

6.1 Aufgaben des Beteiligungsmanagements

6.2 Kompetenzen und Stabilisatoren

6.3 Stabilisierungsbedingungen in Beteiligungsprozessen

7. Aufwand und Nutzen

7.1 Zur Bedeutung von Bürgerbeteiligungen

7.2 Aufwendungen bei Beteiligungsprozessen

7.3 Effizienzpotenziale bei Bürgerbeteiligungsprozessen

7.4 Aufwand und Nutzen von Bürgerbeteiligung

8. Lehrgang Bürgerbeteiligung

8.1 Lehrgangskonzeption

8.2 Lehrgangsinhalte

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Literaturübersicht

Stichwortverzeichnis

Herausgeber-/Autorenvita

Zur Führungsakademie Baden-Württemberg

Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl

Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg

Vorwort

An wen richtet sich das Buch?

Das Buch baut auf den Schulungsinhalten des Lehrgangs Bürgerbeteiligung auf. Er wurde von der Staatsrätin des Landes Baden-Württemberg für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Gisela Erler, initiiert. Die Lehrgangsinhalte wurden gemeinsam von der Führungsakademie Baden-Württemberg, den Hochschulen für Öffentliche Verwaltung in Ludwigsburg und Kehl und der Universität Hohenheim entwickelt.

Das Buch dient der Vertiefung und Reflexion der Lerninhalte. Es richtet sich an alle Lernenden und an alle Bediensteten in allen öffentlichen Verwaltungen, die Bürgerbeteiligungsprozesse planen und steuern, sich mit Beteiligungsfragen befassen und an Personen in Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, die an dem Thema interessiert sind. Das Buch kann nicht nur als Informations- und Lernunterlage, sondern auch als Reflexionshilfe benutzt werden, um den eigenen Wissens-, Bildungs- und Lernbedarf zu erkennen und diesen durch eine gezielte Auswahl der im Lehrgang angebotenen Bildungsmaßnahmen zu schließen oder zu vertiefen. Die gegenwärtigen Inhalte dieses Lehrgangsangebots sind in Abschnitt 8 beschrieben.

Der Lehrgang Bürgerbeteiligung umfasst gegenwärtig 15 Themen. Mit dem Thema „Führen und Steuern von Beteiligungsprozessen“ liegt bereits die zweite schriftliche Fassung eines Lehrgangsthemas vor. Bereits 2011 ist in dieser Schriftenreihe das Buch „Moderierter Bürgerdialog“ erschienen. Zu folgenden Themen sind weitere Bücher geplant:

– Anlässe, Methoden, Instrumente – Arbeiten in Projektteams und Arbeitsgruppen.

– Kommunikation in Beteiligungsprozessen.

– e-Partizipation und Organisation der Bürgerbeteiligung.

– Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik in Beteiligungsprozessen; Bürgerbegehren und Bürgerentscheide.

– Verwaltungsverfahren und Beteiligungsverfahren – Möglichkeiten, Grenzen struktureller Kopplungen, Praxisbeispiele, Erfahrungen.

Wie ist das Buch aufgebaut?

Bürgerbeteiligung ist ein zentrales Thema in Politik und Verwaltung. Im Fokus dieses Buches steht die Führung und Steuerung von Beteiligungsprozessen. Dazu wird in Kapitel 1 die Steuerung von Bürgerbeteiligungsprozessen gegenüber dem Modell der neuen Steuerung abgegrenzt. Der Autor beschreibt, welche Bedeutung die Wissensgesellschaft für Bürgerbeteiligung hat. Er zeigt auf, wie infolge einer Staatsleitbildveränderung von Government zu Governance die klassischen staatlichen Interventionsstrategien an Kraft verloren haben und welche diese ersetzen können. Deutlich wird, dass diese Veränderung nicht nur das Außenverhältnis des Staates zur Gesellschaft, sondern wesentlich auch die Binnenmodernisierung der Verwaltung bestimmt. Um den Weg in eine Bürgerverwaltung erfolgreich begehen zu können, müssen daher immer zwei Intentionsrichtungen bedient werden. In Kapitel 2 wird der Frage nachgegangen, wer die zu beteiligende Öffentlichkeit ist und wie sie erfasst werden kann. Dazu werden die in diesem komplexen Veränderungsfeld wirkenden Akteure, ihre Rollen, Interessen, Ziele und die sich daraus ergebenden Konfliktfelder beschrieben und Klärungen angestellt. Eingegangen wird auch darauf, dass die Zivilgesellschaft keine homogene Gruppe ist, sondern in unterschiedliche Milieus zerfällt, die über unterschiedliche Beteiligungsbereitschaften und Einflüsse verfügen und daher strategisch differenziert angesprochen bzw. mobilisiert werden muss. Dazu wird anhand eines wiedergegebenen Schulungsbeispiels eine Akteursanalyse vorgestellt.

Im Unterschied zu den Bediensteten öffentlicher Verwaltungen sind Akteure der Zivilgesellschaft weder über Hierarchie noch über Weisungen erreichbar. Um Beteiligungen wirksam führen und steuern zu können, können die in der Verwaltung üblichen hierarchischen Instrumentarien nicht benutzt werden. Neue Ansätze sind zu entwickeln. Dazu wird in Kapitel 3 das Modell der lateralen Führung vorgestellt. Aufgezeigt wird, dass dieses an personaler Führung ausgerichtete Modell auch einen passenden organisationalen Bezugsrahmen erfordert.

In Kapitel 4 wird aufgezeigt, dass Bürgerbeteiligung nicht nur ein nach außen gerichteter Prozess ist, sondern auch einen nach innen gerichteten Veränderungsprozess auslösen muss. Das Buch führt in die Anforderungen des Change Managements ein und zeigt anhand eines Schulungsbeispiels auf, welche Interventionsfelder bei einem Veränderungsprozess bedient werden müssen. Dabei wird Bürgerbeteiligung als ein Staat und Gesellschaft gleichermaßen umfassender Lernprozess beschrieben.

Anschließend stellt der Autor in Kapitel 5 anhand eines drei-ebigen Steuerungskreises die zu beachtenden Stationen nicht nur im Bereich der Steuerung, sondern auch bei der Projektentwicklung und der Öffentlichkeitsbeteiligung vor. Die Leser erfahren, wie sie strategische und operative Projekte aufsetzen und managen sollten. Ihnen wird aufgezeigt, wie ausgehend von der Aufgabenstellung die Beteiligungsrelevanz eines Vorhabens festgestellt werden sollte. Dabei wird der Leser in die VwV-Öffentlichkeitsbeteiligung des Landes Baden-Württemberg sowie in andere Prüfungsformate eingeführt. Die Bezüge zu den VDI-Richtlinien 7000 und 7001 werden aufgezeigt.

Im Kapitel 6 werden vor dem Hintergrund der zu erwartenden Aufgabenverschiebung und der Vision „kommunaler Intelligenz“ die Anforderungen an das Personal und an das Beteiligungsmanagement beschrieben und in Kapitel 7 Aufwand und Nutzen von Bürgerbeteiligung gegenübergestellt. Das Buch schließt in Kapitel 8 mit einem Überblick über den Gesamtlehrgang Bürgerbeteiligung ab.

Wie nutzt man dieses Buch?

Innerhalb eines Kapitels kann sich der schnelle oder auch selektive Leser an den Marginalien orientieren, die den gesamten Text begleiten und auf bestimmte Begriffe und Schwerpunkte hinweisen.

Vertiefende Darstellungen, die sich an besonders interessierte Leser wenden, sind in kleinerer Schrift gedruckt. Sie können von dem Leser, der sich nur einen allgemeinen Überblick verschaffen will, ohne wesentlichen Erkenntnisverlust auch übergangen werden.

Definitionen von nicht allgemein verständlichen abstrakten Begriffen werden zur besseren Orientierung innerhalb des Textes herausgestellt.

Eine besondere Kennzeichnung im Text haben außerdem bestimmte Zusammenfassungen oder auch wichtige Merksätze.

Bei der Vorbereitung und Realisierung dieser Buchreihe haben wir vielfältige Unterstützung erfahren. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

1.     Entwicklungslinien

1.1   Neue Steuerung und Bürgerbeteiligung

Ziel der neuen Steuerung

Das Wort Steuerung erweckt Assoziationen an ein zentrales Thema der letzten Reformdekaden öffentlicher Verwaltung, die als „Neue Steuerung“ oder auch als „New Public Management“ bekannt geworden sind. Zentrales Ziel dieser Steuerung war die Schließung von Effizienz- und Steuerungslücken, um die öffentliche Verwaltung angesichts rückläufiger Einnahmen und wachsender Aus- und Aufgaben funktionsfähig zu halten. Wesentliche Handlungsfelder waren die Binnenmodernisierung und die Kundenorientierung der öffentlichen Verwaltung. Die Verwaltung sollte mit Hilfe von in der Wirtschaft bewährten betriebswirtschaftlichen Methoden und verbunden mit einer konsequenten Aufgabenkritik zu einem modernen Dienstleister umgebaut werden.1 Handlungsthemen waren insbesondere Maßnahmen zur Begrenzung der staatlichen Leistungen auf Kernaufgaben, die Einführung betriebswirtschaftlicher Instrumente, Maßnahmen zur Flexibilisierung des Haushaltens, die Professionalisierung der Führung, die Schaffung dezentraler Verwaltungsstrukturen, die Einführung des Wettbewerbsgedankens, die Trennung von Politik und Verwaltung und die Übernahme einer bestimmten betriebswirtschaftlich orientierten Steuerungslogik. Ausgehend von definierten Bedarfen sollten messbare Ziele bestimmt, deren Erreichung ökonomisch rational geplant, die notwendigen Umsetzungsressourcen bereitgestellt, die erforderlichen Maßnahmen vollzogen und – ausgehend von Zielen – die erreichten Ergebnisse und möglichst auch deren Wirkungen kontrolliert werden. Auf den Erfolg dieser Bemühungen soll an dieser Stellen nicht weiter eingegangen werden.2

Beteiligung zur Erschließung von Humanvermögen

Dieser so definierte Prozess des Managens orientierte sich an den traditionellen hierarchischen Herrschaftsbeziehungen in oder zwischen Behörden, selbst dann, wenn Ziele vereinbart, Leistungsbedarfe festgelegt oder Zielkorridore beschrieben wurden. Daran hat sich bis heute nichts verändert. Partizipation war nur insoweit vorgesehen, als die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl an Leitbildprozessen als auch an operativen Umsetzungen beteiligt werden sollten und zum Teil auch beteiligt wurden. Auch sollten sie über Zielvereinbarungen stärker in den Aufgabenvollzug eingebunden werden und über die Delegation von Aufgaben und Verantwortung größere Freiheiten bei der Gestaltung der Zielerreichung erhalten. Diese Renaissance kooperativer Führung und Zusammenarbeit knüpfte in der Landesverwaltung Baden-Württemberg an eine bereits 1979 eingeleitete Entwicklung an.3 Primäres Ziel der Delegation von Aufgaben und Verantwortung, der Binnenpartizipation und der Anpassung der Kommunikations- und Steuerungsprozesse war es, innerhalb des vorgegebenen Rahmens mit Hilfe motivationaler Effekte Humanvermögen in den Verwaltungsorganisationen besser zu erschließen.

Noch keine Aktivierung der Bürgerschaft

Entsprechend dem marktwirtschaftlichen Vorbild stand bei dieser Modernisierungsstrategie die Verbesserung der Kunden- und Dienstleistungsorientierung im Mittelpunkt. Leitbild war der Bürger als Kunde und Serviceempfänger auf der einen Seite und der Staat als ausschließlicher Produzent von Produkten und Serviceleistungen auf der anderen Seite. Die Bürgerinnen und Bürger sollten besser und schneller bedient und informiert werden. Dazu sollten die Prozesse der Leistungserbringung ergebnisorientiert und aus Kundensicht definiert werden. Eine darüber hinausgehende Aktivierung und Partizipierung der „Bürgerschaft“ war noch nicht vorgesehen und aus Verwaltungssicht auch nicht geboten, da der „Kunde“ seitens der Verwaltung zufriedengestellt werden konnte. Ziel der neuen Steuerung war es nicht, den Bürgerinnen und Bürgern eine über den spezialgesetzlich vorgegebenen Rahmen hinausgehende generelle handlungsaktive Rolle zuzubilligen und sie grundsätzlich auch in Entscheidungsfindungen einzubinden. Eine Abkehr vom bestehenden ausschließlich auf den Staat ausgerichteten Steuerungsparadigma fand aus Verwaltungssicht noch nicht statt. Weder der Bürger als Wissensträger und Experte noch der Bürger als „Citoyen“, der in die Entscheidungsfindung gestaltend eingebunden werden möchte und der sich nicht mehr so einfach autoritativen Entscheidungen unterwirft, auch wenn sie als kundenorientierte Leistungen angeboten wurden, waren in der Verwaltungspraxis angekommen.4 Er hatte sich auch noch nicht öffentlich wahrnehmbar gemeldet.5

1.2   Von Government zu Governance

Klassische Rollenverteilung blieb bestehen

Die Verwaltungsmodernisierung der 90er Jahre bewegte sich damit noch in der klassischen Rollenverteilung des Politikmachens im Leistungs- und Interventionsstaat mittels Hierarchie, Weisungen und Vorgaben. Staatliches Handeln wurde als Government im Sinne einer politisch-hierarchischen Führung nach innen wie nach außen verstanden. Demzufolge wurden die Entscheidungskompetenzen auch ausschließlich der Politik zugeschrieben. Die Verwaltung führte diese aus. Die Bürgerinnen und Bürger empfingen die staatlichen Leistungen und trugen die staatlichen Pflichten. Staat und Gesellschaft unterschieden sich institutionell. Gesellschaftliche Probleme wurden vorrangig auf Grund von Gesetzen, staatlichen Vollzugsmaßnahmen und durch die Verteilung von Leistungen und Lasten gelöst.

Neue Verantwortungsteilung

Dabei war schon in den 90er Jahren erkennbar, dass das Paradigma des schlanken und auf Effektivität getrimmten Staates die damit verbundenen Erwartungen nicht erfüllen konnte. Die Binnenressourcen blieben knapp. Die Vorstellung, durch Wirtschaftswachstum den Ressourcenverbrauch des Staates kompensieren zu können, erfüllte sich nicht. Der Median des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts nimmt seit den 50er Jahren konstant ab.6 Die Handlungs- und Steuerungsprobleme blieben bestehen. Als zwischen Pleite und Wirkungslosigkeit stehend wurde das Dilemma gekennzeichnet, vor dem Politik und Verwaltung in den neunziger Jahren standen.7 In dieser Folge entstand das Staatsleitbild des „Gewährleistungsstaates“ mit dem Ziel, eine neue Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft zu erreichen, um aus dem Ressourcen-Aufgaben-Dilemma herauszufinden. Rückblickend können drei Programmtypen ausgemacht werden, die für die weitere Entwicklung in Richtung Bürgergesellschaft wichtig waren:8

– die wohlfahrtsgesellschaftliche Variante, der zufolge der Dritte Sektor mit Nachbarschaftshilfen, freien Wohlfahrtsträgern oder Einzelpersonen (Arbeitskraftunternehmer, Ich-AG) zur Erbringung eigener Leistungsbeiträge, wenn auch staatlich gefördert, aktiviert wurde,9

– die bürgerschaftliche Variante, der zufolge die bürgerschaftliche Teilhabe insbesondere an Themen des Nahbereichs und an Umweltthemen (Umweltverträglichkeitsprüfung; Agenda21-Diskussion) gefördert wurde und

– die gemeinschaftsorientierte Variante, der zufolge gemeinsame Werte in den Vordergrund gerückt wurden, die individuellen Werten vorgelagert sind, die individuelles Leben erst bedingen und angesichts der stark ausgeprägten Individualwerte eine neue Balance von Rechten und Pflichten erforderlich machen sollen (Nachhaltigkeit, Ehrenamt).10

Normative Aufwertung gesellschaftlicher Kräfte

Alle drei Programme verbindet eine starke normative Aufwertung gesellschaftlicher Kräfte. Um diese besser zu Gunsten des Gemeinwohls einbinden zu können, sollten das Aufgabenspektrum und die Handlungsweisen der Verwaltung verändert werden. So sollte die Leistungstiefe des Staates überprüft und bislang staatliche Aufgaben auch von „Dritten“ erbracht werden können.11 Im Zuge der Umsetzungserfahrungen wurde erkannt, dass die damit verbundenen Veränderungen der Verwaltungsstrukturen ohne eine Einbindung der an der Leistungserstellung Betroffenen nicht erfolgversprechend ist. So wurden insbesondere im kommunalen Bereich, aber auch auf Landesebene erste organisationsentwicklerische Maßnahmen durchgeführt, um die Verwaltungen auf die damit verbundenen Veränderungen vorzubereiten.12 Deutlich wurde damals schon, dass ein Wandel der Verwaltung hin zu einer Gewährleistungsverwaltung mit veränderten Anforderungen an das Personal und an die Organisation verbunden ist, und diese Veränderungen nicht ohne einen geplanten Wandel gelingen können.13

Suspension von Veränderungsbedarfen

Doch der erforderliche Wandel konnte insbesondere in den Landesverwaltungen und in der Bundesverwaltung noch einige Zeit aufgeschoben und das traditionelle Bild des Staats mit seiner hierarchisch ausgerichteten und funktional verteilten Steuerung bewahrt werden.14 Nach außen konnte der Eindruck der Gesamtverantwortung einer bei Regierung und Legislative konzentrierten Programmsteuerung aufrechterhalten werden, obwohl Politik, Verwaltung und Spitzenverbände längst funktional verschränkt und Gesamtzusammenhänge infolge der Ausdifferenzierung der Funktionen und Institutionen verloren gegangen waren.15 Die These von der „organisierten Unverantwortlichkeit“ des Staates machte sich breit.16

Keine Änderung des Systems durch Beteiligung

Trotz aller Erfahrungen sollte nach wie vor die Lösung der Probleme modernen Regierens primär in der Stärkung der Problemlösungsfähigkeit des politisch-administrativen Systems gesehen werden und nicht in einer Änderung des Systems durch dessen Öffnung und Veränderung. Daher begrenzte sich auch die Einbindung gesellschaftlicher Akteure in die Politikgestaltung auf einzelne institutionalisierte Kooperationsformen wie Konzertierte Aktionen, Bündnisse, Kommissionen, Räte, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände oder Träger öffentlicher Belange. Das Wissensreservoir der Zivilgesellschaft als Human- und Sozialkapital zu nutzen fand in der Praxis noch keinen Zuspruch. Expertisen waren noch mit der klassischen Expertenrolle verbunden.

Reformmodell Bürgerkommune

Zur selben Zeit zeichneten sich im kommunalen Bereich erste Konturen eines partizipativen Modernisierungsprofils ab. Infolge früherer Beteiligungsimpulse, der Förderung des freiwilligen Engagements, der Agenda 21-Diskussion, des gesellschaftlichen Wertewandels, der bislang unbefriedigend verlaufenden Bewältigung der Haushaltskrise und der nicht zufriedenstellend verlaufenden Effektuierung der Verwaltung entstand das Reformmodell „Bürgerkommune“.17 Demzufolge sollte Kommunalpolitik als Zusammenspiel von direkter, kooperativer und repräsentativer Demokratie neu gedeutet werden. Dazu sollte das Kräftedreieck zwischen Bürgern, Kommunalpolitik und Verwaltung neu gestaltet werden und zu einer Revitalisierung der kommunalen Demokratie führen. Auch sollte das der neuen Steuerung zu Grunde liegende Kundenmodell überwunden werden, weil es für den öffentlichen Dienst zu kurz greift und die Bürgerinnen und Bürger nur als Anspruchsteller begreift.18 Mit Hilfe dialogorientierter Beteiligungsformen sollten die Bürgerinnen und Bürger verstärkt in Planungsentscheidungen eingebunden werden, um die lokalen endogenen Kräfte zu mobilisieren.19 Drei Rollen wurden den Bürgerinnen und Bürgern nunmehr zugeschrieben. Sie sollten nicht nur Kunde, sondern auch Mitgestalter und Auftraggeber sein. Damit war bereits am Ende des 20. Jahrhunderts die Idee der trilateralen Beziehung zwischen Politik (Gemeinderat), Verwaltung und Zivilgesellschaft geboren.

Erste Lernräume entstanden

Infolge von Enttäuschungen über die niedrige Erfolgsquote bei der Einführung der neuen Steuerung und des sich abzeichnenden Konflikts zwischen den Auftraggebern und den Rechten der autorisierten Entscheidungsträger ist es um das Modell der Bürgerkommune – nach anfänglichen Impulsen und gefördert durch das von der Bertelsmann-Stiftung getragene CIVITAS-Netzwerk – wieder ruhig geworden.20 Gleichwohl schuf das Engagement von wenigen Pioniergemeinden einen kommunalen Lernraum, in dessen Folge der Boden für eine stärkere Aktivierung zivilgesellschaftlicher Akteure bereitet werden konnte. Städte wie Schwäbisch Gmünd, Nürtingen oder Filderstadt, die auch heute noch eine kreative Beteiligungspolitik betreiben, gehörten zu diesen Pionieren.21 Damit erwarben Städte und Gemeinden gegenüber Landes- und Bundesverwaltungen einen strategischen Startvorteil bei der Entwicklung neuer Governance-Konzeptionen. Sie sammelten Erfahrungen mit dem Steuern und Koordinieren in überwiegend horizontalen, netzwerkartigen Beziehungen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren. Auch wenn dieses Agieren noch im Schatten staatlicher Hierarchie erfolgte, zeigte die weitere Entwicklung, dass dem Staat allein, einschließlich seiner Verwaltung, immer weniger Einfluss auf die Lösung zentraler Probleme zugeschrieben wurde und daher neue Lösungsmuster entworfen werden müssen.22 Infolge dieser Entwicklung wurde die zentrale Stellung der Verwaltung insbesondere im politisch-administrativen Schnittstellenbereich für die Vorbereitung und Durchsetzung materieller Politik immer mehr in Frage gestellt. Die Selbstüberforderung des Staates in der Rolle des alleinigen Problemlösers wurde deutlich.

Gesellschaftliche Probleme sind auch Angelegenheit der Zivilgesellschaft

Zentrale Erkenntnis dieser Entwicklung war, dass gesellschaftliche Probleme und deren Lösung immer auch als Angelegenheit der Zivilgesellschaft und deren Selbstregulierungspotenzial angesehen werden müssen. Die Lösung gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Probleme wird damit immer mehr das Resultat eines gelungenen Zusammenwirkens von institutionellen Regelsystemen und der Selbststeuerungsfähigkeit der beteiligten Akteure.23 Der Wandel von Government zu Governance war vorgezeichnet.

Governance ist eine andere Form für ein institutionalisiertes Problemlösungsverfahren.

Tabelle 1: Gegenüberstellung der Staatsleitbilder: Management und Governance

Management 1990er Jahre

Governance 2000er Jahre

Schlagworte

– Neues Steuerungsmodell

– Unternehmen Verwaltung

– Bürokratiekritik

– Dienstleistungskommune

– Schlanker Staat

– Bürger-/Zivilgesellschaft

– Sozialkapital

– Gewährleistungsstaat

– Bürgerkommune

– Aktivierender Staat

Probleme

– Staat/Bürokratie

– Steuerungslücken

– Organisierte Unverantwortlichkeit

– Gesellschaft

– Fragmentierung

– Externe Effekte

– Exklusion

Ziele

– Effizienzsteigerung

– Dienstleistung

– Kundenorientierung

– Qualität

– Soziale, politische und administrative Kohäsion

– Beteiligung

– Bürgerschaftliches Engagement

Analysefokus

– Einzelne Organisationen

– Binnensteuerung

– Ergebnisorientiertes Management (einzelner Behörden)

– Privatisierung, Outsourcing

– Koordination öffentlicher und gesellschaftlicher Akteure

– Kombination verschiedener Steuerungsformen

– Netzwerkmanagement

– Steuerbarkeit

Tabelle 1 zeigt die Unterschiede zwischen Government und Governance. Deutlich wird, dass Governance nicht nur eine Weiterentwicklung der Binnenmodernisierung der 90er Jahre ist, sondern ein weitergehendes eigenständiges Staatsleitbild beschreibt.24 Governance knüpft insoweit an die neue Steuerung an, als damit die Errungenschaften effizienter Prozessgestaltungen, die Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen, die Weiterentwicklung des Haushaltsrechts und des Abrechnungssystems sowie die Qualitätsorientierung übernommen werden. Neu an Governance ist der mit dem Wandel von der Kundenorientierung zur Bürgerbeteiligung verbundene Paradigmenwechsel. Denn Bürgerbeteiligung ist kein Aliud für Kunden- oder Bürgerorientierung, sondern ein Traditionsbruch mit der klassischen Vorstellung von Bürokratie durch die Ersetzung der Hierarchie durch Heterarchie und das in möglichst allen administrativen Handlungsstufen: Planung, Entscheidung und Vollzug.25 Governance versucht in heterarchischen Netzwerken von Steuerungsebenen die Differenzen zwischen Staat und Gesellschaft konstruktiv zu verarbeiten.26

Vergesellschaftung der Problemlösungswege

Unter dem Paradigma der Bürgerorientierung verharrt der Bürger nicht mehr in der Passivrolle des Kunden, der staatliche Leistungen kundenfreundlich verpackt empfängt. Bürgerbeteiligung weist dem Bürger eine aktive gestaltende bzw. mitgestaltende Rolle zu. Demensprechend definiert nicht mehr nur der Staat die Probleme alleine und stellt politisch definierte Lösungswege zur Verfügung, sondern auch der Bürger, entweder als konkret Betroffener oder als erstarkte und omnipräsente Internet-Öffentlichkeit.27 Demzufolge liegen Problemlösungen dann nicht mehr nur in der Steuerung und Verbesserung administrativer Problemlösungsprozesse, sondern auch in der Vergesellschaftung der Problemlösungswege, indem gemeinsam Analysen angestellt oder Alternativen und Varianten entwickelt werden. Transparenz, Kooperation und Partizipation – die zentralen Eckpfeiler von Open-Government – sind damit wichtige Meilensteine auf dem Weg zu einer Beteiligungsgesellschaft.28

In Abbildung 1 wird am Beispiel des klassischen Policy-Cycles aufgezeigt, worin die wesentlichen Unterschiede des neuen Paradigmas liegen. Auf dem Kreisbogen befinden sich die zentralen Dimensionen des Cycles.29 In den dunklen Feldern werden die bisherigen Handlungsauslösungen (1), wichtige Handlungssubjekte (2) und Handlungsanlässe (3) beschrieben. In den hellen Feldern sind die parallelen Kategorien unter Governance-Bedingungen beschrieben. Der Vergleich beider Felder weist auf potenzielle Konfliktfelder in den anstehenden Veränderungsprozessen hin, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird. Im Zentrum des Policy-Cycles sind die zentralen Merkmale interorganisationaler Vertrauensbildung als verbindende Elemente genannt, die gleichzeitig auch zentrale Leitbegriffe von Open-Government sind.30 Der Vergleich der Felder zeigt deutlich, dass heute die Öffentlichkeit bei allen Dimensionen latent in der Lage ist, ihren politischen Einfluss zur Geltung zu bringen, wenn die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfüllungsgrad als zu groß empfunden wird.

Abbildung 1: Policy-Cycle im Wandel der Staatsleitbilder

Steuerung durch Hybridmodelle

Infolge dieser Entwicklung geht es nicht mehr nur darum, die zentral vorgegebenen „Dinge richtig zu machen“, sondern die sich aus dem Blickfeld einer heterogenen und mental parzellierten Bürgerschaft ergebenden „richtigen Dinge“ zu tun. Was richtig ist, können nicht zu Mehrheiten hochstilisierte Einzelinteressen bestimmen, sondern sollte Ergebnis eines sektoralen oder transsektoralen Lernprozesses sein. Damit verlieren die traditionellen Politikbildungs- und Verwaltungssteuerungsmodelle an Bedeutung. Sie werden zunehmend durch Hybridmodelle ersetzt. Damit verlagert sich der Steuerungsfokus aus der Hierarchie heraus. Gestaltend gesteuert wird nicht mehr nur unmittelbar durch Erlaubnisse und Verbote, sondern verstärkt mittelbar über Information, Transparenz, Kommunikation, Koordination und gemeinsame Werte. Gehandelt wird beispielsweise über Selbstaktivierung, Koproduktionen oder Netzwerke.31

Bürgerbeteiligung schafft Steuerungsnutzen

Im Fokus von Bürgerbeteiligung steht zunächst der Ressourcenverbrauch, wenn Beteiligungsprozesse initiiert, geplant und durchgeführt werden. Dabei wird verkannt, dass Steuerung nicht nur am Input ansetzt, sondern auch am Output und vor allen Dingen am Outcome. Da mit Verwaltungshandeln etwas bewirkt werden soll, ist die Erfassung des Outcomes eigentlich die entscheidende Steuerungsgröße. Dabei wird unterstellt, dass verwaltungsinterne Prozesse zu einem Outcome führen. Andere Konzeptionalisierungen, die von dieser linearen Kausalitätsvorvorstellung abweichen, blieben bisher die Ausnahme.32 Geht man davon aus, dass Verwaltungen nicht nur Vollzugsorganisationen, sondern gerade infolge der stärkeren Ausrichtung an ihrer Umwelt – ausgehend vom jeweiligen Normzweck – auch ganz erheblich sinngenerierende Organisationen sind, die dazu ständig ihre internen Wissensbestände mit Informationen über und aus ihrer Umwelt in Einklang bringen müssen, bedürfen sie zur Bewertung, ob der jeweils intendierte Sinn auch erreicht worden ist, auch Daten und Wissen ihrer Umwelt.33 Damit werden die Bürgerinnen und Bürger automatisch zum Medium der Steuerungslogik. Denn um Wirkungen zu erheben, kann nicht nur auf statistisch mathematisch erhobene Kennzahlen zurückgegriffen werden. Es sind immer auch Daten empirisch zu erheben, wenn „weiche“ und qualitative Aspekte des Verwaltungshandelns wie Nutzerverhalten und Zufriedenheit oder die wahrgenommene Sicherheit erfasst werden sollen. Partizipation war damit immer schon ein wichtiger Bestandteil der Wirkungsmessung, wenngleich er auf Grund der o. g. Kausalvermutung als kulturfremd empfunden wurde.

Da die Bürgerinnen und Bürger auf die Rolle des Verwaltungskunden und Antragstellers reduziert waren, wurden sie bislang weder in die Programm- noch in die Produktentwicklung eingebunden, sofern sie nicht unmittelbare Betroffene waren. Die Beteiligung an der Bewertung der Zielerreichung sah die Steuerungslogik zwar vor, unterblieb jedoch meistens. Ausgehend von dieser Steuerungslogik kann Bürgerbeteiligung im heutigen Sinne als eine Arrondierung der neuen Steuerung gesehen werden, wenn Bürgerinnen und Bürger nicht nur am Ende eines Leistungsprozesse befragt, sondern bereits zu Beginn einer Leistungserstellung – also frühzeitig – in die Zielfindung und Produktentwicklung eingebunden werden. Nur dann kann auch erwartet werden, dass bei der Ergebnisbewertung Folgenverantwortungen getragen werden. Insoweit ist Bürgerbeteiligung Teil einer effektiven und effizienten Steuerungsstrategie und eines ganzheitlichen Modernisierungsprozesses.34

Governance nimmt Abschied von der Vorstellung vom Staat als einheitlicher Akteur und von der Gesellschaft als präzise abgrenzbare Arenen.

1.3   Von der Wissenschafts- zur Wissensgesellschaft

Bürgerbeteiligung als Folge der Wissensgesellschaft

Das Bedürfnis Problemlösungen nicht nur dem Staat zuzuschreiben, sondern stärker zu vergesellschaften, ist nicht nur Ausdruck eines auf Effizienz ausgerichteten Staatsverständnisses, sondern wesentlich auch Ergebnis einer parallel verlaufenden Meta-Entwicklung, deren einzelne Bestimmungsgrößen – zusammengefasst – das Bild der heutigen Wissensgesellschaft beschreiben.35 Die zentralen Determinanten dieser Entwicklung sind

– der gesellschaftliche Wertewandel mit dem weitgehenden Verlust von Pflicht- und Akzeptanzwerten bzw. von Unterordnungs- und Fügsamkeitswerten und dem Anwachsen von Selbstentfaltungswerten,36

– die Expansion des Dienstleistungssektors und der Wissensarbeit mit einer Änderung von Produktion und Distribution,

– die Expansion der Informationsverarbeitung und des Kommunikationssektors mit ubiquitär verfügbarem Wissen in einer globalen Welt,

– die Expansion von realen und virtuellen Netzwerken,

– die Expansion von staatlichen und privaten Forschungsaktivitäten,

– die Wissenschaftsentwicklung und die Expansion der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft,37

– die Verbesserung der Befähigung der Bürgerinnen und Bürger durch Bildung,

– die Expansion des Bedarfs an Wissen, um in einem modernen Staat entscheidungs- und handlungsfähig zu sein und

– infolge der Komplexitätsausweitung die Abhängigkeit von Politik, Verwaltung und Wirtschaft von Beratern.

Das Konzept der Wissensgesellschaft beschreibt die gegenwärtig zu beobachtende Transformation der Gesellschaft.

Wissen erzeugt immer auch Nichtwissen

Da in modernen Gesellschaften politische und administrative Entscheidungen immer häufiger unter Bedingungen wie Komplexität, Zeitdruck, einem Überfluss an Informationen, aber auch unter Ungewissheitsbedingungen und mit Nichtwissen getroffen werden müssen, braucht eine sich in einer globalen Welt dynamisch entwickelnde Gesellschaft immer mehr Wissen, um Anforderungen wie Sicherheit, Verlässlichkeit, Planbarkeit, Gerechtigkeit oder Steuerbarkeit entsprechen zu können.38 Doch die Zunahme des Wissens führt nicht nur zu einer Multiplizierung der Handlungsmöglichkeiten, sondern auch zu einer wachsenden Komplexität der Entscheidungslagen und stellt daher hohe Anforderungen an Entscheidungshilfen. Auch führt die Wissensvermehrung dazu, dass immer weniger sicheres Wissen zur Verfügung steht. Denn Wissen ist nicht nur eine nutzbare Ressource, sondern beschreibt immer auch Steuerungs- und Handlungsrisiken. Erst das Vorhandensein von Wissen ermöglicht, Risiken überhaupt oder schärfer wahrzunehmen und besser einschätzen zu können. Doch gleichzeitig erzeugt die Ausweitung des Wissens immer auch Nichtwissen im Umgang mit diesen Risiken. Meist steht das relevante Handlungswissen, das zur Beherrschung oder Minimierung von Risiken gebraucht wird, nicht zeitgleich oder nutzbar zur Verfügung.39

Zunahme des Beratungsbedarfs

Diese Ursachen-Folgen-Diskrepanz führt zu einem wachsenden Orientierungs- und Beratungsbedarf von Politik und Verwaltung und zu einer medialen Omnipräsenz von Experten mit zum Teil widersprüchlichen Expertisen.40 Diese Entwicklung weist zum einen auf den ausgeweiteten Wissensbedarf in einer funktional stark ausdifferenzierten Gesellschaft hin. Sie zeigt zum andern aber auch auf, dass die Wissenschaften und hierbei insbesondere die Sozialwissenschaften immer weniger in der Lage sind, verlässliche Expertisen auf der Grundlage gesicherten Wissens abzugeben.41 Hinzu kommt, dass infolge einer Veränderung des Wissenschaftsverständnisses Wissen eng an den Kontext gebunden ist, in dem es entstanden ist. Diese Kontextualisierung des Wissens hat dazu geführt, dass die Wissenschaft ihre Distanz zur Gesellschaft und damit ihr alleiniges Deutungsmonopol verloren hat.42 Infolge dieses Distanzverlustes und der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft sind die vermeintlichen Laien heute selbst in den Expertenstand aufgerückt. Sie haben sich von dem Anspruch der Vorrangstellung der Wissenschaft befreit und gelernt, kritisch mit deren Ergebnissen umzugehen.43 Infolgedessen haben die Wissenschaft, die Verwaltung, die Wirtschaft und andere Expertensysteme ihr Monopol auf die Erzeugung von Expertisen und deren Ausdeutung eingebüßt.44 Die Verbindung von Experte und Expertise löste sich auf. Wer Experte ist, ist daher weniger eine Frage des Status, sondern eine Frage der Zuschreibung auf der Grundlage der wahrgenommenen Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema und dem zugewiesenen Vertrauen. Infolge dieser Demokratisierung der Expertise haben sich die Beratungsoptionen des politisch-administrativen Systems durch kritisch denkende und durch sachverständige Bürgerinnen und Bürger erweitert.45 Sie sind Experten ihres eigenen Lebensumfeldes und Träger wichtigen Erfahrungswissens. Sie können dem sog. Tunnelblick von Fachexperten entgegenwirken, kreative Ideen einbringen und zur Reflexion anregen.

Von einer Regierung der Wissensgesellschaft wird vor allem verlangt, die Grundlagen für eine optimale Ausnutzung der Ressource Wissen zu schaffen.

Daniel Innerarity

1.4   „Re-Inventing“ von Regieren und Verwalten

Selbstadministrierung der Zivilgesellschaft

Die hier skizzierte Entwicklung wird sich infolge weiter wachsender kommunikationstechnischer Möglichkeiten und weitergehender gesellschaftspolitischer Teilhabebedürfnisse einer aktiver werdenden Bürgerschaft verstärken. Unter den gegenwärtigen Wachstumsbedingungen werden ausgehend von einer chronischen Unterfinanzierung staatlicher Leistungen und einer wachsenden Versorgungslast Aufgabenkritik und Personalabbau auch in Zukunft prioritär die politische Agenda bestimmen.46 Die Suche nach Effizienzpotenzialen in der Verwaltung wird bleiben. Hoffnung besteht insoweit, als mit Hilfe informationstechnischer Entwicklungen und neuer Prozessmodulierungen noch bislang in Staat und Gesellschaft gebundene oder ruhende Potenziale freigestellt oder erweckt werden können. So können technische Lösungen die Menschen in die Lage versetzen, sich stärker selbst zu administrieren. Immer größere Datenmengen werden systematisiert und verarbeitet werden können. Lernende Programme können immer mehr Routinearbeiten übernehmen.47 Infolge dieser Entwicklung werden nicht nur im gesetzesakzessorischen Bereich bei der Umsetzung staatlicher Konditionalprogramme oder bei der Realisierung individueller Rechtsansprüche, sondern auch bei der Umsetzung von Finalprogrammen und damit auch bei Abwägungsentscheidungen immer mehr Routinetätigkeiten von Denkmaschinen übernommen werden können.48 Hinzu kommt, dass diese technischen Systeme selbst lernfähiger werden und damit ihre eigene Informationsverarbeitungskompetenz laufend verbessern können.49 Die dann noch verbleibenden „schwierigen Fälle“ werden für Individualprüfungen ausgefiltert. Folge dieser Entwicklung wird sein, dass sich die Zivilgesellschaft mit technischer Hilfe stärker selbst administrieren kann.50 Sie wird damit im Verwaltungsalltag noch präsenter, als dies gegenwärtig schon der Fall ist. Dies wird nicht nur zur Neugewichtung administrativer Tätigkeiten, sondern kann auch zu neuen Wettbewerbslagen und Steuerungskonkurrenzen sowie zu einer neuen Verantwortungsteilung führen. So werden nicht nur in Bereichen der Daseinsvorsorge und der freiwilligen Aufgaben, wie Entwicklungen im Bereich des Crowdfundings und Crowdsourcings oder des Community-Organizings heute schon zeigen, weitere privat-öffentlich gesteuerte Akteure und Aktionsfelder entstehen, die mit staatlichen Akteuren in Wettbewerb oder in Kooperationen treten.51 Voraussetzung für diese Entwicklung sind sichere Systeme, ein gut funktionierender Datenschutz, eine frühzeitige Einbindung der Öffentlichkeit sowie eine verständliche Kommunikation der Ziele und der Inhalte. Folge dieser Entwicklung wird sein, dass Verwaltung und Gesellschaft Gemeingüter künftig verstärkt koproduzieren können und damit die Öffentlichkeitsbeteiligung vor ganz neue Anforderungen stellt.

Verwaltung als Sozial- und Prozessarchitekt

In Folge von Open Data – und mediatisiert durch entsprechende Informationsfreiheitsgesetze – werden Informationen, Prozesswissen und die nicht personengeschützten oder sonst schutzwürdigen Daten frei zugänglich. Damit werden staatliche Datenbestände und administrative Prozesse transparent. Folge dieser Entwicklung kann sein, dass staatliches Handeln nicht nur einer potenziell permanenten öffentlichen Kontrolle unterzogen wird, sondern auch, dass die noch staatlich gehüteten Wissensbestände allen Sektoren zur Verfügung stehen und produktiv genutzt werden können.

Zusammenfassung

Infolge der hier skizzierten Entwicklung wird sich das Aufgabenbild der Verwaltung ändern. Der Anteil klassischer Verwaltung schwindet, auch wenn es diesen nach wie vor geben wird. Gleichzeitig wächst die Verwaltung immer mehr in die Rolle eines gesellschaftlich wirkenden Sozial- und Prozessarchitekten hinein, der soziale, politische und ökonomische Prozesse organisiert, koordiniert und moderiert, die entsprechenden Räume aufbaut und so gestaltet, dass in ihnen ein Wissensaustausch erfolgen und ein wechselseitiges Verstehen und Lernen ermöglicht werden kann. Im Mittelpunkt dieser Weiterentwicklung steht die Verbesserung und die bessere Erschließung des in der Gesellschaft ruhenden Humanvermögens.52 Dazu müssen Politik und Verwaltung auf allen Ebenen neue Formen der Zusammenarbeit finden und einüben.53 Das erfordert Veränderungen. Auf diesem Weg beschreitet die Verwaltung eine Transformation von Government zu Governance und löst dabei mittelbar eine Veränderung der bestehenden Gesellschaftsordnung aus.54

1.5   Bürgerbeteiligung als Systemveränderung

Änderung der Blickrichtung notwendig