Burn On: Immer kurz vorm Burn Out - Bert te Wildt - E-Book + Hörbuch

Burn On: Immer kurz vorm Burn Out Hörbuch

Bert te Wildt

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Beschreibung

»Burn-on hat das Potenzial, zur neuen Zivilisationskrankheit zu werden.« WELT AM SONNTAG - Ein Leiden, über das noch niemand spricht - Ein gesellschaftlicher Weckruf - Direkte Hilfe für alle Betroffenen Zwar wissen wir alle um die Gefahren eines Burn Outs, doch grassiert längst eine neuartige Störung, deren negative Konsequenzen häufig unerkannt bleiben: der Burn On. Während uns diese chronische Erschöpfungs-Depression immer weiter »funktionieren« lässt, raubt sie uns jegliche Lebensenergie. Die renommierten Experten Prof. Dr. Bert te Wildt und Timo Schiele beschreiben in ihrem Psychologie-Ratgeber erstmals das Burn-On-Syndrom, bei dem es trotz hohen Leidensdrucks nicht mehr zum Zusammenbruch, wohl aber zu gravierenden seelischen und körperlichen Folgen kommt. Ihr Buch bietet konkrete Hilfe für Betroffene und ist ein gesellschaftlich dringend notwendiger Weckruf. »Burn-on ist noch gefährlicher als Burn-out.« BILD »Wer dieses Gefühl ignoriert, kann im Abgrund landen.« BRIGITTE »Das Problem für Psyche und Körper ist der dauerhafte Stress.« PSYCHOLOGIE HEUTE »Permanent gestresst und erschöpft zu sein, gehört längst zum guten Ton. Das geschäftige Ausgebranntsein ist zur allgemeinen Betriebstemperatur geworden.« Prof. Dr. med. Bert te Wildt und Timo Schiele

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Zeit:9 Std. 2 min

Sprecher:Sebastian Dunkelberg

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Bert te Wildt / Timo Schiele

Burn OnImmer kurz vorm Burn Out

Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Erstmals beschreiben Prof. Dr. med. Bert te Wildt und Timo Schiele in ihrem Buch das Burn-On-Syndrom. Diese neuartige Form der chronischen Erschöpfungsdepression ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wird jedoch gegenüber dem allseits bekannten Burn Out bisher kaum wahrgenommen. Neben Ursachen, Symptomen und Krankheitsverläufen beleuchten te Wildt und Schiele auch gesellschaftliche Prozesse, die das Leiden befördern, und bieten Betroffenen direkte Hilfe.

Inhaltsübersicht

Motto

Widmung

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Vorwort

Teil I: Was ein Burn On ist und wie er entsteht

Einleitung: Die Geschichte krankhafter Erschöpfung

Die Mutter der Erschöpfungssyndrome: die Neurasthenie

Noch mehr Erschöpfung: das chronische Erschöpfungssyndrom

Die Entdeckung von negativem und positivem Stress

Der Burn Out: erster Auftritt der arbeitsbezogenen Störungen

Unter dem Feigenblatt des Burn Out: die Erschöpfungsdepression

Workaholics verdienen Geld, Respekt und Mitgefühl

Kehrseiten der Medaille: Hikikomori und andere Phänomene

Antwort auf sinnentleerte Arbeitswelten?: das Bore-Out-Syndrom

Die Daueranspannung und der Zusammenbruch: die Abgrenzung des Burn On vom Burn Out

Die Diagnose

Der Spagat über dem Abgrund

Dimensionen des Burn-On-Syndroms

In a nutshell: Diagnosestellung des Burn-On-Syndroms

Dem Leiden einen Namen geben

Arbeitsbezogene Störungen nicht nur in der Pandemie

Das gesellschaftliche Umfeld: von der Ausbeutung durch sich selbst und andere

Eine Frage der Generation: von B bis Z und den Millennials dazwischen

Sozialdarwinismus reloaded: zur Konkurrenz erzogen

Globalisierung, Neoliberalismus und das Primat der Wirtschaftlichkeit

Individualismus versus Kollektivismus

Selbstverwirklichung und Überforderung: der Preis des Individualismus

Immer parat: die Folgen des Präsentismus

Digitalisierung: Arbeit jederzeit und allerorten

Künstliche Intelligenz und Robotik: der indirekte Druck

Wir schuften wie die Roboter

Individuelle Wege in den Burn On: der Blick auf das erkrankte Ich

Lernpsychologische Aspekte: zu Höchstleistung konditioniert und verdammt

Tiefenpsychologische Aspekte: geliebt nur fürs Tun, nicht fürs Sein

Körperliche Aspekte: wie es in uns arbeitet

Entwicklungspsychologische Aspekte: persönliches Wachstum und seine Tücken

Soziodemografische Aspekte: wen es besonders betrifft

Die maskierte Erschöpfungsdepression und Begleiterkrankungen

Die verwirrende Vielfalt der Depression

Ängstlich, phobisch oder panisch

Sich ängstlich oder narzisstisch in die Arbeit stürzen

Stoffgebundene Süchte: Alkohol & Co.

Verhaltenssüchte: Workaholism & Co.

ADHS: immer auf dem Sprung

Wenn der Körper nicht mehr mitmacht

Teil II: Burn On! Was jetzt zu tun ist

Behandlung und Vorbeugung – was jetzt zu tun ist

Die Kunst der Veränderung: die Behandlung des Burn On

Werte und Sinnerleben

Wie wir hinderliche Einstellungen überwinden und uns Spielräume bewusst machen

Wie wir achtsamer mit uns umgehen

Körpersprache und Kreativität in der Therapie

Psychosomatisches Verständnis in der Therapie

Haltungsfragen

Die Prävention: wie wir uns schützen können

Sprachliche Irrtümer vermeiden

Stress ist nicht gleich Stress

Kampf nach Regeln

Zwischenmenschliche Herausforderungen

Anspannung und Entspannung im Gleichgewicht

Zeit- und Pausenmanagement

Praktische Tipps

Innere Einkehr: menschliche Reservate jenseits der Arbeitssphäre

Im Homeoffice gesund bleiben

Eine Frage des Stils

Im Privatleben wirklich leben

Wie kommunizieren wir professionell?

Mit negativen Gefühlen durchs Leben navigieren

Von der Freiheit und der Resilienz

Plädoyer: Vom menschlichen Wert jenseits maschineller Funktionalität und unbegrenzten Wachstums

Wirklich erwachsen werden

Die neue Neue Bescheidenheit

Entspannte Gelassenheit

Echte Achtsamkeit

Empathie: Achtsamkeit für den anderen

Geld-Werte-Wandel

Was uns am meisten fehlt: Zeit

Sinnsuche als Selbstzweck

Sinnlichkeit und Körperlichkeit

Menschlichkeit: von der fragilen Nachhaltigkeit des Menschen

Nachwort

Danksagung

»We didn’t try to break the system, since that’s not how we’d been raised. We tried to win it.«

 

Anne Helen Petersen (2019)

Für Luise und Burkhard.

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Im Juni 2021 wurde unser Buch Burn On erstmalig veröffentlicht. Nun, eineinhalb Jahre und drei Auflagen später, fühlen wir uns von der Resonanz regelrecht überwältigt. Das ausgeprägte mediale Interesse hat vielen Menschen unser Anliegen und die zentrale Idee des Buchs nahegebracht. Und die vielen persönlichen Rückmeldungen, die uns erreicht haben, zeugen davon, dass sich zahlreiche Menschen angesprochen fühlen, weil sie sich in der Beschreibung des Burn-On-Syndroms wiedererkennen. Als »Einschnitt« und »Offenbarung« beschrieb es beispielsweise ein Leser: »Ich weiß jetzt plötzlich fundiert, was mit mir los ist.«

Manche der Betroffenen haben wir bereits in unserer Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen behandelt. Wir konnten viele interessante, anregende und berührende Gespräche führen, den Betroffenen helfen und auf diesem Wege auch unser Verständnis vom Burn-On-Syndrom vertiefen. Intensive Gespräche mit Kolleg*innen und Freund*innen haben uns ermutigt, und wir haben gemeinsam mit ihnen unsere Perspektive auf das von uns erstmals beschriebene Syndrom erweitert. Waren wir zunächst von unserer eigenen Courage überrascht, dass wir mit unseren Erkenntnissen tatsächlich in dieser Weise an die Öffentlichkeit gegangen sind, konnten wir zügig feststellen, dass das von uns vorgeschlagene Krankheits- und Therapiekonzept rasch von anderen Kliniken und Therapeut*innen aufgegriffen wurde.

Daher gehen wir davon aus, dass auch diese Taschenbuchausgabe Menschen, die unter unterschiedlichen Varianten von Erschöpfungsdepressionen leiden, und ihren Therapeut*innen hilfreiche Impuls gegeben wird, wenngleich das Burn-On-Syndrom kein Erkrankungsbild nach Definition der WHO darstellt.

 

Während es uns tief berührt, dass wir anscheinend eine Vielzahl von Menschen dazu ermutigt haben, sich konstruktiv mit sich selbst, der eigenen Gesundheit, dem Leben und dem persönlichen Wirken auseinanderzusetzen, müssen wir mit großem Bedauern feststellen, dass die Zahl der Rückmeldungen darauf hinweist: Weiterhin geht es sehr vielen Menschen nicht gut. Sie sind unzufrieden mit der Art und Weise, wie sich nicht nur ihr Arbeitsleben aktuell gestaltet. Eine Zuschrift, die uns erreicht hat, bringt dies treffend auf den Punkt, auch wenn sie zunächst entmutigend scheint: »Ich möchte mich für Ihr Buch bedanken, das für mich sehr lehrreich und letztendlich desillusionierend war.« Wie gut, dass wir inzwischen wissen: Die Erkenntnis des eigenen Ausgebranntseins ist Voraussetzung für Schritte zur Besserung des Befindens.

 

Innerhalb der letzten Jahre haben sich verschiedene Rahmen­bedingungen unseres Lebens krisenhaft verschärft, nicht zuletzt infolge der Coronapandemie und des Kriegs in der Ukraine. In Zeiten, in denen vermeintliche Gewissheiten ins Wanken geraten sind, in denen sich der Druck auf den*die Einzelne*n erhöht, hoffen wir mit unserem Buch auch einen Beitrag zu gesellschaftlichen Debatten zu liefern. Die Frage danach, wie wir in Zukunft mitei­nander arbeiten und umgehen wollen, treibt uns an.

Wir Psychotherapeut*innen erleben Krisen und das Leiden am gesellschaftlichen Status quo als Herausforderung. Aversive Empfindungen zuzulassen, sich nicht davon abzuwenden, sondern sie zu ergründen und auf ihren Signalgehalt, auf ihre Botschaft hin abzuklopfen, hilft uns allen, uns und einander besser zu verstehen – eine ungemein wichtige Fähigkeit. Wenn wir uns hingegen unbeirrt vormachen, dass die Dinge allesamt gut sind – oder gut sein müssen –, versagen wir uns die Chance auf echte Veränderung.

 

Vor diesem Hintergrund möchten wir auch neuen Leser*innen unseres Buches Mut machen. Wenn Sie sich dieses Buch zugelegt haben oder von Angehörigen, denen Ihr Wohl am Herzen liegt, geschenkt bekommen haben, stecken Sie möglicherweise gerade am Beginn eines Veränderungsprozesses. Oftmals sind solche Trans­formationen begleitet von unangenehmen Emotionen wie Traurigkeit, Ärger, Scham oder auch von Schuldgefühlen. Es kann schmerzhaft und anstrengend sein, einen Umgang damit zu finden. Gelingt es jedoch, mit den eigenen Gefühlen Frieden zu schließen, verlieren sie an destruktiver Kraft und werden zu Impulsgebern und Wegweisern für das Neue.

Wir freuen uns darauf, Sie bei den ersten Schritten auf diesem Weg zu begleiten.

 

Timo Schiele & Bert te Wildt

Psychosomatische Klinik Kloster Dießen im Januar 2023

Vorwort

Wer kennt sie nicht, die bange Selbstvergewisserung, dass bald sicher alles besser werden dürfte. Bald, also wenn der nächste Umzug geschafft, der nächste Junggesellenabschied geplant und vollzogen, die nächste Hochzeit besucht und der nächste Geburtstag von Freunden oder Verwandten in einer Stadt am anderen Ende Deutschlands gefeiert ist. Wenn der nächste Vortrag oder Auftrag erledigt, das neue große Projekt gestemmt und eine wieder viel zu kurze Frist eingehalten worden ist. Dann werden wir drei Kreuze machen, ja dann, dann ist das Leben wieder genießbar, dann geht es wieder richtig los. Dann dürfen die Beine hochgelegt, Bücher gelesen, Freunde angerufen und getroffen, Feste gefeiert und Hobbys wiederbelebt werden.

Bedauerlicherweise kommen wir nur leider niemals an diesen Punkt, weil uns der unersättliche Arbeitsmodus längst in Fleisch und Blut übergegangen ist, bis nicht einmal mehr die schönsten Dinge des Lebens Wohlgefühl und Ruhe verheißen, weil sie entweder  – wie alles andere – generalstabsmäßig durchgeplant und durchexerziert werden oder weil wir gar nicht erst dazu kommen. Gelebt wird später, erst einmal haben wir zu funktionieren.

Wir haben den Eindruck, dass es vielen Menschen geht wie uns selbst manches Mal: nicht unbedingt so richtig schlecht, aber auch nicht wirklich richtig gut. Es dominiert allzu oft das Gefühl, dass so vieles auf der Strecke bleibt, wenn professionelle und private To-do-Listen in die nächste, die übernächste und immer weiter entfernt liegende Wochen verschoben werden. Das Schlimme dabei ist, dass die Prokrastination, diese vertrackte »Verschieberitis«, nicht nur die für die meisten Zeitgenossen unangenehmen Dinge betrifft wie zum Beispiel die Steuererklärung, die regelmäßige Ablage des persönlichen Briefverkehrs, die Erneuerung des Personalausweises oder die Rücksendung eines Paketes, sondern im Gegenteil ganz besonders die Dinge, die für viele Menschen zu den Freuden des Alltags gehören oder zumindest gehören könnten. Gerade noch geschafft wird die Pflichterfüllung, wenn andernfalls zeitnah negative Konsequenzen zu erwarten wären. Ansonsten gehen wir gewissenhaft jeden Morgen zur Arbeit beziehungsweise an den Rechner im Homeoffice, halten vor allem berufsbezogene Pflichten ein, leben ein »funktionierendes« Leben. Wir mögen unter der Oberfläche seelisch und körperlich tief erschöpft sein, aber wir beißen die Zähne zusammen und setzen für unsere Umwelt ein Lächeln auf.

Was uns und unseren Arbeitsplatz angeht, haben wir allerdings wirklich allen Grund zur Freude. Unsere tägliche Arbeit verrichten wir, Timo Schiele und Bert te Wildt, gemeinsam mit einem großen Team in einem ehemaligen Kloster, das auf besonders schöne Art und Weise zu »unserer« Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen umfunktioniert wurde. Seit drei Jahren sind wir im Team damit beschäftigt, diese Klinik für Menschen aufzubauen, von denen die meisten auf die eine oder andere Art und Weise erschöpft sind, beruflich und/oder privat. Bei dieser Herkulesaufgabe verausgaben wir uns mitsamt unseren Kolleg*innen oft. Tatsächlich empfinden wir unsere Arbeit dennoch als eine absolut wunderbare Aufgabe. Wir denken gerne daran, wie glücklich und dankbar wir uns schätzen dürfen. Unsere Angehörigen machen all das tapfer mit, wozu nebenbei mal die Wohnraumsuche, Umzüge und eine Familiengründung gehören. Das wird irgendwie gehen. – Aber manchmal stellt sich die bange Frage, wie lange unsere Körper und Seelen das wohl so mitmachen werden. Wie werden wir mittel- und langfristig mit der Dauerbelastung umgehen? Und würden wir es überhaupt bemerken, wenn sich schleichend eine chronische Erschöpfung einstellte?

Wie wir bei vielen unserer Patient*innen sehen können, bricht die krankhafte Erschöpfung nicht notwendigerweise mit dem Knall eines Burn Out durch. Nicht immer kommt es zu einem dramatischen Zusammenbruch. Um die »Funktionsfähigkeit« nicht zu riskieren, kultivieren viele Menschen, Sie wie wir, die Arbeitsleistung permanent am Limit, der sich alles andere zu unterwerfen hat, doch wir bleiben gerne bei der Stange. Denn alles hat sich dem Mantra der Geschäftigkeit unterzuordnen. Dazu gehören Freizeit und Urlaub; sie werden generalstabsmäßig durchgeplant. »Mein Hauptziel für die Behandlung ist, dass ich zurück zu alter Leistungsfähigkeit finde und wieder voll funktionsfähig in die Arbeit einsteigen kann.« So oder so ähnlich beschreiben viele Betroffene ihr Behandlungsanliegen. Die eigene Qualität beziehungsweise den eigenen Erfolg bemessen viele vor allem daran, ob sie fit sind für den Job, für den sie ach so sehr brennen.

Sollten wir also aufhören, dauerhaft zu brennen, um das nicht zu vergessen? Nur wer wirklich in der Lage ist, für etwas zu brennen, kann auch einen Burn Out erleiden, heißt es so euphemistisch schön. Ein Burn Out ist immer ein Weckruf, der zumindest nicht zu überhören ist. Und das wünscht man niemandem. Den schleichenden Burn On aber dürften wir mindestens genauso wenig mögen. Wer möchte schon über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg unbemerkt verglühen? In unserer Klinik erleben und behandeln wir nicht selten Patient*innen, die über einen langen Zeitraum eine Dauererschöpfung samt larvierter Depression und körperlicher Begleiterscheinungen kultiviert haben, bis sie irgendwann, manchmal sogar erst im Rentenalter, bemerken, dass sie am Leben vorbeigelebt – oder besser gesagt: vorbeigearbeitet – haben.

Es erscheint uns beiden allerdings nicht als eine Übertreibung zu sagen, dass wir selbst unsere Arbeit lieben. Jedoch müssen nicht zuletzt auch wir besonders aufpassen, dabei nicht unter die Räder zu kommen. Dass wir in der Aufbauphase der Klinik mit vielen Überstunden in unserer Freizeit noch ein solches Buch schreiben, ist natürlich absurd. Bereits die Entwicklungsphase des Buchprojektes, noch bevor die ersten Zeilen geschrieben waren, war tatsächlich von gemischten Gefühlen geprägt. Einerseits begleiteten uns Vorfreude und die Überzeugung, dass wir ein relevantes Phänomen beschreiben würden. Andererseits gab es auch deutliche Zweifel an der Machbarkeit dieses Unterfangens und die bange Frage, ob wir damit nicht selbst genau das tun, wovor wir im Buch warnen würden. Vielleicht sind dieses Spannungsfeld und die damit verbundene Ambivalenz ja sogar hilfreich gewesen. Spannend ist unser Buch hoffentlich auch deshalb, weil wir zwei unterschiedliche Perspektiven einbringen: zwei Generationen, ein Psychologe und ein Arzt, ein Verhaltenstherapeut und ein Tiefenpsychologe. Das hat uns erst einmal viel Gesprächsstoff geliefert, um das Thema des Buches in uns reifen zu lassen.

Unterm Strich hat sich bei uns allerdings das Empfinden durchgesetzt, dass uns besonders die eigenen Grenzgänge zwischen Schöpferkraft und Erschöpfung einen lebendigen Zugang zu unserem Thema ermöglicht haben. Ehrlich gesagt, hatten wir sogar gehofft, dass uns die Beschäftigung mit dem Thema Burn On selbst dabei helfen werde, bei all dem Stress gesund zu bleiben. Es ist schon paradox: Allein das gewählte Thema mag als Rechtfertigung dafür herhalten, dass wir in dieser anstrengenden Situation des Klinikaufbaus überhaupt ein Buch schreiben. Ansonsten dürfte man uns – und das tun vielleicht einige Angehörige, Freund*innen und Kolleg*innen auch – getrost für verrückt erklären (… um uns dann bei uns »einliefern« zu lassen).

Als Psychotherapeuten sind wir tagtäglich damit beschäftigt, unseren Patient*innen zu widersprechen, wenn sie sagen: Ich will endlich wieder funktionieren! Drückt doch meine Resettaste! Stellt mich wieder her! Wir alle sind aber keine Maschinen und sollten auch nicht versuchen, uns mit ihnen zu messen und gleichzustellen. So wie wir Ärzt*innen und Therapeut*innen zuallererst und letztendlich menschliche Wesen sind, sind es unsere Patient*innen eben auch. Das Leben vor allem dem Diktat der Funktionalität, der Disziplin und der Arbeit zu unterwerfen ist unmenschlich und macht krank. Das kann weder für die Gesundheit von Patient*innen noch für die von Psychotherapeut*innen dienlich sein.

Wenn wir Kolleg*innen, Freund*innen und Verwandten unsere wirklich besonders schöne Klinik zeigen, kommt immer wieder die gleiche Reaktion. Spaßhaft heißt es dann so oder so ähnlich: Ich leide auch an Dauer-Burn-Out! Was muss ich tun, um hier reinzukommen? – Um ganz ehrlich zu sein, wir ertappen uns selbst manchmal bei ähnlich gelagerten Fantasien. Vermutlich steckt in diesem vermeintlichen Spaß jedoch viel mehr Ernst, als ihnen und uns bewusst ist. Dass es in unserer Umgebung viele Menschen mit den Anzeichen chronischer und bisweilen auch krankhafter Erschöpfung gibt, steht für uns außer Frage. Seit wir uns damit beschäftigen, begegnet uns der Burn On allerorten.

Wir widmen uns daher diesem Thema, weil wir überzeugt davon sind, dass der Burn On ein real existierendes Krankheitsphänomen ist, das wegen der Folgen für jeden Einzelnen, aber auch für unsere Gesellschaft der Anerkennung bedarf. Während wir mit seiner Erforschung in der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen begonnen haben, möchten wir unsere Beobachtungen und Einschätzungen mit Ihnen teilen. Denn wir sehen einen dringenden Handlungsbedarf. Wir hoffen daher, dass dieses Buch vielen Leser*innen (und auch uns selbst) dabei helfen möge, Anzeichen eines Burn On bei sich zu erkennen, sich vor einer entsprechenden krankhaften Entwicklung zu schützen und sich selbst zu helfen oder – falls es dafür schon zu spät sein sollte – Hilfe zu bekommen. Damit möchten wir auch einen Beitrag für eine Gesellschaft leisten, in der gegenüber der Überbetonung von Arbeit und Leistung andere Wertvorstellungen wieder mehr in den Vordergrund rücken.

 

Timo Schiele & Bert te Wildt

Psychosomatische Klinik Kloster Dießen

Teil I: Was ein Burn On ist und wie er entsteht

»Depression ist die Krankheit einer Gesellschaft, die nicht mehr auf Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative.«

 

Alain Ehrenberg (2015)

Einleitung: Die Geschichte krankhafter Erschöpfung

Depression – Neurasthenie –Psychosomatische Störungen – Medizingeschichte – Burn Out – Negativer Stress – Bore Out – Erschöpfungsdepression – Workaholism – Hikikomori – Arbeitssucht

Burn On ist ein neuartiges und bislang unerforschtes Krankheitsbild1. Wenn wir es hier beschreiben, tun wir das im Bewusstsein und unter der Berücksichtigung anderer psychosomatischer Erkrankungen. Von diesen gilt es das Burn-On-Syndrom natürlich abzugrenzen. Daher beschreiben wir Ihnen hier im Kapitel einige verwandte Krankheitsbilder, die wir auch in der Klinik oft erleben. Und dann klären wir natürlich, was genau dieses neue Syndrom eigentlich ist: Wie entsteht es? Und wie gehen wir bestenfalls damit um? Fragen wie diese und vieles mehr werden wir Ihnen in diesem Buch beantworten – und wir wollen Ihnen Wege aufzeigen, wie Sie sich vor einem Burn On schützen können.

Zwei Stränge der Medizingeschichte sind für die Entdeckung des Burn On von besonderer Bedeutung: die der arbeitsbezogenen Störungen und die der psychosomatischen Erkrankungen überhaupt. Beide, Burn Out wie Burn On, sind ja Syndrome, zu denen eine tiefe Überlastung und Erschöpfung gehören, bei denen die Unterschiede aber deutlich zu erkennen sind. Zusätzlich geht es uns in diesem ersten Kapitel um psychische Erkrankungen allgemein, die als Vorläufer des Burn On zu verstehen sind und bei denen ähnliche Symptome auftreten können.

Will man den Burn On von anderen Krankheitsbildern abgrenzen, ist es sinnvoll, sich die Diagnostikgeschichte einmal genauer anzusehen: Wie wurden solche Krankheiten und Symptome bisher eingeordnet? Wir kommen damit nämlich einer etwas längeren Geschichte auf die Spur, die nicht erst mit der Entdeckung des Burn Out beginnt. Der Burn On dürfte sich schon früher in anderen psychosomatischen Krankheitsbildern verborgen haben. Wir denken dabei auch an Erkrankungen, bei denen sich die Betroffenen als tiefgreifend erschöpft erleben, ohne dass sich dies offensichtlich durch eine berufliche oder anderweitige Überlastung erklären ließe. Die Neurasthenie zum Beispiel, diese »reizbare Schwäche«, wie sich das übersetzen ließe, kann als eine erste Vorläuferin von Burn Out und Burn On verstanden werden.

Die Mutter der Erschöpfungssyndrome: die Neurasthenie

Es war ein US-amerikanischer Arzt namens George Miller Beard, der vor gut 150 Jahren die Neurasthenie erstmalig als Zivilisationskrankheit beschrieb2. Die Vielfalt der körperlichen und seelischen Symptome macht die Neurasthenie zu einer Vorläuferin psychosomatischer Erkrankungen im Allgemeinen und der Erschöpfungssyndrome im engeren Sinne. Damals bezeichnete man das als Nervenerkrankung, zumal die psychischen Erkrankungen als solche noch gar nicht entdeckt und erkannt worden waren. Neben genetischen Faktoren wurden von Beard die Arbeits- und Lebensbedingungen im Zuge der industriellen Revolution für das Entstehen einer Neurasthenie verantwortlich gemacht. Die Industrialisierung erfuhr seinerzeit gerade in den USA eine besondere Dynamik, sodass sogar von der »American Nervousness« die Rede war3. Vielleicht markiert die Beschreibung der Neurasthenie durch Beard sogar die eigentliche Geburtsstunde von Psychiatrie und Psychosomatik, die wir Europäer gerne mit einem anderen Namen verbinden – Sigmund Freud.

Freud übernahm zunächst Begriff und Konzept der Neurasthenie, auch wenn er schon recht früh Kritik an einer fehlenden diagnostischen Differenzierung übte4. Allerdings entwickelte sich mit Freuds Interesse an dem Phänomen die Neurasthenie in Wien und anderen europäischen Großstädten zu einer umstrittenen Modediagnose der gehobenen und gebildeten Gesellschaftsschicht, heute vielleicht vergleichbar mit der sogenannten »Hochsensibilität«5. Freud interessierte sich in diesem Zusammenhang allerdings weniger für Formen der Überlastung durch veränderte technologische und gesellschaftliche Lebensbedingungen als vielmehr für innere Konflikte, die zu einer Überempfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen führen können.

Auch wenn die Existenz des Krankheitsbildes der Neurasthenie heute umstrittener denn je ist, finden sich in den Krankheitsklassifikationssystemen zwei unterschiedliche Varianten. Zum einen gibt es demnach eine Form, die besonders durch vermehrte Müdigkeit nach kognitiver Belastung oder Anstrengung charakterisiert ist. Das heißt also eine Belastung, die mit den Funktionen des Menschen wie Wahrnehmung, Lernen, Erinnern, Denken und Wissen in Zusammenhang steht. Das kann unter anderem bedeuten, dass die Konzentration der Betroffenen gestört ist und die Patienten sich als sehr leicht ablenkbar erleben. Bei der anderen Form der Neurasthenie finden sich eher körperliche Symptome. Zu diesen psychosomatischen Beschwerden zählen im Wesentlichen körperliche Schwäche und Erschöpfung nach geringer Anstrengung sowie Muskelschmerzen, Schwindelgefühle und die Unfähigkeit, sich zu entspannen. Beide Formen werden oft von der Angst vor einer weiteren Verschlechterung des Zustandes begleitet, der dann im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung auch zumeist eintritt. Die entsprechende seelische und körperliche Anspannung verschlimmert die psychosomatischen Beschwerden, ein Teufelskreis entsteht. Beide Varianten, die psychische wie die psychosomatische Form, werden – wie fast alle Definitionen psychischer Leiden der WHO – rein symptomatisch gefasst, wir erkennen sie an Krankheitsbildern und der Beschreibung des Leidens der Patient*innen, während die Ursachen, also die ätiologischen Entstehungsbedingungen6, wie wir das nennen, wenn wir Ursachenforschung betreiben, unberücksichtigt bleiben.

Problematisch an der Neurasthenie war und ist also nicht nur, dass das Phänomen so diffus, vielgestaltig und schwer zu greifen ist, sondern dass vollkommen offen ist, ob es nun primär um eine angeborene, also aus der Veranlagung des Betroffenen entwickelte Überempfindlichkeit geht, die schon bei kleineren Belastungen zu Symptomen führt. Oder ob es sich vielmehr um eine sekundär erworbene Überlastungsreaktion auf äußere Einflüsse handelt. Diese Schwierigkeit findet in Debatten Widerhall, wenn immer noch die Frage diskutiert wird, ob das Burn-Out-Syndrom als eigenständige Erkrankung anerkannt werden soll oder nicht.

In diesem Zusammenhang erscheint es uns als besonders bemerkenswert, dass die Neurasthenie nicht nur als Vorläuferin des Burn Out gesehen wird, sondern auch als die des sogenannten Bore Outs7, eines erst in letzter Zeit beschriebenen Phänomens, bei dem die Betroffenen von ihrer Arbeit krankhaft unterfordert und gelangweilt sind (dazu später mehr). Folgt man diesen Überlegungen, dann wäre Überlastung bei einer Neurasthenie gleichsam ein Burn Out – oder eben auch unser Burn On –, während man ein Bore Out eher bei Überempfindlichkeit bei gleichzeitiger Unterforderung diagnostizieren müsste. Mit der Entdeckung der Neurasthenie tauchte jedenfalls erstmals die überraschende Erkenntnis auf, dass es nicht nur ein Zuviel, sondern auch ein Zuwenig an Anregung und Spannung im menschlichen Wirken und Walten gibt.

Im asiatischen Raum, wo eine ausgesprochen hohe Arbeitsmoral herrscht, wird die Neurasthenie auch heute noch erstaunlich oft diagnostiziert. Das liegt vor allem daran, dass die Diagnose dort weniger mit einem Stigma belegt zu sein scheint, als dies bei klassischen psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Ähnlichem der Fall ist. Dort scheint sich der Gedanke durchgesetzt zu haben, dass eine genetische Veranlagung das vor allem als körperliches Leiden empfundene Krankheitsbild verursacht. In unseren Breiten wie auch im Rest der sogenannten westlichen Welt werden Arbeit und Leistung ebenfalls ziemlich hochgehalten. Aber hier ist zunehmend ein Bewusstsein dafür entstanden, dass Arbeit krank machen kann. Während die Diagnose Neurasthenie kaum noch gestellt wird, hat sich der Burn Out in unserem Krankheitsverständnis längst etabliert. So findet sich die Neurasthenie im ICD-118, nach dem sich gängige Diagnosen richten, nur noch unter »ferner liefen« aufgeführt und dürfte bald Geschichte sein. Das Burn-Out-Syndrom jedoch ist heute weithin anerkannt und erschreckenderweise weiter auf dem Vormarsch9.

Noch mehr Erschöpfung: das chronische Erschöpfungssyndrom

Ähnlich wie die Neurasthenie wird das chronische Erschöpfungssyndrom, auch Chronic Fatigue Syndrome (CFS) genannt10, als eine chronische Erkrankung verstanden, die, wie die Bezeichnung bereits vermuten lässt, durch eine sehr starke physische, also körperliche, und psychische Erschöpfung charakterisiert ist.

Immer wieder gab es auch die Vermutung, dass das chronische Erschöpfungssyndrom durch eine Entzündung des Gehirns (Enzephalomyelitis) ausgelöst sein könnte. Belegt werden konnte das hingegen nie. Frauen sind deutlich häufiger davon betroffen als Männer. Bei vielen scheinen die Beschwerden durch eine Infektionserkrankung, wie zum Beispiel eine Erkrankung mit dem Epstein-Barr-Virus, ausgelöst zu werden und dann, teilweise erst einige Zeit später, wie aus dem Nichts zu beginnen. Zur extremen Erschöpfung gesellen sich oftmals Symptome wie Muskel- oder Gliederschmerzen und in der Folge Schlaf- oder Konzentrationsstörungen. Erholung scheint dabei nicht zu einer wesentlichen Verbesserung des Zustandes zu führen. Manche Betroffene leiden derart stark, dass sie nahezu vollständig ans Bett gefesselt sind und ihnen auch alltägliche Tätigkeiten wie beispielsweise das Zubereiten einer Mahlzeit kaum ohne Unterstützung möglich sind. Das ist dann natürlich kein Burn Out, sondern etwas ganz anderes.

Trotz des erheblichen Leidensdrucks und inzwischen vermehrter Forschungsaktivität sind die Ursachen des chronischen Erschöpfungssyndroms bis heute nicht ausreichend geklärt11. Jenseits der Infektionshypothese werden Defekte im Bereich des Immunsystems, des Hormonsystems, des Nervensystems sowie psychische Faktoren beschrieben, die für die Entstehung relevant sein könnten. Eine Forschungsarbeit von Heim und Kollegen aus dem Jahre 200912 legt einen Zusammenhang mit traumatischen Kindheitserfahrungen nahe. Die meisten Betroffenen erleben ihre Erkrankung jedoch eindeutig als körperliches und nicht als psychisches Problem. Sie erfahren – im Gegensatz zu den meisten Menschen, die unter einer Depression leiden – keine Antriebslosigkeit. Stattdessen scheint der Körper das Aktivwerden zu be- und verhindern. Nichtsdestotrotz hält sich aus psychosomatischer Sicht hartnäckig die Hypothese, dass wir es beim chronischen Erschöpfungssyndrom mit einer Art von Erschöpfungsdepression zu tun haben, die nicht von offensichtlichen äußeren Überlastungsfaktoren durch Tätigkeiten herrührt, sondern vielmehr von der unbewussten, aber anstrengenden Reaktion auf gravierende innere Konflikte, die letztlich auch auf traumatische Erfahrungen zurückgehen können.

Wir tendieren in unserer Klinik dazu, diese Form von Erschöpfung als eine typische psychosomatische Erkrankung anzusehen, die sowohl körperliche als auch psychische Dimensionen und Faktoren hat. Da ihre Ursachen nach wie vor weitgehend ungeklärt sind, gibt es bedauerlicherweise auch keine wissenschaftlich fundierte Therapie. So laufen Behandlungsversuche nicht selten ins Leere. Im Wesentlichen versucht man, den Betroffenen ein Leben mit den Symptomen zu ermöglichen und ihre Beschwerden etwas zu lindern.

Die Entdeckung von negativem und positivem Stress

Bis heute ist noch vieles im Dunkeln geblieben, was die Rolle psychischer und sozialer Faktoren bei der Entstehung von Krankheitsbildern wie Neurasthenie und chronischem Erschöpfungssyndrom betrifft – und Sie können sich vorstellen, dass ein Burn Out oder Burn On sich davon wiederum unterscheidet. Allerdings stammen beide Diagnosen, Erschöpfungssyndrom wie Neurasthenie, aus einer Zeit, als man den Einfluss der Psyche auf das körperliche Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit noch massiv unterschätzte – Freud hin oder her.

Als einer der ersten moderneren Wissenschaftler beschäftigte sich der als Vater der Stressforschung geltende Mediziner Hans Selye intensiv und systematisch mit der Frage, wie sich äußere Stressreize – jenseits von eindeutig traumatischen Erlebnissen – körperlich wie seelisch auswirken. Sein Standardwerk aus dem Jahre 1956 »The Stress of Life«13 gilt noch heute als Grundlagenwerk. Selye selbst soll gesagt haben, dass eine seiner größten beruflichen Errungenschaften gewesen sei, der Welt und ihren Sprachen ein neues Wort geschenkt zu haben: Stress14. Das Besondere an Selyes sogenanntem Modell des Allgemeinen Anpassungssyndroms ist die Berücksichtigung sowohl kurz- als auch langfristiger Reaktionen des menschlichen Organismus auf ganz unterschiedliche Belastungen.

Selyes Modell unterscheidet drei Stadien von Reaktionen: die Alarmreaktion, das Widerstandsstadium sowie das Erschöpfungsstadium. Man kann es sich gut vorstellen, dass der Körper zunächst auf akute äußere und innere Stresszustände alarmiert reagiert, was übrigens unwillkürlich und automatisiert abläuft, hervorgerufen durch Stresshormone. Die Alarmreaktion soll unseren Körper in die Lage versetzen, kurzfristig Energie und Kraft zu verspüren, und ist mit Blick auf unsere animalische Natur ursprünglich als eine Vorbereitung auf Kampf oder Flucht gedacht.

Auf die zeitlich begrenzte Alarmreaktion folgt das sogenannte Widerstandsstadium, das den Körper wieder in den Normalzustand versetzen soll. Stresshormone werden in dieser Phase abgebaut, weil der Körper versucht, sich dem Stress zu entziehen, sei es, dass er den Umweltauslöser meidet (Flucht) oder zu verändern sucht (Kampf), um dann im Anschluss zunächst eine Ruhephase einzulegen. Die beiden Anfangsphasen können laut Selye nämlich vom Körper nur für einen begrenzten Zeitraum aufrechterhalten werden.

Das dritte von Selye beschriebene Stadium beschreibt eine Erschöpfung, die ganz automatisch eintritt, wenn kein Gleichgewicht aus Alarm und Widerstand hergestellt werden kann. Dann drohen negative Langzeitfolgen und eine erhebliche Beeinträchtigung des gesundheitlichen Wohlbefindens auf körperlicher wie auch auf seelischer Ebene.

Selye hat sich in seinen Arbeiten insbesondere auf hormonelle Veränderungen durch Stress konzentriert und eingehend die negativen Konsequenzen für den menschlichen Körper beschrieben, wie zum Beispiel die Entstehung von Bluthochdruck, Magengeschwüren oder Arteriosklerose. Diese gelten heute mehr denn je als Volkskrankheiten und sind vor allem als Folge von Dauerstress zu verstehen, was für unser Thema von besonderer Bedeutung ist. Das lässt aber auch ermessen, wie relevant Selyes Pionierarbeiten noch heute für uns sind. Gleichzeitig hat Selye mit seiner Forschung grundsätzlich den Weg für das Verständnis arbeitsbezogener Störungen geebnet, allen voran der bestbekannte Burn Out, auf den wir uns als mittlerweile gut beforschtes Krankheitsphänomen natürlich immer wieder beziehen werden.

Der Burn Out: erster Auftritt der arbeitsbezogenen Störungen

Die meisten psychischen Erkrankungen, ja sogar schon einzelne Symptome werden allgemein misstrauisch beäugt. Da scheint ein Burn Out heute ein vergleichsweise akzeptables Phänomen zu sein. Das war nicht immer so, aber inzwischen kennt vermutlich so gut wie jede/r jemanden, die oder der sich aufgrund eines Burn Out in ambulante oder sogar stationäre Behandlung begeben musste. Sein Auftreten hat geradezu epidemische Ausmaße angenommen, wie es der Burn-Out-Experte Andreas Hillert beschreibt.

Obwohl der Burn Out seit Jahrzehnten erforscht wird, existierte bis zu der im Jahr 2019 erfolgten Aufnahme in die elfte und aktuellste Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) der WHO15 keine als allgemein gültig anerkannte wissenschaftliche Definition dieses Krankheitsbildes. Auch über die nun verfasste Definition wird weiterhin lebhaft diskutiert. Denn noch immer gilt der Burn Out nicht als eigenständige Erkrankung, sondern als ein Faktor, der den Gesundheitszustand beeinflusst.16

Das Burn-Out-Syndrom ist gemäß ICD-11 nämlich als ein ganzer Komplex von Symptomen gekennzeichnet, der durch unbewältigten, nachhaltigen Stress am Arbeitsplatz entstanden ist. Es setzt sich aus drei psychischen Dimensionen zusammen. Diese sind:

 

Gefühle der Erschöpfung oder des Energieverlusts,

eine Zunahme an mentaler Distanz oder eine negative und zynische Haltung zur eigenen Arbeit sowie

ein verringertes berufliches Leistungsvermögen.

 

Diese Definition der WHO, die in Deutschland noch keine Anwendung findet, verweist explizit darauf, dass der Begriff des Burn Out nicht auf andere Lebensbereiche als den der Arbeit angewandt werden kann. Das wird – nicht nur von uns – viel kritisiert. Denn in zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass der Burn Out durchaus mit nicht arbeitsbezogenen Faktoren in Verbindung zu bringen ist. Anders ist wohl nicht zu erklären, dass auch Menschen, die nicht berufstätig sind, an einem Burn Out leiden können, so zum Beispiel Menschen, die Angehörige pflegen, oder auch Menschen, die überhaupt nicht in einem klassischen Arbeitsverhältnis stehen, also beispielsweise Mütter und Väter kleiner Kinder, die sich intensiv um diese kümmern, oder Arbeitssuchende, die unermüdlich nach einer Anstellung suchen. Hier spielt die gesellschaftliche Realität hinein, die die Erledigung vieler Aufgaben nach wie vor nicht als eine Art von Arbeit versteht, wertschätzt und vergütet. Dies ist schon bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass ja das Burn-Out-Syndrom erstmalig bei Menschen in Pflege und Pädagogik auftrat, diagnostiziert und behandelt wurde.

Die Ursprünge der Burn-Out-Forschung gehen zurück auf Herbert J. Freudenberger17. Der deutschstämmige Psychologe arbeitete in New York und interessierte sich besonders für die gesundheitlichen Folgen sozialen Engagements. So stellte er in den 1970er-Jahren bei sich selbst wie auch bei seinen Mitarbeitern fest, dass das im Rahmen einer sogenannten free clinic erbrachte Engagement mit hohen gesundheitlichen Kosten verbunden war. Der große Idealismus, mit dem er und seine Mitarbeiter ihre Arbeit mit vornehmlich Drogenabhängigen erbrachten, hatte bei nicht wenigen die oben beschriebenen Symptome zur Folge. Ausgehend von den Arbeiten Freudenbergers, entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten eine sehr rege Forschungs- und Publikationsaktivität18. Unter den Forschern, die sich insbesondere mit der psychologischen Vermessung des Burn Out beschäftigt haben, ist Christina Maslach zu nennen19. Die Psychologin ist Urheberin des sogenannten Maslach-Burn-Out-Inventars (MBI), mit dem anhand von 22 Fragen die drei Dimensionen des Burn-Out-Syndroms testpsychologisch erfasst werden können20.

Ein Burn Out ist meist der traurige Höhepunkt einer negativen Entwicklung, wenn Menschen in einen Teufelskreis aus Überarbeitung, abnehmender Leistungsfähigkeit und dem verzweifelten Versuch geraten, diese durch noch mehr Arbeit aufzufangen. Für Betroffene wie auch Angehörige kann und sollte es daher ein Warnzeichen sein, wenn Menschen plötzlich Arbeit mit nach Hause bringen oder an Wochenenden und Abenden arbeiten. Oftmals sind dies mehr oder weniger verzweifelte Versuche, wieder in die Spur zu kommen und etwaige Rückstände aufzuholen. Aufgrund der bereits gesunkenen Leistungsfähigkeit gelingt dies jedoch häufig nicht. Im Gegenteil, die wenigen Freiräume, die noch zur Erholung und Aufrechterhaltung des letzten Rests an Leistungsfähigkeit zur Verfügung stünden, werden ebenfalls mit Arbeit ausgefüllt. Gelingt es nicht mehr, positive Erfahrungen wie etwa Erfolgserlebnisse zu sammeln, entstehen Zynismus und ein regelrechter Widerwille gegen die eigene Tätigkeit sowie gegen alles damit Verbundene. Das kann in der Arbeit mit Menschen, zum Beispiel im sozialen Bereich21 als Pflegekraft oder Mediziner*in, dazu führen, dass keine oder kaum mehr Empathie für die Hilfesuchenden aufgebracht wird. Verschlimmert sich der Zustand, weil er nicht erkannt wird oder Hilfe aus anderen Gründen ausbleibt, führt der Burn Out regelhaft zum psychischen Zusammenbruch.

Betroffene beschreiben in dieser Situation eine überwältigende Kraft- und Energielosigkeit. Sie fühlen sich »zu nichts mehr in der Lage«. Rien ne va plus. Ein »Nichts geht mehr«-Gefühl. Mit der entsprechenden Antriebs-, Freud- und Hoffnungslosigkeit erfüllen die Patienten dann in der Regel allerdings auch die diagnostischen Kriterien für eine akute Depression, spätestens dann, wenn sie in stationäre Behandlung kommen.

Unter dem Feigenblatt des Burn Out: die Erschöpfungsdepression

Während eine Depression als psychische Erkrankung offiziell anerkannt und die weltweit meistdiagnostizierte psychische Störung ist, ist das Phänomen Burn Out – und damit gilt das natürlich auch für unser neu zu beschreibendes Burn On – in der wissenschaftlichen und sozialrechtlichen Auseinandersetzung weiterhin umstritten. Noch immer ist es nicht als eigenständiges Störungsbild anerkannt, obwohl die Bevölkerung diese psychische Erkrankung inzwischen längst akzeptiert und sie sich weltweit ausbreitet. Manche Menschen mögen mit etwas mehr, manche mit etwas weniger Wohlwollen auf andere blicken, die unter einem Burn Out leiden. Die Existenz des Syndroms an sich scheint jedoch in der Allgemeinbevölkerung kaum mehr angezweifelt zu werden. Und die Fachwelt erkennt zumindest in weiten Teilen an, dass es sich beim Burn Out um einen Ausnahme- oder auch Risikozustand handelt, der zu Recht als psychische beziehungsweise psychosomatische Erkrankung eingeordnet wird.

Beim Burn Out sind die Entstehungsbedingungen uns heutzutage bekannt, die Medien berichten, wenn bekannte Größen der Popkultur oder aus dem Sport plötzlich ausfallen22. In den Klassifikationssystemen für psychische Erkrankungen bleiben die Ursachen, also die Entstehungsbedingungen, bei der diagnostischen Kategorisierung in der Regel unberücksichtigt. Nehmen wir das naheliegende Beispiel der Depression. Erhält jemand die Diagnose »depressive Episode«, lassen sich daraus zunächst keinerlei Schlüsse ziehen, wie die Depression beim Betroffenen individuell entstanden ist. Es werden mit einer Diagnose zunächst lediglich vorhandene Symptome in Gruppen zusammengefasst und kategorisiert. Das hat verschiedene Vorteile, aber auch seine Nachteile, da unterschiedliche genetische und hormonelle, biografische und soziale Entstehungswege durchaus auch zu unterschiedlichen depressiven Syndromen führen und deshalb eigentlich eine unterschiedliche Herangehensweise erfordern. Uns aber ist es besonders wichtig herauszufinden, wodurch die Krankheit entstanden ist, damit wir auch verhindern können, dass noch mehr Menschen darunter leiden müssen.

In der Depressionsforschung gibt es immer wieder Versuche, die depressiven Störungen in unterschiedliche Varianten zu unterteilen.23 Wir sind überzeugt davon, dass das Burn-Out-Syndrom im Sinne einer akuten Erschöpfungsdepression endlich diagnostisch zu fassen und weiter zu etablieren wäre, denn das würde einen Beitrag zu einer überfälligen Differenzierung depressiver Syndrome leisten. Die Unterscheidung von Depression und Burn Out ist hilfreich – denn hier lässt sich ja gut eine Ursache erkennen.24

Etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann sind im Laufe des Lebens von einer Depression betroffen, und knapp zehn Prozent der erwachsenen deutschen Bevölkerung erkranken im Laufe eines Jahres an einer Form der Depression25. Bei uns in der Klinik sehen wir auch unabhängig von den häufigen Erschöpfungsdepressionen immer wieder ganz unterschiedliche Entstehungsgeschichten und Symptomkonstellationen von Depressionen, sodass es uns erstaunt, wie unspezifisch, ja unzureichend die offiziellen Diagnosekriterien und Erklärungsmodelle oft wirken. Ehrlich gesagt, findet man in psychosomatischen Kliniken kaum Patient*innen, die neben der Hauptdiagnose beispielsweise einer Posttraumatischen Belastungs- oder Angststörung nicht auch die Kriterien für eine depressive Episode aufweisen. Das liegt aus unserer Sicht nicht allein daran, dass die Menschen für eine stationäre Behandlung besonders schwer krank sein müssen. Es könnte vielmehr auch damit zusammenhängen, dass Depressivität so etwas ist wie das psychische Pendant zum Schmerz, der ja auch bei den meisten körperlichen Erkrankungen auftritt. – Dieser Vergleich würde allerdings noch viel fundamentalere Fragen aufwerfen.

Menschen, die nach eigenen Angaben mit einem Burn Out zu uns in Behandlung kommen, leiden aus klinisch-psychotherapeutischer Sicht oftmals unter einer Erschöpfungsdepression oder einer ähnlichen Erkrankung. Für die Betroffenen scheint es um ein Vielfaches leichter zu sein, sich das Vorhandensein eines Burn Out einzugestehen. Die Gründe dafür sind mannigfaltig.

Einerseits wünschen sich die meisten Menschen, ihre Erkrankung und ihre Symptome verstehen zu können. Das geht uns als Behandlern im Übrigen ähnlich. Menschen streben nach Erklärbarkeit. Im Rahmen einer Psychotherapie gehört es immer zu den ersten Schritten, ein individuelles und stimmiges Erklärungsmodell für das Erkranken zu entwickeln. Anders ist eine zielgerichtete Intervention kaum möglich. Haben wir nicht verstanden, weshalb jemand unter einer bestimmten Symptomatik leidet, haben wir im Regelfall auch keine Chance auf einen Behandlungserfolg. Das verhält sich in der Diagnostik und Behandlung psychischer Erkrankungen nicht anders als im Bereich anderer medizinischer Fachdisziplinen.

Andererseits ist das – provokant gesagt – Charmante am Erklärungsmodell Burn Out die Tatsache, dass sich das psychische Leiden mittels eines sozial erwünschten und hoch anerkannten Verhaltens erklären lässt. Sich für ein vermeintlich gesellschaftlich höheres Gut – die Arbeit – aufgeopfert zu haben, macht es vielen Menschen leichter, sich damit auseinanderzusetzen und das eigene Leid anderen gegenüber zu offenbaren. Das gilt offensichtlich ganz besonders für Männer26. Nicht nur nach unserer Erfahrung nehmen Männer noch immer deutlich seltener als Frauen eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch. Die Tatsache, dass es auch für ihre Probleme eine einigermaßen akzeptierte Erklärung gibt, öffnet dem ein oder anderen Betroffenen die Tür zu adäquater und angemessener Hilfe. Bei manch einem darf allerdings zu Recht gefragt werden, ob ein diagnostizierter Burn Out nicht ein Feigenblatt für eine eigentlich vorhandene, aber uneingestandene Depression darstellt. Sich selbst zum Workaholic zu erklären, bietet dann ein Versteck für eine eigene krankhaft ausufernde Schwächephase.

Workaholics verdienen Geld, Respekt und Mitgefühl

Besonders viel und hart zu arbeiten, sei es als Berufstätige, als Ehrenamtliche und/oder als Eltern, gilt in erster Linie als ehrenvoll. Wer deswegen erschöpft ist, darf Rücksicht und Zuspruch erwarten.

Wir persönlich kennen das übrigens auch und fühlen uns alles andere als wohl dabei. Wenn wir uns als Vater oder als Sohn, als Bruder oder als Freund wegen unserer vielen Arbeit permanent entschuldigen müssen, stoßen wir in der Regel auf Verständnis und Nachsicht, was uns dabei hilft, mit unserem schlechten Gewissen zurechtzukommen, gerade auch jetzt, wo wir dieses Buch schreiben. – Musste das denn wirklich jetzt sein? Sind wir nicht maßlos? Es steht zu befürchten, dass uns unser Umfeld längst dann und wann als Workaholic erlebt oder gar bezeichnet. Tatsächlich haben wir kaum jemandem von diesem Buchprojekt erzählt und uns vermutlich selbst etwas in die Tasche gelogen, als wir uns vorgenommen haben, im Winter 2020/21 schon irgendwie genug Zeit dafür zu haben. Bizarr ist, dass uns die Auswirkungen der Pandemie dabei ein wenig unterstützt haben.

Sich selbst und andere über das Ausmaß des eigenen exzessiven und selbstschädigenden Verhaltens im Unklaren zu lassen oder aktiv zu belügen, ist ein wichtiges diagnostisches Kriterium für alle Suchterkrankungen. Das gilt auch für nicht substanzbezogene Suchterkrankungen wie den Workaholism.

Arbeitssucht gilt als die umstrittenste aller Verhaltenssüchte. Das liegt vermutlich daran, dass Arbeit ein so vielgestaltiges Phänomen ist. Nicht nur die inhaltlichen und formalen Aspekte, sondern auch die Motive und Incentives für Arbeit können sehr unterschiedlich sein. Was da also genau das Belohnungssystem antriggert und zur Ausschüttung von Dopaminen und Endorphinen führt, ist vielfältig und nicht einfach auszumachen und zu messen. Und doch liegt es so nahe, dass etwas, was belohnt wird und mit Lohn und Anerkennung messbar vergolten wird, süchtig machen kann.

Bis vor Kurzem noch war das pathologische Glücksspiel übrigens die einzige anerkannte Verhaltenssucht.27 Bei der Glücksspielsucht geht es um den Gewinn von Geld, wobei hier der monetäre Einsatz, die Illusion einer Beeinflussbarkeit des Schicksals, letztlich aber der Zufall die entscheidenden Variablen darstellen. Tatsächlich kann Geschicklichkeit dabei kaum eine Rolle spielen, meist geht die Beeinflussbarkeit gegen null wie beispielsweise bei Spielautomaten und Roulette, mal ist sie in sehr begrenztem Ausmaß vorhanden wie bei Kartenspielen und Sportwetten. Mit dem suchtartigen Spekulieren mit Aktien begegnet uns im klinischen Alltag bisweilen ein interessanter Hybrid aus Glücksspiel-, Kauf- und Arbeitssucht. Das suchtartige Erarbeiten, Ausgeben und Verspielen von Geld geriert hier zu einer kruden und fiebrigen Melange.

In der Neuauflage der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die jedoch in Deutschland noch nicht eingeführt ist, werden die Verhaltenssüchte zwar erstmalig als solche anerkannt und mit den substanzbezogenen Suchterkrankungen wie Alkoholismus in einem gemeinsamen Kapitel erfasst. Jedoch taucht die Arbeitssucht dort nicht auf – übrigens ebenso wenig wie die Kaufsucht, die schon vor über hundert Jahren entdeckt und beschrieben wurde.28 Vielmehr findet im ICD-11 neben der Glücksspielsucht allein die Computerspielsucht erstmalig eine offizielle Anerkennung. Über die Anwendung von Onlinespielen hinaus wird vermutlich auch die Internetsucht im Allgemeinen bald folgen. Die beiden bekannten körperbezogenen Verhaltenssüchte finden sich schon in anderen Kapiteln der Klassifikationssysteme wieder, die Sportsucht bei den Essstörungen und Körperschemastörungen, die Sexsucht bei den sexuellen Störungen.

Die bislang beschriebenen sechs Verhaltenssüchte mögen sich in unterschiedlichen Stadien ihrer Anerkennung befinden. Allen gemeinsam ist, dass sie durch die Digitalisierung eine neue Dynamik bekommen. Jeder von uns kann sich beispielsweise jederzeit und allerorten einen Sexpartner, ein Kaufobjekt oder eine spannende Sportwette im Netz besorgen, um sich in gespannter Dopamin-vermittelter Erwartung auf die ersehnte endorphine Klimax zu freuen. Mit dem Smartphone können wir wie mit einer omnipotenten Fernbedienung praktisch alles bestellen, was wir uns wünschen, und bald auch per Drohne, Roboter oder autonomem Fahrzeug schnellstmöglich liefern lassen. Mit dem Internet und seinen digitalen Endgeräten, die uns wohl kaum mehr loslassen werden, erreicht die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung als Motor des Kapitalismus, die wir mit ernsthafter Betriebsamkeit verfolgen, einen vorläufigen Höhepunkt. Davon wird natürlich auch das Arbeitsleben erfasst.

Je nach Branche kann man uns mit unseren mobilen Computern – schon ein leistungsfähiges Smartphone reicht dafür aus – für längere Zeit einsperren, ohne dass uns je die Arbeit ausgehen würde. Dass wir überall und jederzeit mit unseren Laptops und Tablets erreichbar sind und arbeiten können, mag in Pandemiezeiten und auch für viele andere Lebenssituationen ein Segen sein, aber es ist gleichzeitig ein Fluch. Sich vom Arbeitsleben abzugrenzen wird dadurch ungleich schwieriger. Dank der digitalen Medien zu jeder Zeit rund um die Uhr und damit in allen Zeitzonen verfügbar zu sein, von jedem Ort aus, auch im Bett und im Urlaub, arbeiten zu können, in jeder Situation auch beim Essen und auf der Toilette seine Mails checken zu können, erhöht für viele Berufstätige den Arbeitsdruck. Und es führt vermutlich zunehmend häufiger zu süchtigem Arbeitsverhalten. Diejenigen Menschen, die süchtig nach Anerkennung durch die Arbeit sind oder die aus Versagensangst nicht aufhören können zu arbeiten, sind besonders gefährdet. Eine Arbeitssucht aber kann eben ein direkter Weg in den Burn Out sein oder eben – wenn sie im Sinne eines dauerhaften Missbrauchs krankhaft kontrolliert bleibt – in den Burn On.

Obwohl nicht unumstritten, unterscheidet man bei Suchterkrankungen je nach Ausprägung des Suchtverhaltens und der negativen Folgen zwischen Missbrauch und Sucht. Auch ein langjähriger Missbrauch kann zu gravierenden seelischen und körperlichen Schäden führen. Da Substanzmissbrauch allerdings wesentlich häufiger auftritt als Sucht im engeren Sinne, sind die gesellschaftlichen Schäden insgesamt zumeist ähnlich heftig, wenn nicht noch umfangreicher. Analog hierzu könnte man die Hypothese aufstellen, dass die Arbeitssucht eher in einen Burn Out und der missbräuchliche Umgang mit Arbeit eher in einen Burn On mündet, hier also schon einmal ein Kriterium zur Unterscheidung der beiden Phänomene. Arbeitssucht mag vielleicht die verbreitetste der so oft verborgen bleibenden Verhaltenssüchte sein, weil sie in der zivilisierten Welt ubiquitär, das heißt allgegenwärtig geworden ist. Der missbräuchliche Umgang mit Arbeit und den Krankheitsfolgen eines Burn-On-Syndroms dürfte jedoch längst deutlich größere, ja globale Ausmaße angenommen haben. Burn On bedroht uns alle.

Kehrseiten der Medaille: Hikikomori und andere Phänomene

In unserer Klinik haben wir tatsächlich mehrmals beruflich erfolgreiche Patient*innen mit einem Burn On behandelt und festgestellt, dass deren erwachsene Kinder als Jugendliche oder junge Erwachsene an einer Internetsucht erkrankt sind. In der Regel handelte es sich bei den Kindern der Betroffenen um junge Männer mit einer Online-Computerspielsucht, die auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Erwachsenenleben gestrauchelt oder gescheitert sind und im Netz den Helden spielen, den sie in ihrem eigentlichen analogen Leben nicht darstellen. Diese Digital Junkies29 sind meistens noch im Elternhaus verblieben oder nach abgebrochenem Studium, Ausbildung oder Job zurückgekehrt. In Abhängigkeit von der Erwachsenenwelt, den Eltern und der Computerspielindustrie harren sie zumeist in ihren ehemaligen Kinderzimmern aus, von wo aus sie die Nächte durchsurfen und -zocken. Am Tage schlafen sie, um den Eltern nicht zu begegnen, wenn diese brav weiter zur Arbeit gehen. Wer von beiden, Eltern oder Kinder, ärmer dran ist, kann man bisweilen nur schwerlich ausmachen. Letztlich repräsentieren sie zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die computerspielsüchtigen Jungen und jungen Männer rebellieren zumeist unbewusst gegen die überangepasste und übereifrige Arbeitshaltung der Eltern, insbesondere die der Väter. Deren berufsbedingte Abstinenz und Vernachlässigung gegenüber den Söhnen ist in der Regel ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung der Verweigerungshaltung, die sich hinter dem Rückzug in die verspielte virtuelle Welt verbirgt. Epidemische Ausmaße hat die Onlinesucht gerade in denjenigen Ländern angenommen, in denen eine besonders permissive Haltung gegenüber den digitalen Medien herrscht, bei denen die Herstellung von digitaler Technologie für die Wirtschaft eine besondere Rolle spielt, wo der Leistungsdruck besonders hoch ist und wo im Zusammenhang damit Ellbogenmentalität und Ausgrenzungserfahrungen schon für Heranwachsende im Übermaß vorkommen. Global gesehen wird hier gerne das Land Südkorea als Negativbeispiel genannt. Dort gibt es besonders viele Betroffene, aber auch entsprechende Kliniken, wo man auch schon mithilfe von erstaunlich restriktiven Präventionsmaßnahmen gegensteuert. Aus kapitalistischer Sicht mögen die südkoreanischen Lebensbedingungen vordergründig vielversprechend sein. Psychotherapeut*innen beobachten jedoch gravierende gesundheitliche Gefahren. Diese führen dort einerseits zu Überangepasstheit gegenüber entsprechenden Normen und damit der erhöhten Gefahr, an Burn Out und Burn On zu erkranken. Andererseits können sie sich aber auch im genauen Gegenteil manifestieren, beispielsweise in einer pathologischen Weigerung, an den Gesellschaftsspielen des Neoliberalismus teilzunehmen und erwachsen zu werden. Die ausgebrannten Mütter und Väter als erste Vertreter der Erwachsenenwelt dienen ihren Sprösslingen dann eben nicht als gute Vorbilder, sondern vielmehr als abschreckende Beispiele.

Was seit Beginn des neuen Jahrtausends Südkorea und heute die gesamte digitalisierte Welt beschäftigt, hatte zuvor in Japan schon einen spannenden Vorlauf. Seit Ende des letzten Jahrtausends ist in dem Land, dessen Bevölkerung einige Jahrzehnte als Inbegriff von Ehrgeiz und Fleiß galt, ein anderes Syndrom entdeckt worden, welches man ebenfalls als Gegengewicht zum Burn On verstehen kann. Das mittlerweile nicht nur in Japan weithin bekannte Hikikomori-Syndrom30 betrifft vor allem junge Männer aus eher ambitionierten Familien, die sich in ihren Zimmern für Monate oder gar Jahre fast komplett einschließen und sich vor der Welt da draußen, besser gesagt gegenüber der Gesellschaft und ihren Ansprüchen, völlig verschließen. Sie begehen nicht – wie erschreckend viele Manager in Japan – Harakiri31, weil sie im Konkurrenzkampf zu versagen glauben, sondern aus Angst davor, im Geschäftsleben unter die Räder zu kommen. Vermutlich fühlen sie sich gegenüber den überaus harten Spielregeln einer Gesellschaft, in der fast nur der berufliche und ökonomische Erfolg zählt, nicht gewachsen und überflüssig. In stiller Opposition wird ihnen so das genaue Gegenteil, das Nichtstun, zur Hauptbeschäftigung. Was diese wie Geister lebenden jungen Männer genau hinter verschlossenen Türen tun, wenn sie nachts wach sind und tagsüber schlafen, kann man nicht genau wissen. Vieles spricht dafür, dass sie exzessiv im Internet unterwegs sind und Computerspiele spielen. Insofern dürfte es kein Zufall sein, dass es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Entdeckung des Hikikomori-Syndroms und der Geburt des Internets gibt32.