Büroleichen - Elke Schwab - E-Book

Büroleichen E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

Sie fühlt sich verfolgt, beobachtet, angestarrt. Wenn sie sich umdreht, verschwinden Schatten hinter Mauerecken. Ilka Bund steht mit ihren Nerven auf Kriegsfuß und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der sie verdeckt ermitteln muss. Ihre Lebensgefährtin hat sich das Leben genommen. Eine Verzweiflungstat, die Ilka nicht verhindert hat. Sie fühlt sich schuldig, will etwas gut machen. Ihre Chance bietet sich, als ein Beamter des Sozialministeriums zu Tode gequetscht zwischen Regalwänden aufgefunden wird. Für die Kollegen des Toten kein Grund, eine polizeiliche Ermittlung durchführen zu lassen, weil die Landtagswahlen vor der Tür stehen. Für die Polizei zweifelsfrei ein Tötungsdelikt, das aufgeklärt werden muss. Was die Polizei nicht weiß: Die Behörde hat noch viel mehr zu verbergen. Ilka lässt sich auf eigenen Wunsch in dieses Haus einschleusen, womit sie sich in große Gefahr begibt.

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Seitenzahl: 257

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Elke Schwab

Büroleichen

Der etwas andere Krimi von

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Büro-

leichen

Der

etwas

andere

Krimi

von

Elke Schwab

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Elke Schwab, 2017

www.elkeschwab.de

Covergestaltung: Elke Schwab

Autorenfoto: Manfred Rother

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugs-weisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Er spürt, wie der Wind durch die Ritze des Fensterrahmens dringt. Ein leises Zischen untermalt die undichte Stelle. Er blickt hinaus in den wolkenverhangenen Himmel, der das restliche Tageslicht verschluckt, beobachtet die Bäume, die sich im heftigen Sturm biegen. Donner erschüttern das alte Gemäuer, Blitze zucken grell. Es schmerzt in den Augen. Schatten bewegen sich unter den abwechselnden Lichtquellen. Gespenstig. Er grinst. Das Gewitter kann gar nicht günstiger kommen. Die Wetterfrösche hatten es vorausgesagt und tatsächlich Recht behalten. Jetzt wartet er nur noch auf den entscheidenden Knall – den Stromausfall – sein Startschuss.

Er lächelt bei der Vorstellung, wie Theo Hasard auf ihre Begegnung reagieren wird. Der Giftzwerg. Immer zum Streit aufgelegt, aber keine Courage. Zu allen Mitteln bereit, um sich zu profilieren, aber keinen Funken Intelligenz. Wie herrlich, sich sein Gesicht vorzustellen, wenn er ihn da hat, wo er ihn haben will. Sein Plan ist bis ins Detail gefasst. Theo Hasard einzuschätzen ist dabei das geringste Problem. Seine größte Sorge gilt der Unzuverlässigkeit der Kollegen. An einem Brückentag ist das Ministerium selten voll besetzt.

Zum Glück neigen Beamte nicht zu Überraschungen.

Der Knall, die darauffolgende Dunkelheit bestätigen ihm, wie gut er ist. Der Stromausfall setzt genau zur richtigen Zeit ein.

Das gefällt ihm. Der Sturm bleibt draußen, lediglich die Gruselstimmung dringt in das leere Haus. Besser geht’s nicht.

Er reibt sich die Hände.

Seine Augen erfassen die Tür zu Hasards Büro. Der Weg dorthin ist lang und schmal – keine Nischen zum Verstecken, nichts. Hier ist der einzige kritische Punkt, den zu überwinden seinen ganzen Plan ausmacht. Er zählt auf Hasards Feigheit. Bis Hasard sich entscheiden wird nachzusehen, hat er den großen Korridor längst erreicht und kann ihn mit gut hörbaren Schritten locken.

Ab dann wird alles so einfach. Er weiß, wie neugierig Hasard ist. Deshalb kann er schon jetzt voraussehen, wie es weitergehen wird.

Normalerweise liegt es ihm nicht, einen Menschen zu töten. Aber Hasard ist ein Parasit. Und Parasiten gilt es zu zerquetschen. Deshalb wird er keine Sekunde zögern. Im Gegenteil. An seinem Gesicht weiden wird er sich, wenn Hasard zu begreifen beginnt.

Die Vorfreude treibt ihn zur Tür.

*

Rauer Wind drückt sich gegen die Fensterscheiben. Unter das Heulen mischt sich Ächzen des dünnen Glases. Gewitterwolken türmen sich am Horizont. Finsternis hüllt den Tag ein. Schränke, Stühle, Tische nehmen bedrohliche Gestalten an, bewegen sich auf ihn zu. Theo Hasard erstarrt. Kommen sie, um ihn zu holen? Im Mittelalter wurden Verräter durch Vierteilen bestraft. Und heute? Er schüttelt die wirren Gedanken ab. Elektrisches Licht muss her. Wo ist der Schalter?

Er stolpert über den Papierkorb, rammt die Ecke seines Schreibtisches, stößt an den alten Aktenschrank, der daraufhin verdächtig knarrt. Ein Blitz taucht alles in grelles Licht. Er schließt die Augen. Donner folgt. Die letzten Meter zum Lichtschalter legt er hastig zurück. Ein kleiner Druck, alles leuchtet hell. Was für eine Wohltat! Im Neonlicht empfindet er seine Panik wie ein dummes Hirngespinst. Peinlich berührt kehrt er zum PC zurück, schreibt seine E-Mail fertig.

Er will sie absenden, da peitscht ein Schuss.

Gleichzeitig versinkt alles in nächtlicher Dunkelheit.

Nachdem sich seine Nerven beruhigt haben, deutet er den Knall als Stromausfall! Sein toter Bildschirm bringt ihm diese Eingebung.

Ausgerechnet jetzt!

Leise knarrt die Zimmertür. Erschrocken fährt Hasard herum. Ein schmaler Spalt klafft – dahinter nur Schwärze. Er wartet. Niemand kommt. Todesmutig steuert er die Tür an, reißt sie auf. Nur der lange Flur windet sich wie ein Schlund vor ihm. Sein Herz pocht wie wild. Die bedrückende Stille im Haus wird durch das gelegentliche Donnern unterbrochen. Er hört Schritte. Zögernd tritt er hinaus.

Der schmale Gang mündet in einen breiten Korridor. Schwaches Tageslicht fällt herein. So kann er die Stufen erkennen, die ihn bergab und bergauf führen. Das leise Tock Tock geistert immer den gleichen Abstand haltend vor ihm her, egal welches Tempo Hasard einschlägt. Aber keine Menschenseele in Sicht. Gänsehaut kriecht ihm über den Nacken. Sein Verfolgungswahn erwacht von neuem.

Hat er seine Kollegen unterschätzt? Oder das Geld überschätzt, das er für seine Alleingänge kassiert?

Auf keinen Fall! Was er tut, gilt einer guten Sache.

Beherzt setzt er seinen Weg fort.

Die angelehnte Tür zum Rollarchiv weckt seine Aufmerksamkeit. Er lugt hinein. Ungewöhnlich, dass nicht abgeschlossen ist. Sogar die stählerne Zwischentür gähnt weit offen. Fahles Licht fällt durch das hohe Fenster auf ihn. Er folgt der schwachen Lichtquelle zwischen den hohen, schweren Regelreihen, die auf Schienen verlaufen. Nichts zu erkennen. Und doch überkommt ihn das Gefühl, beobachtet zu werden.

„Ist hier jemand?“

„Ja“, ertönt es leise.

Das übertrifft seine kühnsten Vorstellungen.

„Wenn du ein Spielchen mit mir spielen willst, sage ich dir gleich, dass das ein beschissenes Spiel ist.“ Hasard flucht, um seine eigene Angst zu kaschieren.

„Das ist kein Spiel!“

„Was sonst?“

„Tödlicher Ernst!“

Hasard überlaufen eiskalte Schauer.

„Verdammt! Komm raus, ich will den Raum absperren.“

„Das soll nicht mehr deine Sorge sein.“

Der Gang verdunkelt sich.

„Jetzt bist du da, wo du hingehörst.“

Panik erfasst ihn. Die Wände rollen auf Hasard zu. Er will losrennen, doch er steckt fest. Der Druck wird immer stärker. Hilfesuchend reißt er die Augen auf und schaut direkt in das Gesicht seines Gegners.

„Du?“

Kapitel 1

Die plötzliche Dunkelheit trifft Frau Magath wie ein Schlag. Erschrocken schaut sie aus dem Fenster. Der Nachmittag versinkt in Regenschauern, die dem Gewitter folgen. Die Sicht reicht nicht mehr bis zum bewaldeten Berg mit seinem stillgelegten Zinnbergwerk auf der gegenüberliegenden Straßenseite – nur Wassermassen.

Sieht so der Klimawandel aus?

Streitende Stimmen erfüllen den Flur. Im Ministerium bleibt alles beim Alten. Wütend wirft sie die Tür zu. In der plötzlich eingetretenen Stille bedrückt sie die Finsternis noch mehr. Regungslos verharrt sie. Sie weiß nicht wie lange, bis gleißendes Neonlicht sie blendet. Der Stromausfall ist behoben, die Sicht auf das Chaos auf ihrem Schreibtisch wieder frei. Darauf könnte sie verzichten. Gestapelte Akten warten darauf, von ihr wegsortiert zu werden. Überfüllte Regale reichen bis unter die Decke. Die durchgebogenen Fächer ermahnen sie fortdauernd, sie von der Last zu befreien.

Die Tür öffnet sich ohne Anklopfen.

Erschrocken schaut Frau Magath auf.

Peter Leff, Leiter des Referates für Behindertenpolitik bückt sich, um den Türrahmen ohne peinliches Anstoßen zu durchqueren. Dichtes Haar legt sich vor seine Augen.

Wie so oft neidet Frau Magath ihm seine Haarpracht, während sie sich über ihre dünnen Strähnen fährt.

„Sind Sie allein hier?“ Er schiebt eine Locke beiseite.

„Nach was sieht es denn aus?“

Seine Mundwinkel fallen beleidigt nach unten. In versöhnlicherem Tonfall fragt er: „Was machen Sie für ein Gesicht?“

„Was soll das? Ich frage Sie ja auch nicht nach Ihrem Gesicht.“

Verwirrung legt seine Stirn in Falten. Entschlossen setzt er neu an: „Schluss mit den Floskeln. Ich bin hier, weil ich den Kollegen Hasard suche. Haben Sie ihn gesehen?“

„Ja! Vor einer Weile war er hier.“

„Beim nächsten Mal sagen Sie ihm, er soll in mein Büro kommen!“

Das laute Knallen der Tür signalisiert, dass sie wieder allein ist.

Frau Magath sortiert die restlichen Akten. Die größte Anzahl gehört ins Rollarchiv, das sie bei dem düsteren Tageslicht nicht gern betritt. Den Raum beherrscht ein monströses Stahlgebilde aus beweglichen Wänden. Nur durch mühsames Drehen großer Kurbeln bewegen sich gigantische Regalreihen auf zwei Schienen und bilden zwischen hohen Wänden einen Durchgang zum Arbeiten. Der Anblick des großen Aktenstapels vor ihr schrumpft ihren Eifer auf ein Minimum. Viele Reihen müssen verschoben werden.

Sie steuert eine schmale Tür an, steckt den Schlüssel ins Schloss – nicht abgeschlossen. Sie fährt erschrocken zusammen. Mit zitternden Händen öffnet sie.

Ein schmaler Gang mit staubigen Akten zu beiden Seiten, Kisten, Kartons und ausrangierten Schränken offenbart sich ihr. Schwankend greift sie nach der angrenzenden Eisentür. Auch sie nicht verschlossen…

Stufen führen bergab. Dort schimmert es besonders düster. Die Stahlkonstruktion lässt kaum Tageslicht herein.

Sie erobert den Lichtschalter.

Etwas ist anders.

Der Geruch.

Es stinkt in dem Raum. Wie können Akten stinken? Ihre Nase erschnüffelt Fäkalien vermischt mit etwas Eisenhaltigem.

Hat jemand diesen Raum als Abort zweckentfremdet?

Frau Magath geht zum rechten Ende der langen Stahlreihe, dreht an der ersten Kurbel nach links. Unter Quietschen setzt sich die Wand in Bewegung. Sie übernimmt die nächste Kurbel, verschiebt das dazugehörige Regal, bis es auf das erste mit einem lauten Krachen aufprallt. Die freie Gasse verlagert sich von Stahlreihe zu Stahlreihe.

Plötzlich hört sie ein Platschen.

Der Geruch wird stärker.

Sie fängt an zu zittern. Etwas Schlimmes steht bevor. Sie ahnt es. Die fünfte Stahlschwinge zieht sie mit Schwung nach rechts.

Da sieht sie es.

Eine blutige Masse schimmert zwischen den Stahlstreben hindurch, fällt in sich zusammen, als sich die Wände voneinander lösen. Fetzen von Fleisch, Knochen, Fett und Gewebe platschen zu Boden, hängen zwischen Akten und Stützen, liegen auf freien Flächen, verteilen sich zwischen Ordnern und Pappkartons. Eine dunkelrote Lache bildet sich zu Frau Magaths Füßen. Gelbe, graue und grüne gallertartige Brocken schwimmen darin. Vereinzelte Stofffetzen lassen die Reste eines Menschen vermuten.

*

Die Bilder sind ständig da. Erschreckend, abstoßend und doch vertraut. Alles rot – blutrot. Sie steht vor der Tür, sie weiß genau, dass sie dort hindurch muss, helfen muss. Aber sie steht nur da, sieht das Blut, das darunter hindurch läuft, ihre nackten Füße bedeckt, weiter seine Bahnen über den Parkettboden zieht, sämtliche Ritze ausfüllt. Es rauscht. Kommt das von ihrem Kopf oder aus dem Zimmer hinter der Tür?

Endlich gelingt es ihr, sich zu bewegen, doch plötzlich ist sie meilenweit von der Tür entfernt. Hört den Hilfeschrei! Sie muss helfen. Aber sie kann sich nicht bewegen. Ihre Füße kleben im Blut fest. Sie ist angewurzelt. Die Schreie treffen sie bis ins Mark, doch sie steht einfach nur da und starrt die Tür an. Das Blut schwillt an zu einer roten Kaskade, türmt sich vor ihr auf, droht, sie mit sich zu reißen.

Das Rauschen wird immer lauter, es dröhnt in ihrem Kopf. Sie hält sich beide Ohren zu und doch kann sie das Blut fließen hören. Es tut so weh.

Sie will nicht hinsehen – will nichts sehen.

Ilka Bund reißt die Augen auf. Sie badet in kaltem Schweiß. Verwirrt schaut sie sich um. Sie liegt in ihrem Bett, nackt, das Laken zerwühlt, der Gestank verräterisch. Auf der Kommode türmen sich leere Bierflaschen und eine umgestoßene Sektflasche, auf dem Boden zerbrochene Gläser.

Das sieht nicht gut aus.

Sie würgt, rennt zum Klo.

Die Alpträume verfolgen Ilka, seit sie Marisa tot in der Badewanne aufgefunden hat. Marisa Herforder, der beste Mensch in Ilkas Leben, hat sich im warmen Wasser die Pulsadern aufgeschnitten.

Ilka hat es nicht verhindert.

Der nächste Schwall Galle schießt bitter aus ihrem Hals in die Toilettenschüssel.

Ihre Stirn schmerzt. Sie reibt mit beiden Händen darüber. Dort muss eine Wunde sein. Sie ertastet nichts. Nur unverletzte Haut. Das ist unmöglich. Sie richtet sich auf, schaut in den Spiegel. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal dieses Gesicht betrachtet hat. So kreidebleich, so knochig, ihre Augen nur tiefe, leere Höhlen. Entsetzt lässt sie sich auf den Boden plumpsen.

Die letzten Tage waren die Hölle. Sie will vergessen. Aber es funktioniert nicht. Da nützt selbst das kräftigste Trinkgelage nichts. Die paar Promille, die sie am Vortag zusammen mit dem edlen Ritter nach Hause geschleppt hat, erlösen sie nicht von ihren Qualen.

Da muss mehr passieren.

Auf allen Vieren kriecht sie ins Schlafzimmer zurück, sucht sich die Klamotten zusammen, die sie am Vortag getragen hat. Eisige Schauer durchzuckten Ilkas Körper. Hat sie Marisa geliebt? Ja, das hat sie.

Warum erkennt man erst beim Verlust eines Menschen, wie sehr man ihn geliebt hat?

Sie zittert, schlingt ihre Arme und den Körper. Ihr wird nicht warm. Marisas Umarmung hat sie gewärmt. Aber sie ist nicht mehr da. Nie wieder.

Wie kann sie nur so selbstsüchtig sein und ans Vergessen denken?

Sie blinzelt, sieht die letzten Bilder von Marisa, unendliche Trauer in ihrem Blick. Eine Traurigkeit, die Ilka herunterzieht. Tränen laufen ihr die Wangen hinunter - heiße Tränen.

Sie hört eine leise, ratlose Stimme. Sie lauscht, sie staunt: Das ist ihre Stimme, begleitet von Seufzern. Immer wieder stellt die Stimme eine einzige Frage: Warum scheitert ausgerechnet Marisa Herforder, die immer nur an das Gute im Menschen geglaubt hat, letztendlich an den Menschen?

Ilkas Wehklagen verwandelt sich in Wut.

Sie weiß, wer Marisa so weit getrieben hat. Sie weiß auch, was zu tun ist.

Sie schrickt auf.

Das nasse Gesicht rüttelt sie aus den Gedanken. Oder ist es das Klingeln des Telefons?

Zitternd hebt sie ab.

Was sie am anderen Ende der Leitung zu hören bekommt, gibt ihr neuen Mut: Die Kollegen des Landeskriminalamts haben ihren Wunsch erhört.

Kapitel 2

Blaulicht blinkt zwischen den Gemäuern der Pfahlstraße, Sirenengeheul unterbricht die Beamtenstille im Regierungsviertel. Sie parken vor dem Ministerium für Sozialpolitik und Frauenpolitik – nichts, was auf einen lebensgefährlichen Arbeitsplatz hindeutet. Und doch stehen sie vor dem antiken Haus - gerufen von einer Anruferin, die einen höchst ungewöhnlichen Todesfall gemeldet hat.

Reste von Skulpturen bilden klägliche Zeugen einer längst vergangenen Epoche. Putz bröckelt, legt uraltes Mauerwerk frei. Neben der Eingangstür sitzt ein Mann, der genauso alt aussieht. Er hält einen Hut auf. Kleine Äuglein blitzen zwischen tiefen Runzeln, fettige Haare lugen unter seiner verfilzten Mütze hervor. Verschiedenfarbige Mäntel liegen auf ihm – trotz der unerträglichen Schwüle. Betroffen durch den Anblick wirft der Polizeibeamte einige Münzen in den leeren Hut.

„Es ist schön, wenn jemand etwas für diese armen Menschen übrighat.“ Diese Worte lassen den Kriminalisten in das von langen, glänzenden Haaren eingerahmte Gesicht einer Frau schauen.

„Wer sind Sie?“

„Mein Name ist Magath. Ich habe Sie gerufen.“

Kriminalhauptkommissar Dierk Betz und sein Begleiter folgen Frau Magath durch einen langen, düsteren Flur. Skurrile Figuren durchbohren sie mit ihren Blicken von der Decke herab. Gipserner Stuck bringt die Wände ein Stück näher.

„Sind Sie allein in dem großen Haus?“ Die Totenstille drängt Dierk Betz die Frage auf.

„Ich weiß es nicht. Als ich den Chef informieren wollte, habe ich niemanden angetroffen.“

An einer schmalen, hölzernen Tür bleibt Frau Magath stehen.

Dahinter bietet sich den Polizeibeamten das Bild eines beengten Durchgangs - zu beiden Seiten mit Kartons zugestellt.

Sie steuern Treppenstufen an, die in die Tiefe führen. Aber schon von ihrem Standpunkt aus nehmen sie das Bild menschlicher Überreste mit unangenehmem Geruch wahr. Das Gefühl von Übelkeit nimmt mit jedem Schritt zu, den sie sich dem Fundort nähern. Stählerne Regalwände überragen sie bedrohlich. Schienen auf dem Boden bringen Dierk Betz zum Stolpern. Fast wäre er in der undefinierbaren Masse gelandet. Eine heimtückische Falle!

Mit einem Anflug von Panik kehrt er um, überlässt den Kollegen der Spurensicherung und dem Gerichtsmediziner den Tatort.

„Können Sie erkennen, wer der Tote ist?“, fragt Dierk Betz.

„Es könnte Theo Hasard sein.“

“Wie kommen Sie auf ihn?“

„Genau in dieser Reihe befinden sich seine Akten.“

Unwillig wirft der Kommissar seinen Blick zurück auf die Fundstelle. „Was ist das für ein monströses Gebilde?“

„Ein Rollarchiv“, erklärt Frau Magath. „Die Regalwände bewegen sich auf Schienen.“

„Aber nicht automatisch“, stellt er fest. Probehalber dreht er an der Kurbel. Lautstarker Protest des Gerichtsmediziners ertönt.

„Nein“, stimmt Frau Magath zu. „Einen Motor gibt es nicht.“

*

Leere - in Dunkelheit eingehüllt – keine menschliche Stimme, keine Geräusche, nichts. Die Apokalypse! Wann hat sie stattgefunden? Während ihres letzten Thekenmarathons?

Ilka verirrt sich, steht wieder in Marisa Herforders Badezimmer.

Marisa erhebt sich aus dem blutroten Wasser, streckt ihr die Hand entgegen. Ilka erkennt, wie lange sie schon tot ist. Der Geruch wird immer beißender je näher sie kommt. Ihr Körper schwillt mit jedem Schritt an, ihre Haut verfärbt sich grün, ihre Gesichtszüge entgleisen. Ilka ekelt sich, will das aber vor ihrer besten Freundin nicht zugeben. Sie bleibt stehen, lässt sich von Marisa umarmen.

Erschrocken reißt Ilka die Augen auf. Aber sie sieht nichts. Sie steht im engen Fahrstuhl. Kein Licht. Keine Bewegung.

Sie steckt fest.

Die Bilder stecken in ihrem Kopf fest.

Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!

Sie zwingt sich, an etwas anderes zu denken. Weit kommt sie damit nicht. Ihre Gedanken landen bei Marisa.

Marisa, die gute Seele.

Ilka lacht freudlos.

Ohne Marisa, wo wäre sie heute? Bestimmt nicht bei der Polizei. Vermutlich auf dem Strich oder bei den Junkies.

Aber wie dankt Ilka es ihrer Retterin? Sie hat sich noch nicht einmal die Zeit genommen, Marisas Scheitern ernst zu nehmen. Ilka fühlt sich an ihrem Tod schuldig. Jetzt, wo es zu spät ist, jetzt will sie alles wieder gut machen, ihr Gewissen beruhigen. Und was kommt dabei heraus?

Der nächste Tote.

Ist sie ein Todesengel?

Wenn ja, dann such nach dem Positiven in dem Schlamassel, ermahnt sie sich. Genau so, wie sie es von Marisa gelernt hat.

Ein Polizeieinsatz ist geboten, und sie will den Einsatz übernehmen, hat alle Register ihrer Überredungskünste gezogen und gewonnen.

Nicht genug der Highlights in ihrem Leben: Im richtigen Moment bleibt der dämliche Fahrstuhl stecken.

Ihr Hirn wummert gegen die Schädelwand. Die Schwärze erdrückt sie. Die Wände kommen auf sie zu. Von einer rasenden Wut gepackt schlägt sie mit den Fäusten dagegen, und schreit und schreit und schreit. Ihr wird schwindelig, ihre Handgelenke schmerzen, ein Hustenanfall würgt sie.

Wird sie hier drin ersticken?

Schüttelfrost kriecht eisig durch sämtliche Glieder. Die Zähne klappern. Die Hände zittern. Die Knie schlottern. Die Luft wird knapp. Wenn der verdammte Fahrstuhl sich nicht bald bewegt...

Zzzrrh! Bing. Tür auf.

Endlich.

Ein langer Gang in schummrigem Licht liegt vor ihr. Sie atmet tief durch, richtet ihre Kleider, fährt sich übers Haar, in der Hoffnung, nicht so auszusehen, wie sie sich fühlt. Das erste Mal, dass Ilka es bis ins Landeskriminalamt schafft – bleibt sie im Fahrstuhl stecken. Und das, wo sie an Klaustrophobie leidet wie keine andere.

Sie sieht nur geöffnete Türen. Wie einfach. So findet sie schnell das richtige Büro, wo sich ihre zukünftigen Kollegen versammeln.

Ihr Eintreten ruft keine Begeisterung hervor. Das fängt ja gut an. Ilka ahnt, warum. Sie hat selbst auf ihren Einsatz bei diesen Ermittlungen bestanden, hat dem Leiter der Ermittlungsgruppe keine Ruhe gelassen.

Und jetzt ist Dierk Betz nicht da.

Dafür David Baum.

Groß und blond sitzt er da - eine Augenweide. Verdankt sie ihren verdeckten Einsatz womöglich ihm? Genug ins Zeug gelegt hat sie sich ja. Ergötzlich erinnert sie sich daran. Nur – so wie es gerade jetzt aussieht – stehen ihre Chancen längst nicht mehr so gut. Neben David sitzt eine junge, blonde, gertenschlanke Schönheit – die neue Polizeianwärterin, die seine volle Aufmerksamkeit genießt.

Allerdings nicht nur seine…

„Kommen Sie das nächste Mal pünktlicher!“ Das unfreundliche Brummen des Beamten am Kopfende des Tisches reißt sie aus ihren Betrachtungen.

Soviel zur Vorstellungsrunde.

„Sehen Sie das nächste Mal zu, dass der Fahrstuhl nicht stecken bleibt!“, kontert sie.

„Gucken Sie mal raus! Bei dem Sturm geht man besser Treppen“, kommt es von dem Kollegen genauso schlagfertig zurück.

Ilka verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse.

An dem einzigen freien Platz liegen Unterlagen. Schon von weitem kann Ilka den Namen Theo Hasard lesen.

*

Gemurmel entsteht im Flur. Eine Gruppe von Männern und Frauen nähert sich dem Archiv.

Mit majestätischem Gebaren postiert sich ein großer Mann vor die anderen. Sein erblassender Rotschopf neigt sich in spöttischer Herablassung zur Seite als er spricht: „Was tun Sie hier?“

„Wer sind Sie?“, fragt Dierk Betz zurück.

„Ich bin hier der Arbeitsleitungsleiter für die Abteilung Sozialpolitik. Also habe ich wohl zuerst das Recht zu fragen!“

Dierk Betz verzieht seine Lippen zu kaum verhohlenem Spott. Er erklärt seine Funktion und den Grund seiner Anwesenheit.

Der Abteilungsleiter richtet seinen Kopf gerade. Seine Stirn in Falten gezogen sagt er: „Mein Name ist Karl-Otto Stuck. Ich bin entsetzt.“ Mit einem Blick auf Frau Magath fügt er an: „Was fällt Ihnen ein, eigenmächtig zu handeln? Sie sind nur im Rahmen eines Eingliederungsprojekts hier beschäftigt. Sie haben keinen Kündigungsschutz. Bedenken Sie das!“

„Frau Magath hat sich völlig korrekt verhalten“, stellt Betz klar; ein Einspruch, den Stuck mit einer Gegenargumentation zunichtemachen will. Aber der Kriminalist lässt ihn nicht zu Wort kommen. „Hier ist ein Kapitalverbrechen geschehen.“

„Ein Unfall“, beharrt Stuck. Beide Hände ruhen auf seinem voluminösen Bauch.

„Sie können mich nicht überzeugen. Das tun nur die Fakten, die unsere Spurensicherung herausfiltert.“ Betz blickt starr auf die Hände des Abteilungsleiters. Er weigert sich, zu diesem Mann aufzuschauen.

„Sie werden nichts anderes feststellen. Deshalb ist es überflüssig, voreiligen Schaden anzurichten, indem Sie falsche Behauptungen an die Medien weitergeben.“

„Wollen Sie mir damit etwas sagen?“

„Ja! Ich bestehe auf strenge Geheimhaltung.“

Diese Antwort lässt den Kriminalbeamten nun doch aufblicken. Kleine, helle Augen treffen ihn, als er provoziert: „Sehe ich da einen Zusammenhang zu den Landtagswahlen in zwei Wochen?“

Stoisch verharrt Stuck in Schweigen.

„Wie kann sich der Tote dort selbst eingequetscht haben?“, argwöhnt Betz. „Wir haben festgestellt, dass die Wände manuell über Schienen gleiten. Einen Motor gibt es nicht.“

„Sie können durchaus von alleine rollen“, widerspricht Stuck. „Wer die Kurbeln mit Schwung betätigt, setzt einen Apparat in Bewegung, der durch nichts mehr zu stoppen ist.“

„Sie kennen sich hier gut aus. Beschäftigen Sie sich als Abteilungsleiter mit den Arbeiten im Rollarchiv?“

„Ein Unfall, wie ich schon sagte.“ Mit diesem bedeutungsschweren Urteil übergeht Stuck die Anspielung des Kriminalkommissars. „Unser Kollege hat nicht gesehen, dass sich die Kurbeln noch drehten, als er sich in den schmalen Zwischenraum stellte.“

„Wir sind hier, um das festzustellen.“ Betz gibt sich genauso unnachgiebig.

Wieder legt Stuck sein rotbehaartes Haupt schief, eine Geste, die Missbilligung nicht deutlicher ausdrücken kann.

Ein Landesbediensteter betritt den Flur – triefend nass vom starken Gewitterregen. Sein Gesicht schimmert totenblass, sein Haar klebt in stumpfem Grau am Kopf. In der Hand hält er seinen Geldbeutel. Als er die Menschenmenge sieht, zuckt er seine knochigen Schultern, bleckt spitze Zähne und erklärt: „Immer, wenn ich den Bettler vor unserer Tür sehe, gebe ich ihm ein paar Cents. Sein Anblick ist die reinste Anklage.“

„Unser allseits geschätzter Kollege spricht genau das aus, was uns beschäftigt“, merkt Karl-Otto Stuck bedeutungsschwer an.

Dierk Betz beobachtet den geschätzten Kollegen, wie er sich in der hintersten Reihe versteckt, wo er mit dem Grau der Wände verschmilzt. Fast wäre ihm entgangen, wie sich Stuck in voller Größe aufrichtet. Von oben herab spürt er ein gnädiges Lächeln des Abteilungsleiters, als sei es einstudiert, sein Gegenüber von seiner Wichtigkeit zu überzeugen. „Herr Kommissar! Wenn Sie sich nützlich machen wollen, dann schaffen Sie den Bettler vor unserer Tür weg. Sie haben gerade gehört, welche Reaktionen bei seinem Anblick ausgelöst werden. Niemand wagt sich mehr, unser Haus zu betreten, ohne sich verpflichtet zu fühlen, etwas zu bezahlen.“

Betz traut seinen Ohren nicht. In den Augenwinkeln erkennt er, wie Stuck sich Zustimmung heischend umsieht, die Beipflichtung auch prompt erhält. „Dabei erwarte ich regelmäßig Direktoren von Wohlfahrtsverbänden, Behinderteneinrichtungen, ja sogar Landräte und Abgeordnete zu Besuch. Wie stehen wir da, wenn wir das Problem nicht in den Griff bekommen?“

„Wie ein Sozialarbeiter“, zahlt Dierk Betz die Herabsetzung seines Dienstgrades mit gleicher Münze heim.

„Wollen Sie meine Glaubwürdigkeit untergraben?“

„Nichts liegt mir ferner.“

„Dann tun Sie das, wofür man Sie bezahlt!“ Die Stimme des Abteilungsleiters erlangt eine überraschende Dynamik. „Die Herumtreiber hausen unter der Brücke ganz in der Nähe unseres Hauses. Sehen Sie zu, dass sie sich einen anderen Platz suchen!“

„Irgendwo müssen Obdachlose leben.“

„Aber nicht dort, wo wir ständig mit ihnen konfrontiert werden.“

„Da klangen Ihre Worte vor den letzten Landtagswahlen ganz anders.“ Betz hebt seine Stimme ebenfalls an. „Ich erinnere mich, dass sich die hohen Herren der Landesregierung mit Obdachlosen solidarisch zeigten, indem sie alle gemeinsam in einer warmen Sommernacht im Freien schliefen.“

Gemurmel macht sich unter den Landesbediensteten breit.

„Legen Sie mir keine politischen Aussagen in den Mund, die ich nie geäußert habe!“

„Der gesamte Polizeiapparat war im Einsatz, um Eskalationen vorzubeugen. Deshalb erinnere mich genau“, übergeht Betz die Warnung.

Der Abteilungsleiter unterbricht ungeduldig den Polizisten: „Es reicht jetzt. Unterschätzen Sie mich nicht. Ich kann Sie verklagen lassen. Dann sehen wir, wer hier mächtiger ist.“

„Hier geht es nicht um Macht – hier geht es um ein Kapitalverbrechen.“ Betz gibt immer noch nicht klein bei.

„Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Gehe ich doch davon aus, dass Sie noch weiterhin Ihre Arbeit machen wollen.“

Die Drohung verwirrt Betz für einen Augenblick.

Den nutzt der Abteilungsleiter, um weiterzusprechen: „Also! Ich empfehle Ihnen, das Einsehen zu haben und unseren Todesfall als tragischen Unfall zu behandeln.“

Dierk Betz sieht nur Zustimmung in den Gesichtern der anderen Männer und Frauen. Mit der Frage „Wo können wir in Ruhe sprechen?“ wendet er sich an den Abteilungsleiter. Er muss das Gespräch an sich reißen.

„In meinem Büro.“

*

Stille beherrscht den großen Raum. Das leise Sirren der Neonröhre an der Decke schwillt bedrohlich an. Die Monotonie unterbricht eine Fliege, die sich in permanenter Beharrlichkeit am Lampenglas anstößt, was sie mit geräuschvollen Zischlauten zollt.

„Wir können ein Verbrechen nicht ausschließen“, beendet der Polizeibeamte seine Betrachtungen der Stubenfliege.

Sofort erwacht Stuck aus seiner Lethargie: „Es liegt hier nichts vor, was zu Ermittlungsarbeiten Anlass böte.“

„Da muss ich Ihnen widersprechen! Sie sind nicht mein Vorgesetzter. Nicht Sie entscheiden, wie wir in diesem Fall vorzugehen haben, sondern die Staatsanwaltschaft. Sollte es Unklarheiten geben, ist das Anlass genug zu ermitteln.“

Stuck lehnt sich zurück, legt seine Hände auf seinen Bauch. „Informationen gebe ich Ihnen keine. Hier herrscht Datenschutz – alles ist streng geheim!“

„Heißt das, dass Sie mir keine Fragen beantworten werden?“

„Nur unter der Bedingung, dass Sie alles, was ich Ihnen sage, diskret behandeln.“

„Das kann ich Ihnen nicht versprechen.“

„Dann betrachte ich unser Gespräch für beendet“, ertönt es unberührt.

„So viel kooperativen Einsatz habe ich gar nicht von Ihnen erwartet.“ Betz sieht nicht mehr das verdutzte Gesicht des Abteilungsleiters, so schnell verlässt er das Zimmer.

Er findet seinen Mitarbeiter im Erdgeschoss. Mit einem Räuspern macht er auf sich aufmerksam und verlässt im Eilschritt das Gebäude. Vor der Tür atmet er tief durch, lässt den Regen auf sein Gesicht prasseln. In knappen Worten schildert er den Verlauf seines Gespräches, worauf der junge schlaksige Mann bemerkt: „Das klingt abgesprochen. Sämtliche Beamte und Angestellte haben das Gleiche gesagt.“

„Ich will hier nur noch weg.“ Betz reißt am Kragen seiner Jacke, als schnürte er ihm die Luft ab.

*

Er ist ein Genie – ein unerkanntes zwar, aber ein Genie. Das Lächeln will nicht mehr aus seinem Gesicht weichen. Er steht am Fenster, das zur Straßenseite zeigt, wo die vielen Polizeiautos parken. Die gesamte Ermittlungstruppe bestehend aus Laborratten, Medizinern und gewöhnlichen Schnüfflern erobert die Autos und verlässt im Eiltempo das Regierungsviertel.

Die Abfuhr, die Abteilungsleiter Stuck erteilt hat, genügt wohl.

Wie gut er seine Mitmenschen doch einschätzen kann. Zu genau weiß er, dass Stuck sich mehr für seine Karriere interessiert als für die Gerechtigkeit an seinem Mitarbeiter. Ein Mord so kurz vor den Wahlen – so kurz vor Stucks selbst gesetztem Ziel – passt nicht ins Konzept. Lieber auf Unfall plädieren, was jedem passieren kann. Hauptsache keine Polizei – Hauptsache kein Ärger.

Das Gewitter zieht weiter, zurück bleibt der warme, gleichmäßige, monotone Regen, der wie eine Hypnose in die Gemüter dringt.

Praktisch – jetzt wo alles vorbei ist.

Die vorübergehende Aufregung unter den Kollegen ist ebenfalls erloschen. Die gewohnte Stille hält Einkehr. Das Rollarchiv wird mit einem Siegel versperrt. Wie theatralisch. Er erbebt innerlich, eine Woge von Heiterkeit und Ausgelassenheit durchflutet ihn, während er daran vorbeigeht. Er fühlt sich selbstsicher, die vorübergehende Anspannung, die ihn ergriffen hat, während der kleine, temperamentvolle Polizist seine gezielten Fragen gestellt hat, löst sich in Wohlgefallen auf. Die Polizei weiß nichts, die Landesbediensteten ebenso.

Theo Hasard wird nur noch für wenige Tage ein Gespräch sein. Die Landtagswahlen werden seinen Tod schnell in den Hintergrund stellen. Das hat er natürlich bedacht, deshalb dieser Zeitpunkt. Günstiger geht es nicht, einen Choleriker wie Hasard zur Nebensache zu degradieren.

*

Dierk Betz am Steuer, der junge Kommissaranwärter auf der Beifahrerseite, fahren durch die Innenstadt. Der Verkehr ist stockend, der Regen stark, die Atmosphäre schwül. Plakate von Politikern prangen an jeder Ecke, an Litfaßsäulen, Geländern, Pfosten und Hauswänden. Lachende Gesichter, als seien sie keine Politiker, sondern Schauspieler. Der Anblick der Stadt wirkt wie ein großer Zirkus. Anstelle von Löwen und Schlangen bieten Menschen ihre besonderen Fähigkeiten feil. Neben den Landtagswahlen findet gleichzeitig die Wahl eines neuen Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt statt. Das verdoppelt die Anzahl der Fotografierten. Noch mehr Augenpaare starren fordernd auf die Wählerschaft. Eine Frau hat den Kampf gegen die Männerdomäne aufgenommen, ein mutiger Schritt, der die Fantasie für Wahlkampagnen und ihre Methoden anregt.

Sie stottern im Stopp and Go.

„Bei den tollen Versprechen könnte man glauben, dass nur gute Seelen an die Regierung wollen“, ertönt es vom Beifahrersitz.

„Gute Seelen?“, platzt Betz heraus. „Wenn ich daran denke, dass Leute wie Stuck unsere Politik beeinflussen, dann…“.

Er hupt mehr als sonst, nährt seine Wut, indem er seine Gedanken an die Begegnung mit dem Abteilungsleiter heftet.

„Was dann?“

„Dann muss ich herausfinden, welcher Partei Stuck angehört, und weiß, wen ich nicht wähle.“

Er gibt Gas, drängelt sich vor einen langsameren Wagen. „Schau dir diesen Spruch an: ‚Mit der Kohle treiben wir die Wirtschaft voran’. Ich frage mich, für wie blöd die uns halten. Oder dort ‚Wir sind das Aufsteigerland – mehr Kindergartenplätze, mehr Bildung, mehr Arbeitsplätze’. Erkennst du, was ich meine?“ Aber statt auf eine Antwort zu warten, spricht er weiter: „Im nächsten Jahr werden in allen Orten Grundschulen geschlossen. Sieht so mehr Bildung aus? Die Grundschüler sind kleine Kinder. Wie sollen Sechs- bis Zehnjährige in Schulen kommen, die weit entfernt von zu Hause liegen? Im Heimatort können Eltern ihre Kinder zu Fuß auf den Weg schicken. In Ballungsgebieten laufen sie auf dem Schulweg einem Päderasten in die Finger. Anschließend ist die Bildung für das Opfer nicht mehr wichtig. Dann heißt es nur noch Wunden heilen! Und wer tritt dann auf den Plan? Die Gesundheitsreform.“

Der Nebenmann bekommt große Augen, was Betz nicht davon abhält weiter zu schwadronieren: „Und sollte das Kind tot sein, werden wir gerufen. Doch bis wir am Tatort ankommen, werden uns fünf weitere Mitarbeiter abgezogen, weil das Geld für kleine Ermittler nicht da ist. Das wird für Abteilungsleiter wie Stuck ausgegeben.“

„Mann! Du bist aber gut drauf.“

„Der zerquetschte Beamte geht mir nicht aus dem Kopf. Wenn es einen meiner Leute so hart treffen würde…“, Betz schnappt nach Luft, „…ich würde zu Rambo mutieren und mit einer Automatic den Verbrecher zu Strecke bringen.“

„Du bist eben kein Politiker.“

Sie biegen auf den Parkplatz ein. Doch Dierk Betz steigt nicht aus.