Soraya Popp ermittelt: Die zweite Chance - Elke Schwab - E-Book

Soraya Popp ermittelt: Die zweite Chance E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

Was geschieht, wenn Soraya Popp, Schwalbe auf den Bordsteinen der Reeperbahn, aus ihrem stöhnenden Dasein gerissen wird? Wenn sie sich zwar noch an den attraktiven Kriminalhauptkommissar Horatio Feld erinnern kann, nicht aber an die letzten Stunden ihres irdischen Gastspiels? Sie entsteigt der toten Hülle und ihr Geist folgt KHK Feld, der mit der Aufklärung von Tötungsdelikten an leichten Mädchen befasst ist, auf Mörderjagd. Skurril-humorig begleitet Elke Schwab die beiden über den Kiez.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

08/2022

 

Soraya Popp ermittelt – Die zweite Chance

 

© by Elke Schwab

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat: Matthias Schlicke

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: Manfred Rother

 

Coverbild ›Pleiten, Pech und Leichen‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Pleiten, Geld und Geiseln‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Tote lesen keine Krimis‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Richter und die Schande der Familie‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-159-1

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

 

 

Elke Schwab

 

Soraya Popp ermittelt

-

Die zweite Chance

 

 

 

 

 

 

 

Kriminalkomödie

 

 

Prolog

Buch I

1.

2.

3.

4.

Buch II

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Wenn Sie das hier lesen, bin ich schon tot — nur weiß ich es noch nicht.

Aber das soll kein Grund sein, mit dem Lesen aufzuhören!

Im Gegenteil: Es gibt eine ganze Menge zu erzählen.

Als unbezähmbarer Wildfang geboren, fühlt sich mein kurzes Dasein auf dieser Erde wie hundert Leben an. Es gibt nichts, was ich nicht ausprobiert hätte.

Ich heiße — oder hieß — Soraya Popp.

Also … genau genommen ist das mein Künstlername. An meinen bürgerlichen Namen erinnere ich mich kaum noch, weil der total banal klingt. Somit kann ich ihn nicht verraten.

Wer weiß, wofür das gut ist.

Ich stamme aus Wiesmoor — ziemlich oben im Norden Deutschlands — ein kleines Kaff von Wiesen umgeben, die früher mal Moore waren, wie der Name schon sagt. Bestimmt nicht das Richtige für eine Frau wie mich.

Ich wollte die ganze Welt erobern.

Daher lag es nahe, dass ich mich — wenn auch nicht ganz freiwillig — schon mit sechzehn auf den Weg nach Hamburg machte. Ich würde gerne sagen, dass ich meinen Koffer gepackt habe und losgezogen bin. Aber ganz so einfach war es nicht.

Ich marschierte in die schöne Stadt ein — allerdings nicht als das, was ich mir erträumt hätte. Keinen Beruf gelernt, in der Schule nur mittelmäßig durchgemogelt und ohne Abschluss einfach abgehauen, dafür mit ganz großen Hoffnungen auf ein besseres Leben. Allzu viele Möglichkeiten blieben mir da nicht. Trotzdem habe ich einiges erlebt, was andere nicht von sich behaupten können.

Ich versprach mir, in Hamburg durch mein ansehnliches Äußeres sofort für den Film entdeckt zu werden.

Das klappte sogar.

Nur war der Film nicht das, was eine Oscarprämierung versprach. Es ging vor der Kamera sehr freizügig zu, wofür nun mal gutaussehende und gut gebaute junge Frauen bevorzugt werden.

Aber das sollte mich nicht runterziehen. Das Geld, das ich dabei verdiente, entschädigte reichlich.

Trotzdem wollte ich keine Dauerbeschäftigung daraus machen. Nach einiger Zeit kündigte ich den lukrativen Job und ging wieder auf die Suche.

Und es kam, wie es kommen musste.

Mein Revuekörper war inzwischen in einschlägigen Kreisen bekannt. Ich lernte Menschen kennen, auf die ich besser verzichtet hätte. Im Nachhinein weiß ich das. Aber als ich mittendrin steckte, ahnte ich nicht, was ich tat.

Heute kann ich mit Sicherheit behaupten, dass ich mit meiner Geschichte allen zeigen kann, wie es im Leben keinesfalls geht. Denn richtig gemacht habe ich nichts.

Oder … fast nichts!

Zu meiner Verwunderung muss ich immer wieder betonen, dass ich das Leben genießen konnte. Als Prostituierte habe ich mich mehr schlecht als recht durch die Innenstadt Hamburgs gevögelt, aber nie den Boden unter den Füßen verloren.

Dafür mein Leben.

Es gibt viele Erlebnisse, die mich mit Stolz erfüllen.

Und die anderen …

Davon will ich hier berichten:

 

 

 

 

 

 

Buch I

 

1.

 

Soraya Popp

 

Die Nacht war lang und langweilig. Der G-20-Gipfel brachte nicht den Erfolg ein, den ich mir erhofft hatte. Die Unruhen hielten viele Männer davon ab, auf die Straße zu gehen.

Ganz schlecht für mich.

Ich lebte vom nächtlichen Geschäft auf dem Hamburger Kiez. Den Job als Prostituierte hatte ich mir zwar nicht ausgesucht, doch ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung gab es nur äußerst geringe Möglichkeiten, einen anderen Job zu finden.

Dafür arbeitete ich autark. Mein Leben war nicht schlecht. Es gab Höhen und Tiefen.

Heute befand ich mich eindeutig in einem Tief.

An solchen Tagen grübelte ich mehr als sonst. Inzwischen war ich 32 Jahre alt — ein Alter, in dem die biologische Uhr zur tickenden Zeitbombe werden konnte. Dabei dachte ich nicht ans Kinderkriegen — das hatte ich hinter mir. Mir ging es vielmehr darum, dass mein Körper — mein ganzes Kapital — nicht ewig so hübsch und elastisch bleiben würde.

Solche Gedanken gingen mir immer dann durch den Kopf, wenn das Geschäft beschissen lief.

Meine langen, schwarzen Haare hatte ich zu einem lockeren Knoten zurückgesteckt, weil ich wusste, dass das besonders sexy an mir aussah. Ich stellte mich vor eine der großen Fensterscheiben, in denen ich mich spiegelte, öffnete mein Haar und ließ es über meinen Oberkörper fließen. Es reichte bis zur Hüfte.

Mein Gesicht war dezent geschminkt — das genügte. Ich hatte immer eine gute Gesichtsfarbe. Die Augen mit Kayal betont, so wirkte mein Typ noch temperamentvoller. Der Rock endete knapp unterhalb meines nur dürftig bedeckten Hinterteils, damit niemand übersehen konnte, was ich zu bieten hatte. Das Oberteil glitzerte in allen Farben. Dazu schwarze High Heels! Mein ganzer Stolz. Eine Drehung, um mich von allen Seiten zu begutachten, und ich schob den Gedanken an die biologische Uhr energisch zur Seite. Ich sah verdammt heiß aus.

Aber …, wenn kein Typ unterwegs war, konnte ich auch kein Geschäft machen.

Zu meinem aufreizenden Äußeren hatte ich mir auch einen passenden ›Künstlernamen‹ zugelegt. Damit wollte ich unter anderem auch erreichen, dass mich meine Eltern niemals finden konnten — sollten sie jemals nach mir suchen.

Im Alter von sechzehn Jahren war ich von zuhause ausgerissen.

Nein! Der Wahrheit zur Ehre musste ich gestehen, dass mich meine Eltern rausgeworfen hatten. Ich war ganz unverhofft Mutter einer süßen kleinen Tochter geworden — ein Ereignis, das meine stockkonservativen Eltern nicht verkraften konnten. Sie gaben das Kind gegen meinen Willen weg … und wollten mich auf ein Internat fernab der Heimat schicken, damit niemand von dieser Schande erfuhr. Aber an dieser Schule kam ich niemals an.

Also konnte ich doch behaupten, ausgerissen zu sein. Klang einfach besser.

Für mich war von dem Moment an klar, dass ich einen anderen Namen brauchte. Schon in jungen Jahren wusste ich, was ich wollte. Und dazu gehörte, dass ich mit dem verstoßenen Mädchen von damals nichts zu tun haben wollte.

Eine neue Identität musste her.

So entschied ich mich für den Namen Soraya Popp.

Den Namen Soraya umgab etwas Besonderes. Unbewusst hatte ich dabei an die Frau des Schahs von Persien gedacht, deren Leben wie ein Märchen begann: Als 18-jähriges Mädchen geriet Soraya Esfandiary Bakhtiary durch Zufall auf die Besetzungsliste für die Rolle der persischen Kaiserin. Sie wurde auserwählt, erlebte eine prunkvolle Hochzeit und stieg zur berühmtesten und begehrtesten Frau ihrer Zeit auf.

Leider hatte ich die Geschichte nicht bis zum Schluss gelesen, denn sie endete tragisch. Inzwischen bastelte ich mir gerne selbst meine Storys zurecht, wenn mein Leben mal wieder aus dem Ruder lief.

So wie heute.

Ich stand am Millerntorplatz, ein Anschaffplatz, den ich liebte. Normalerweise lief hier das Geschäft gut.

Heute nicht.

Mitternacht war lange vorbei. Mich beschlich sogar das Gefühl, dass es bald hell wurde. Am Busparkplatz vor den Tanzenden Türmen stand eine Uhr. Von Weitem konnte ich sie zumindest erkennen — nur nicht, was draufstand. Also näherte ich mich und sah mit Erstaunen, dass 04:00 Uhr schon vorbei war. Nun stellte sich die Frage, ob es Sinn machte, sich noch länger die Beine in den Bauch zu stehen. Ich suchte nach der Ostseite, um zu sehen, ob die Sonne schon aufging. Aber … wo war Osten? Nach einigen vergeblichen Versuchen, das erste Tageslicht zu erblicken, beschloss ich, für heute Feierabend zu machen. Die Erfolglosigkeit trieb mich an, mir wenigstens etwas Gutes zu tun, nämlich meine Stammkneipe aufzusuchen.

Ich stöckelte los.

Kaum war ich in die kleine Seitengasse eingebogen, blieb ich mit einem Absatz zwischen den Pflastersteinen stecken. Es grenzte an ein Wunder, dass ich nicht der Länge nach auf dem Boden landete. Dieses verdammte Kopfsteinpflaster. Es gab so viele Wege, die mich vom Millerntorplatz in die Seilerstraße brachten. Aber nein. Immer wieder landete ich hier und blieb mit einem Absatz stecken. Jetzt war dieser wunderschöne Schuh dahin — und kein Geld geflossen, womit ich ihn ersetzen könnte. Auf solche Tage konnte ich wirklich verzichten. Mit den ungleichen Absätzen stakste ich weiter. Das abgebrochene Teil hielt ich in der Hand. Vielleicht ließ es sich wieder ankleben.

Schon von Weitem strahlte mich das Transparent der Geilen Hütte an. Trotz misslicher Lage beschleunigte ich mein Tempo auf den letzten Metern und eilte wie eine Verdurstende der Leuchtreklame des Bieres entgegen.

Die Geile Hütte war klein, alt und verkommen. Manche nannten so was Nostalgie, ich sah darin die Faulheit des Kneipenwirtes, mehr aus dem Laden zu machen. Rolf Petersen war groß und dick — genau genommen fett. Ihm hätte die Bewegung, die so eine Renovierung zwangsläufig mit sich brachte, gutgetan. Stattdessen ließ er lieber ein paar Mädchen laufen. Die brachten das Geld rein, das der Kneipe an Umsatz fehlte.

Ich trat durch die schmale, verwitterte Tür.

Die üblichen Verdächtigen hingen an der kleinen Theke ab. Einer schlief bereits und schnarchte laut. Ein anderer blinzelte mich mit glasigen Augen an und versuchte zu erkennen, wer da gerade eintrat. Ein weiterer Gast eilte hinaus, als hätte ich ihn auf frischer Tat ertappt. Vermutlich ein Freier, der unentdeckt bleiben wollte.

»Jetzt geht die Sonne auf«, grüßte Rolf, trat hinter der Theke hervor, um mich in seine dicken, wulstigen Arme zu schließen.

Ich versank darin und genoss für einen kurzen Moment das Gefühl des Willkommenseins. Bevor es zu kuschelig wurde, strampelte ich mich energisch frei, bestellte ein Bier und ließ mich in der Ecke an der Theke nieder — weit weg von dem Schnarcher.

»Wie läuft das Geschäft?« Üblicher Small-Talk, auf den ich normalerweise mit »Gut« antwortete. Doch heute war es so mies gelaufen, dass ich nur vor mich hin grummelte.

»Mein Angebot, für mich zu arbeiten, gilt auch weiterhin«, kam es prompt von Rolf.

Ich rümpfte die Nase. Ich wollte nicht für ihn laufen — ich wollte für niemanden laufen, außer für mich selbst. Wann kapierte Rolf das endlich? Ich reagierte nicht darauf, schnappte das Bier und trank es in einem Zug leer.

Rolf zapfte schon das nächste.

Es dauerte noch einige Biere und meine Anspannung fiel von mir ab. Ich lehnte mich an die Theke, hielt inzwischen mein viertes Glas in der Hand und sinnierte über den Sinn des G-20-Gipfels in Hamburg. Der Fernseher über der Theke lief ohne Ton. Nur Szenen von Randalierenden, die durch Hamburgs Straßen zogen, flimmerten über den Monitor — ein Anblick, der eher an Kriegsgebiete als an eine Stadt in Deutschland erinnerte. Dabei befand sich das Gebiet der Ausschreitungen nur wenige Straßen von der Geilen Hütte entfernt.

Schweigend saßen wir da und schauten uns das Schauspiel an. Der letzte Gast, der noch bei Bewusstsein war, legte Geld auf den Tresen und verließ das Lokal. Zurück blieben die Alkoholleiche in ihrer unbequemen Lage, Rolf und ich. Weil uns jeglicher Gesprächsstoff ausgegangen war, starrten wir weiter auf den Fernseher. Aber das war nicht schlimm. Zu dieser Stunde saßen wir häufig still nebeneinander — und genossen das angenehme Schweigen, das sich einfach nur gut anfühlte.

Die Tür ging auf, ein neuer Gast trat ein.

Ich schaute verdrossen auf, weil ich einen abgewrackten Säufer erwartete, der noch einen Absacker brauchte, bevor er ins Alkoholkoma fiel. Doch zu meiner Überraschung tauchte ein bekanntes Gesicht auf und grinste wie ein Honigkuchenpferd: Dominic Bart, der Chefredakteur der bekannten Online-Zeitschrift Hamburger OPO, wie Online-Post. Nebenbei betrieb er ein illegales Wettbüro, was ausschließlich in einschlägigen Kreisen bekannt war. Vermutlich verdiente er damit das meiste Geld, denn das Geschäft florierte.

»Hast du schon gehört, wer mit Dagobert Clamp ein Stell-Dich-Ein hat?«, fragte Dominic anstelle eines Grußes und bestellte bei Rolf einen Kaffee.

Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hielt sich zurzeit in Hamburg auf, weil dort der G-20-Gipfel tagte. So hatte das Treffen der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer neben den vielen Krawallen auch ein Highlight zu bieten. Denn wann verirrte sich der mächtigste Mann der Welt schon mal nach Deutschland?

Mit großer Neugier hatte ich die Nachrichten über das Eintreffen des Präsidenten verfolgt. Leider kannte ich niemanden, der mir in dieser Angelegenheit hätte weiterhelfen können. Ein Manko, das in den letzten Tagen an mir nagte.

Und jetzt hörte ich so etwas! Einfach so! Ganz nebenbei! Dabei traf ich Dominic fast täglich.

Ich brodelte innerlich.

»Und wer?«, fragte ich nach außen hin ganz gelassen.

»Deine Kollegin Giuliana Rossi.«

»Giuliana?« Ich riss die Augen vor Staunen weit auf. »Mit Clamp?«

»Ja! Giuliana mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika! Er ist doch zurzeit in Hamburg. Und irgendwie muss er sich ja auch die Nächte vertreiben.«

»Wie kam sie zu dem Date? Durch dich?« Böse funkelte ich mein Gegenüber an.

»Blödsinn! So weit reichen meine Kontakte nicht.«

»Und wann hat sie das Date?«

»Kommende Nacht — von Freitag auf Samstag.«

Diese Neuigkeit fuchste mich gewaltig. Giuliana Rossi kannte ich nur durch Zufall. Eigentlich war sie nicht meine Kragenweite, denn sie arbeitete als Edelprostituierte. Sie konnte sich ihre Freier unter den feinen Herren aussuchen, während ich zusehen musste, wie ich über die Runden kam.

Das hatte mich bisher aber nicht aufgehalten, mich ebenfalls an die interessantesten Männer heranzumachen. Und da gab es durchaus Erfolge zu verzeichnen. Immerhin hatte ich es geschafft, mit amerikanischen Schauspielern im Bett zu landen. Da konnte keine von meinen Kolleginnen mithalten.

Aber Clamp!

»Warum erzählst du uns das?« fragte ich stinkig. »Hast du eine Wette laufen?«

»Leider nicht. Aber ist das nicht der Hammer? Ausgerechnet Giuliana hat das geschafft, was sich bestimmt einige der Damen gewünscht hätten.«

»Ich zum Beispiel«, rutschte es mir raus. Als es gesagt war, hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Es musste doch niemand wissen, was mir durch den Kopf ging.

Jetzt war es zu spät.

Die Blicke der beiden Männer durchbohrten mich. Das hatte ich nun davon. Es passte mir überhaupt nicht, durchschaut zu werden. Wie konnte ich die beiden wieder auf andere Gedanken bringen?

Prompt hatte ich eine Idee!

»Was hältst du von einer Wette?«

»Dafür bin ich immer zu haben.« Der Mann mit den dunklen Haaren und den schwarzen Augenringen schaute mich herausfordernd an.

»Ich wette mit dir, dass ich statt Giuliana Rossi mit Clamp im Bett lande.«

»Hahaha!«, war alles, was der dazu sagte.

»Ich beweise es mit einem Selfie.«

Dominic verstummte.

Rolf wurde hinter der Theke nervös und brummte: »Lass den Quatsch! Das ist viel zu gefährlich.«

»Was ist daran gefährlich?«

»Alles! Giuliana hat diesen Termin. Nicht du. Glaubst du, sie überlässt dir das Geschäft ihres Lebens?«

Mir war klar, dass es nicht einfach werden würde. Außerdem hatte ich keine Vorstellung, wie ich diese Wette einlösen wollte. Aber Angriff war für mich schon immer die beste Verteidigung. Also trotzte ich dem Wirt: »Ich habe schon ganz andere Einsätze überlebt. Da werde ich eine Nacht mit Clamp wohl wegstecken können.«

»Glaubst du, die lassen diesen Mann unbeaufsichtigt? Da sind bestimmt Hunderte von Sicherheitsleuten …«, zweifelte Rolf weiter.

»Genau deshalb nehme ich die Wette an«, hieb Dominic mit einem teuflischen Grinsen dazwischen. »Das schaffst du niemals.«

»Also: Die Wette gilt.« Ich schlug ein.

»Was ist dein Einsatz?«

»Ich bekomme von dir meine Wettschulden komplett erlassen, wenn ich gewinne.«

Dominic pfiff durch die Zähne und meinte: »Ganz schön hoher Wetteinsatz. Aber ich bin einverstanden, weil ich diese Wette gewinne. Dann schuldest du mir nämlich das Doppelte.«

 

*

 

Ich schnappte meinen Rucksack, den ich wie immer bei Rolf deponiert hatte. Der massige Mann hielt mich am Arm fest und brummelte: »Lass den Quatsch! Arbeite für mich und du kommst auch wieder mit deinen Finanzen klar.«

»Du meinst wohl, dass du dann mit deinen Finanzen klarkommst«, entgegnete ich frech. »Ich arbeite eigenständig und daran wird sich nichts ändern.«

»Ich habe Angst um dich. Nicht nur, weil dieser Wetteinsatz zu gefährlich ist.«

»Weshalb denn noch?«

»Du weißt, dass Francesco Barollo zurzeit auf Stutenschau ist. Wenn der was von dieser Wette erfährt, hat er dich im Visier. Und dann ist der Spaß vorbei.«

Barollo, der Poet — so wurde er in Insiderkreisen genannt, weil er gelegentlich in Versen sprach. Genau genommen waren seine Reime eine Warnung: Sobald er anfing zu dichten, wurde er brandgefährlich.

Aber nicht für mich, redete ich mir ein.

»Barollo sucht sich nur Huren der Oberklasse. Was glaubst du, warum er sich Giuliana geschnappt hat … oder schnappen will. Ich weiß nicht, ob sie für ihn arbeitet.«

»Unterschätz diesen Mann nicht. Wo Barollo Geld wittert, ist er präsent«, hielt Rolf dagegen.

»Genauso wie du.« Trotzig starrte ich den Wirt an. »Oder glaubst du wirklich, ich kapiere nicht, warum du mich für dich arbeiten lassen willst?«

Rolf gab auf und ließ meinen Arm los.

Ich verließ die Kneipe und stolperte mit den ungleichen Absätzen in Richtung meiner Wohnung. Jetzt galt es für mich, einen Plan für meine überstürzte Wette zu schmieden.

Ich passierte eine Baustelle, auf der ein Radikalabriss stattgefunden hatte. Etliche Hochhäuser und die berühmt-berüchtigte Esso-Tankstelle waren dem zum Opfer gefallen. Heute ragten lediglich angefangene Bauwerke in die Höhe, was gruselig aussah. Von hier aus reichte die Sicht bis zu den Tanzenden Türmen, die ich erst vor zwei Stunden verlassen hatte. Wind pfiff über das Gelände. Ich schlug den Kragen meiner Kunstlederjacke hoch. Morgens um halb sechs war noch nichts von sommerlicher Wärme zu spüren. Ich stöckelte weiter.

Ein Hahn krähte.

Klang nach Land pur — total ungewohnt.

Nochmals ein deutliches »Kikeriki«.

Ich bremste ab und lauschte.

Schon wieder!

Da stimmte was nicht, ging es mir durch den Kopf. Nicht in Hamburg. Hier gab es keine Hähne.

Ratlos ging ich weiter.

Und noch einmal dieses Krähen.

Jetzt packte mich die Neugier.

Ich folgte dem Geräusch und landete vor einem Schuttcontainer am Rand der Baustelle. Irritiert blickte ich mich um. Ich war allein. Kein Mensch, kein Hahn, nichts. Aber das Krähen ging unvermindert weiter.

Ich ging nah an den Container heran. Tatsächlich! Es krähte genau aus diesem Ding. Ist dort einfach ein Hahn entsorgt worden? Das wollte ich auf keinen Fall zulassen. Das arme Tier! Ich würde es retten.

Ich schaute mich um und entdeckte eine Holzkiste. Genau das Richtige, um mich draufzustellen. Die schleppte ich heran, was sich mit meinen unterschiedlich hohen Absätzen als kompliziert herausstellte. Aber ich ließ nicht locker.

Als die Kiste endlich neben dem hohen, metallenen Behälter stand, hörte das Krähen auf. Trotzdem schwang ich mich hoch und konnte endlich über den Rand ins Innere schauen.

Was ich dort sah, haute mich beinahe um.

Kein Hahn schaute mir hilflos entgegen, sondern die toten Augen von Giuliana Rossi. Die Frau, von der wir gerade gesprochen hatten. Die Edelhure, der eigentlich ein Date mit Präsident Clamp bevorstand.

Meine Knie begannen zu zittern. Mir wurde übel.

An ihrem Hals klaffte eine breite Wunde. Die Bluse war zerrissen, ihr BH zu sehen. Der Oberkörper war übersät mit Kratzern, Schrammen und einigen Blutergüssen.

Scheiße! Was war passiert?

Ich wollte mich gerade auf den Boden zurücksinken lassen, als wieder das Krähen einsetzte.

Es war ein Handy-Ton und klang verdammt echt. Wie in Trance beugte ich mich über den hohen Rand. Ich griff nach dem Gerät, ohne auf das Display zu schauen, und meldete mich mit »Hallo.«

»Endlich!«, ertönte es ungeduldig von der anderen Seite. Die Stimme klang seltsam heiser. »Warum dauert das so lang, bis du dich meldest?«

»Ich war beschäftigt«, antwortete ich, ohne zu überlegen.

»Hast du wieder gesoffen? Verdammt noch mal. Jetzt schlaf dich aus, damit du heute Abend richtig geil aussiehst. Der Fahrer steht um Punkt acht vor deiner Tür.«

Der Unbekannte legte auf.

Nun stand ich da und brauchte einige Minuten, um zu kapieren, was da gerade passiert war.

Um mich herum war immer noch alles still. Die Häuser in dieser Ecke beherbergten hauptsächlich Büros, die um diese Zeit noch nicht besetzt waren. Mein Blick richtete sich wieder auf den Inhalt des Containers. Dort lag sie: Giuliana Rossi. Die Hure der besseren Gesellschaft, die ich immer beneidet hatte. Getötet und wie Müll weggeworfen.

Das tat weh.

Doch für solche Gefühlsduseleien war jetzt keine Zeit. Ich musste handeln. Mein Gehirn begann endlich wieder zu arbeiten, nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte. Ich kletterte ganz in den Container hinein und schaute mir die Leiche genauer an. Ihr war die Kehle aufgeschlitzt worden.

Ich schnappte erschrocken nach Luft.

Rasch sammelte ich mich innerlich und schaute mich weiter um. Mein Blick fiel auf Giulianas Schuhe. Sie steckten noch unversehrt an ihren Füßen. Extrem-High-Heels in Knallrot von Jimmy Choo mit einem Absatz, dass sogar ich ins Staunen geriet. In diesem Schuh, der mit einem Knöchelriemchen gehalten wurde, stand man fast auf den Zehenspitzen. Der Absatz bestand am unteren Ende aus Metall, und lief so spitz zu, dass er fast wie eine Waffe aussah. Ich musste die Größe wissen.

Ungeduldig riss ich ihr einen Schuh vom Fuß und schaute nach: 39,5 — genau meine Größe.

Ohne zu überlegen zog ich Giuliana auch den anderen Schuh aus — und mir selbst die edlen Teile an. Meine ruinierten Pumps warf ich achtlos in den Schutt, der aus Eisenstangen, zertrümmerten Baumaterialien und Rohren bestand. Dann suchte ich weiter, bis ich etwas Goldenes aufblitzen sah. Das zog ich heraus und hielt plötzlich ein kleines schwarzes Täschchen mit Goldumrandung in meinen Händen. Sofort verschwand es in meinem Rucksack.

Eilig verließ ich den Container. Ein Blick nach rechts, ein Blick nach links: Niemand da, der mich beobachtet hatte. Ich stöckelte los. In den Schuhen lief es sich anstrengend — aber sie gaben mir ein geiles Gefühl!

Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

War es richtig, was ich gerade tat? Ich ließ Giuliana einfach dort in dieser unwürdigen Lage zurück und dachte nur an mich. Aber genau genommen waren die Lebenden wichtiger als die Toten. Schließlich musste ich zusehen, wie ich mein Leben weiterfinanzierte. Giuliana hatte diesen Stress hinter sich. Außerdem bot sich mir mit dieser Entdeckung die einmalige Chance, meine übermütige Wette zu gewinnen und so meine Wettschulden mit einem Schlag zu bezahlen.

Zufall? Oder Schicksal?

Ich spürte, wie ich immer nervöser wurde. Ich steuerte die Bernhard-Nocht-Straße an, folgte ihr noch einige Meter, bis ich vor der vergammelten Bruchbude stand, in der ich wohnte.

Der Anblick brachte mich wieder runter — so wie jedes Mal, wenn ich das heruntergewirtschaftete Haus sah. Aber mehr konnte ich mir in dieser teuren Stadt nicht leisten. Meine Ziele, mit diesem Job mal ganz nach oben zu kommen — wie Giuliana es geschafft hatte — lagen noch in weiter Ferne.

Jetzt musste ich erkennen, dass Giuliana verdammt tief abgestürzt war. Wie konnte so etwas passieren? Ich dachte immer, in dieser Position ist man vor solchen Verbrechen geschützt.

Offensichtlich ist man das in unserer Branche nie — egal wie weit man es geschafft hat.

Mein Wohnklo, das aus einem Zimmer und einem kleinen Bad bestand, miefte. Ich riss das einzige Fenster auf, ließ mich auf das ungemachte Bett fallen und wühlte neugierig in Giulianas Handtasche. Darin fand ich einen Personalausweis, auf dem ihre Adresse vermerkt war, ihre Wohnungsschlüssel und Geld.

Bingo!

 

*

 

Staunend schaute ich mich um. Giulianas Küche war weiß, die Bodendielen hellbraun. Fenster aus weißem Kunststoff reichten bis zum Boden, der in Wohnzimmer, Esszimmer und Flur aus Parkett bestand. Von dem kleinen Balkon strömte helles Sonnenlicht herein, was das Ambiente noch größer und luxuriöser wirken ließ. Alles in diesen Räumen strahlte Behaglichkeit und guten Geschmack aus. Neben einer antiken Vitrine prangte eine moderne Kommode aus schwarzem Glas. Die Decken zierten Strahler, die von alten Hängelampen flankiert wurden. Das Gemisch aus Alt und Neu ergab eine Atmosphäre, in der ich mich sofort wohlfühlen konnte.

Ich warf mich auf das Ledersofa und lauschte, welche Geräusche aus den benachbarten Wohnungen hereindrangen.

Nichts! Alles war still.

Hier herrschte eine Ruhe, die mir schon fast unwirklich vorkam. Nur die Autos, die vereinzelt durch den Zeiseweg fuhren, konnte ich durch das geöffnete Balkonfenster hören.

Ich schaltete den Fernseher ein.

Ich war nervöser als ich erwartet hätte. Der Gedanke, in Giulianas Rolle zu schlüpfen, war nur so lange verlockend gewesen, solange ich den Plan geschmiedet hatte. Je näher der Termin rückte, umso größer wurde mein Lampenfieber.

Während der Fernseher lief, ließ ich weiter meinen Blick durch die Räume wandern. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Gemälde. Ich kannte mich mit Kunst nicht sonderlich gut aus — vielleicht ein Van Gogh. Gerade wollte ich aufstehen und es mir aus der Nähe betrachten, als eine aufgeregte Männerstimme aus dem Fernseher drang, die von einem Leichenfund sprach.

Ich starrte auf den Bildschirm. Dort stand ein Moderator vor einem Container und berichtete: »Genau hier wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden. Ihr wurde die Kehle durchgeschnitten. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe, damit der oder die Täter so schnell wie möglich gefasst werden können.«

Der Container, in dem ich Giuliana Rossi gefunden hatte, tauchte auf dem Bildschirm auf.

Ein anderer Mann trat vor die Kamera. Darunter stand »Kriminalhauptkommissar Horatio Feld, Leiter der Sonderkommission« und eine Telefonnummer. Mit ernster Miene begann er zu sprechen: »Wir haben es mit einem äußerst brutalen Verbrechen zu tun. Leider gibt es keine Hinweise auf den oder die Täter, weshalb wir Sie um Ihre Mithilfe bitten. Je eher der Täter gefasst ist, umso schneller kehrt wieder Sicherheit in unserer Stadt ein. Sollten Sie etwas in den frühenMorgenstunden Ecke Spielbudenplatz/Taubenstraße beobachtet haben, rufen Sie uns bitte unter der hier eingeblendeten Telefonnummer an.«

Mein Blick blieb an dem Gesicht des Hauptkommissars hängen. Es war schmal, fast hager. Seine dunkelblonden Haare lagen streng zurückgekämmt am Kopf. Die Mimik wirkte ernst, während er sprach. Ein Lächeln hätte ihm gut zu Gesicht gestanden. Er trug einen dreiteiligen, grauen Anzug. Darin sah er schlank, autoritär und sexy aus. Ein Mann, der wusste, was er wollte. Gegen meinen Willen spürte ich, dass er mir gefiel. Aber das wäre nicht gut. Gerade von Polizisten sollte ich mich zurzeit besser fernhalten.

Ich schaltete den Fernseher aus.

Die schnelle Entdeckung der Leiche ließ meine Hoffnung schrumpfen. Ich sah den Wetteinsatz dahinschwinden.

 

*

 

Es ging los. Mein Herz schlug höher. Das durfte es aber nicht. Als Professionelle musste ich mit dieser Situation gelassen umgehen, sonst könnte auffallen, dass ich nicht die richtige Giuliana Rossi war.

Ich atmete tief durch, betrat den Balkon und warf einen Blick nach unten auf die Straße. Eine weiße StretchLimousine mit dunkel getönten Scheiben hielt vor der Haustür.

Wow! Was für ein Auftritt. So bin ich noch nie abgeholt worden. An diesen Lebensstil könnte ich mich gewöhnen …

Ich eilte in die Wohnung zurück, warf noch schnell einen Blick in den Spiegel und war zufrieden mit dem, was ich sah. Beim Friseur hatte ich am Nachmittag meine Haare auf die gleiche Länge wie Giulianas zurückschneiden lassen. Auch wurden sie jetzt mit ein paar Locken verschönert. Schwarzes Kajal umrahmte meine Augen und verlieh ihnen einen feurigen Blick. Das Kleid, das vor Giulianas Schrank gehangen hatte, zierte jetzt meinen Körper. Es lag hauteng, ich musste ein wenig den Bauch einziehen — Giuliana war eindeutig schlanker als ich gewesen. Es bestand überwiegend aus roten Pailletten, was meine überschüssigen Pfunde perfekt kaschierte. Dazu die hohen Stilettos — besser ging es nicht. In Giulianas Sortiment hatte ich eine Lady Dior Handtasche aus Lammleder gefunden, die perfekt zum Outfit passte und über eine Größe verfügte, dass sich darin unter anderem bequeme Schuhe verstauen ließen. Man konnte nie wissen — ich grinste. Vielleicht fand Clamp mich so gut, dass er mich gleich nach Amerika mitnehmen wollte. Da wäre es meinen Füßen gegenüber unfair, sie dauerhaft mit Extrem-High-Heels zu malträtieren.

Zufrieden mit mir stolzierte ich die Treppe hinunter und steuerte den überlangen Wagen an. Ein Chauffeur stand bereit und hielt mir die hintere Tür auf. Mit einer leichten Verbeugung begrüßte er mich, was ich gelassen hinnahm — obwohl ich innerlich bebte.

Innen war der Wagen anstelle von gewöhnlichen Autositzen mit einem langen Sofa und einem Zweisitzer ausgestattet. Ich entschied mich für das lange Sofa, zog die Schuhe aus und machte es mir bequem. So genoss ich einen direkten Blick auf die Bar, die die gegenüberliegende Innenseite des Wagens ausfüllte. Ein Sortiment offenbarte sich mir, das jeden Kneipenwirt vor Neid erblassen ließe. Es war taghell im Wagen. Auch angenehm kühl, was wohl an einer Klimaanlage lag. Die Decke war übersät mit LED-Lampen, die für buntes und angenehmes Licht sorgten, ohne aufdringlich zu wirken.

Ich fühlte mich wie eine Königin.

Eine Champagner-Flasche stand geöffnet in einem Kühler. Da ich allein im Fond dieses Wagens saß, ging ich von Selbstbedienung aus. Ich packte die Flasche und schenkte mir von der prickelnden Flüssigkeit in ein langstieliges Glas ein.

Das hatte was. Im Spiegelbild über der Theke prostete ich mir zu und fand mich überzeugend. Niemals würde der Präsident merken, dass nicht Giuliana Rossi, sondern Soraya Popp in seinem Bett lag.

Die Fahrt dauerte 20 Minuten— also Zeit genug, ein weiteres Glas Champagner zu trinken. Danach stellte ich das Trinken ein. Ich musste mir stets meiner Rolle bewusst bleiben, sonst könnte dieses Abenteuer in der Tat gefährlich werden. Dabei dachte ich an die Sorgen, die sich Rolf Petersen, der Kneipenwirt, um mich gemacht hatte. Ein Lächeln schlich sich auf meine knallrot geschminkten Lippen. So väterlich hätte ich ihn niemals eingeschätzt.

Der Wagen bremste ab, bog scharf nach links. Ich ahnte, dass wir am Ziel angekommen waren.

Auf das Gästehaus des Senats war ich schon gespannt. Bisher kannte ich den protzigen Bau nur durch Berichte oder Bilder im Fernsehen. Nun sollte ich die vornehme Hütte von innen kennenlernen. Doch als sich die Wagentür öffnete, erlebte ich eine Enttäuschung. Mein Blick fiel auf eine schmucklose, weiße Wand mit einer kleinen, unauffälligen Tür. Zu meiner rechten sah ich die Alster. Ein Polizeiboot dümpelte am Ufer. Vermutlich Clamps Bewachung — wie Rolf befürchtet hatte.

Meine Knie wurden weich, mein Herz schwer. Die Tür erwies sich als Kellertür. Mit einem Aufzug wurde ich umgehend in den zweiten Stock gefahren, ohne etwas vom Innenleben des Gebäudes sehen zu können. Von dort ging es schnurstracks in ein Zimmer, in dem ich warten sollte.

 

*

 

Alles schimmerte in strahlendem Weiß. Von der Decke bis zum Boden. Weiße Hocker, weiße Sideboards, weißer Flokati. Auf einem ebenfalls weißen Stehtisch fiel ein buntes Blumenarrangement sofort auf. Die Decken waren hoch und mit Stuck verziert. An der Wand hing ein Gemälde von einem Künstler, den ich nicht kannte. Das Bild bestand hauptsächlich aus Strichen in verschiedenen Farben. Dem konnte ich nichts abgewinnen, also schaute ich mich weiter um. Die breite Schiebetür — ebenfalls ganz in Weiß — fiel mir erst beim zweiten Hinsehen auf. Der Raum ging also noch weiter. Neugierig schob ich die Türblätter ein wenig auseinander und schaute hinein. Dahinter lag Clamps Schlafzimmer.

Wow! … was für ein aufgedonnerter Schuppen. Der Raum war so groß wie meine Wohnung — oder sogar noch größer. Der Parkettboden glänzte. Weiße Gardinen und Übergardinen verhüllten die drei großen Fenster an der gegenüberliegenden Wand. Das Bett stand am anderen Ende, ein überbreites Doppelbett aus Eichenholz und mit Verschnörkelungen verschönert. Die Bettwäsche leuchtete weiß mit hellblau. Ein Sideboard flankierte die rechte Seite. Links stand ein Sekretär mit einem eingeschalteten Laptop und einem ebenfalls verzierten Holzstuhl davor. Eine kleine zweisitzige Couch rundete das Ganze ab. Ein vergoldeter Kristall-Deckenleuchter sorgte für glitzerndes Licht, das dem Raum allein schon eine erotische Atmosphäre verlieh.

Ich hörte Geräusche hinter mir. Erschrocken schob ich die Türblätter zusammen und drehte mich um. Vor der Tür unterhielten sich mehrere Männer. Sie sprachen englisch, was ich nur bruchstückhaft verstand. Ich musste auf der Hut sein. Immerhin wollte ich eine Wette gewinnen. Und nebenbei auch heil aus dieser Sache wieder rauskommen. Bestimmt gingen die Security-Leute von Clamp auf Nummer sicher und durchleuchteten mich, bevor ich zu ihm durchgelassen wurde. Ich ließ meinen Blick hektisch durch das helle Zimmer wandern und grübelte, wonach sie mich wohl absuchen könnten.

Es fiel mir auch prompt ein: Mein Handy!

Sollten sie das filzen, wäre meine Wette verloren. Und meine Schulden verdoppelt. Das durfte ich nicht riskieren.

Eilig eroberte ich die Toilette, die sich hinter einer ebenfalls weißen Tür verbarg. Ich schritt zur Tat, stopfte mein persönliches Mobiltelefon zwischen die Gästehandtücher.

So! Jetzt konnte mein Plan nur noch gelingen.

Kaum stand ich wieder draußen, traten zwei junge Männer ins Zimmer. Es geschah genau das, was ich befürchtet hatte. Sie tasteten meinen Körper ab, dass es schon an Unverschämtheit grenzte. Aber ich schwieg. Ihre Blicke ignorierte ich. Da hatte ich doch schon weiß Gott Schlimmeres erlebt. Anschließend durchsuchten sie die Lammledertasche und entdeckten das Handy — Giulianas Handy! Das nahmen sie mit und verzogen sich wieder.

Mein zufriedenes Grinsen sahen sie nicht mehr.

 

2.

 

Ich fühlte mich berauscht von meinem Erfolg.

Die Erinnerung daran, wie knapp es wurde, ließ mein Adrenalin noch nachträglich in ungeahnte Höhen schnellen. Ich saß im Fond eines schwarzen Geländewagens mit getönten Scheiben. Der Fahrer stellte sich als Tim Nolan, der Beifahrer als Burt Brandon vor. Diese beiden Jungs hatten mich vor meinem Fick gefilzt. Inzwischen gaben sie sich bedeutend netter. Fast so, als wollten sie auch etwas vom Kuchen. Die Rechnung machten sie allerdings ohne mich. Ich wollte nur noch nach Hause.

Mit diesem Date hatte ich den Deal meines Lebens gemacht. Zusätzlich war ich meine Wettschulden bei Dominic los. Ich könnte jubeln, beherrschte mich aber. Dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Ob er mein Selfie schon gesehen hatte? Am liebsten würde ich mein Handy herauskramen und mir das Foto genau anschauen. Trotz der Hektik und Panik, nicht aufzufallen, war es gestochen scharf, mein Gesicht deutlich zu erkennen … und seins auch!

Schon wieder schlich sich ein Grinsen auf meine Lippen.

Ich öffnete meine Tasche, wagte aber nicht, nach meinem Handy zu schauen. Stattdessen kramte ich die bequemen Schuhe raus. Die heißen Extrem-High-Heels streifte ich ab, warf sie in die Tasche und zog die Turnschuhe über. Meine Füße dankten es mir.

Der Blick durch die getönten Scheiben verriet, dass wir gerade die Kennedy-Brücke überquerten. Dahinter passierten wir Hochhäuser, die in ihrer Trostlosigkeit an meine eigene Behausung erinnerten. Weiter führte der Weg an Messehallen vorbei, bevor wir St. Pauli erreichten. Dort bogen sie in die falsche Straße ein. Gerade wollte ich darauf aufmerksam machen, beugte mich bereits nach vorn, als mir zum Glück rechtzeitig wieder einfiel, dass mein Zuhause vorübergehend ganz woanders lag.

Meine Erleichterung sollte allerdings nicht lange andauern. In der Reihe vor mir ertönte ein Piepsen, das sich wie eine Handy-Nachricht anhörte. Dann noch eins. Noch eins. Und noch eins. Es hörte gar nicht mehr auf.

Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Mein inneres Warnsystem schaltete sich sofort ein.

Auch mein Handy meldete sich. Mit zitternden Händen fischte ich es aus der Handtasche. Was ich zu sehen bekam, ließ mich keine weitere Sekunde zögern.

Ich riss die Wagentür auf. Fast gleichzeitig bremste der Fahrer ab. Doch ich war schneller. Ich sprang heraus und rannte los. Wie gut, dass ich gerade meine flachen Sportschuhe angezogen hatte. Im Augenwinkel sah ich einen der beiden Bodyguards aus dem noch rollenden SUV springen. Viel Zeit zum Überlegen blieb mir nicht. Ich musste weg. Einen Vorteil hatte ich: Ich kannte jeden Winkel, denn ich befand mich kurz vor den Tanzenden Türmen, wo alles angefangen hatte. Jetzt hastete ich so schnell ich konnte daran vorbei — gejagt von den Leibwächtern des amerikanischen Präsidenten.

Die U-Bahn-Station Millerntorplatz kam gerade richtig. Ich flitzte die Treppe hinunter. Wo konnte ich mich hier verstecken? Ein Blick nach hinten und ich stellte fest, dass die beiden Männer verschwunden waren. Das konnte mich aber auf keinen Fall beruhigen. Die Gefahr bestand nach wie vor.

Die U-Bahn fuhr ein. Ich sprang hinein, wusste mir keinen anderen Rat. Die Blicke der anderen Fahrgäste verrieten, dass mein Outfit Fragen aufwarf. Zum heißen Paillettenkleid bequeme Turnschuhe. Das sah bestimmt komisch aus. Aber da musste ich jetzt durch.

Ich verließ meinen Platz direkt an der Tür, schlängelte mich zwischen den Sitzen hindurch zur nächsten. Instinktiv schaute ich zurück. Mein Blick ging zwischen den Menschen hindurch, die sich an den Haltegriffen festhielten.

Dann sah ich sie. Mir blieb die Luft weg vor Schreck. Gerade, als die Bahn zur Weiterfahrt ansetzte und die Türen zischend zugezogen wurden, huschten Tim Nolan und Burt Brandon hindurch und landeten in meinem Abteil.

Mein Blick fiel auf die Tür direkt vor mir. Sie war noch nicht ganz verschlossen. Fast zeitgleich quetschte ich mich durch und schlug hart auf dem Boden auf. Doch mein Einsatz hatte sich gelohnt. Die Bahn fuhr los — mit den beiden Leibwächtern.

Zufrieden rappelte ich mich auf und ging zur Treppe nach oben. Ich sah noch, wie sie mir mit wütenden Gesichtern hinterher schauten. Ich konnte nicht widerstehen: Ich musste ihnen den Stinkefinger zeigen.

 

*

 

Ich trat auf die erste Stufe. Ein ohrenbetäubendes Quietschen ertönte. Erschrocken sank ich die Stufe wieder zurück, wollte sehen, was da los war. Teufel nochmal! Grelle Funken zuckten über die Gleise. Ich war total geblendet. Trotzdem begriff ich sofort, dass die U-Bahn stoppte.

Die Notbremse!

Jetzt wurde es brenzlig für mich. Ich musste zusehen, dass ich schleunigst wegkam.

Hinter mir hörte ich, wie sich die Türen der U-Bahn zischend öffneten. Aufgebrachte Stimmen begleiteten das kreischende Geräusch. Zum Glück war ich bereits oben und rannte so schnell ich konnte in Richtung meiner eigenen Wohnung. In dem Loch würde mich niemand suchen. Ich sauste quer über die Reeperbahn an den Tanzenden Türmen vorbei in den Zirkusweg.

Ein Blick nach hinten: Scheiße! Die beiden hatten genau gesehen, in welche Straße ich eingebogen war. Ich japste so laut, dass ich selbst davor erschrak. Vor meinen Augen lag eine kerzengerade Straße! Nicht gerade gut für mich. An der Einmündung einer kleinen Seitenstraße gab es einen Spalt zwischen zwei Häusern, der durch Sträucher kaum einsehbar war. Dort kroch ich hinein und nahm dabei in Kauf, von Stechmücken und Zecken gefressen zu werden.

Die beiden Männer rannten vorbei.

---ENDE DER LESEPROBE---