Kullmann unter Tage - Elke Schwab - E-Book
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Kullmann unter Tage E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

Ein Mann wird an der Seilscheibe des Förderturms im Bergwerk Velsen zu Tode gequetscht. Unfall oder Mord? Um das herauszufinden muss der Polizeibeamte Grewe, der in seinem früheren Leben Bergmann war, undercover einfahren. In einer Welt tausend Meter unter der Erde stößt er auf einen weiteren Toten und auf ein tödliches Geheimnis, das elf Jahre zurückliegt. Damals hatte Kommissar Kullmann ermittelt, war jedoch an den ungeschriebenen Gesetzen der Bergleute gescheitert. Wird es ihm heute gelingen, zusammen mit Grewe direkt vor Ort den alten Fall aufzuklären? Oder muss er in seinem Alter – entgegen aller Warnungen - selbst in die Tiefe hinab? Originaltitel: Blutige Seilfahrt im Warndt Band 1: Ein ganz klarer Fall Band 2. Kullmann jagt einen Polizistenmörder Band 3: Kullmann kann's nicht lassen Band 4: Kullmann stolpert über eine Leiche Band 5: Kullmann und die Schatten der Vergangenheit Band 6: Kullmann in Kroatien Band 7: Kullmann auf der Jagd Band 8: Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen Band 9: Kullmann und das Lehrersterben Band 10: Kullmann unter Tage Band 11: Kullmann ist auf den Hund gekommen

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Seitenzahl: 454

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Elke Schwab

Kullmann unter Tage

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Impressum neobooks

Prolog

Kullmann

unter Tage

von

Elke Schwab

Neue überarbeitete Auflage

Ursprünglicher Titel:

„Blutige Seilfahrt im Warndt“

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Elke Schwab, 2019

www.elkeschwab.de

Covergestaltung: Manfred Rother

Motiv: Erlebnisbergwerk Velsen - http://www.erlebnisbergwerkvelsen.de

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

»Glückauf, liebe Gäste! Mein Name ist Arthur Hollinger. Ich werde Sie heute bei der Führung über das Grubengelände und durch das Erlebnisbergwerk Velsen begleiten«, stellte sich der große Mann der Gruppe vor.

Alle Besucherinnen und Besucher waren mit kleinen Schildern ausgestattet worden, auf denen ihre Vornamen vermerkt waren. Während sie sich damit beschäftigten, diese an ihren Jacken anzubringen, damit sie jeder lesen konnte, sprach der Mann weiter: »Bei uns unter Tage bevorzugen wir einen kameradschaftlichen Ton. Das heißt, dass wir uns mit ›Du‹ ansprechen, uns an der Hierarchie nicht stören und dabei unsere Vornamen meist sogar in Spitznamen abwandeln. Also mich hat man unter Tage nicht Arthur, sondern Addi gerufen. Ein Name, den ich heute anbiete. So wie ich auch das ›Du‹ anbiete. Ich hoffe, dass ihr alle damit einverstanden seid.«

Allgemeines Nicken und Lachen war die Antwort.

»Dann wollen wir mal beginnen.«

Hollinger war sich der Aufmerksamkeit der Gäste sicher und begann mit seinem Vortrag: »Schon Napoleon richtete in unserer Region eine Berghochschule ein, die zur damaligen Zeit einzigartig für Frankreich war. Der Schulstandort ist seit Mitte des 19. Jahrhundert in Saarbrücken. Zu dieser Zeit war die Grube Geislautern schon lange in Betrieb und wurde sogar durch zwei zusätzliche Schächte erweitert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich dann aber ein Förderrückgang ab, der zur Schließung führte. Geislautern war die Muttergrube der Grube Velsen, der ihr gerade einen Besuch abstattet.«

Andächtig schaute die Gruppe von Neugierigen auf den großen Bergmann, der mit dunkler, sonorer Stimme diesen Vortrag hielt. Seine Kleidung bestand aus imprägniertem Baumwollstoff. Seinen Helm hielt er in der Hand. Seine Schuhe waren mit Stahlkappen versehen. Darüber trug er Schienbeinschützer aus weißem, festem Kunststoff. Sogar Handschuhe hatte er bei sich, die während seines Vortrags im Lampengürtel befestigt waren.

»Mit dem Abteufen des Rosselschachtes wurde bereits im Jahr 1899 begonnen und …«

»Was heißt Abteufen?«, rief einer der Zuhörer dazwischen.

»Das ist der Fachbegriff der Bergleute für das Ausheben eines neuen Schachtes, der senkrecht in die Tiefe gebaut wird.«

Der Fragende nickte und der Bergmann sprach weiter: »Diese neue Anlage wurde zunächst Grube Rosseln und im Jahr 1907 nach dem preußischen Oberberghauptmann Gustav von Velsen, der fünf Jahre lang Vorsitzender der Bergwerksinspektion Saarbrücken war, in Grube Velsen umbenannt. Den Schacht nannte man ab dem Zeitpunkt Gustavschacht. Zwischen 1907 und 1917 wurde die gesamte Tagesanlage großzügig ausgebaut und um einen weiteren Schacht – den Annaschacht – erweitert. Anna war Gustav von Velsens Frau. Später wurde er dann der Einfachheit halber Gustavschacht II genannt. Dieser ist heute noch in Betrieb und dient als Wetter- und Seilfahrtschacht für das Bergwerk Warndt. Das bedeutet, dass hier keine Kohle mehr gefördert wird, der Schacht wird lediglich für Personen- und Materialbeförderung und für die Bewetterung der Grube genutzt.

Und genau an dieser Stelle befinden wir uns jetzt. Wir stehen hier am Gustavschacht II.«

»Was heißt Bewetterung?«

»Bewetterung bedeutet in der Bergmannssprache die Zuführung frischer Luft in den gesamten Grubenbau. Eigentlich ist es nur ein anderer Begriff für Belüftung«, antwortete Hollinger. »Und dieser Schacht dient neben der Bewetterung auch der Personenbeförderung, auf die wir jetzt zu sprechen kommen. Das System, das diese Körbe oder Aufzugskabinen hoch und wieder hinunter befördert, nennt man Koepe-Förderung. Zu diesem System gehört der Förderturm, den wir alle sehen.« Die Menge schaute auf das mächtige Gerüst, an dessen höchster Stelle ein großes Rad zu sehen war.

»Der eigentliche Motor liegt hier.« Hollinger zeigte auf einen Sandsteinbau mit Rundbogenfenstern und Mauerblenden, an dessen Stirnseite zwei Freitreppen vorgelagert waren. Die Blicke der Besucher schwenkten auf das Gebäude, dem von außen seine Funktion nicht anzusehen war.

»Das ist das Fördermaschinenhaus. Während im linken Teil heute eine Werkstatt untergebracht ist, befindet sich im rechten Teil noch die ursprüngliche Zwillingsdampfmaschine der Dingler-Werke aus dem Jahre 1916. Sie ist heute noch in Betrieb und ist die älteste Dampffördermaschine im Saarland.« Die Besucher staunten.

»Und trotzdem funktioniert die Maschine noch wie am ersten Tag. Jetzt gehen wir in die Halle. Dort können wir das Wunderwerk bestaunen. Ich erkläre euch das Prinzip der Koepe-Förderung und wir schauen dabei zu, wie Siggi, unser Maschinist am Steuerstand, die alte Dampfmaschine in Betrieb nimmt und damit den Förderkorb aus fast elfhundert Metern Tiefe nach oben holt.«

»Darfst du das einfach so machen?«, fragte eine junge Frau, die vor Aufregung gerötete Wangen hatte.

»Für Besucher dürfen wir einmal im Monat eine Leerfahrt mit den Förderkörben machen. Das ist hier allgemein bekannt. Trotzdem geben wir unter Tage ein Warnsignal, damit kein Risiko für die aktiven Bergleute besteht, die aber um diese Zeit den Förderkorb niemals nutzen würden«, antwortete Hollinger.

Wie im Gänsemarsch folgte die Gruppe dem Bergmann in das Sandsteingebäude. Beim Anblick der riesigen, stählernen Zylinder, Scheiben und Walzen hielten sie die Luft an vor Staunen.

Rechts neben dem Eingang befand sich ein hölzerner Kasten, der in diesem stählernen Umfeld sofort ins Auge stach. Hinter einer Glasscheibe saß ein Mann vor einem Pult, das an das Cockpit eines Piloten einer großen Boeing erinnerte.

Mit der Hand gab Hollinger dem Mann ein Zeichen. Der nickte, schickte das vorgeschriebene Warnsignal in den Grubenbau, betätigte einige Hebel und die Dampffördermaschine setzte sich mit lautem Getöse in Bewegung. Langsam begannen sich die großen Räder zu drehen. Das Stahlseil wurde angezogen.

Hollinger winkte die Gruppe wieder nach draußen. Dort überquerten sie den freien Platz und steuerten auf den Förderturm zu.

»Der Turm wurde im Jahr 1917 fertiggestellt und ist zweiundvierzig Meter hoch«, rief er gegen Wind und Geräuschkulisse an.

Die mächtigen Räder hoch oben auf dem Schachtbock bewegten sich.

»Unter dem Gerüst ist die Schachthalle. Dort wird der Förderkorb auf der einen Seite in die Tiefe abgelassen, auf der anderen Seite gleichzeitig hinaufgezogen. Das ist das Koepe-Prinzip, also eine Endlosseilförderung. Das bedeutet, dass beide Körbe an einem Seil hängen und somit immer beide, wie bei einem Paternosteraufzug, in Bewegung sind. Die Stahlseile laufen über die Seilscheiben – die ihr dort, hoch oben auf dem Förderturm, sehen könnt. So entsteht keine Reibung, die das Material brüchig machen könnte. Ein Unterseil sorgt für das Gleichgewicht der beiden Körbe.«

Alle starrten auf den hohen Förderturm.

»Wir können jetzt die Schachthalle betreten und zusehen, wie der Korb aus der Tiefe nach oben gelangt«, sprach Hollinger weiter und steuerte die große Eisentür an.

Doch niemand folgte ihm. Er schaute sich um und sah in kreideweiße Gesichter.

»Was ist los?«, fragte er.

Alle zeigten mit entsetzten Blicken nach oben. Also schaute er ebenfalls in die angegebene Richtung und sah, was die Besucher in Schock versetzte.

Dort hing etwas am Stahlseil, das nach oben gezogen wurde. Erst als das Bündel über die Gerüststreben hinaus gelangte, war deutlich zu erkennen, was dort hochzogen wurde: ein Bergmann.

Alle schrien durcheinander.

Hollinger rannte zum Steuerstand im Maschinenhaus, damit der Maschinist am Pult die Fahrt stoppte, bevor der Mann an die Seilscheibe geriet.

Das Geschrei wurde immer lauter.

Hollinger rannte so schnell er konnte, brüllte schon in der Tür: »Halt! Maschine aus!«

Doch es war zu spät.

Als er wieder auf der Außentreppe ankam, sah er gerade noch, wie der Körper zwischen Stahlseil und Stahlscheibe eingequetscht wurde, während die großen Räder langsam zum Stillstand kamen.

Dort blieb der leblose Körper in einer Höhe von zweiundvierzig Metern hängen. Totenstille breitete sich aus.

Kapitel 1

Kriminalhauptkommissar Jürgen Schnur stand ratlos auf dem zugigen Gelände und hielt krampfhaft seinen Blick nach oben gerichtet. Als der Anruf der Staatsanwältin in seinem Büro eingegangen war, hieß es, dass auf der Grube Velsen ein tödlicher Unfall passiert sei. Warum Ann-Kathrin Reichert ihn für einen Unfall am Schacht eines Bergwerks auf den Plan rief, wusste Schnur nicht. Normalerweise wurde für solche Fälle die Bergpolizei gerufen. Die Kriminalpolizei hatte keinerlei Befugnisse, auf einem Grubengelände, geschweige denn in einer Grube zu ermitteln. Er fühlte sich auf dem großen, zugigen Gelände voller Menschen und Maschinen deplatziert.

Die Beamten der Schutzpolizei sorgten dafür, dass sich die Schaulustigen, deren Geschrei immer aufgeregter wurde, auf einem Parkplatz versammelten. Die Kollegen der Spurensicherung veranstalteten auf dem Förderturm in vierzig Metern Höhe eine Art Freeclimbing. Sie waren damit beschäftigt Schutzfolien auszubreiten, um die Reste des Toten auffangen zu können, sollten sie sich von dem Stahlseil lösen. Männer in Bergmannskluft diskutierten heftig miteinander, ohne das Spektakel um sie herum noch wahrzunehmen.

»Ich dachte, der Betrieb auf dieser Grube sei eingestellt«, sagte Kommissar Erik Tenes und stellte sich neben seinen Vorgesetzten.

Erschrocken drehte Schnur sich um und fragte zurück: »Was tust du denn hier? Ich dachte, du bist noch in Reha.«

»Irgendwann muss doch mal Schluss ein«, antwortete Erik und grinste verkrampft. »Ich war jetzt drei Monate krank. Die Decke fällt mir auf den Kopf. Und sollte das passieren, komme ich in die nächste Reha für Polizisten mit Dachschaden. Willst du das wirklich riskieren?«

Schnur schaute Erik prüfend an. Sein Gesicht war blass und eingefallen, sein Lachen wirkte gezwungen. »Nein! Dann ist es besser, du kehrst in unseren sicheren Schoß zurück«, sagte er grinsend.

Der letzte Einsatz hatte Erik Tenes fast das Leben gekostet. Lange hatte er im Krankenhaus gelegen, um sich von seinen Verletzungen zu erholen, bevor er zu einer Rehamaßnahme geschickt worden war. Auch wenn er vorgab, wieder der Alte zu sein, so sah sein Vorgesetzter doch, dass er noch weit davon entfernt war. Trotzdem wollte er seinen Freund und Kollegen zurück in seinem Team haben, weil er hoffte, dass die Arbeit eine gute Medizin für ihn war. »Du weißt ja, dass ich jede Hilfe gut gebrauchen kann«, fügte er an. »Anke ist in Mutter-Kind-Kur.«

»Nur noch bis Freitag«, erklärte Erik. »Dafür ist Kriminalrat Forseti in Urlaub. Der wird uns am meisten fehlen.«

»Von wegen fehlen! Wenn Forseti weg ist, fühle ich mich auch wie im Urlaub.«

»Also um auf meine Frage zurückzukommen«, erinnerte Erik, »warum ist dieses Bergwerk noch in Betrieb? Ich dachte, die Bergwerke wären alle stillgelegt.«

»Die Grube Warndt wird erst 2012 stillgelegt«, antwortete Schnur. »Die beiden Anlagen Ensdorf und Warndt fördern bis zur letzten Sekunde.«

»Warndt? Sind wir hier nicht in Velsen?« Erik staunte.

»Velsen und Warndt zählen als ein Bergwerk.«

»Wieder was dazugelernt.«

Schnur schaute sich weiter um. Er sah die Polizeibeamtin Andrea Westrich. Sie befand sich unter den Schaulustigen. Ausgerüstet mit Block und Stift befragte sie die Zeugen dieses spektakulären Ereignisses.

Doch plötzlich wurde er abgelenkt, als eine Frage an sein Ohr drang: »Warum wurde ich hierherbestellt?« Er drehte sich um und sah in das verfrorene Gesicht von Dr. Thomas Wolbert. Die dunklen Locken des Gerichtsmediziners sahen bei jeder Begegnung heller aus, weil sich immer mehr graue Strähnen bildeten. Unbewusst fuhr sich Schnur über seine eigenen Haare und überlegte, wann er das letzte graue Haar herausgezupft hatte.

»Weil es einen Unfall mit tödlichem Ausgang gegeben hat.«

»Werde ich jetzt zu jedem Todesfall gerufen?«

Schnur zuckte mit den Schultern. »Die Staatsanwältin hat angeordnet, dass wir uns den Fall genauer ansehen. Ich habe mich auch darüber gewundert.«

»Warum schaltet sie sich in diesen Fall überhaupt ein?«, bohrte Wolbert weiter.

»Keine Ahnung. Vielleicht, weil das Thema Bergbau von den Medien immer sensibler behandelt wird, je näher die Schließungen der Gruben heranrücken«, spekulierte Schnur.

Plötzlich erschütterte ein lautes Brummen den Platz. Alle verstummten schlagartig und schauten in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

Ein vier Meter hoher und zwölf Meter langer LKW der Feuerwehr bog von der Hauptstraße auf das Grubengelände ein. Es war ein großer Sattelschlepper, der einen sechsachsigen Anhänger mit Hubarbeitsbühne hinter sich herzog. Langsam rollte das mächtige Fahrzeug auf den Förderturm zu. Der Mann am Steuer wurde von den Kollegen der Schutzpolizei eingewiesen, um ohne anzustoßen die engen Kurven zu umfahren.

»Als hätten sie das einstudiert«, stellte Erik fest.

Vier Hydraulikstützen fuhren an den Seiten des LKWs heraus und hoben die komplette Einheit bestehend aus Steiger und Zugeinheit an. So glichen sie alle Unebenheiten des unbefestigten Bodens aus und stabilisierten die Gesamtkonstruktion der Maschine. Dann begann der Arm des Steigers sich langsam zu bewegen. Zunächst hob sich der untere Teil an, dann folgte der Oberarm. Zum Schluss wurde der dünnere Unterarm aufgerichtet und gesichert. Eine Bühne hing an dessen Ende. Als er in Position war, stoppte die Maschine.

Der Gerichtsmediziner folgte mit blassem Gesicht den Mitarbeitern des Labors, dem Polizeifotografen und einem Feuerwehrmann. Sie bekamen Helme gereicht, die sie aufsetzten, bevor sie in den Korb stiegen.

»Hoffentlich bin ich schwindelfrei«, murmelte er.

»Wie gut, dass ich da nicht raufmuss«, stellte Schnur erleichtert fest.

Doch der Korb setzte sich nicht in Bewegung.

Alle starrten auf Schnur, der seinen Blick stoisch auf der Arbeitsbühne ruhen ließ. Es dauerte eine Weile, bis Erik seinen Vorgesetzten in die Seite rammte und anmerkte: »Es hängt alles nur noch an dir.«

»Wie? Was?«, frage Schnur. Erst jetzt fielen ihm die wartenden Blicke auf.

»Ich vermute mal, dass du als zuständiger Chefermittler mit den Jungs nach oben fahren sollst«, antwortete Erik.

»Warum? Wir wissen doch gar nicht, ob es sich um Mord handelt.«

Schnur wurde mulmig zumute.

»Du bist hier, um das zu entscheiden.«

Schnur fuhr sich nervös über sein Kinn und zögerte.

»Hast wohl deinen Rasierapparat vergessen, Barbarossa«, spottete Erik. Er wusste, wie peinlich genau Schnur stets seine roten Bartstoppeln entfernte, kaum dass sie sichtbar werden konnten. Als könnte er damit diesen elenden Spitznamen vergessen machen.

»Noch einmal Barbarossa und ich schicke dich nach oben«, murrte Schnur.

Er zog den Schutzanzug und die Schutzhaube über, die ihm ein Mitarbeiter der Spurensicherung entgegenhielt, und stapfte zur Arbeitsbühne.

*

Das kratzende Dröhnen des Walzenschrämladers war laut bis in die Fußstrecke von Flöz 7 in über tausend Metern Tiefe zu hören. Während die beiden Schneidwalzen unaufhörlich rotierten, schrämte die vordere die Kohle im oberen Bereich ab und die hintere Walze die Kohle vom unteren Bereich des Flözes. Direkt im Anschluss wurden hydraulisch gesteuerte Stahlschilde in Bewegung gesetzt, um den Hohlraum, der durch den Abbau entstand, gegen den enormen Gebirgsdruck abzusichern. Die Männer bedienten die Maschinen mit großer Sicherheit. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte.

Plötzlich klingelte das Telefon.

Steiger Georg Remmark nahm den Hörer in die Hand, während die lauten Maschinen weiterliefen. Er lauschte eine Weile. Dann legte er auf, richtete seinen Blick auf die Männer und winkte mit seiner Grubenlampe vertikal auf und ab. Ein Zeichen dafür, dass sie ihre Arbeit anhalten sollten. Sofort stellten sie die Maschinen ab.

Die Stille, die plötzlich eintrat, war gespenstig. Nur der Luftzug der Bewetterung war zu hören. Unruhe machte sich unter den Männern breit. Während der Kohleförderung ohne ersichtlichen Grund abzubrechen, war ungewöhnlich. Endlich gab der Steiger mit seiner Kopflampe ein rotierendes Zeichen. Dies bedeutete, ihm in die Bandstrecke zu folgen.

»Was ist passiert?«

»Es hat über Tage einen Unfall gegeben«, antwortete Remmark. »Jemand ist mit dem Korb bei der Leerfahrt verunglückt. Deshalb müssen wir aufhören und am Warndtschacht ausfahren.«

»Wie ist das passiert? Wie kann man bei der Seilfahrt verunglücken?«, fragten die Kameraden ungläubig.

Remmark zögerte kurz, bevor er den genauen Bericht wiedergab, den er über das Telefon erhalten hatte. »Es heißt, es wäre einer von uns.«

»Das war niemals ein Unfall«, widersprach Michael Bonhoff, den alle unter Tage »Mimose« nannten. »Wie soll das möglich sein? Niemand kann am Stahlseil festhängen, bis er unter die Seilscheibe gerät.«

»Kein Grund durchzudrehen, Mimose«, rief Remmark unfreundlich und fügte noch lauter an: »Es war ein Unfall! Was soll es sonst gewesen sein?«

Nur große Augen aus kohleverschmierten Gesichtern starrten ihn verständnislos an.

»Was glaubt ihr, was passiert, wenn hier ein Mord vermutet wird? Dann wimmelt es nur so von Polizei, die Grube wird heute schon dichtgemacht. Wollt ihr das?«

Allgemeines Kopfschütteln.

»Ich kann nur hoffen, dass es keinen von uns erwischt hat«, fügte Remmark noch hinzu.

Alle schauten sich um, bis Paolo Tremante sagte: »Pitt fehlt.«

»Den habe ich heute noch gar nicht gesehen«, trug Hans Rach bei. »Ist er überhaupt mit uns runtergefahren?«

»Ja. Er war heute Morgen bei der Anwesenheitskontrolle dabei«, versicherte Remmark.

»Scheiße! Dann müssen wir nach ihm suchen«, bestimmte Tremante.

»Okay«, stimmte Remmark zu. »Schaut überall nach, wo er sein könnte. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, benahm er sich äußerst seltsam. Überhaupt! Seit bei ihm zu Hause eingebrochen wurde, verhält er sich, als würde ihm ständig jemand folgen.«

»Hat Verfolgungswahn, der Ärmste«, meinte Tremante.

»Vielleicht wollte er sich mal wieder früher rausschmuggeln«, sagte Bonhoff scheinheilig. Ihm war eingefallen, dass sich Dempler bei ihm abgemeldet und gleichzeitig gebeten hatte, das nicht zu melden. Bonhoff konnte nur hoffen, dass Dempler bald wieder wohlbehalten bei ihnen eintraf.

»Heute findet die Leerfahrt für die Besucher statt«, pflichtete ihm Tremante bei.

»Pitt weiß das – wie wir alle hier«, stellte Remmark klar.

»Es könnte sein, dass er mit diesem Korb nach oben wollte«, spekulierte Tremante weiter.

Remmark nickte und befahl: »Okay! Dann wissen wir, wo wir suchen müssen. Am Schacht rufe ich den Maschinisten an. Der kann uns sagen, ob jemand die Schachttür geöffnet hat.«

Die Männer zogen los.

»Und kein Wort über den Zustand unseres Kameraden!«, rief Remmark ihnen noch nach.

Bonhoff ging ein paar Meter hinter Remmark und Tremante her. An jedem Streckenabzweig riefen sie laut nach dem vermissten Kameraden. Die beiden bemerkten ihn nicht. Sie unterhielten sich lautstark, bis sie in Streit gerieten. Immer wieder schauten sie sich um, weshalb Bonhoff zusah, dass sich sein Abstand zu ihnen vergrößerte.

Doch leider konnte er dadurch nur noch Bruchstücke ihres Gesprächs verstehen. Worte wie »Streit« und »selber Schuld« vernahm er ganz deutlich.

Sofort fühlte er sich unwohl. Wovon sprachen die beiden?

Sie erreichten den Schacht, doch von Peter Dempler keine Spur.

Plötzlich ertönte das Signal für die Seilfahrt.

Wie aus dem Nichts tauchten von allen Seiten die Männer auf und schrien: »Was ist hier los?« – »Fährt der Korb wieder?« – »Wollen die da oben uns verarschen? Wir sollten doch im Warndt ausfahren, oder?«

Bonhoff gesellte sich unauffällig dazu und brüllte mit. Erleichtert stellte er fest, dass weder Remmark noch Tremante bemerkt hatten, dass er ihr Gespräch mitgehört hatte.

*

Langsam wurde die Arbeitsbühne angehoben. Schnur wechselte einen Blick mit dem Gerichtsmediziner, der sich ebenfalls verkrampft am Geländer festhielt, während sie immer höher und höher fuhren. Nebel stand in der Luft, sodass ihre Sicht lediglich über das Grubengelände reichte, auf dem alles in trostlosem Grau, Braun und Schwarz schimmerte.

Endlich gelangten sie an die Seilscheibe am oberen Ende des Förderturms, zu der Stelle, an der der Tote unter dem Stahlseil eingeklemmt war.

Zunächst konnte Schnur nichts einordnen. Dunkelrot, Dunkelgrün und Dunkelbraun vermischt mit Weiß und Gelb, verschlungen mit rostigem Metall und Stahl offenbarten sich vor seinen Augen. Bis er endlich verstand. Der Tote war regelrecht zerquetscht worden, sodass Haut, Knochen, Organe und Fettgewebe an beiden Seiten des Stahlseils auf der Seilscheibe herausquollen.

Dr. Wolbert gab einige Anweisungen, woraufhin die Mitarbeiter des Labors begannen, die Einzelteile behutsam in Säcke zu verstauen. Währenddessen suchten die beiden Kollegen der Spusi den Teil des Stahlseils ab, den sie von ihrem Standort aus erreichen konnten.

Schnur fühlte sich deplatziert. Schon das zweite Mal in dieser kurzen Zeit. Warum stand er in vierzig Metern Höhe – mit Höhenangst – bei einem Toten, der nicht mehr als solcher zu erkennen war? Mit Mühe überwand er sich und stellte Wolbert seine erste Frage: »Kannst du herausfinden, ob das Opfer noch gelebt hat, bevor es zwischen Stahlseil und Seilscheibe geraten ist?«

»Ich denke schon«, antwortete der Gerichtsmediziner. »Das Opfer ist nicht total zerstückelt. Es gibt unversehrte Teile, an denen ich verwertbare Spuren finden kann. Nur …«

»Nur was?«

»Ich finde den Kopf nicht.«

Gleichzeitig mit Wolbert richtete er seinen Blick nach unten. Dort sahen sie die Plane, die von anderen Mitarbeitern der Spurensicherung und dem Labor schon vor einer Weile aufgespannt worden war, um herabfallende Körperteile des Opfers aufzufangen.

»Kann es sein, dass der Kopf des Opfers heruntergefallen ist?«, rief Wolbert gegen den starken Wind an.

Die Männer in ihren Schutzanzügen nickten. Einer hob einen viereckigen Behälter hoch. Wolbert zeigte ihnen den erhobenen Daumen und sagte zu Schnur: »Damit besteht eine gute Chance, herauszufinden, was kurz vor dem Tod des Opfers passiert ist.«

»Wenigstens etwas.«

»Außerdem sind beide Hände unversehrt«, sprach Wolbert weiter und drehte sich zu den Resten um, die gerade sicher verwahrt wurden. »Eine steckt noch im Handschuh. Die andere ist frei. Die werden wir sofort sichern.« Er wollte Schnur die besagten Teile zeigen, doch der Kommissariatsleiter winkte hastig ab und sagte: »Das ist gut. Dann können wir vielleicht feststellen, ob es sich um einen Unfall oder um Mord handelt.«

»Unfall halte ich fast für unmöglich«, gab Wolbert zu bedenken. »Es sei denn, er hat sich in dem Seil verfangen und wurde sofort bewusstlos.«

»Kann man sich unter Tage einfach so in einem Seil verfangen, das einen Aufzug zieht?«

»Keine Ahnung«, gestand Wolbert. »Ich bin Gerichtsmediziner. Kein Bergmann.«

»Problem Nummer eins, das wir hier haben«, knurrte Schnur mürrisch, »denn ich bin Kriminalkommissar und auch kein Bergmann. Mal sehen, wie viele Probleme in diesem Fall noch auftauchen.«

Eine laute Sirene ertönte. Vor Schreck wäre Schnur fast aus dem Korb gefallen. Erst als er wieder aufsah, erkannte er den Grund für den Lärm. Das Stahlseil wurde weiter angezogen.

»Warum warten die nicht, bis wir wieder unten sind?«, brüllte er wütend.

»Weil wir alles von dem Toten mitnehmen müssen. Auch das, was unter dem Seil eingeklemmt ist.«

Fröstelnd schaute Schnur weg und beobachtete, wie die Kollegen in luftiger Höhe an dem Stahlseil nach Spuren suchten. Es sah an dieser Stelle beschädigt aus. Aber er konnte sich keine Gedanken darum machen, weil er spürte, wie ihm schwindelig wurde. Hastig richtete er seinen Blick nach unten. Sofort verging das Schwindelgefühl wieder. Aus dieser Höhe sahen die Häuser und die Menschen unter ihm klein aus. Deutlich konnte er die Anordnung der verschiedenen Gebäude erkennen, die alle zur Grube Velsen gehören – oder mal gehört haben. Ein freier Platz hob sich deutlich vom Rest der Umgebung ab. Dort stand früher eine riesige Halle für die Kohlenwäsche, die nach der teilweisen Stilllegung der Anlage abgerissen worden war. Von oben sah es wie eine klaffende Wunde aus. Er drehte sich von dem schwarzen, trostlos aussehenden Stück Land weg und schaute in die Richtung, in der sich die vielen Hallen aneinanderreihten. Hinter der leer stehenden Maschinenhalle befand sich inzwischen eine Müllverbrennungsanlage, deren Bau lange umstritten war. Jetzt nahm sie hier den größten Platz des ehemaligen Grubengeländes ein. Große Müllwagen fuhren ständig auf das Gelände und wieder herunter. Sein Blick wanderte weiter über das ehemalige Zechenhaus und die Waschkaue bis hin zu dem Berg, in dem inzwischen ein Besucherbergwerk untergebracht war. In diesen Berg waren Stollen und Schächte getrieben worden, um junge, angehende Bergleute auf die Arbeit unter Tage vorzubereiten. Schnur bedauerte, dass er dieses Bergwerk nicht schon längst besucht hatte. Ein bisschen Fachwissen über die Arbeit unter Tage würde seinen Ermittlungen in dem Fall bestimmt nicht schaden. Was sich über Tage befand, wusste er in etwa, weil er oft genug an der Grube Velsen vorbeigefahren war. Doch die Welt darunter war ihm fremd. Er sah die sogenannte Kaffeeküche, wo die Bergleute mit deftigem Essen verköstigt wurden. Dort wäre er jetzt lieber – anstatt in vierzig Metern Höhe.

Er beobachtete, wie mehrere Autos in hohem Tempo auf das Grubengelände einbogen.

Das sah nicht gut aus.

Hastig rief er: »Hat jemand ein Fernglas?«

Der Mann direkt neben ihm reichte ihm eins. Aus den Wagen stiegen Bergmänner. Aufgrund des gesperrten Gustavschachts hatten sie über den Warndtschacht über Tage fahren müssen. Eigentlich kein besonderer Aufwand, weil dort ihre Autos parkten. Doch die Neugier trieb sie zurück nach Velsen. Das hektische Treiben machte Schnur nervös.

»Ich muss sofort da runter«, rief er.

»Keine Panik«, versuchte Wolbert zu beruhigen, doch Schnur erklärte ihm: »Dort unten gibt es jetzt Ärger. Und ich bin dafür verantwortlich zu entscheiden, ob wir es hier mit einem Unfall oder einem Verbrechen zu tun haben.«

»Und was willst du ihnen sagen?«

»Das, was du mir jetzt sagst«, entgegnete Schnur. »Was ist das hier? Unfall, Selbstmord oder gar Mord?«

»Ich kann es wirklich erst sagen, wenn ich die Einzelteile seziert habe«, antwortete Wolbert ausweichend.

»Aber einen Eindruck hast du doch schon. Oder?«

Wolbert zögerte, während die Bühne langsam nach unten fuhr. Erst als sie auf dem sicheren Boden aufsetzten, sagte er: »Die Überreste des Toten sagen etwas darüber aus, in welcher Position er am Seil hing: mit herunterhängenden Armen.«

»Was sagt dir das?«

»Dass ihn irgendjemand an diesem Seil fixiert hat, als er bewegungsunfähig war.«

»Das schließt Selbstmord also aus?«

»Ja. Für mich deutet das, was wir bisher wissen, auf Mord hin.«

*

Je näher Schnur den Menschen kam, umso lauter hörte er das Geschrei. Es klang so, als wüssten die Bergleute schon alles: wer der Tote auf dem Förderturm war und wie er dorthin gelangen konnte. Erst als er sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten dazustellte, verstummten alle und starrten ihn an.

»Mein Name ist Jürgen Schnur, ich bin Kriminalhauptkommissar und leite die Ermittlungen in diesem Fall«, sagte er zur Begrüßung. »Wer glaubt, etwas Hilfreiches beitragen zu können, soll sich an mich wenden.«

»Das ist kein Kriminalfall, sondern ein Unfall«, erklärte ein großer kräftiger Mann, dessen Gesicht rot schimmerte. »Und außerdem ist dafür das Bergamt zuständig und nicht die Kriminalpolizei.«

»Und wer sind Sie?«

»Georg Remmark – genannt Schorsch.«

»Gut! Und welchen Beruf üben Sie aus?«

Verdutzt starrte Remmark auf Schnur, bevor er antwortete: »Ich bin Steiger, hier in der Grube. Schon seit zehn Jahren.«

»Schön! Als Steiger in der Grube können Sie wohl schwerlich ein Verbrechen von einem Unfall unterscheiden. Überlassen die die Polizeiarbeit also der Polizei.«

»Einverstanden. Dann gehen Sie auch dorthin, wo Sie gebraucht werden. Hier jedenfalls nicht.«

»Die Entscheidung liegt sicher nicht bei Ihnen. Also beantworten Sie einfach meine Fragen, umso schneller sind wir hier fertig«, beharrte Schnur, wobei er seinen Ärger über diesen überheblichen Mann unterdrückte. »Was bringt Sie darauf, dass hier ein Unfall vorliegt? Nach meinen Erkenntnissen ist es unmöglich, einfach so an einem Stahlseil festzuhängen, ohne dass fremde Hilfe dazu nötig wäre.«

»Pitt ging es den ganzen Morgen schon schlecht«, erklärte Remmark hastig.

»Wer ist Pitt?«

»Peter Dempler. Der Mann, der verunglückt ist.«

»Wie sind Sie so schnell auf ihn gekommen?«

»Er ist der Einzige, der fehlt. Und er war es auch, der mir heute Morgen schon Sorgen gemacht hat, weil es ihm nicht gut ging«, erklärte Remmark nun sachlicher. »Er hat sich alleine von der sechsten Sohle auf den Weg zum Schacht gemacht und wollte ausfahren. Mit dem Förderband über die fünfte Sohle zum Warndtschacht zu gelangen war zu der Zeit nicht möglich, weil die Bänder stillstanden. Zwischen den Schichten hält sich normalerweise kein Anschläger auf der sechsten Sohle am Schacht auf. Vielleicht hat er versucht, über die Fahrten hoch zur fünften Sohle zu gelangen …«

»Fahrten?«

»… Leiter soll das heißen«, murrte Remmark. »Jedenfalls würde ich ihm das zutrauen. Möglich, dass er abgestürzt ist und versucht hat, sich am Seil festzuhalten. Dabei hat er das Bewusstsein verloren.«

»Verlieren Bergleute häufiger das Bewusstsein während der Arbeit?«

»Nein! Was soll diese Frage?«

»Sie stellen hier die abenteuerliche Theorie vom bewusstlosen Bergmann auf«, erwiderte Schnur. »Das klingt sehr verwegen.«

»Pitt war in letzter Zeit häufiger krank«, fuhr Remmark fort. »Aber er wollte keinen gelben Schein machen, weil das mehr Arbeit für die Kameraden bedeutet.«

»Ich werde mich von den Fakten überzeugen lassen, die die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin herausfinden werden«, stellte Schnur klar. »Die Annahme, dass der Kollege krank war, reicht nicht, um dort oben zermalmt zwischen Stahlseil und Seilscheibe zu landen.«

Plötzlich entstand Unruhe in der Menschenmenge. Alle starrten in eine Richtung. Neugierig trat Schnur zur Seite, um sehen zu können, was diese Männer so aufbrachte.

Ihre roten Haare leuchteten unwirklich an diesem grauen Ort. Mit ihrem eleganten Gang in den hohen Schuhen, in denen sie sich trotz des unwegsamen Geländes mit einer bemerkenswerten Sicherheit bewegte, zog sie die Blicke der Bergmänner an. Mit einem Lächeln auf den Lippen, das zeigte, dass sie solche Blicke gewohnt war, stellte sie sich vor die vielen Menschen und sagte: »Mein Name ist Ann-Kathrin Reichert, ich bin die zuständige Staatsanwältin.«

»Warum kommt nicht das Bergamt?«, fragte Remmark.

»Weil die Kollegen vom Ministerium für Wirtschaft und Wissenschaft mich angerufen haben, um dem Bergamt Amtshilfe zu leisten«, stellte die Staatsanwältin klar.

Damit musste sich Remmark zufriedengeben.

»Gut, dass wir das geklärt haben. Ich bin hier, um mir zusammen mit Kriminalhauptkommissar Schnur ein Bild von dem Fall zu machen, damit wir entscheiden können, wie wir diesen Todesfall behandeln«, sprach sie weiter.

»Wie wollen Sie das beurteilen?«, meinte Remmark. »Sie wissen überhaupt nichts über die Arbeit unter Tage!«

»Sie glauben gar nicht, zu was ich fähig bin«, gab Ann-Kathrin eisig zurück.

Totenstille kehrte ein.

Schnur freute sich über diese Eröffnung.

»Dann wollen wir mal!« Mit diesen Worten wandte sich die Staatsanwältin an Schnur.

»Der Tote wurde schon abtransportiert«, sagte der Kriminalist.

»Das ging aber schnell! Wie soll ich jetzt sehen, was passiert ist?«

Ein Blick auf die schwere Hubarbeitsbühne verriet, dass das große Gerät bereits abfahrbereit war.

»Nach oben wirst du auch nicht mehr kommen«, stellte Schnur fest. Er zeigte auf den höchsten Punkt des Förderturms, von dem sie den Toten geborgen hatten.

»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als diesen Teil der Tatortbesichtigung zu überspringen.« Ann-Kathrin zuckte mit den Schultern. »Mit dem zuständigen Bergamt habe ich alle Einzelheiten geklärt. Sie haben mir zugesagt, dass ich mit dem verantwortlichen Steiger runterfahren kann, um mir den Tatort unter Tage anzusehen.«

»Der ist davon überzeugt, dass es ein Unfall ist«, brummte Schnur. »Und er wird auch versuchen, dir das einzureden.«

»Ich kann mir schon selbst eine Meinung bilden.« Ann-Kathrin grinste verschmitzt.

»Auf keinen Fall lasse ich dich allein da runter. Ich werde dich begleiten«, ereiferte sich Schnur.

»Mein Beschützer«, schnurrte Ann-Kathrin. »Ich hatte ohnehin vor, dich mitzunehmen. Denn zufällig ist es auch deine Aufgabe, dir diesen Ort anzuschauen.«

Schnur spürte, dass er rot wurde, und blickte verlegen zu Boden, in der Hoffnung, dass es niemand bemerkte. Doch Ann-Kathrin stieß ihr kehliges Lachen aus, womit es ihr wieder gelang, sämtliche Blicke auf sich zu ziehen.

»Ich bin der zuständige Steiger.« Mit diesen Worten trat Georg Remmark vor die Staatsanwältin.

Schnur erschrak. Hatten sie so laut geredet, dass sie jeder verstehen konnte? Das behagte ihm nicht. Hinzu kam die Aussicht auf eine Fahrt in tausend Meter Tiefe, die bei ihm sofort Beklemmung auslöste. Aber das wollte er auf keinen Fall zugeben.

»Okay! Wie kommen wir in den Hades?«, fragte er.

»Hades?«, hakte Remmark nach.

»In die Grube meinte ich«, korrigierte Schnur schnell. »Soweit ich weiß, ist dieser Schacht in Velsen für die Spurensicherung gesperrt. Und wie lange unsere Leute dort arbeiten müssen, kann ich jetzt noch nicht sagen. Das könnte länger dauern.«

»Hier wären wir ohnehin nicht runtergefahren«, stellte der Steiger brummig klar. »Sie müssen die richtige Ausrüstung bekommen. So dürfen Sie nicht in die Grube. Dafür müssen wir zum Warndtschacht fahren, weil dort alles ist, was wir brauchen. Von dort fahren wir runter.«

»Sind dort die Kleiderkörbe der Bergleute?«, fragte die Staatsanwältin.

»Ja«, brummte Remmark. »Dort ist die Waschkaue.«

An Schnur gerichtet sagte Ann-Kathrin: »Du solltest einen Beamten der Spurensicherung zum Warndt schicken, damit er den Kleiderkorb des Opfers sichert.«

»Jeder hat zwei Körbe«, berichtigte Remmark.

»Warum das denn?«, fragte Schnur.

»Na, einen für die dreckige Bergmannskluft und einen für die sauberen Sachen.«

Kapitel 2

Am Warndtschacht wurden Ann-Kathrin Reichert und Jürgen Schnur mit Steigeranzug, Grubenhelm, Schutzbrille, Lampe, Filterselbstretter und Staubmaske ausgerüstet, bevor sie den Förderkorb ansteuerten. Mit zwölf Metern pro Sekunde ging es hinab zur fünften Sohle. Am Füllort angekommen öffnete Remmark die Schachttüren und ließ dem Kommissar und der Staatsanwältin den Vortritt.

Keine stickige Enge oder finstere Höhle erwartete die beiden dort. Sie sahen hohe, halbrunde Gänge voller Licht, Lärm und Bewegung. Gebogene Stahlträger verbunden mit Stahlgitternetzen über ihren Köpfen stützten die Hohlräume ab. Durch die Gitter war grobes Gestein zu sehen, das aussah, als wollte es jeden Augenblick die Halterung sprengen und auf sie herabstürzen.

Sie stiegen eine stählerne Treppe hinunter und betraten eine Plattform, auf der sich einige Männer laut schreiend verständigten. Weiterer Lärm kam von Maschinen, die die Besucher nicht sehen konnten. Rohre mit unterschiedlichen Durchmessern verliefen quer am halbrunden Gewölbe über ihnen. Darauf standen schwarze, mit Wasser gefüllte Plastikwannen in der Größe von Wäschekörben, auf die Ann-Kathrin fragend wies. Remmark brummte etwas von Explosionsschutz, ohne sein Tempo zu verringern. In den Betonboden waren Schienen eingelassen, auf die sie achten mussten, um nicht zu stolpern. Einige Meter weiter wartete am Bahnhof ein Personenzug. Remmark wies die beiden an einzusteigen.

Schnur spürte Beklemmung. Der Waggon war eng und ohne Fenster. Er schaute auf Ann-Kathrin, doch die Staatsanwältin wirkte unbekümmert wie immer. Er gab sich einen Ruck und kletterte in die Kabine.

Nach einer knappen halben Stunde holpriger Fahrt durch stickige warme Luft und Wetterschleusen, vorbei an lärmenden Maschinen, hatten sie ihr Ziel erreicht. Schnurs Hände waren feucht. Zum Glück konnte das niemand sehen. Es wäre ihm peinlich zuzugeben, dass er mit Klaustrophobie zu kämpfen hatte.

Sie stiegen aus. Remmark ging voraus, zeigte auf einen Stollen zu seiner Linken und brummte: »Durch diesen Querschlag müssen wir gehen, dann kommen wir in den Streb, in dem meine Partie zurzeit arbeitet.«

Einige Minuten schritten sie schweigend durch den dunklen Querschlag. Die Lampen an ihren Helmen sorgten für ständig hin und her springende Lichtkegel. Und doch konnte Schnur in einiger Entfernung eine weitere Bahn erkennen. Dort waren die Waggons offen.

»Das ist die Kulibahn«, erklärte Remmark, als er Schnurs Blick bemerkte. »Damit fahren wird bis zur oberen Ecke des Strebes. Dort müssen Sie dann die Staubmasken anziehen, die ich Ihnen mitgegeben habe.«

Die Kulibahn war so schmal, dass sie für die Fahrt hintereinander sitzen mussten. Remmark übernahm den vorderen Platz und Schnur überließ der Staatsanwältin die Mitte. Der Gang, in den sie hineinfuhren, war noch enger und dunkler als der bisherige Weg. Die Temperaturen stiegen an, bis es stickig und heiß wurde. Irgendwann wurde es wieder heller und gleichzeitig auch lauter.

Die Kulibahn hielt an.

Remmark, Schnur und Ann-Kathrin setzten ihre Staubmasken auf und stiegen aus dem schmalen Zug. Remmark bediente einen Taster, der an der Wand des Gangs befestigt war, und löste ein Signal aus. Schlagartig wurde es stiller, aber wohl fühlte sich keiner. Schnur wollte sich in Ruhe umschauen, doch Remmark wies ihn an, ihm zu folgen. Sie blickten in einen schmalen Gang, der rechtwinklig schräg nach unten abzweigte. Zu ihrer Rechten befanden sich schwere Stahlketten knapp über dem Boden, auf denen Kohle und sonstiges Gestein lagerten. Eine große Maschine mit schraubenähnlichen Zahnrädern vorne und hinten nahm den meisten Platz in diesem engen Schlauch ein. Stählerne Stützen ragten in der Mitte der Strecke in die Höhe. Heiße Luft blies ihnen von unten entgegen. Nur langsam verbesserte sich die Sicht. Doch leider sah Schnur die über den Boden verlaufende Querstrebe zu spät. Er stolperte und landete schmerzhaft auf seinem Knie.

Schwarzgesichtige Bergmänner grinsten breit, einige lachten, während Schnur sich rasch wieder erhob und so tat, als spürte er nichts. Andere schauten staunend auf Ann-Kathrin, als sie merkten, dass eine Frau unter der Ausrüstung steckte. Nach fast 300 beschwerlichen Metern, in denen sie sich nur sehr langsam und vorsichtig bewegen konnten, erreichten sie den Walzenschrämlader, der an der unteren Ecke des Strebes stand.

»Was sollen wir hier?«, fragte Schnur mürrisch. »Ich will Anhaltspunkte dafür finden, ob wir es hier mit Unfall oder Mord zu tun haben, und nicht die Reise zum Mittelpunkt der Erde nachspielen!«

»Ich will Ihnen zeigen, wo Pitt gearbeitet hat«, antwortete Remmark. »Er war Schildfahrer.«

Schnur schaute den Steiger fragend an.

»Die Hydraulikschilde, über die Sie gerade gestolpert sind, stützen das Gebirge ab, das durch das Abfräsen der Kohle mit dem Walzenschrämlader frei wird.«

Plötzlich rief einer der Bergmänner: »Was ist los? Kann ich laufen lassen? Die Grubenwarte hat schon dreimal nachgefragt, warum die Förderung steht.«

Remmark gab ihm ein Zeichen und meinte zu Schnur: »Jetzt können Sie gleichen sehen, was ich meine.«

Dann hörte man durch einen Lautsprecher die Ansage: »Vorsicht am Panzer.« Und sofort begann wieder der ohrenbetäubende Lärm.

Sie sahen, wie sich die Zähne der Walze in die schwarze Wand hinein frästen. Die Kohle fiel direkt vor ihnen auf die schweren, stählernen Ketten des Panzerförderers am Fuß des Strebes. Dann bewegten sich die stählernen Mitnehmer, deren Bodenstreben für Schnur zur Stolperfalle geworden waren. Die Platten über ihnen, die die Decke vor Einbruch sicherten, senkten sich und rückten vor, bis sie fast an die Kohlewand anstießen, und fuhren wieder hoch.

In der Zwischenzeit rumpelte und krachte es brachial von der anderen Seite. Schnur und Ann-Kathrin drehten sich erschrocken um. Remmark erklärte schreiend, dass die Kohle gerade auf den nächsten Panzer in der Fußstrecke fiel und durch den Brecher gefahren wurde. Große, unregelmäßige Kohle- und Gesteinsbrocken fuhren auf der einen Seite in den Kasten von der Größe eines VW-Busses hinein und kamen am anderen Ende zerkleinert wieder heraus, wo der Transport ebenfalls auf einem schweren Kettenförderer fortgesetzt wurde.

Hinter den Schilden lag eine Aushöhlung, die in totaler Schwärze versank. Der Blick der Staatsanwältin blieb genau dort haften. Sie fühlte sich magisch angezogen – als sei sie immer noch das neugierige Mädchen, dem keine Gefahr zu groß war. Sie beugte sich vor, um durch den schmalen Spalt zwischen zwei Schilden hindurchzuschauen, als Remmark sie an ihrem langen Grubenmantel packte und zurückzog.

»Halt, Frau Staatsanwältin! Der Raum hinter den Schilden ist tabu! Die ungeschützte Stelle, die nach dem Abbau hinter dem Streb zurückbleibt, nennt man den Alten Mann.«

»Warum wird der nicht abgestützt?«

»Weil alle Versuche, diesen Raum zu sichern, zu teuer wären. Und da der Kohleabbau ohnehin schon zu teuer ist, wird dafür kein Geld investiert.«

»Klingt gefährlich.«

»Ist es auch! Wer dort verschüttet wird, kann nicht mehr geborgen werden.«

Mit schnellen Schritten entfernte sich Remmark, winkte den beiden Besuchern ihm zu folgen und steuerte die nächste Kulibahn an.

»Wo fahren wir jetzt hin?«, fragte Schnur, als sie sich wieder hintereinander in die engen Sitze quetschten.

»Zur Zwischensohle. Dort fährt uns die nächste Kulibahn zur sechsten Sohle.«

»Ist ihr Kollege auf der sechsten Sohle verunglückt?«

»Möglich.«

Schnur war es ganz recht, dass er diese Entfernungen nicht laufen musste. Doch kaum hatte er diesen Gedanken ausgedacht, hieß es: »Aussteigen! Den Rest müssen wir zu Fuß zurücklegen.«

Nach einem Kilometer erreichten sie den Gustavschacht.

»Hier muss es passiert sein«, sagte Remmark.

»Hier kann es nicht passiert sein«, widersprach Schnur.

»Wir haben uns auch schon die Köpfe darüber zerbrochen«, gab Remmark zu. »Er muss hier hinaufgestiegen sein. Vielleicht fiel er in Ohnmacht und stürzte in den Schacht.« Er zeigte auf eine metallene Treppe, die an der Außenseite des Schachtes bis zum Dach des Korbs führte.

»Auch die Theorie funktioniert nicht.« Schnur hustete und krächzte weiter: »Der Abstand zwischen dem Toten und dem Fahrstuhl …«

»… Korb …«

»… war dafür viel zu groß.«

»Wie groß?«, hakte Remmark nach.

»Nach den Messungen der Spusi beträgt der Abstand zweihundertfünfzig Meter.«

Remmark zog seinen Helm aus und kratzte sich am Kopf. Seine grauen Haare lagen wie ein lockiger Kranz um die kahle Stelle an seinem Hinterkopf. Er schwieg eine Weile. Nur die Geräusche einiger entfernter Maschinen und der starke Luftzug der Bewetterung waren zu hören. Dann meinte er: »Okay! Ich habe eine Idee, wie es passiert sein könnte.«

»Wie?«

»Pitt hatte mir schon gleich morgens im Zechensaal kurz vor der Anfahrt zu verstehen gegeben, dass er sich nicht wohlfühlt. Ich wollte ihn heimschicken, aber er meinte, es sei nicht so schlimm. Vermutlich wurde es dann doch zu einer ernsten Sache und er ist über Bandberg II zur fünften Sohle hochgefahren.«

»Vermutlich? Sie wissen also nicht, was Ihre Leute so während der Schicht treiben?«, hakte Schnur nach.

»Doch! Auf die Jungs ist Verlass«, beharrte Remmark. »Wenn Pitt wirklich zur fünften Sohle gefahren ist, ohne sich bei mir abzumelden, dann hat er einem seiner Kameraden Bescheid gesagt.«

»Aber der Kollege müsste diese Mitteilung doch an Sie weitergeben!« Schnur spürte, dass hier etwas nicht stimmte.

»Kann sein, dass derjenige es vergessen hat. Ich habe mich schon umgehört, aber bis jetzt hat mir keiner bestätigt, dass Pitt sich bei ihm abgemeldet hätte.«

»Okay.« Schnur winkte ab. »Und mit welchem Gerät ist Dempler auf die fünfte Sohle gekommen? Das Wort habe ich eben nicht richtig verstanden.«

»Bandberg II.«

»Was ist das?«

»Damit meine ich einen schräg nach oben führenden Stollen mit einem Förderband, das die Kohle von der sechsten Sohle zur fünften Sohle fährt, weil sie nur von dort weiter bis zum Warndtschacht transportiert werden kann.«

»Wie kommen wir dorthin?«

Remmark ging die Hälfte der Strecke zurück, die sie gerade gekommen waren. Dort sahen sie, wie die Kohle, die eben noch im Streb abgebaut worden war, auf Förderbändern durch einen engen Tunnel nach oben transportiert wurde.

»Hier beginnt der Bandberg II. Er führt zur fünften Sohle in Richtung Warndtschacht.«

»Aber der Mann kam aus dem Schacht in Velsen.«

»Entweder wir nehmen jetzt den Weg, den Pitt aller Wahrscheinlichkeit nach genommen hat, oder wir fahren wieder über Tage«, brummte Remmark genervt.

Der Anblick des düsteren Tunnels, dessen Beleuchtung mehr als spärlich ausfiel, löste Atemnot bei dem Kommissar aus. In dieser Enge lief das Band in zügiger Geschwindigkeit und war mit schwarzem Gestein beladen.

»Wie weit ist es bis zur fünften Sohle?«, fragte Schnur weiter.

»Etwa 1200 Meter. Ein Katzensprung.«

»Ich habe wohl keine andere Wahl.« Schnur rieb sich nervös über sein Kinn. »Schließlich müssen wir herausfinden, was hier unten passiert ist.«

Über eine Leiter gelangten sie zur Aufstiegsstelle des Bandes, sprangen auf und eine rasante Fahrt nach oben begann. Schnur spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Die Seiten schienen immer näher zu rücken. Er warf einen fragenden Blick auf die Staatsanwältin, doch Ann-Kathrin Kramer wirkte eher amüsiert als beängstigt.

»Alles ok?«, fragte Remmark.

»Und wie!«, gab die Staatsanwältin zurück.

*

Andrea Westrich unterdrückte ein Fluchen, als sie sich Paolo Tremantes Bemühungen ausgesetzt sah, sich bei ihr einzuschmeicheln. Seine schwarzen Haare lagen ordentlich gekämmt. Graumelierte Schläfen verliehen ihm etwas Seriöses. Den ersten Eindruck, den sie von ihm gewonnen hatte, musste sie jedoch schnell korrigieren. Seine Sprüche waren mehr als trivial, seine Selbstsicherheit wirkte lächerlich.

Sie schüttelte energisch ihren Kopf. »Ich bin Polizeibeamtin und bitte Sie, auf Distanz zu bleiben.«

»Schöne Frau«, sprach er mit einer Betonung, die Andrea auf die Palme brachte. »Warum haben Sie so einen unschönen Beruf?«

»Das geht Sie nichts an!« Andrea setzte einen Blick auf, der den kleinen, drahtigen Mann in seine Schranken wies.

»Amore!«, riefen einige Kameraden belustigt, die das Schauspiel beobachtet hatten. »Lässt du wieder deinen Charme spielen?«

Tremante winkte ab und lächelte die Kriminalistin ergeben an.

»Was macht Sie so sicher, dass der Tote Ihr Kollege Peter Dempler ist?«

»Guarda, Bella Donna«, begann Tremante, woraufhin Andrea ihn sofort unterbrach und sagte: »Auf Deutsch bitte!«

»Scusa, bella mia!« Er faltete beide Hände und verbeugte sich leicht vor ihr. »Er ist mit uns runtergefahren, doch dann hat ihn niemand mehr gesehen. Auch als wir nach der Schicht hochgefahren sind – heute im Warndt, Sie wissen schon warum – war er nicht dabei.«

»Kann es nicht sein, dass er mit einer anderen Gruppe von Männern gefahren ist?« Andrea schaute sich um und sah, dass sich der Platz mehr und mehr mit Bergleuten füllte, das Stimmengewirr wurde immer lauter und die Stimmung aggressiver. »Wie ich sehe, arbeiten hier sehr viele. Da kann sich doch einer schon mal in eine andere Gruppe verlaufen.«

»Niemals! Wir fahren mit unserer Partie zusammen runter und nach der Schicht wieder rauf.« Tremante schüttelte energisch den Kopf.

»Partie?«

»Gruppe, Signora. Das ist Bergmannssprache«, antwortete Tremante mit einem Lächeln. »Partie heißt Gruppe.«

»Also könnte Peter Dempler auch mit einer anderen Partie über Tage gefahren sein.«

»No Signora! Glauben Sie mir, es hat unseren Kameraden erwischt. Povero Ragazzo!«, erklärte Tremante mit weinerlicher Stimme. »Seine Lampe und seine Fahrmarke hat er noch nicht zurückgegeben. Fragen Sie doch in der Lampenstube nach!«

»Hatte Dempler mit jemandem Streit unter Tage?«

»No no! Sempre il bene. Er wollte immer, dass alle gut miteinander sind. Niemals würde er streiten.«

Andrea blickte ihn misstrauisch an. Sie überlegte, ob das eine Masche des Italieners war, oder ob er ernsthaft glaubte, was er sagte. Der sentimentale Ausdruck in seinem Gesicht war so plötzlich gekommen, dass sie Schauspielerei dahinter vermutete.

»Warum hat er sich dann von seiner eigenen Partie getrennt?«

»Se sapessimo! Wenn wir das wüssten …« Mit beiden Händen wies Tremante zu der Stelle am Förderturm, an der der Tote geborgen worden war, und fügte an: »Wir können ihn nicht mehr fragen.«

Andrea war sich sicher, dass dieser Mann ihr etwas vorspielte.

*

Am oberen Ende des Förderbandes sprangen sie nacheinander vom Band.

Jürgen Schnur stöhnte, als er sein Gleichgewicht wiederfand. »Warum tu ich mir das an?«

Ann-Kathrin lachte und meinte: »Sag nur, du hast als Kind keine solchen Sachen gemacht?«

»Welche Sachen?«

»Auf fahrende Züge aufspringen und wieder abspringen. Auf ein Fahrstuhldach springen, während die Kabine in die Tiefe geht.«

Schnur schaute die Staatsanwältin an, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Ihr Gesicht war kohleverschmiert. Einzelne Strähnen ihrer roten Haare kamen unter dem Helm zum Vorschein und schimmerten ebenfalls schwarz.

Sie schauten sich um und erkannten schnell, dass es auf der fünften Sohle genauso wie auf der Sechsten aussah, mit dem Unterschied, dass hier viel mehr Betriebsamkeit herrschte. Waggons, beladen mit Material, fuhren an ihnen vorbei, Bergleute eilten hin und her und riefen sich mit lauten Stimmen Informationen zu.

»Also, hier läuft das Förderband, das mit Kohle beladen ist. Über Bandberg II und die Hauptstrecke kommt sie dann in den Kohlenbunker 3 auf Sohle fünf, von dort auf das nächste Förderband, das bis zum Warndtschacht auf die vierte Sohle führt«, erklärte Remmark. »Genauso – also über die Bänder – können auch die Kameraden zum Warndt gelangen, was wir aber kaum noch machen, weil die Fahrt unter Tage viel länger dauert als über Tage. Es sei denn, die Seilfahrt in Velsen ist blockiert – so wie jetzt.«

»Aber wir wollen zum Gustavschacht«, stellte die Staatsanwältin klar. »Denn dort ist es passiert.«

»Wir fahren mit dem Zug, weil es ein gutes Stück von hier entfernt ist«, sagte Remmark.

Doch Schnur lehnte ab. Seine Klaustrophobie machte ihm ohnehin zu schaffen. Sein Herz klopfte in seiner Brust. Die Luft wurde knapp. Überall, wo er hinschaute, sah er nur finstere Gänge, die schwach ausgeleuchtet waren. Der Gedanke, wieder in die enge Kabine des Personenzuges zu steigen, machte alles nur noch schlimmer.

»Ich schlage vor, wir gehen zu Fuß«, sagte er und legte so viel Entschlossenheit in seine Stimme, wie es ihm in dieser Situation möglich war. »Sollte ein Kampf stattgefunden haben, könnte es sein, dass wir auf Spuren stoßen.«

»Wie Sie meinen«, brummte Remmark und marschierte los.

Sie entfernten sich immer weiter von der Abstiegsstelle, bis es still wurde. Nur ihre eigenen Schritte und ihr Schnaufen waren in dem düsteren Gang zu hören.

»Hier ist es verdammt leise«, stellte Schnur nach einer Weile fest. »Und finster.«

»Hier wird an den Stellen an Material und Strom gespart, an denen nicht mehr gearbeitet wird.«

»Heißt das, dass hier sämtliche Kohle bereits abgebaut ist?«, fragte Schnur.

Remmark nestelte an seiner Jackentasche, fischte etwas heraus, was er sich in den Mund schob, und antwortete: »Hier ist kein weiterer Abbau mehr geplant. Aus und vorbei! Kohle ist hier im Erdreich noch mehr als genug zu finden.«

Schnur spürte, dass er das Thema falsch angepackt hatte. Der Abbaustopp war bei den Bergleuten nicht auf große Freude gestoßen.

»Sie ahnen ja gar nicht, wie viele hunderttausend Tonnen Kohle hier unter der Erde noch schlummern. Dafür bräuchte man Tausende von Bergleuten und mehrere Hundert Jahre Zeit, um das alles abzubauen.«

»Das glaube ich Ihnen«, versuchte Schnur umzuschwenken. »Aber deshalb sind wir nicht hier.«

»Was glauben Sie, wie die Stimmung hier unten ist?«, brüllte Remmark weiter, als hätte Schnur nichts gesagt. »Abbaustopp! Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich lachen. Die Länder wollen keine Subventionen mehr für den Abbau von Kohle bezahlen und faseln uns etwas von CO²-Ausstoß und Klimawandel. Und warum?«

»Die faseln nicht nur etwas von CO²-Ausstoß, die Umweltbelastung ist eine Tatsache«, mischte sich nun die Staatsanwältin ein. »Das Verbrennen von Steinkohle setzt nun mal CO² frei, sodass es sich in der Atmosphäre anreichern kann und das Klima erwärmt. Viele Millionen Tonnen CO² wurden dadurch schon freigesetzt. Selbst das modernste Kohlekraftwerk stößt im Vergleich zu einem Gaskraftwerk doppelt so viel CO² aus. Klimaschutz ist mit Bergbau unmöglich.«

Remmarks Stimme ging in ein wütendes Brüllen über, als er widersprach: »Das ist doch alles Blödsinn! Wie gewohnt schießt unsere Regierung über das Ziel weit hinaus. Auf nationaler Ebene hat sie bis 2005 bereits eine 25-prozentige Minderung an CO²-Emissionen in Deutschland erreicht. Trotz Bergbau oder besser gesagt mit Bergbau. Glauben Sie mir, es ist ein großer Fehler, alle Gruben zu schließen und absaufen zu lassen. Was würde das ändern? Selbst eine Abschaltung aller deutschen Kohlekraftwerke wird den CO²-Anstieg nur minimal verlangsamen. Man glaubt es nicht, aber der weltweite Anstieg der Energieerzeugung durch Kohle lässt die gewonnene CO²-Reduzierung schnell wieder verschwinden.«

»Ihre Verteidigung des Kohleabbaus kann ich verstehen«, gab Ann-Kathrin zu. »Es ist jedoch eine unbestrittene Tatsache, dass trotz Ihrer Beteuerungen bisher keine Lösung für das Klimaproblem gefunden wurde. Der Versuch, in Kraftwerken das bei der Verbrennung fossiler Energien entstehende CO² aufzufangen und in geologischen Lagerstätten zu speichern, scheitert daran, dass diese Speicherung sehr viel Energie verbraucht, für die wiederum umso mehr Kohle verbrannt werden muss. Damit nimmt die Gesamtbelastung durch den Bergbau zu – und nicht ab. Es nützt alles nichts! Die Ursachen des Klimawandels müssen bekämpft werden.«

»Es gibt inzwischen schon neue Kraftwerkstechnologien, die eine deutlich reduzierte CO²-Belastung möglich machen. Man sollte uns einfach nur die Zeit geben, weiter an dieser Entwicklung zu arbeiten. Aber nein, die Regierung beschließt, diese Gruben zuzuschütten – also werden sie zugeschüttet. Dann ist es aus und vorbei mit dem Kohleabbau im Saarland.« Remmark schnaubte wie ein Pferd. »Was glauben Sie, was die uns mit dem endgültigen Abbaustopp antun? Woher bekommen wir in Zukunft unsere Energie? Es ist doch jetzt schon so, dass wir alles teuer von den Scheichs und Russen kaufen, damit wir heizen können. Dabei haben wir das beste Material für Wärme und Energie zu Hause im eigenen Boden.«

»Hinzu kommen die Bergsenkungen …«, setzte die Staatsanwältin erneut mit Gegenargumenten an. Aber auch dagegen schien der Steiger immun zu sein. Er sprach einfach weiter: »Andere Länder bauen doch auch Kohle ab. Und nicht nur ein bisschen, sondern gehen in die Vollen, damit wir denen hinterher die Kohle wieder teuer abkaufen. Hinzu kommt, dass ein Verzicht auf Steinkohle aus dem eigenen Land keinen Nutzen fürs Klima bringt. Die Importkohle kommt nämlich aus weniger umweltschonender Produktion, womit wir die Gesamtbelastung letztendlich doch nur weiter in die Höhe treiben. Ein erheblicher Gewinn für die Umwelt wäre, alle Kohlekraftwerke der Welt mit deutscher Spitzentechnik für Kraftwerke auszustatten. Aber nein! Wir begraben unsere Technik und unseren Fortschritt.« Remmark schob sich ein neues Stück Kautabak in den Mund. »Und was tun wir, wenn die Preise für Gas und Öl unbezahlbar geworden sind? Neue Gruben schaufeln?«

»Die Deutsche Kohle hat sich doch in den letzten Jahren nur noch durch Subventionen halten können. Sogar der Import von Kohle ist für uns billiger als der Abbau im eigenen Land«, argumentierte die Staatsanwältin nun, doch auch damit war Remmark nicht zu überzeugen. Er tippte sich an die Stirn. »Ach was! Irgendwann stehen wir da, können die explodierenden Kosten für die Energie aus dem Ausland nicht mehr tragen und erinnern uns, dass wir doch eigentlich einen eigenen Energieträger haben. Nur wo? Dann ist alles zugeschüttet und begraben worden. Es würde zwanzig Jahre dauern, um wieder an den Stand heranzukommen, den wir jetzt haben. Und wie schwer es wäre, dann wieder von vorne anzufangen! Diese Arbeit können nur Männer machen, die das richtig gelernt haben. Mit dem iPod oder Laptop in der Hand holt keiner die Kohle nach oben. Da sind schwere, körperliche Arbeit und Fachwissen gefragt. Da muss man vom bequemen Stuhl aufstehen, runter unter Tage fahren und ranklotzen.« Remmark schnappte nach Luft. »Alle unsere Fertigkeiten, unsere Technik, unsere Standorte – all das, was in die Entwicklung gesteckt wurde, um den heutigen Standard zu erreichen. Das alles zerstören wir innerhalb von wenigen Wochen, weil die Politiker das so entschieden haben. Mal sehen, wie lange es dauert, bis die merken, dass Atomkraftwerke viel gefährlicher sind.«

Remmark spuckte eine braune Masse direkt neben Ann-Kathrins Füßen auf den Boden.

Die Staatsanwältin beachtete diese Geste nicht. Sie wusste, dass die Bergmänner anstatt zu rauchen Kautabak zerkauten und wieder ausspuckten. Sie hatte außerdem keine Lust mehr, mit diesem Mann über politische Entscheidungen zu diskutieren, weil Remmark resistent gegen ihre Argumente war. Sie ging weiter und schaute sich um. Die Verschachtelungen unter Tage, die Löcher, in denen alles im schwarzen Nichts verschwand, all das erregte ihr Interesse weitaus mehr als ein querköpfiger Hitzkopf. Höhlen waren schon immer ihre Leidenschaft gewesen. Und wenn sie es sich genau anschaute, hatte eine Grube einen gewissen Höhlencharakter.

Plötzlich stieß sie auf eine Stahltür. Sie trat darauf zu und fragte: »Was ist hinter dieser Tür?«

»Eine alte Gezähekammer.«

»Was ist eine Gezähekammer?« Ann-Kathrin stutzte.

»Eine Gezähekammer ist ein Raum, in dem wir das Arbeitsmaterial lagern, das wir nicht ständig mit uns tragen können«, antwortete Remmark. »Diese Kammer ist der Anfang einer vorzeitig eingestellten Strecke. Dort sind wir nur einige Meter vorgestoßen, bis die Planungsabteilung die Arbeiten wegen des Abbaustopps beendet hat.«

»Also sowas wie eine Sackgasse?«

»Genau. Am Montag, wenn die Auszubildenden das erste Mal unter Tage arbeiten, lasse ich sie diesen Eingang zumauern.«

»Wofür werden die Männer überhaupt noch ausgebildet?«

»Sie können mit den Fertigkeiten, die sie hier lernen, in Gruben im Ruhrgebiet sofort zu arbeiten beginnen – solange die Gruben dort noch in Betrieb sind. Oder ins Ausland gehen.«

Ann-Kathrin setzte ihren Weg fort. Die beiden Männer folgten ihr, bis sie auf eine Heiligenfigur in einer Wandnische stießen. Darunter standen die Namen: Karl Fechter und Winfried Bode.

»Was ist den beiden passiert?«, fragte sie.

Remmark schnaubte und schob sich das nächste Stück Kautabak in den Mund. Hektisch bewegte er seine Kiefer, als er antwortete: »Dort ist vor Jahren ein Stollen eingebrochen.«

»Wann war das?«

»Vor elf Jahren – im Herbst 1999«, antwortete Remmark. »Haben Sie nichts von dem Unglück gehört?«

Ann-Kathrin überlegte eine Weile. »Gehört schon. Ich kann mich aber nicht mehr an Einzelheiten erinnern.«