Mörderisches Puzzle - Elke Schwab - E-Book

Mörderisches Puzzle E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

Die Kriminalkommissare Lukas Baccus und Theo Borg bekommen es mit einem äußerst schwierigen Fall zu tun, der ihnen im wahrsten Sinne des Wortes nahe geht. Als Postpakete mit Körperteilen eines noch lebenden Opfers auftauchen beginnt ein Nerven strapazierender Wettlauf gegen die Zeit. "Elke Schwab ist auf dem besten Weg, ihren Ruf als "saarländische Jacqueline Berndorf" zu festigen." (Saarbrücker Zeitung) Saarbrücken heute. Erwin Frisch, Chefredakteur der führenden Saarländischen Tageszeitung, verschwindet spurlos. Kurze Zeit später treffen Postpakete bei den Ermittlern Lukas Baccus und Theo Borg ein, obwohl sie nichts bestellt haben. Diese Pakete beinhalten abgetrennte Körperteile eines Mannes, die der Pathologe dem Vermissten zuordnen kann. Weiterhin stellt er zum Entsetzen aller fest, dass das Opfer noch leben muss. Damit beginnt für Baccus und Borg ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Polizisten hoffen, das Opfer noch lebend zu finden. Doch schon bald verschwindet ein zweiter Mitarbeiter der "Neuen Zeit". Und abermals trifft ein menschlicher Körperteil bei der Kriminalpolizei ein. Die Untersuchungen ergeben, dass es sich um mehrere Täter handeln muss. Damit entwickelt sich der Fall zu einem echten Leichenpuzzle. Von mittlerweile insgesamt neunzehn Krimis der Saarländerin Elke Schwab ist "Mörderisches Puzzle" der zweite Teil der bislang sechsbändigen Krimireihe mit Lukas Baccus und Theo Borg (Prequel "Gewagter Einsatz", "Mörderisches Puzzle", "Eisige Rache", "Blutige Mondscheinsonate", "Tödliche Besessenheit", "Tickende Zeitbombe"). Die beiden übermütigen Kriminalkommissare klären mit lockeren Sprüchen spektakuläre Fälle auf.

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Im Nordosten von Frankreich in einem alten Bauernhaus entstehen die spannenden Krimis der gebürtigen Saarländerin Elke Schwab. In der Nähe zur saarländischen Grenze schreibt und lebt sie zusammen mit Lebensgefährte samt Pferden, Esel und Katze. Schwab wurde 1964 in Saarbrücken geboren und ist im Saarland aufgewachsen. Nach dem Gymnasium in Saarlouis arbeitete sie über zwanzig Jahre im Saarländischen Sozialministerium, Abteilung Altenpolitik. Schon als Kind schrieb sie über Abenteuer, als Jugendliche natürlich über Romanzen. Später entschied sie sich für Kriminalromane. Ihre Krimis sind Polizeiromane in bester „Whodunit“-Tradition.

Bisher erschienen:

 

•  Blutige Mondscheinsonate – Solibro Verlag, 2014

•  Eisige Rache – Solibro Verlag, 2013

•  Mörderisches Puzzle – Solibro Verlag, 2011

•  Galgentod auf dem Teufelsberg – Conte Verlag, 2011

•  Das Skelett vom Bliesgau – Conte Verlag, 2010

•  Hetzjagd am Grünen See – Conte Verlag, 2009

•  Kullmanns letzter Fall – Conte Verlag, 2008

•  Tod am Litermont – Conte Verlag, 2008

•  Angstfalle – Gmeiner Verlag, 2006

•  Grosseinsatz – Gmeiner Verlag, 2005

Elke Schwab

Mörderisches

Puzzle

Ein Baccus-Borg-Krimi

SOLIBRO Verlag Münster

1. Sprado, Hans-Hermann:

Risse im Ruhm.

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2005

ISBN 978-3-932927-26-5

eISBN 978-3-932927-67-6 (E-Book)

2. Sprado, Hans-Hermann:

Tod auf der Fashion Week

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2007

ISBN 978-3-932927-39-3

eISBN 978-3-932927-68-3 (E-Book)

3. Elke Schwab:

Mörderisches Puzzle

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2011

ISBN 978-3-932927-37-9

eISBN 978-3-932927-64-5 (E-Book)

4. Elke Schwab:

Eisige Rache

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2013

ISBN 978-3-932927-54-6 (TB)

eISBN 978-3-932927-72-0 (E-Book)

5. Elke Schwab:

Blutige Mondscheinsonate

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2014

ISBN 978-3-932927-85-0 (TB)

eISBN 978-3-932927-86-7 (E-Book)

eISBN 978-3-932927-64-5 (E-Book)

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2011

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Nils A. Werner, ousiadesign.de

Coverfoto: una.knipsolina / photocase.com

Foto des Autors: privat

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Alles war vorbereitet.

Der Raum eignete sich perfekt für das, was mit dem Opfer geschehen sollte. Eine Freude würde es sein – eine langandauernde, morbide Freude. Lust würde es bereiten. Und Schmerz.

Stimmte es, dass manche Menschen erst bei Schmerz Lust empfanden?

Diese Frage würde bald beantwortet sein.

Denn das Opfer würde nackt sein. Das war die Grundvoraussetzung. Nur so würde sich unverhüllt zeigen, ob Schmerzen wirklich eine libidinöse Wirkung haben konnten.

Ein Lachen erfüllte den Raum, den nur eine Bahre und ein Tisch voller medizinischer Instrumente zierten.

Der Tisch stand dicht neben der Bahre. Das war wichtig, es ersparte weite Wege.

Wenn er erst mal dort lag, musste es schnell gehen. Dafür musste alles griffbereit sein.

Vorfreude machte sich breit.

Die Wände verrieten nichts darüber, in welch delikatem Ambiente man sich befand. Auch das war ein geschickter Schachzug. So konnte er sich nicht ausmalen, wo er war. Und auch nicht, seit wann er dort war. Tageslicht kam hier niemals rein. Und Geräusche drangen weder herein noch von innen nach außen.

Besser ging es nicht.

Lange hatten die Vorbereitungen gedauert. Obwohl alles kahl und unpersönlich aussah, steckte doch viel Arbeit und Liebe zum Detail in seinem Arrangement. Leider konnte das niemand beurteilen.

Nur das Opfer würde es bald sehen.

Seine Liebe zum Detail würde es am eigenen Körper zu spüren bekommen.

1

»Schreib darüber eine Rezension. Die soll morgen früh der Aufhänger im Kulturteil sein!« Mit dieser Anweisung legte Erwin Frisch, Chefredakteur der Neuen Zeit, seiner Mitarbeiterin Sandra Gossert einen Kriminalroman auf den Tisch. Seine kleinen, dunklen Augen sprühten dabei vor Ironie und sein Mund verzog sich zu einem bösen Lächeln, während er sich mit einer Hand über sein korrekt frisiertes Haar fuhr. Sandras Anblick ließ ihn wieder einmal daran denken, wie wichtig ein perfektes Auftreten war. Man musste immer auf sich achten, egal wie geringfügig seine Stellung auch sein mochte.

Sandras Äußeres wurde zunehmend zu einer Zumutung für ihn – weite, labberige Klamotten, ungepflegte, blau gefärbte Haare, und dazu war sie ständig noch ungeschminkt, was sie sich bei ihrem Gesicht wirklich nicht erlauben konnte.

Nun näherte er sich Susanne, die wie immer perfekt gestylt war. Und die ihn immer verliebt anlächelte, wenn er ihr eine Aufgabe zuschob. Egal, welche. »Ich habe etwas über unseren Freund Hans Pont von der Deutschen Allgemeinen herausgefunden.«

Erstaunte Blicke von allen Schreibtischen quittierten diese Bemerkung, obwohl alle Anwesenden wussten, dass Frisch den Chef des Konkurrenzblattes hasste und keine Gelegenheit ausließ, ihn zu attackieren. Aber dieses Lächeln war verdächtig, er schien wirklich einen Trumpf in der Hand zu halten.

»Wie wir wissen, ist seine Zeitung eine Tochtergesellschaft der Holding Global-Gruppe. Irgendwie ist er an Insiderinformationen gekommen, die er dafür genutzt hat, seine Aktien im richtigen Augenblick mit großem Gewinn zu verkaufen. Das wird ihm jetzt endlich das Genick brechen.«

»Okay! Ich mache daraus einen Aufreißer«, flötete die attraktive Journalistin.

»Bist du dir eigentlich für gar nichts zu schade«, giftete Sandra ihre Kollegin an. »Merkst du denn nicht, dass unser lieber Chef der Deutschen Allgemeinen einfach nur schaden will, ohne wirkliche Beweise? Das sind doch nur bösartige Unterstellungen.«

»Liebe Sandra! Rede bitte nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst«, wies Erwin seine aufmüpfige Mitarbeiterin lautstark zurecht. »Dir habe ich ein Buch gegeben, das du übers Wochenende lesen und rezensieren sollst. Vielleicht kriegst Du wenigstens das hin.«

Sandra drehte das Buch in ihren Händen, entzifferte den ihr unbekannten Namen eines mexikanischen Autors und funkelte ihren Chef böse an.

»Ich habe dir doch eine Rezension über den neuen Krimi von Miranda Wellenstein vorgelegt – ›Mord um Mitternacht‹. Das ist wieder einmal hervorragend geschrieben, superspannend und spielt außerdem noch bei uns im Saarland. Warum willst du diese Rezension nicht bringen?«

»Wer bestimmt eigentlich, was in meiner Zeitung gedruckt wird und was nicht?« Erwin baute sich drohend vor seiner Redakteurin auf. Hatte sie schon wieder vergessen, dass er nicht nur der Chefredakteur der Neuen Zeit war, sondern zugleich auch deren Besitzer? Was bildete sich diese Schnepfe mit ihren lächerlich blau gefärbten Haaren eigentlich ein?

»Ich sehe nicht ein, warum wir ständig völlig unbekannten Autoren aus dem Ausland eine Chance geben und unsere einheimischen Talente wie die Wellenstein ignorieren«, widersprach Sandra mit einem vor Aufregung glühend roten Gesicht.

Der Chef konnte ein überhebliches Grinsen nicht unterdrücken. Er wusste, am Ende gaben immer alle klein bei, auch Sandra. Die Kollegen ließen ihre Blicke neugierig zwischen ihm und Sandra hin und her schweifen, sie fragten sich, wie lange es noch dauern würde, ehe der Chef auch dieses Duell gewann.

Susanne sog deutlich hörbar die Luft ein. Jetzt kam der Moment der Wahrheit. Susanne war sein Darling in der Redaktion, auf sie konnte er sich immer verlassen, nicht nur im Job. Und sie verzieh ihm all seine Fehler. Deshalb passierte es öfter, als ihm selbst recht war, dass er sie versetzte. Ihre letzte Verabredung hatte er wegen einer jungen, sexy Bewerberin total vergessen. Aber diese Brigitte Felten, die sich auf eine Stelle im Feuilleton beworben hatte, war einfach zu süß. Und zu heiß. Viel heißer, als er das je erwartet hatte. Insgeheim hatte Erwin längst beschlossen, Brigitte einzustellen und diese blauhaarige Kampflesbe zu entlassen.

»Ist dir eigentlich schon mal der Gedanke gekommen, dass Erwin selbst am Besten weiß, wie man eine Zeitung führt?«, fragte Susanne ihre Kollegin in herablassendem Tonfall. »Die Neue Zeit gibt es schließlich nicht erst seit heute.«

Frisch horchte amüsiert auf und wartete gespannt, wie dieser Disput weitergehen würde.

»Deine Meinung ist hier absolut nicht gefragt«, fauchte Sandra zurück. »Du machst für den Chef die Beine breit. Wer würde da noch Objektivität von dir erwarten?«

»Jetzt gehst du zu weit«, kreischte Susanne.

Frisch hätte diese Szene gerne noch weiter verfolgt, aber er wusste, dass er sich einschalten musste. Einen Zickenkrieg durfte er in seiner Zeitung nicht durchgehen lassen, allein schon wegen der anderen Mitarbeiter.

»Sandra, du schreibst die Rezension über das Buch, das ich dir gegeben habe. Und wenn dir die Bücher der Wellenstein so gut gefallen, kannst du ihnen ja bei Amazon fünf Sterne geben. Aber in meiner Zeitung ist dafür kein Platz.«

»Ich habe keine Lust, über irgendeinen Autor zu schreiben, dessen Geschichten hier keinen interessieren, während eine Autorin, die spannende Geschichten aus unserem Umfeld bringt, von dir ignoriert wird. Aus welchen Gründen auch immer«, gab Sandra ihrem Chef weiterhin Kontra.

»In Ordnung! Ich habe verstanden.« Er wandte sich zu Susanne, die ihn mit großen Augen anschaute. »Würdest du bitte die Rezension schreiben?«

Susanne nickte und schnappte sich das Buch von Sandras Schreibtisch.

Dann wandte sich Frisch mit einem bösen Blick wieder in Richtung Sandra und sagte: »Du kannst du dir am Montag deine Papiere abholen.« Ein erschrockenes Raunen ging durch den Raum. »Ich werde am Wochenende deine Kündigung schreiben.«

Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz seiner neuen italienischen Designerschuhe um und ging zügig auf den Ausgang zu. Durch die hohen Glasscheiben konnte er über der Saarbrücker Innenstadt dicke, schwarze Wolken erkennen, die sich am Himmel auftürmten. Auch die Luft fühlte sich auf einmal drückend und extrem schwül an. Auf seiner Stirn bildeten sich bereits erste Schweißtropfen.

Wie ärgerlich. Er hatte gleich eine Verabredung mit dieser süßen Bewerberin. Und dieses Date würde er bestimmt nicht platzen lassen. Er bekam ja schon einen Höllenständer, wenn er nur an diese Frau dachte. Nein, in einem völlig verschwitzten Outfit wollte und würde er sie nicht treffen, immerhin erwartete er noch einiges von diesem Abend.

Er öffnete die schwere Eingangstür. Ein warmer, heftiger Windstoß blies in die Büroräume der Redaktion.

Einen kurzen Augenblick beobachtete er Passanten, die sich ausnahmslos im Eilschritt bewegten, als versuchten sie, noch vor dem Gewitter ins Trockene zu gelangen. Frisch trat dennoch hinaus. Ein bisschen Regen würde ihm doch nicht einen lustvollen Abend verderben.

Doch kaum war der erste Regentropfen in seinem Gesicht gelandet, stürmte er zurück in das Redaktionsgebäude, schüttelte sich und fragte in die Runde: »Hat jemand von euch einen Regenschirm?«

Genau in diesem Augenblick kam Manfred Sost aus den hinteren Räumen, in denen sich das Archiv der Zeitung befand, ins Redaktionsbüro.

»Manfred, altes Haus«, rief Frisch erfreut. »Wie ich dich kenne, hast du garantiert einen Schirm dabei. Alte Männer gehen doch nie ohne Schutzschild vor die Tür, oder?«

»Natürlich nicht, Jungspund«, gab Manfred zurück. Er war der Einzige hier, der so mit dem Chef sprechen konnte, weil er schon bei der Neuen Zeit gearbeitet hatte, als Erwin tatsächlich noch ein Kind war. »Ich habe meinen Schirm nur für junge Leute dabei, die noch nicht weit genug sind, um selbst an so was zu denken.«

»Wie gut, dass ich dich habe«, beteuerte Frisch. »Wo ist das Teil?

Er konnte seine Ungeduld nicht mehr verhehlen. Die Felten würde bestimmt nicht ewig auf ihn warten, dafür war sie viel zu attraktiv. Sie hatte ihn in ihre Wohnung eingeladen. Und er malte sich in Gedanken schon aus, wie dieser Abend in ihrem Schlafzimmer enden würde. Allein die Erinnerung an ihren bisher einzigen Sex unter freiem Himmel ließ ihn ahnen, dass es für diese wilde Verführerin in ihren eigenen vier Wänden keine Tabus geben würde. Frisch musste aufpassen, dass niemand sah, woran er dachte, während er auf den Archivar wartete.

Endlich tauchte Sost wieder auf und hielt ihm einen Schirm entgegen. Wie erwartet, war es wirklich ein Altherrenschirm – schwer, plump, mit einem viel zu dicken Griff aus massivem Holz. Aber das war Frisch in diesem Augenblick egal. Hauptsache, er kam rechtzeitig zu Brigitte Felten. Und in ihr Bett!

*

Das Opfer verließ seinen geschützten Bereich.

Wie einfach der Typ doch zu durchschauen war. Seine Absichten waren ihm selbst auf die große Entfernung, die zwischen ihnen lag, deutlich anzusehen. Wie geil er grinste. Peinlich! Und wie unvorsichtig.

Beschwingt marschierte er los. Mit einem extrem hässlichen Schirm in der Hand. Das passte eigentlich nicht. Der Typ achtete sehr auf sein Äußeres. Das hätte normalerweise einen Schirm mit eingeschlossen.

Wie kam es, dass er gerade jetzt so ein Monstrum mit sich rumtrug? Ein Gerät, das sich sogar als Waffe eignete? Ein gezielter Schlag mit dem schweren Griff auf den Kopf und der Getroffene würde sich für immer von dieser Welt verabschieden.

Aber so einfach sollte es für IHN nicht werden.

Sein Leben würde nicht jetzt und hier enden.

Im Gegenteil! Für ihn sollte erst einmal etwas beginnen, was er sich in seinen kühnsten Albträumen nicht vorzustellen gewagt hätte.

Eine Odyssee des Grauens!

Was tat er jetzt? Er sprang zur Seite. Hatte er etwas bemerkt?

Nein! Er wich den Pfützen aus. Vermutlich, um seine teuren Schuhe zu schützen. Er konnte ja nicht wissen, dass er die bald nicht mehr brauchen würde.

Seine Schritte wurden immer lauter. Er kam näher. Immer näher Ahnungslos.

Ein hysterisches Kichern zischte durch die leere Garage.

*

Ein Donner grollte, der Erwin Frisch erschrocken zusammenzucken ließ. Dieses verdammte Gewitter ... Hätte es nicht warten können, bis er mit der scharfen Brigitte im warmen, kuscheligen Bett lag? In trauter Zweisamkeit, nackt aneinander reibend und dabei Sekt schlürfend? So konnte ein Gewitter etwas wahrhaft Wunderbares sein. Aber er befand sich noch auf dem Weg zu seinem Liebesabenteuer. Klitschnass würde er nicht unbedingt die beste Figur abgeben. Und mit panischer Angst in den Augen, wann der nächste Blitz die ganze Stadt erleuchten würde – wie genau in diesem Augenblick –, wollte er sich auch nicht zu ihr legen.

Er blieb kurz stehen und atmete tief durch. Er musste sich beruhigen, sich ausmalen, was ihn gleich erwartete – die Gedanken an ein wildes Schäferstündchen sollten ihn doch von diesem Unwetter ablenken.

Er schaute sich um. In was für einer finsteren Ecke wohnte diese Brigitte bloß? Hier war er noch nie gewesen. Hierhin hatte er höchstens mal einen seiner Mitarbeiter geschickt, um einen Bericht über die Unterprivilegierten der Stadt zu schreiben. Aber zu denen gehörte doch diese heiße junge Frau nicht!

Eine Windböe traf ihn so unvorbereitet, dass er sich den starken, schweren Holzstiel seines Schirms an den Kopf schlug. Das fehlte noch – eine Beule auf der Stirn. Er rieb sich darüber und merkte, wie die Stelle rasch anschwoll. Und mit ihr seine schlechte Laune.

All seine Bemühungen, dem Gewitter zu trotzen, gerieten ins Wanken. Erneut erhellte ein greller Blitz die hässliche Wohngegend, kurz darauf folgte der nächste Donner und mit ihm eine Finsternis, die Frisch daran zweifeln ließ, dass es mitten am Tag war – und dazu noch im Sommer!

Plötzlich hörte er ein Kichern. Eine Gänsehaut kroch ihm über den Nacken. Er lauschte, konnte aber außer dem platschenden Regen nichts vernehmen.

»Wer ist da?«, rief er.

Keine Antwort.

Seine Knie fühlten sich mit einem Mal butterweich an. Er schaute sich um. Sah er dort die Silhouette eines Mannes? Oder was schimmerte da in der Dunkelheit so bedrohlich? Vorsichtig näherte er sich der Stelle und fand sich plötzlich vor einer geöffneten Garageneinfahrt. Irritiert ließ er seinen Blick durch die Straße wandern. Wohin er auch blickte, überall glaubte er, verdächtige Schatten zu erkennen. War hier nicht erst vor Kurzem ein Drogendealer erstochen aufgefunden worden? Hatte er nicht selbst einen Bericht über diesen Vorfall geschrieben? Worauf hatte er sich nur eingelassen?

Für ein paar Sekunden überlegte er, ob Brigitte Felten wirklich die Frau war, die sie vorgab zu sein? Doch die Erinnerung an die attraktive und intelligente Frau ließ alle Zweifel in ihm schnell wieder verfliegen. Sie war jung. Sie war sexy. Sie wollte einen Job bei seiner Zeitung. Und sie wartete in ihrer Wohnung auf ihn. Und das sicher nicht nur zum Kaffeetrinken!

Mit beherzten Schritten setzte Frisch seinen Weg fort, steuerte sein Ziel an. Er passierte die nächste offenstehende Garage. Ins Innere konnte er nicht hineinsehen, weil dort alles in Schwärze versank.

Plötzlich spürte er einen Ruck. Sein Schirm wurde ihm aus der Hand gerissen. Er schaute sich um und sah nur noch, wie der schwere, massive Holzstiel auf seinen Kopf niedersauste.

*

Irgendetwas störte ihn. Ein Geräusch. Er wollte es nicht hören, hielt sich die Ohren zu. Aber es drang trotzdem durch bis zu seinem Gehörgang. Widerwillig öffnete Lukas Baccus die Augen.

»Huucch!« Der Schrei entfuhr ihm ohne sein Zutun.

Neben ihm – nur wenige Meter entfernt – lag Theo Borg und schnarchte. Seit fast zehn Jahren arbeiteten sie zusammen bei der Kriminalpolizeiinspektion in Saarbrücken. Darüber hinaus waren sie sogar Freunde geworden. Ihre Arbeit stellte sie oft auf eine harte Probe, weil sich hinter den grausamen Mordfällen, die sie aufklären mussten, private Schicksale und Tragödien verbargen, mit denen sie fertig werden mussten. Da war es für sie beide wichtig, Abstand zu gewinnen, weshalb sie immer häufiger ihre Freizeit gemeinsam verbrachten. Aber rechtfertigte das auch eine solche Vertrautheit?

Theo erschrak, machte eine hektische Bewegung und rutschte von dem schmalen Sofa auf den Boden. »Scheiße! Warum schreist du so?«

»Was tust du hier? Hast du etwa die ganze Nacht in meinem Zimmer verbracht?«, fragte Lukas fassungslos.

»Keine Sorge. Ich lag auf dem Sofa, bis vorhin, als du mich mit deinem Urschrei erschreckt hast.«

»Warum bist du nicht nach Hause gefahren?«

Theo warf Lukas einen vorwurfsvollen Blick zu, der wegen seines dichten, schwarzen Haars jedoch nur schwer zu erkennen war, und protestierte: »Weil ich bestimmt mindestens vier Promille hatte.«

Lukas kratzte sich am Kopf, der sich schwer anfühlte und höllisch schmerzte. Er konnte seinem Kollegen nicht wirklich widersprechen, weil er nicht wusste, wie der letzte Abend geendet hatte. Hatten sie wirklich so viel getrunken? Die fürchterlichen Kopfschmerzen und das Klingeln in seinen Ohren deuteten darauf hin, aber als Beweis wollte Lukas das noch nicht gelten lassen.

»Dann mach dich wenigstens nützlich und koch Kaffee!«

»Sind wir plötzlich verheiratet?«, entgegnete Theo.

»Wenn du unbedingt willst ...«

»Sag mal, willst du nicht endlich mal ans Telefon gehen?«, fragte Theo mürrisch, während er sich vom Boden erhob und wieder aufs Sofa pflanzte.

Lukas horchte auf. Tatsächlich! Das Klingeln kam nicht aus seinem Kopf. Es kam von seinem Telefon. Fast schon erleichtert ging er auf den Apparat zu und hob ab.

»Na endlich«, hörte er eine weibliche Stimme sagen, die ihm entfernt bekannt vorkam. »Hier ist Susanne ... Kleber! Erinnerst du dich noch an mich? Eine Freundin von Marianne ...«

Lukas räusperte sich, damit seine Stimme nicht zu rau klang: »Marianne und ich sind seit einem Jahr geschieden. Wo du sie erreichen kannst, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie wieder einen Neuen hat.«

»Ich will nicht Marianne sprechen, sondern dich.«

Lukas horchte auf.

»Mein Chef ist verschwunden«, fuhr Susanne fort, wobei ihre Stimme einen weinerlichen Ton annahm. »Er hatte vorgestern nach Dienstschluss noch einen Termin. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihm.«

Lukas stöhnte. »Redest du von Erwin Frisch?«

»Ja! Wer sonst?«

Lukas erinnerte sich an den Chef der Neuen Zeit – aber diese Erinnerungen waren nicht besonders erfreulich. Frisch war der Chef einer der wenigen saarländischen Zeitungen, die über Fälle, in denen die Kripo der Landeshauptstadt ermittelte, berichtete. Allerdings interessierte ihn die Aufklärung der Fälle weniger als die Auflage seines Käseblatts. Und wenn er jetzt verschwunden war, dann war er halt verschwunden – wen kümmerte das schon?

»Bist du noch dran?«, plärrte Susanne so laut in sein Ohr, dass Lukas einen erneuten Stromstoß durch seinen Schädel zu spüren bekam. »Was ist denn mit dir?«

»Was soll mit mir sein? Wie alt ist Erwin Frisch?«

»Einundfünfzig. Warum?«

»Also ist er ein erwachsener Mann«, gab Lukas genervt zurück. »Wie lange ist er angeblich verschwunden?«

»Seit Freitagnacht! Er wollte sich mit einer Bewerberin für unsere Zeitung treffen.«

»Ach so ...« Lukas lachte auf. »Wer weiß, was für ein heißes Mäuschen dein Chef sich da an Land gezogen hat. Vielleicht ist er mit ihr in den Federn gelandet und hat darüber die Zeit vergessen.«

»Ich habe bereits versucht, diese Frau zu erreichen. Sie heißt Brigitte Felten und ist in der Hornungstraße 53 gemeldet. Als ich dort anrief, hieß es: Kein Anschluss unter dieser Nummer. Da stimmt doch was nicht.«

»Vielleicht hat die Felten ihren Telefonanschluss auch nur schnell gekündigt, weil sie verhindern wollte, dass sich Eifersuchtsdramen am Telefon abspielen, während sie deinem Chef einen bläst«, erwiderte Lukas genervt.

»Blödmann!« Susannes Stimme klang trotz dieses unfreundlichen Kommentars ernsthaft besorgt.

»Ich kann dir wirklich nicht helfen«, lenkte Lukas ein. »Zunächst mal wäre das eine Sache für den örtlichen Kriminaldienst. Er wird nur vermisst, damit habe ich nichts zu tun. Wir kommen erst, wenn einer tot ist. Außerdem ist dein Chef mehr als erwachsen, er kann tun und lassen, was er will. Deine Besorgnis klingt verdammt nach Eifersucht. Aber selbst, wenn ich mit dieser Annahme falsch liege – mit bloßen Vermutungen bringst du keinen Bullen dazu, nach ihm zu suchen.«

»Du bist echt ein Arschloch! Marianne hatte recht, dass sie dich verlassen hat«, schnaubte die Anruferin wütend. Lukas wollte antworten, bekam aber keine Chance mehr.

Klick. Leitung tot.

Lukas schnüffelte und stellte enttäuscht fest, dass kein Kaffeeduft durch seine Wohnung strömte. Der hätte vielleicht ungeahnte Lebensgeister in ihm wecken können.

Aber so ...

*

Erregung! Tatsächlich!

Wieder und wieder fiel der Blick auf das Geschlechtsteil, das keck in die Höhe stand.

Es gefiel ihm.

Das übertraf alle Erwartungen!

Das Werkzeug lag griffbereit neben der Bahre. Solange der Mann schlief, sollte nichts passieren. Es war wichtig, dass er in den vollen Genuss seiner Leiden kam. Das machte erst den ganzen Reiz aus. Als Genießer konnte er es bestimmt gar nicht erwarten, endlich an den Höhepunkt der Lust zu geraten.

Wieder ein vergnügtes Kichern, denn eines war sicher: Am Ende würde er nur noch schreien, stöhnen, um Hilfe betteln, flehen, jeden Stolz über Bord werfen. Ein ganzes Leben reduziert auf ein Häufchen Elend.

Das sollte sein Schicksal sein. Das hatte er sich redlich verdient.

Es war ja nicht so, dass es hier einen Unschuldigen erwischte.

Nein! Hier wurde der Gerechtigkeit Genüge getan.

Die Haut des mageren Körpers war mit Gänsehaut überzogen. Knochen standen an Schultern und Becken heraus. Ein übler Geruch ging von ihm aus.

Woher hatte dieser Mann eigentlich ein derart ausgeprägtes und übersteigertes Selbstbewusstsein?

Vermutlich waren es seine Designer-Klamotten. Damit konnte er prahlen. Und damit, dass er mit seiner Zeitung viel Geld verdiente. Mit seiner Zeitung, die über Aufstieg und Fall unschuldiger Menschen richten durfte. Mit der er manipulieren konnte, ohne dass jemals irgendjemand einen Riegel davorgeschoben hätte. Aber das war nicht alles. Sein despotisches Gebaren als Chef kam hinzu.

Doch so, wie er jetzt auf der Pritsche lag, war nichts mehr von einem Despoten geblieben. Nichts mehr von einem Erfolgsmenschen. Und davon würde auch nie wieder etwas zu erkennen sein. Diese Zeiten waren für immer vorbei. Dieser Mann würde keine diffamierenden Artikel mehr schreiben. Und keinen Menschen mehr schikanieren.

Wie er da lag – so ohne teure Schale, ohne seine Aufgeblasenheit: Was war er da schon? Einfach nur bemitleidenswert. Ein ekelerregendes, zappelndes Bündel.

Tatsächlich. Er bewegte sich. Er wachte auf. Gleichzeitig verschwand seine Erregung. Zurück blieb ein schrumpeliges kleines Teil zwischen zitternden Beinen.

Sein erbärmlicher Anblick spiegelte sich im stählernen Keil der Axt. Es konnte beginnen.

*

Erwin Frisch wälzte sich lustvoll in den Kissen, genoss jede Berührung dieser aufregenden, jungen Frau. Ihre Finger fuhren in alle seine Körperöffnungen. Dann folgte ihre Zunge, dann ihre Zähne. Kleine Bisse überall, an jeder nur denkbaren Stelle seines Körpers. Mit gespreizten Beinen lag sie vor ihm und versetzte seinen Körper in eine ihm bislang unbekannte Ekstase. Er wurde immer geiler, sein Penis war steif wie lange nicht mehr.

Seine Hände griffen nach ihren Brüsten und drückten zu. Ihr lustvolles Quietschen erregte ihn noch mehr. Er ließ seine Hände an ihrem Körper herunter wandern, ertastete die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen und schob seinen Finger ganz tief in sie hinein. Ihr Stöhnen war der Beweis, dass sie es genauso wollte wie er. Seine Begierde wurde übermächtig, er fühlte sich berauscht, benebelt, trunken.

Jetzt war der Moment gekommen. Jetzt musste er sie nehmen.

Er wollte sie packen und in sie eindringen, doch er konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen.

Panisch riss er die Augen auf. Was war das? Wo war er? Wo war Brigitte? Hatte sie nicht gerade noch vor ihm gelegen? Hatte nicht gerade noch sein Körper geglüht vor Erregung.

Stattdessen lag er auf dem Rücken und fror entsetzlich. Seine Augen nahmen alles nur verschwommen wahr. Hatte er geträumt? Oder spielte Brigitte ein verrücktes Spiel mit ihm? Hatte sie etwas in seinen Champagner getan?

Er wollte an sich herunterschauen, aber das war nicht möglich. Er war gefesselt – an den Armen und den Beinen. Sogar sein Kopf war fixiert. Jede Bewegung hinterließ einen unangenehmen Druck auf seinen Kehlkopf.

Auch ohne sehen zu können, spürte er, dass er tatsächlich nackt war. Aber es war eine andere Nacktheit als die, von der gerade geträumt hatte. Er war entblößt und hilflos. Was war mit ihm geschehen?

Allmählich kehrten seine Erinnerungen zurück. Er war auf dem Weg zu seinem Rendezvous gewesen. Es hatte geblitzt und gedonnert. Das Wetter war scheußlich. Doch dann? Ein Riss ... Bei Brigitte war er jedenfalls niemals angekommen.

War er krank? War er einem Fiebertraum erlegen? Wenn ja, dann wünschte er sich in diesen Traum zurück. So etwas Berauschendes hatte er noch nie erlebt. Diese Frau war unglaublich. Hatte er wirklich aufwachen müssen?

Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Jemand näherte sich ihm. Er wollte den Kopf drehen, aber das war nicht möglich. Es fühlte sich an, als sei er an seiner Unterlage festgeklebt. Nur die Augen konnte er noch einigermaßen frei bewegen. Er versuchte, einen Blick zu erhaschen, wer da neben ihm stand. Etwas Schwarzes beugte sich über ihn. Was war das? Ein Mensch? Ein Monster? Er konnte nur Schemen erkennen. Er wollte schreien, aber er brachte keinen Ton heraus.

Die Gestalt hob eine Axt, in deren glänzendem Keil er deutlich seine eigenen, weit aufgerissenen Augen erkennen konnte. In rasender Geschwindigkeit sauste das scharfe Teil auf ihn nieder. Und im selben Atemzug versank er in einem erlösenden Nichts.

*

»Sie haben Post! Sie haben Post! Sie haben Post!««

Irgendwann wurde es Lukas zu bunt. Was ging hier vor? Wer laberte ihm ständig denselben Satz ins Ohr?

Müde hob er den Kopf und schaute direkt in das hämisch grinsende Gesicht seines Kollegen Theo. Verwirrt blickte er sich um und stellte beschämt fest, dass er an seinem Schreibtisch im Büro der Landespolizeidirektion eingeschlafen war. Verlegen schob er die Tastatur seines Rechners an ihren Platz zurück und fragte murrend: »Was ist los?«

»Was los ist, fragst du?« Theos Stimme überschlug sich. »Es tut mir wirklich leid dir mitteilen zu müssen, dass du nicht fürs Schlafen bezahlt wirst. Was hast du gestern Abend denn noch getrieben? Unser Saufgelage war am Samstag. Davon kannst du heute nicht mehr so fertig sein.«

Lukas zuckte die Achseln, aber Theo gab keine Ruhe: »Hallo! Ich rede mit dir!«

Lukas wusste, dass er in letzter Zeit häufiger Fehler machte. Seit seiner Scheidung fühlte er sich beschissen. Marianne hatte ihn damals ausgerechnet wegen Theo verlassen. Darunter hatte die Zusammenarbeit zwischen Lukas und Theo lange Zeit gelitten. Auch ihre Freundschaft war auf eine harte Probe gestellt worden. Lukas hatte sich von Theo betrogen gefühlt und nur ihm die Schuld dafür gegeben, dass es so weit gekommen war. Inzwischen wusste er es besser: Er hatte selbst maßgeblich dazu beigetragen, dass Marianne ihn verließ, er konnte weder ihr noch seinem Freund einen Vorwurf machen. Schließlich hatte er seine Ehe wegen einer Affäre mit der Hauptverdächtigen in einem heiklen Mordfall aufs Spiel gesetzt; mit einer Frau, die nicht seine Kragenweite war und die ihn das auch schnell hatte spüren lassen.

Marianne hatte sich inzwischen von Theo getrennt und lebte nun mit einem Regierungsdirektor zusammen – ein Dienstgrad, von dem Theo und Lukas nur träumen konnten.

Vielleicht war es dieser Tatsache zu verdanken, dass Theo und Lukas heute wieder Freunde waren. Wenn Lukas sein eigenes Leben genauer betrachtete, musste er schnell feststellen, dass er wenig wirkliche Freunde hatte. Sein Beruf hatte ihn von seinen Kumpeln aus der Jugendzeit entfremdet, die Freizeit war vom ersten Tag an sehr knapp bemessen. Und seine Beziehungen waren selten über kurzfristige Affären hinausgegangen, wenn es sich nicht ohnehin um One-Night-Stands gehandelt hatte. Bis Marianne in sein Leben gekommen war. Sie hatte ihm einen erstaunlich starken Halt gegeben und ihm zu innerlicher Ruhe verholfen. Doch anscheinend hatte der Abenteuerdrang weiterhin in ihm geschlummert, bis er irgendwann ausgebrochen war, leider bei der absolut falschen Frau.

Seit dem Anruf am Wochenende fühlte sich Lukas schmerzhaft an seine Verfehlungen erinnert. Susanne Kleber hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass er sich oft wie ein komplettes Arschloch verhalten hatte. Ihre vorwurfsvollen Worte lasteten schwer auf ihm. Alkohol war auch keine Lösung, der half nur für den Moment, doch am nächsten Tag wurde alles nur noch schlimmer. Mit der Folge, dass er sich kaum noch auf seine Arbeit konzentrieren konnte und nun auch noch am Schreibtisch einschlief.

»Wieso habe ich Post?«, fragte er endlich. »Bekomme ich meine Briefe jetzt schon auf die Dienststelle geschickt?«

»Endlich bist du wieder unter uns«, kommentierte Theo und stellte einen Karton vor ihm auf den Tisch. »Wir hatten alle bereits das Vergnügen, den Inhalt dieses Päckchens genau zu studieren. Jetzt bist du an der Reihe.«

Lukas verstand nur Bahnhof. Es war ein DHL-Päckchen der Deutschen Post. Grellgelb leuchtete es ihn an. Die Farbe tat seinen Augen weh. An der oberen Hälfte erkannte er, dass es bereits geöffnet worden war – die Klebestreifen waren sehr prä-zise mit einem scharfen Messer aufgetrennt. Lukas ahnte, dass dies aus Sicherheitsgründen geschehen war. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Paketbombe auf einem Polizeirevier hochging.

Er schaute sich um und staunte nicht schlecht, als er sämtliche Kollegen um seinen Schreibtisch herum versammelt sah. Andrea Peperding, die Emanze, die immer etwas an Theo und ihm zu mäkeln hatte. Neben ihr stand die frische gebackene Kommissarin Monika Blech, deren unscheinbares Äußeres täuschte, denn wenn es darauf ankam, konnte sie knallhart sein – eine Kollegin, wie man sie sich im Polizeidienst eigentlich wünschte, wäre sie nur nicht so sehr mit Andrea verbandelt. Und Dieter Marx aus der Drogenabteilung stand hinter den Kollegen, weil er alle um Haupteslänge überragte. Wie üblich schwadronierte er wieder einmal biblische Sprüche: »Verflucht seist du, der du diese Botschaft an uns gerichtet hast.«

Neben Marx stand der Dienststellenleiter Wendalinus Allensbacher und forderte ihn auf, mit seinen Prophezeiungen aufzuhören. Zu Lukas’ Überraschung war auch Josefa Kleinert, Allensbachers Sekretärin, anwesend. Fehlte nur noch, dass sie ein Glas Wasser und eine Herztablette für ihren übergewichtigen und ständig schwitzenden Chef bereithielt. Nur Kriminalrat Hugo Ehrling glänzte durch Abwesenheit. Wenigstens war nicht auch er noch Zeuge seines Büroschlafs geworden.

»Willst du nicht endlich nachschauen, was in dem Päckchen ist?«, fragte Andrea. Ihre Stimme klang gelangweilt – wie so oft, wenn sie sich dazu herabließ, überhaupt mit Lukas zu sprechen.

»Ich glaube nicht«, meinte Lukas und erreichte damit genau das, was er wollte. Alle fielen laut schimpfend über ihn her. Er hatte ihnen die Show gestohlen. Vergnügt lachte er in sich hinein.

»Sie werden sich jetzt den Inhalt dieses Pakets anschauen und Ihre Meinung dazu sagen?«, befahl Allensbacher und wischte sich schon wieder den Schweiß von der Stirn.

Lukas schaute den Dienststellenleiter irritiert an, doch der zeigte keine Reaktion. Schließlich gehorchte er, stand auf und öffnete den gelben Karton. Zunächst sah er nichts. Alles schimmerte schwarz. Also griff er nach der durchsichtigen Folie, in die der Inhalt verpackt war, und zog sie heraus. In seinen Händen hielt er einen menschlichen Fuß.

2

Alle Augen waren auf Sandra gerichtet, als sie am Montagmorgen das Redaktionsgebäude der »Neuen Zeit« betrat. Sie fuhr sich durch ihre kurzen, blauen Haare und schaute verunsichert an sich herunter, ob auch ihre Kleidung richtig saß.

»Ich denke, der Chef hat dich entlassen«, schleuderte Susanne der Kollegin als Begrüßung entgegen.

»Anscheinend doch nicht«, gab Sandra schnippisch zurück. Daher diese Blicke, dachte sie und ließ sich an ihrem Schreibtisch nieder, als hätte das Streitgespräch zwischen ihr und Erwin Frisch am Freitagabend niemals stattgefunden. In aller Seelenruhe packte sie ihre Unterlagen aus, fuhr den PC hoch und tat so, als bemerkte sie nicht, dass alle sie immer noch anstarrten.

Ute Drollwitz, die Redakteurin für den Wirtschaftsteil der Zeitung, schenkte Sandra ein Lächeln und bemerkte: »Ich freue mich, dass der Chef es sich anders überlegt hat.«

Sandra schaute in das rundliche Gesicht der älteren Kollegin. Wie immer wirkte Ute nicht nur besänftigend, sondern sogar mütterlich, weshalb Sandra ihr Lächeln erwiderte und antwortete: »Danke Ute! Du bist die gute Seele unserer Zeitung. Was wären wir nur ohne dich?«

Vor Verlegenheit lief Ute rot an und winkte hastig ab.

»Da stimmt was nicht«, fauchte Susanne. »Was Erwin sich vornimmt, das macht er auch. Er ändert seine Meinung nicht. Es sei denn ...«

Der Blick, den Susanne auf die Kollegin mit ihren viel zu weiten Hosen und ihrem langen, formlosen T-Shirt warf, sprach Bände. Erstaunen und Ekel lagen gleichzeitig darin.

»Vergiss es!« Sandra lachte. »Wenn er dich mal wieder versetzt hat, dann bestimmt nicht meinetwegen.«

»Klar! So wie du aussiehst, muss ein Mann schon blind, taub und halb tot sein, wenn er sich auf dich einlässt.«

»Lieber laufe ich salopp herum und fühle mich dabei sauber, als dass ich für meinen Job die Beine breitmache und mich hinterher vor mir selbst ekle.«

Bernd Schöbel, der Sportreporter, verließ seinen bequemen Schreibtischstuhl. Mit einer desinteressierten Miene stellte er sich in die Nähe der streitenden Frauen und meinte: »Ihr wisst gar nicht, wie gut ihr es habt.«

»Hä?«

»Was?«

Bernd grinste böse und erklärte: »Ihr habt es so einfach, Karriere zu machen.«

»Einfach?« Sandras Stimme ging in Kreischen über.

»Ihr müsst nur mit dem Chef ins Bett, und schon findet ihr euch in einer Spitzenposition wieder. Wir Männer müssen uns durch unsere Arbeit beweisen. Und ich kann euch sagen, dass es nicht immer einfach ist, die verdiente Anerkennung zu bekommen.«

»Du glaubst doch wohl selbst nicht, was du da sagst?«, fragte Susanne fassungslos.

»Natürlich!« Bernds Grinsen wurde immer breiter.

»Zu so etwas würde ich mich nie herablassen.«

»Zu was denn sonst?«, keifte Sandra.

Ute versuchte, sich einzuschalten, aber niemand beachtete sie.

»Ich liebe Erwin.«

»Ach! Nennt man das jetzt so?« Sandra grinste höhnisch.

»Was weißt du schon von Liebe?«

Plötzlich redeten alle durcheinander.

»Seid ihr von Sinnen?«, schrie Manfred Sost, der neugierig aus dem Archiv geeilt kam. »Kaum ist der Chef nicht da, schon geht hier alles drunter und drüber!«

»Halt die Klappe, wenn du keine Ahnung hast!«, wies Sandra ihn zurecht. Und im nächsten Atemzug stieß sie einen lauten Schrei aus. Alle verstummten und schauten sie an. Sie zeigte auf den Sportreporter, der ein Diktafon in der Hand hielt.

*

In der klaren Flüssigkeit wirkte der Fuß übernatürlich vergrößert. Er war stümperhaft abgetrennt worden, was die ausgefransten Kanten bewiesen. Lukas betrachtete alles ganz genau, bis ihm plötzlich Gallensaft in den Hals schoss. Er drückte Theo die Tüte in die Hand und schaffte es gerade noch, sich in den Papierkorb zu übergeben.

»Zum Glück haben wir hier keinen Tatort«, murrte Theo. »Das sind wohl die Auswirkungen deiner Sauferei.«

»Ist ja schon gut«, wehrte Lukas schnell ab und eilte zur Herrentoilette. Als er an seinen Platz zurückkehrte, fand er die Situation unverändert vor. Alle standen immer noch um den Fuß herum versammelt.

»Warum schicken wir das nicht sofort zum Gerichtsmediziner?«, fragte Lukas erstaunt.

»Weil der zu uns kommt!«, antwortete Theo.

»Warum das?« Lukas staunte. »Ganze Leichen schicken wir doch auch nach Homburg. Warum machen wir bei einem einzelnen Fuß eine Ausnahme?«

»Weil unser guter Dr. Stemm sowieso gerade in der Stadt ist. Er muss auf dem Landgericht eine Aussage machen. Wenn er dort fertig ist, kommt er hier vorbei.«

»Woher weißt du das?«

»Schon mal was von Handys gehört?« Theo hielt seinem Freund ein kleines Mobiltelefon vor die Nase. »Ich habe ihn angerufen und ihm alles berichtet. Er konnte seine Vorfreude kaum verbergen. Am liebsten wäre er sofort gekommen, aber seine Aussage muss vorher noch gemacht werden.«

»Und was machen wir, bis er kommt?«

Nun war es an Dienststellenleiter Wendalinus Allensbacher, sich zu Wort zu melden. Mit brüchiger Stimme sagte er: »Sie gehen alle Vermisstenanzeigen der letzten Tage durch.«

»Glauben Sie ernsthaft, jemand hat seinen Fuß als vermisst gemeldet?«, fragte Lukas.

Die Kollegen hatten Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken.

Allensbacher rieb sich permanent den Schweiß von der hochroten Stirn. »Lassen Sie mich doch ausreden«, schimpfte er. »Entweder gibt es ein Verbrechen, von dem wir noch nichts wissen. Und das Opfer könnte als vermisst gemeldet worden sein«

»Oder?«, fragten Lukas und Theo wie aus einem Mund.

»Oder, es handelt sich nicht um ein Verbrechen, sondern lediglich um einen schlechten Scherz.«

»Wie das?«

»Vielleicht kennt jemand eure provokante Art zu scherzen und wollte euch eine Freude machen«, gab Allensbacher unfreundlich zurück.

Lukas schluckte.

»Also, fragt in allen Krankenhäusern nach, die eine Pathologie haben, ob einem der Toten ein Fuß fehlt!«

Die Tür zum Großraumbüro ging auf und ein großer massiger Mann polterte herein – der Gerichtsmediziner Dr. Eberhard Stemm.

»Was habt ihr Schönes für mich?« Scheppernd schallte seine laute Stimme durch den großen Raum.

Alle wichen zur Seite, damit der Pathologe ungehindert an den Tisch treten konnte, auf dem das Paket abgelegt war. Er zog den Fuß aus dem Plastikbeutel heraus, betrachtete ihn von allen Seiten und meinte: »Hier haben wir einen Männerfuß.«

»Woran erkennen Sie das?«, fragte Lukas.

»Zunächst einmal die Größe. Dieser Fuß hat bestimmt die Größe von dreiundvierzig – eher noch mehr, was für einen Frauenfuß ungewöhnlich wäre«, antwortete Dr. Stemm. »Hinzu kommt, dass die Ferse breit ausgeprägt ist, was bei Männerfüßen häufiger vorkommt. Das Fußgelenk sitzt sehr hoch und die Sohle liegt sehr tief – vermutlich durch ein höheres Gewicht.«

»Oder er hatte Plattfüße«, kommentierte Theo.

»Und die Nase voll davon«, ergänzte Lukas.

»Ich sehe, ihr habt die Lösung schon gefunden.« Dr. Stemm lachte so laut, dass sämtliche Schreibtische im Büro wackelten. Nachdem er sich beruhigt hatte, sprach er weiter: »Wenn ich mich nicht täusche, ist die Flüssigkeit, in der dieser Fuß schwimmt, Formalin.«

Alle nickten – sie hatten bereits das Gleiche angenommen.

»Wenn das der Fall ist, ist eine DNA nicht mehr zu ermitteln. Formalin macht totes Gewebe haltbar, zerstört jedoch die DNA. Wer euch diesen Fuß zugeschickt hat, war in doppelter Hinsicht gut informiert: Er wusste, wie er euch das Körperteil gut erhalten zuschicken kann – und genauso gut wusste er, wie er jegliche Identifizierung unmöglich macht.«

»Schade! Aber vielleicht finden Sie doch noch etwas Brauchbares für uns heraus«, meinte Allensbacher hoffnungsvoll.

»Ich werde den Fuß auf jeden Fall gründlich untersuchen. Nur wird das etwas dauern, ich habe nämlich zurzeit viel Arbeit auf dem Tisch.«

»Wir können aber nicht ewig warten«, murrte Allensbacher.

»Tut mir leid!« Der Pathologe zuckte die Schultern. »Wie Sie wissen, muss ich schon seit Ewigkeiten auf einen Assistenten verzichten. Die letzten Kandidaten haben sich ausnahmslos als Nieten erwiesen. Seit Dennis Welsch hatte ich keinen wirklich guten Mitarbeiter mehr.«

»Sie können Dennis doch zurückholen«, schlug Lukas vor, der Stemms ehemaligen Assistenten gut kannte und ihn mochte.

»Ausgeschlossen. Der Dummkopf hat nun mal geklaut, das konnte ich nicht durchgehen lassen. Ich hätte es ja nie geglaubt, aber ich habe ihn schließlich selber auf frischer Tat ertappt.«

»Das ändert nichts daran, dass wir das Ergebnis schnell brauchen«, drängte Allensbacher weiter.

»Ich gehe ja schon.« Dr. Stemm lachte. »Jede Minute, die ich hier mit euch verbringe, ist eine verlorene Minute.«

»Das haben Sie wirklich schön gesagt«, grummelte Allensbacher.

Das Lachen des Gerichtsmediziners konnten sie noch hören, als er schon lange das Büro verlassen hatte.

*

»Das war der dritte Anrufer, der sich beklagt, weil heute Morgen keine Zeitung in seinem Fach lag«, schimpfte Sandra und ließ das tragbare Telefon geräuschvoll auf den Schreibtisch fallen. »Was ist hier los? Ich habe einige super Artikel über das Saarlouiser Altstadtfest getextet, aber nichts ist passiert. Wurde die Zeitung gar nicht gedruckt?«

»Glaubst du, du hättest allein am Wochenende gearbeitet?««, kam es giftig von Susanne zurück. »Ich habe diesen Krimi extra gelesen, um eine Rezension verfassen zu können. Und nicht nur das. Auch der Artikel über diese Börsensache mit Hans Pont ...«

»Sag nur, du hast diese Verleumdung wirklich geschrieben?«, fiel Sandra der Kollegin ins Wort. »Damit zerstörst du Pont und seine Zeitung. Musste das sein?«

»Ja, das musste sein«, entgegnete Susanne. »Der Chef hat es angeordnet, also musste es sein.«

»Springst du auch in die Saar, wenn der Chef es anordnet?«

»Ruhe jetzt«, funkte Sost dazwischen. »Wir streiten uns hier über ungelegte Eier. Vermutlich kommt Erwin gleich rein und sagt, was los ist. Drucker kaputt oder so.«

»Ach, Manfred«, stöhnte Sandra, »aus welchem Jahrhundert bist du denn? Drucker kaputt! Ich lach mich schlapp? Der Olle hat sich mit der Bewerberin getroffen und um den Verstand gevögelt. Vermutlich hat er vergessen, dass er Chefredakteur seiner eigenen Zeitung ist.«

»Das ändert nichts daran, dass wir uns um eine neue Ausgabe kümmern müssen«, bestimmte Sost. »Gebt mir die Berichte, ich werde sie lesen und in die Druckerei weitergeben.«

»Warum ausgerechnet du?« Susanne staunte.

»Weil ich laut Vertrag die kommissarische Geschäftsführung übernehme, sollte es die Situation verlangen«, antwortete der Archivar.

»Du? Der Archivar?«

»Ja, ich! Ich war schon hier beschäftigt, da leitete noch Erwins Vater diese Zeitung. Er war es auch, der damals auf diesen Vertrag bestanden hat. In Erwins Todesfall erbe ich als Mitgesellschafter der GmbH dessen Gesellschaftsanteile.«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht«, fauchte Susanne böse »Das hätte Erwin mir doch erzählt.«

»Sei du lieber ruhig«, meldete sich Sandra zu Wort. »Nur weil du hier in deinem scharfen Kleidchen herumscharwenzelst, hast du noch lange keine Vorrechte. Erwin vögelt alles, was nicht schnell genug auf dem Baum ist. Also glaub bloß nicht, du hättest einen Sonderstatus bei ihm.«

Plötzlich stand Bernd hinter Sandra und grinste hämisch. Hastig riss die Blauhaarige seine Hände hoch, um zu sehen, ob er das Diktafon wieder bei sich trug. Aber da war nichts.

»Wenn wir hier schon darüber sprechen, wer ein Anrecht auf Erwins Nachfolge hat, dann stelle ich mal klar, dass ich das bin«, flötete der übergewichtige Kollege mit seiner Fistelstimme. »Immerhin hat mein Vater schon hier gearbeitet.«

»Klar! Und meine Oma hat einen unehelichen Sohn, das war Erwin. Also bin ich erbberechtigt«, spottete Sandra.

»Ich höre mir eure dummen Kommentare nicht länger an«, stellte Sost mit lauter Stimme klar. »Es gibt einen Vertrag, den könnt ihr alle einsehen. Und da steht es schwarz auf weiß, dass ich der kommissarische Geschäftsführer bin. Also reicht mir bitte eure Artikel ein, damit wir morgen wieder eine Zeitung ausliefern können.«

»Okay! Hier ist der Bericht über Hans Pont!« Susanne reichte Manfred einige beschriftete Seiten.

»Den werde ich zurückstellen, bis Erwin wieder da ist«, gab Manfred zurück. »So ein heißes Eisen fasse ich nicht an.«

»Okay! Dann bringst du aber bitte diese Rezension. Dafür habe ich nämlich eine ganze Nacht mit diesem schrecklichen Krimi verbracht«, gab Susanne nach.

»Warum sollen wir einen schlechten Krimi vorstellen, wenn ich hier eine Rezension über einen guten habe?«, fragte Sandra. »Miranda hat wieder ein wahres Meisterstück abgeliefert.«

»Das ist nicht dein Ernst«, kreischte Susanne. »Hast du mal gesehen, was diese Wellenstein in ihrem Leben alles schon gemacht haben will: Zuerst einmal Hairstylistin – das ist nichts anderes als Friseuse! Dann hat sie ein abgebrochenes Medizinstudium – ihr IQ hat wohl nicht gereicht. Angeblich hat sie anschließend als Schauspielerin gearbeitet – nur hat sie nie jemand irgendwo gesehen. Dann erzählt sie etwas von Maskenbildnerin. Und was nicht fehlen darf: Seiltänzerin. Diese Frau kommt aus einem Wanderzirkus. Aber niemals ist sie eine ernst zu nehmende Autorin.«

»Du redest schon wie Erwin.« Sandra war schockiert. »Alle diese Tätigkeiten sprechen doch nur dafür, dass die Autorin sehr vielseitig ist. Das spricht für sie und nicht gegen sie.«

»Okay! Das Buch von dieser Wellenstein wird vorgestellt.« Das war das letzte Wort zu diesem Thema und es kam von Sost.

»Für dich ist es der reinste Glücksfall, dass Erwin weg ist.« Böse funkelte Susanne ihre Kollegin an.

*

Theo blickte konzentriert auf den Bildschirm. Seine Finger flogen über die Tastatur. Von Zeit zu Zeit stieß er ein leises Stöhnen aus und setzte dann sein Stakkato fort. Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass Lukas keinerlei Anstalten machte herauszufinden, zu wem der Fuß gehörte. Der Kollege war um seine Unbeschwertheit zu beneiden. Wie immer spürte Theo den Drang, seine Arbeit mit Bravour zu meistern – sich beweisen zu wollen. Bereits als Jugendlicher war er von diesem Ehrgeiz gepackt worden. Nach dem Tod seiner Eltern war er bei Verwandten aufgewachsen, die ihm ständig das Gefühl vermittelten, nur geduldet zu sein. Aus diesem Grund war er seit jeher bestrebt, alles besonders gut zu machen, während Lukas jede Aufgabe mit großer Gelassenheit hinnahm.

»Hey! Was ist mir dir?«, fragte er mürrisch, während sein Blick auf dem blassen, sommersprossigen Gesicht seines Kollegen haftete. An diesem Morgen leuchteten Lukas’ Haare hellrot, was Theo noch nie am ihm aufgefallen war.

»Habe ich den Test bestanden?«, fragte Lukas grinsend zurück. »Oder muss ich durch den Nackt-Scanner?«

»Bloß nicht«, wehrte Theo ab. »Ich frage mich nur, warum ich alleine nach einer vermissten Person suche.«

»Das kann ich dir erklären.« Lukas’ Grinsen wurde breiter. Er streckte genüsslich die Arme hinter seinen Kopf und genoss es, Theo staunen zu sehen.

»Jetzt spann mich nicht auf die Folter«, knurrte der.

»Also gut! Ich bin heute mal human und lasse dich nicht zappeln.« Lukas richtete sich auf und fragte: »Erinnerst du dich noch daran, dass ich vorgestern Morgen einen Anruf erhalten habe?«

Theo überlegte kurz und nickte.

»Das war Susanne Kleber, eine Freundin meiner Ex-Frau.«

»Das ist wirklich interessant.« Theo klang gelangweilt.

»Sie hat ihren Chef als vermisst gemeldet.« Damit kam Lukas endlich zur Pointe.

»An einem Sonntagmorgen?« Theo schaute ungläubig drein.

»Ich weiß, das klingt ein bisschen weit hergeholt. Vor allem, weil ich Susanne als echte Klette kenne. Solange ich mit Marianne verheiratet war, war Susanne auch fast immer dabei. Es war wie ein Sechser im Lotto, wenn ich meine Frau mal allein angetroffen habe.«

»Warum?«, fragte Theo. »Was hast du gegen einen flotten Dreier?«

Als Antwort kam ihm ein Schreibblock entgegen geflogen, den Theo lachend auffing.

»Jedenfalls hat Susanne am Sonntagmorgen behauptet, Erwin Frisch wäre verschwunden. Ich war zu verkatert, um mir über ihr Geschwätz Gedanken zu machen. Außerdem klang es sehr danach, dass sie sich jetzt an ihren Chef gehängt hat und herausfinden wollte, ob er bei einer anderen untergetaucht ist.«

»Ist das nicht der Redakteur der Neuen Zeit?«, fragte Theo erstaunt.

»Genau der!«

»Jetzt wird es interessant. Es gibt hier in der Stadt bestimmt einige, die diesen Kerl auf den Mond wünschen.«

Die beiden schauten sich vielsagend an und erhoben sich gleichzeitig, um das Büro zu verlassen, als ihnen plötzlich der Kriminalrat in den Weg trat.

»Kann es sein, dass Sie eine Spur haben?«, fragte Ehrling in strengem Tonfall.

»Was? Eine Spur? Und da wollen sie sich heimlich davonschleichen?«, mischte sich Andrea Peperding aus dem Hintergrund ein.

Lukas und Theo stöhnten; ausgerechnet Andrea musste ihr Gespräch mitbekommen haben.

»Sie wissen doch sicherlich, dass Sie Hauptkommissar Allensbacher melden müssen, welche weiteren Schritte Sie unternehmen wollen?«, fragte Ehrling nach.

»Dort wollten wir gerade hin«, log Theo unverfroren.

»Dann werde ich Sie begleiten.«

Wie die Schäfchen ließen sie sich vom Kriminalrat in Allensbachers Büro treiben, wo ihnen eine unerträgliche Hitze entgegenschlug. Große Fenster zu zwei Seiten ließen viel Sonne herein. Die heruntergelassenen Jalousien schafften es nicht, die Wärme draußen zu halten.

Allensbacher sah verschwitzt aus. Als er Hugo Ehrling hereinkommen sah, wuchtete er seinen übergewichtigen Körper ruckartig aus dem Chefsessel. Doch der Kriminalrat gab ihm ein Zeichen, sich wieder zu setzen.

»Die Herren Baccus und Borg haben einen Verdacht, zu wem dieser Fuß gehören könnte«, gab Ehrling zum Besten und ließ die beiden Ermittler sprechen.

Allensbacher hörte sich alles genau an und wischte sich dabei ständig den Schweiß von der Stirn. Als Lukas und Theo mit ihrem Bericht am Ende waren, ordnete er unverzüglich an: »Sie werden kein Wort über den Fuß verlieren. Ist das klar?«

Lukas und Theo nickten pflichtschuldig.

»Ihre Annahme, Frisch könnte tatsächlich in Bedrängnis geraten sein, ist nicht von der Hand zu weisen. Dieser Mann hat mit seiner Zeitung sehr vielen Menschen geschadet.« Wieder wischte sich Allensbacher den Schweiß von der Stirn. »Nicht zuletzt auch uns.«

Alle Anwesenden wussten, worauf Allensbacher anspielte: auf den Selbstmord eines ihrer Kollegen und die Einschätzung, dass die »Neue Zeit« dabei keine unwesentliche Rolle gespielt hatte.

»Ihr fahrt jetzt zur Neuen Zeit!«, wies Allensbacher an. »Sollte Frisch immer noch verschwunden sein, dann findet heraus, mit wem er sich noch treffen oder wo er hingehen wollte, damit wir jeden seiner Schritte nachvollziehen können. Bestimmt gibt es eine Spur.«

»Sollten wir auf eine Leiche ohne Fuß stoßen, sagen wir sofort Bescheid.« Theo salutierte, als sei er noch bei der Bundeswehr.

»Nein! Sie sagen vorher Bescheid. Wir werden die Kollegen der Bereitschaftspolizei rausschicken, um auch wirklich nichts zu übersehen.«

*

Der Anblick des Redaktionsgebäudes versetzte Lukas und Theo in Staunen. Obwohl das Haus nicht klein war, schien es doch, als duckte es sich vor dem gläsernen Hochhaus des ehemaligen Gesundheitsamtes. Der Eingang führte durch einen steinernen Rundbogen. Erker an den Seiten und Fenster mit geschwungener Form vermittelten dem Betrachter das Gefühl, in einer anderen Epoche gelandet zu sein. Nur der Lärm der Stadtautobahn brachte die beiden schnell in die Gegenwart zurück. Hinzu kamen die lauten Stimmen, die aus dem Büro bis hinaus auf die Straße drangen. Lukas und Theo warfen einen Blick hinein. Dort ging es lebhaft zu. Die Beschäftigten stritten sich, und das offenbar sehr heftig.

»Besser kann es für uns nicht kommen«, stellte Lukas fest. »Wir gehen unauffällig rein und lauschen ein bisschen. Im Streit sind die Menschen unvorsichtig und lassen Sachen vom Stapel, die sie sonst verschweigen würden.«

»Sprach der Psychologe«, gab Theo seinen Senf dazu und folgte Lukas in das Gebäude.

Doch leider wurden sie sofort bemerkt. Ein älterer, hagerer Mann starrte sie wie versteinert an, eine Reaktion, die auch den anderen auffiel. Sie folgten seinem Blick, bis auch sie die beiden Männer entdeckten, die wortlos in der Tür standen.

Susanne erwachte als Erste aus ihrer Erstarrung. »Lukas«, rief sie. »Du hast also doch etwas unternommen.«

Sofort blickten alle auf die sexy Redakteurin, die in diesem Ambiente jedem sofort ins Auge stechen musste. Selbst Lukas, der sie seit Ewigkeiten kannte, hatte große Mühe, seinen Blick von der Freundin seiner Ex loszureißen.

»Die sieht ja heiß aus«, raunte Theo seinem Kollegen zu. »Und die hast du all die Jahre verschmäht?«

»Sag nur, du kennst sie nicht?«, staunte Lukas. »Immerhin warst du auch eine Zeit lang mit Marianne zusammen.«

»Vermutlich gilt Susannes Interesse mehr dir als Marianne. Deshalb ist sie mir nie begegnet.«

Unsanft rammte Lukas seinem Kollegen in die Seite.

»Wer ist das? Und was soll er unternommen haben?« Diese Fragen kamen von dem älteren hageren Mann.

Das war der Startschuss für die Kommissare, sich vorzustellen, womit sie die nächste Welle der Überraschung auslösten.

»Was? Der Chef vermisst?«

»Die Polizei sucht nach Erwin?«

»Wer hat den Chef als vermisst gemeldet?«

Susanne hob beide Hände und rief: »Ich habe Erwin als vermisst gemeldet, als er am Samstagabend nicht zu unserer Verabredung kam.«

»Du spinnst doch«, kam es unwirsch von Sandra.

»Und wer sind Sie?«, fragte Lukas die stämmige Frau in ihren weiten, unförmigen Klamotten.

»Sandra Gossert, die Feuilletonistin dieser Zeitung.« Ihre blauen Augen funkelten mit ihren Haaren um die Wette.

»Warum spielen Sie die Besorgnis Ihrer Kollegin so herunter?«

»Weil unser Chef jedem Rock nachstellt und weil er seine letzte Verabredung zufällig mit einer jungen Frau hatte. Angeblich einer sehr attraktiven. Warum sollte er sich da an Susanne erinnern, die er sowieso jederzeit haben kann?«

Lukas pfiff durch die Zähne und erwiderte: »Das sind harte Worte. Können Sie mir sagen, mit wem Herr Frisch verabredet war?«

»Ja klar, sie heißt Brigitte Felten und wohnt in der Hornungstraße.«

»Hat er ein Taxi genommen?«

»Nein, er ist zu Fuß gegangen«, erklärte der hagere Alte.

»Zu Fuß!« Theo schaute Lukas überrascht an. »Die Hornungstraße liegt nicht gerade um die Ecke.«

»Und außerdem hatten wir Freitagabend ein heftiges Gewitter«, fügte Lukas hinzu.

»Er hat sich meinen Schirm ausgeliehen«, erklärte wiederum der hagere Mann. »Ich bin Manfred Sost, der kommissarische Geschäftsführer, bis Erwin Frisch wieder da ist.«

»Soweit sind Sie also schon, dass Sie einen kommissarischen Geschäftsführer einsetzen?« Lukas staunte nicht schlecht. »Aber von einem rätselhaften Verschwinden Ihres Chefs wollen Sie nichts hören.«

Mit dieser zutreffenden Einschätzung rief er ein betretenes Schweigen hervor.

»Ich glaube, dass hier eine Menge vorgeht, was wir nicht wissen sollen«, fügte Lukas hinzu.

Jeder schaute in eine andere Richtung. Nur einer lachte vergnügt, als ginge ihn das alles überhaupt nichts an. Ein kleiner, rundlicher Mann, der auf seinem Schreibtisch saß und die Beine baumeln ließ.

»Und wer sind Sie?«, fragte Theo.

»Ich bin Bernd Schöbel, der Sportreporter.«

»Und was belustigt Sie so an der Situation? Wissen Sie zufällig etwas, was wir noch nicht wissen?«

Bernd verging das Lachen. Mit einem Räuspern rutschte er vom Schreibtisch herunter und wehrte ab: »Nein! Ich weiß auch nicht, wo der Chef ist.«

»Okay! Dann wollen wir uns mal auf das Wesentliche konzentrieren«, änderte Theo ungeduldig seinen Kurs. »Hatte der Chef sein Auto am Freitag dabei?«

»Nein! Er kommt immer zu Fuß – er hält sich gerne fit«, erklärte Sandra mit einem verächtlichen Schnauben.

»Können Sie uns sagen, in welche Richtung Erwin Frisch gegangen ist?«

In diesem Punkt waren sich die Mitarbeiter der »Neuen Zeit« einig – alle zeigten in die gleiche Richtung: in die Heuduckstraße. Im selben Augenblick hielt vor dem Redaktionsgebäude ein Polizeibus an. Die Schiebetür öffnete sich, und als Erster stieg ein sehr großer Mann in Uniform aus.

Lukas und Theo verließen das Redaktionsgebäude und traten auf den Kollegen zu. »Karl der Große«, meinte Theo zum Gruß und schüttelte ihm die Hand. »Auf dich ist immer Verlass.«

Der Hüne lachte. Sein Name Karl Groß und seine Körpermaße hatten ihm den Spitznamen »Karl der Große« eingetragen, den er im Lauf der Jahre akzeptiert hatte.

»Der Redakteur der Neuen Zeit ist laut Angaben seiner Mitarbeiter am Freitagabend hier entlanggegangen«, erklärte Theo. »Sein Ziel war die Hornungstraße. Diese Gegend müssen wir nach Hinweisen absuchen.«

Karl nickte und leitete die Angaben an seine Truppe weiter.

Die gute Stimmung trübte sich jedoch schnell, als eine junge Frau den Bus verließ: Marie-Claire Leduck, deren Gesicht blass und verhärmt wirkte.

Theo wollte auf sie zugehen, doch Lukas hielt ihn zurück.

»Was soll das?«

»Lass sie. Vielleicht will sie ihre Ruhe haben«, flüsterte Lukas ihm zu.

Doch Marie-Claire hatte jedes Wort verstanden. Sie ging auf die beiden Kriminalkommissare zu und sagte: »Ist schon gut! Ich war jetzt lange genug zuhause. Mein normales Leben muss ja irgendwann wieder weitergehen.««

Nach dem Selbstmord ihres Vaters hatte sich die junge Polizistin für eine Weile zurückgezogen. Ein Vorwurf der Bestechlichkeit hatte den langjährigen Polizeibeamten zu Fall gebracht, bis er erhängt in seinem Speicher aufgefunden worden war. Ob Mobbing die Ursache für diese Kurzschlusshandlung war oder die Berichte in den Zeitungen, konnte bisher nicht geklärt werden. Aber eines stand fest: Die Korruptheit der deutschen Polizei hatte seit Kurzem ein Gesicht und einen Namen: Kurt Leduck.

»Du bist stark. Du schaffst das«, munterte Theo sie auf und nahm die zierliche Frau in die Arme, bevor sie mit der Suche nach Spuren begannen.

»Du kannst deine Finger wirklich von keiner Frau lassen«, schimpfte Lukas, als sämtliche Kollegen außer Hörweite waren. »Hast du Marie-Claire auch schon flachgelegt?«

»Ach, halt die Klappe! Du bist doch auch nicht besser«, wehrte sich Theo.

Lukas schüttelte den Kopf und schaute einem kleinen Jungen zu, der einen Ball stoisch gegen die Hauswand bolzte und einfing, um das Ganze ständig zu wiederholen. Als er die Polizeibeamten bemerkte, ließ er den Ball einfach Ball sein und stürmte mit tausend Fragen auf die Ermittler ein.

»Hey Kleiner! Geh spiel weiter und lass uns in Ruhe!«, schimpfte Theo, dem die Neugier des Kleinen schnell zu bunt wurde.

»Schlage nie ein fremdes Kind, es könnte dein eigenes sein«, drang es ihm plötzlich zu Ohren. Verlegen drehte sich Theo um und schaute in das lachende Gesicht seines Kollegen.

»Was redest du da für einen Blödsinn?«, fragte er erbost.

Zum Glück hatte der Junge schon erkannt, dass er hier keine Antworten bekommen würde, und zog mit einem Schmollmund davon.

»Das hast du gut gemacht«, lobte Karl der Große. »Sollte ich mal einen Kinderschreck brauchen, weiß ich, wen ich fragen muss.«

Theo brummte missmutig. Um von sich abzulenken, fragte er: »Wo sind wir hier überhaupt? Hier stehen die Häuser alle so dicht an der Straße, dass schon fast kein Sonnenlicht mehr durchdringt.«

»Wir sind hier zwischen der Malstatter Brücke und dem Saarbrücker Schloss«, antwortete Karl.

Sie passierten dunkle Straßen und Gassen, die von Durchfahrten in noch dunklere Hinterhöfe gesäumt wurden.

»Und was befindet sich in diesen Höfen?«

»Hier ist ein stillgelegtes Krankenhaus. Das Haus steht leer, weil es niemand kaufen will. Und dort ist ein ehemaliges Altenheim, das zu einem Mietshaus umgebaut wurde«, erklärte Karl und zeigte auf die jeweiligen Objekte.

»Du kennst du dich hier gut aus«, bemerkte Theo staunend.

»Das ist mein Revier«, erwiderte Karl lachend. »Wäre schlecht für mich, wenn ich mich hier nicht auskennen würde.«

Sie setzten ihre Suche fort. Lukas und Theo folgten der Mannschaft, spürten jedoch mit jedem Kopfschütteln ihre Resignation wachsen. Alle Hinterhöfe, alle Garagen und Toreinfahrten wurden akribisch abgesucht. Sogar Mülltonnen und Schuttplätze wurden durchwühlt. Doch es fand sich nicht der geringste Hinweis, dass Erwin Frisch irgendwo hier gewesen sein könnte.

Plötzlich ertönte die Melodie des Songs »Release me«. Lukas griff zu seinem Handy, nahm das Gespräch an und sagte dann mit bleicher Miene zu Theo und Karl: »Die Kollegen müssen ohne uns weitermachen – wir werden im Büro gebraucht. Es gibt Neuigkeiten.«

*

Das gelbe Postpaket sahen sie schon von Weitem auf Lukas’ Schreibtisch stehen. Es war noch unberührt. Die Kollegen hatten auf Lukas und Theo gewartet.

»Wer sagt uns, dass es vom selben Absender ist?«, fragte Lukas nervös.

»Du wirst es uns sagen, wenn du das Paket geöffnet hast«, gab Andrea schlagfertig zurück.

»Du musst gerade noch die Klappe aufreißen«, schimpfte Lukas. »Es gab keinen Grund, damit auf uns zu warten.«

»Ruhe hier«, unterbrach Allensbacher den Streit. »Ich habe beschlossen, dass wir alle gleichzeitig informiert werden. Es besteht immer noch die Hoffnung, dass wir in diesem Paket Hinweise auf die vermisste Person finden ...«

Langsam und sorgfältig begann Lukas, die Pappe aufzuschneiden. Als er fertig war, mussten die Laschen nur noch nach oben geklappt werden. Aber er hielt inne. Alle schauten ihn überrascht an.

»Warum machst du nicht weiter?«, fragte Theo.

»Weil ich heute Morgen vor euren Augen erst einen Fuß aus einem Paket gefischt habe. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust, noch mal so eine abartige Überraschung zu erleben.«

»Feigling!« Mit diesem Wort drängte sich Andrea nach vorn, griff in die Pappschachtel und zog den Inhalt heraus. Es war eine menschliche Hand.

Wieder in festes Nylon und in eine klare Flüssigkeit verpackt. Und wieder sah der Knochenstumpf ausgefranst aus, als sei die Hand stümperhaft abgetrennt worden.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Monika zaudernd.

»Sie rufen den Gerichtsmediziner an!«, befahl Allensbacher. »Vielleicht kann er uns schon etwas über den Fuß verraten.«

Lukas bediente das Telefon auf seinem Schreibtisch und stellte den Apparat auf Lauthören, damit alle das Gespräch mit verfolgen konnten.

Laut donnerte ein gebelltes »Gerichtsmedizin, Dr. Eberhard Stemm« durch den Äther. Sogar auf die Entfernung von zwanzig Kilometern und durchs Telefonnetz hindurch konnte der Pathologe mit seiner Stimme einen ganzen Raum ausfüllen.

»Wir haben wieder Arbeit für Sie«, begrüßte Lukas den Mediziner. »Dieses Mal ist es eine Hand.«

»Das ist wirklich interessant. Nur her damit«, rief Dr. Stemm. »Ich habe nämlich gerade den Fuß untersucht, also ist ein Seziertisch für den nächsten Körperteil frei.« Sein Lachen tat den Polizeibeamten in den Ohren weh.

»Das heißt, Sie können uns etwas über den abgetrennten Fuß sagen?«, hakte Lukas euphorisch nach.

»Allerdings! Nur nicht, wem er mal gehört hat.«

»Aber was können Sie uns denn sagen?«

Alle lauschten gespannt dem leisen Knistern des Lautsprechers, als Dr. Stemm sagte: »Als der Fuß abgetrennt wurde, hat der Mann noch gelebt.«

3

Erwin fühlte sich wie in einer dicken, milchigen Suppe. Seine Augen ließen sich nur zur Hälfte öffnen. Erkennen konnte er nichts, außer weiß und weiß und noch mal weiß.

Wo war er? Was war mit ihm geschehen?

Er spürte nichts. Keinen Schmerz, keine Emotionen, keine Regung. Lebte er noch? Oder war er auf dem Weg in den Himmel? Denn genauso sah es aus. Das viele Weiß, das milchige Weiß. Da gab es etwas ...