Ein ganz klarer Fall - Elke Schwab - E-Book
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Ein ganz klarer Fall E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

n Saarbrücken, der Landeshauptstadt des Saarlandes geschieht ein Doppelmord. Es handelt sich dabei um zwei junge Männer, die nach einem Betriebsausflug am Rande der Stadt tot aufgefunden werden. Bei seinen Ermittlungen bringt Hauptkommissar Norbert Kullmann eine Lawine aus politischem Machtmissbrauch, Skrupellosigkeit und Niederträchtigkeit ins Rollen, die ein weiteres Todesopfer fordert. Sein vorrangiges Ziel ist es, die wahren Opfer dieses Systems zu schützen.Bis zum Schluss bleibt Kullmann unbeugsam bei seinen Ermittlungsmethoden und bringt damit sich selbst und seine engste Mitarbeiterin Anke Deister in tödliche Gefahr. "Ein ganz klarer Fall" ist der Auftakt zur Kommissar-Kullmann-Reihe - eine Krimi-Reihe mit Norbert Kullmann als kultiger Hauptfigur! Band 1: Ein ganz klarer Fall Band 2. Kullmann jagt einen Polizistenmörder Band 3: Kullmann kann's nicht lassen Band 4: Kullmann stolpert über eine Leiche Band 5: Kullmann und die Schatten der Vergangenheit Band 6: Kullmann in Kroatien Band 7: Kullmann auf der Jagd Band 8: Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen Band 9: Kullmann und das Lehrersterben Band 10: Kullmann unter Tage Band 11. Kullmann ist auf den Hund gekommen

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Elke Schwab

Ein ganz klarer Fall

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Elke Schwab

Impressum neobooks

Prolog

Ein ganz klarer Fall

vonElke Schwab

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Elke Schwab, 2017

www.elkeschwab.de

Covergestaltung: Elke Schwab

Autorenfoto: Manfred Rother

4. überarbeitete Auflage 2022

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Es war noch dunkel, als Johann sich aus dem warmen, verlockenden Bett heraus quälte. Was ihn veranlasste, zu dieser unchristlichen Zeit aufzustehen, war seine neben ihm leise schnarchende Frau.

Ahnungslos hatte sie ihn darauf gestoßen, wie unförmig er geworden war. Der Gedanke, sie könnte ihn durch seine völlig aus der Form geratene Figur verlassen und sich einem anderen Mann zuwenden, genügte, seine Energie anzuspornen und seinen inneren Schweinehund einfach zu ignorieren. Schwerfällig stieg er in seine Shorts, die ihn noch lächerlicher aussehen ließen, und in seine Joggingschuhe. Mit einem letzten wehmütigen Blick auf seine hübsche, junge Frau verließ er das Schlafzimmer und das Haus.

Es war ein schwüler Morgen, der alle Lebensgeister drohte, wieder schwinden zu lassen. Aber er hatte ein Ziel vor Augen und das war das einzige, das ihn an seinem Entschluss festhielt. Sich selbst Motivation vortäuschend lief er los, wobei er noch einen letzten Blick auf die Uhr warf. Es war in der Tat zehn vor fünf, der Tag begann erst zu erwachen.

Schwermütig lief er durch die noch völlig ruhige Straße. In einigen Stunden würde dort reger Verkehr herrschen und nichts mehr an diese Atmosphäre erinnern. Er bog ab in den Waldweg, der auf den Burbacher Weiher zuführte. Dort hatte er schon manche ruhige Stunde mit seiner Frau verbracht, bei gutem Essen und gutem Wein. Dieser Gedanke brachte seinen Entschluss tatsächlich ins Wanken und krampfhaft bemühte er sich, an andere Dinge zu denken. Aufmerksam richtete er seine Augen auf den noch in der Dunkelheit liegenden Weg, um ein Stolpern zu vermeiden, als er plötzlich glaubte, etwas Rotes gesehen zu haben. Verwirrt schüttelte er seinen Kopf und verwarf den Gedanken wieder. Im Wald gab es nichts, was rot leuchtete. Und trotzdem erkannte er es wieder: es war eindeutig rot und passte nicht hierher. Neugierig geworden kam er von seiner üblichen Route ab und steuerte das rote Etwas an. Als er immer näher kam, erkannte er, dass dort im Wald völlig verlassen ein rotes Auto stand, dessen Fahrertür und Beifahrertür weit geöffnet waren.

Erschrocken blieb er stehen und lauschte, aber er konnte keinen Mucks hören. Alles war still, bis auf wenige Vögel, die bereits erwacht waren und den neuen Tag mit ihrem Gezwitscher ankündigten.

Sein Herz begann zu schlagen, auch sein Atem wurde heftiger, obwohl er noch keinerlei Anstrengung hinter sich hatte. Was störte ihn so an dem Anblick dieses Autos?

Zögernd näherte er sich, wobei er feststellen musste, dass dieses Fahrzeug weit vom ursprünglichen Weg abgekommen war, so als habe der Fahrer die Abgeschiedenheit gesucht. Als er kurz davor stand, erkannte er endlich, warum die Türen offenstanden. Er glaubte fast, der Schlag müsste ihn treffen. So etwas hatte er nicht erwartet. Taumelnd vor Entsetzen wich er einige Schritte zurück und fiel plumpsend auf sein Hinterteil, das schlagartig durchnässt war. Ruckartig erhob er sich, wandte sich von diesem Anblick ab und rannte in Bestzeit den Weg zurück, den er gekommen war. Sein Atem ging heftig aber der Schrecken, den dieser Anblick in ihm verursacht hatte, ließ es einfach nicht zu, müde zu werden. In kürzester Zeit, die ihn bereits an die Olympiaklasse erinnerte, erreichte er sein Haus, sperrte unter Zittern die Haustür auf und eroberte das Telefon.

Kapitel 1

Knapp eine halbe Stunde später schritt Kullmann im frühmorgendlichen Nebel auf der Lichtung auf und ab. Die Spurensicherung war gleichzeitig mit ihm eingetroffen und hinterließ den Eindruck von Ameisen, die unentwegt in Bewegung waren und wie mechanisch ihre Arbeit verrichteten.

Den Blick hatte er schon lange vom Tatort abgewendet. Viel zu oft war er in seiner langen Dienstzeit mit den Grausamkeiten des Lebens konfrontiert worden. Bilder, die sich langsam in sein Gemüt schlichen, die ihn zermürbten, ihn nachts nicht mehr schlafen ließen. Anblicke, die ihm in Stunden, die er allein war, den Schweiß ins Gesicht trieben. Wie viele Jahre seines Lebens verbrachte er schon damit, grausame Taten aufzuklären, Menschen das Handwerk zu legen, junge Menschen hinter Gitter zu bringen und ihnen somit jeden Lebensweg zu versperren. Wie viele junge Menschen sah er vor sich liegen. Tot, verstümmelt, misshandelt. Menschen, deren Schicksal mit einem Schlag gewaltsam beendet worden war.

Ein Menschenleben galt heutzutage nichts mehr, die Zahl der Opfer wurde immer größer, die Zeiten wurden immer schlechter. Da schritt er nun auf und ab. Das Haar schon licht und grau, tiefe Falten im Gesicht, die seinen tiefen Schmerz verrieten und für seine 58 Jahre schon arg vom Leben gezeichnet.

Er wirkte ausgelaugt. In seinen 30 Dienstjahren hatte er zu viel Leid und Elend gesehen, wovon er immer ein Stückchen in seinem Innersten mitgetragen hatte. Diese Spuren waren nicht zu übersehen.

»Norbert«, hörte er seinen jungen Kollegen rufen, mit dem er bereits seit fünf Jahren zusammenarbeitete, und dessen Temperament ihn immer wieder verwunderte und missmutig stimmte. Andreas Hübner war vor einiger Zeit zum Kommissar befördert worden, was er nur seinem besonderen Ehrgeiz verdankte.

Er wandte seinen Blick dem jungen Kollegen zu, der mit großen Schritten auf ihn zukam. Hübner war ein gutaussehender junger Mann, mit blondem Haar, braungebrannt und athletischem Körper, was Norbert Kullmann ihm zugestehen musste. Er war eher klein und gedrungen, sein Haar war bereits schon in jungen Jahren silbrig grau, wodurch er schon immer älter ausgesehen hatte. Immer wieder musste er mit ansehen, wie Hübner auf die Frauen wirkte, wie die Frauen um seine Aufmerksamkeit buhlten. Er hingegen hatte mit Frauen wenig Erfahrungen – und die, die er gemacht hatte, sollten ihm genügen.

»Norbert, die Tatwaffe liegt noch im Wagen. Es ist ein französischer Revolver mit 8 mm Kaliber. Schon fast ein Sammlerstück. Komm’ mit und schau dir das an«, drängte der junge Kollege voller Eifer, womit er ihn völlig aus den Gedanken riss.

Dieser Fall, der die beiden am Samstagmorgen schon um 6.00 Uhr aus den Betten geworfen hatte, weckte ganz besonderes Interesse bei dem jungen Kollegen. So etwas ist in seinen Dienstjahren, die er mit Kullmann zusammenarbeitete, noch nicht dagewesen.

Dieses besondere Interesse konnte Kullmann jedoch nicht mit ihm teilen, da er, wenn er Bilanz zog, in seinen langen Dienstjahren bereits so viele schreckliche Ereignisse und Taten miterlebt hatte, dass es ihn nur noch missmutig stimmte. Was hatte er in all den Jahren eigentlich gemacht? Was hatte er verändert? Was erreicht?

Nichts. Als er anfing, war auch er voller Tatendrang und Ideen. Er glaubte, das zu schaffen, was anderen nicht gelungen war: das Gute siegen zu lassen und die Bösen zu bestrafen. Das Ergebnis hatte er jetzt. Er bewegte sich nur im Kreis. Hier ein Attentat aufgeklärt, dort den nächsten Fall auf dem Tisch. Die Bösen gingen niemals aus, niemals. Auch Hübner würde das nicht ändern können. Nur es ihm jetzt schon zu sagen, wäre einfach zu früh. Er würde es nicht glauben wollen. Genauso wie er damals. Hübner ließ ihn oft wieder daran, denken, wie er früher war und wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass er haargenau so angefangen hatte wie sein Kollege heute.

Oft war ihm in letzter Zeit sein damaliger Vorgesetzter, Edgar Britz, ins Gedächtnis gekommen. Auch er war gezeichnet durch seine jahrelange Konfrontation mit Leiden und Sterben. Seine Versuche, den damals jungen Kullmann in seinem Ehrgeiz zu bremsen waren anfangs auch gescheitert. Wieder dieser Teufelskreislauf, stellte Kullmann fest; alles endete am Anfang.

In diesem Augenblick erinnerte er sich daran, dass kurz nach seinem Dienstantritt Edgar Britz selbst zum Opfer eines Attentats wurde. Erst dann, als es zu spät war, hatte Kullmann ihn verstanden. Dieses Ereignis veränderte sein ganzes Denken und Handeln. Edgar Britz war ein so wunderbarer, korrekter, aufrichtiger Mensch, wie man es heute wohl nicht mehr oft erleben konnte. Alle Fälle, die er bearbeitet hatte, wurden mit einer Korrektheit ausgeführt, dass es an Perfektionismus grenzte. Edgar Britz sagte man nach, er arbeitete nicht nur für das Recht, er war es. Als es dann diesen Mann getroffen hatte, waren alle, die mit ihm arbeiteten oder die ihn kannten zutiefst betroffen. Wer konnte diesem Menschen, der sich so vehement für das Gute einsetzte und das Böse bekämpfte, so etwas antun? Die Antwort war ganz einfach: die unbesiegbaren Bösen. Der Fall war niemals aufgeklärt worden, so sehr sich der ganze Polizeiapparat auch darum bemühte. Auch er selbst hatte lange Nachforschungen angestellt, aber nichts erreicht. Der Täter kam irgendwo aus dem Nichts und verschwand auch wieder dort.

Es gab keine Chance, ihn zu fassen. So wie es niemals eine Chance gab, das Böse zu fassen.

Edgar Britz war mit einem Auto mehrfach überrollt worden, bis er endlich starb. Es war die grausamste Tat, die Kullmann je erlebt hatte – auch in den nachfolgenden Dienstjahren. Kopfschüttelnd wandte er sich wieder der Gegenwart zu.

Es handelte sich um zwei Männer, die erschossen – einer vor dem Wagen und einer am Steuer des Wagens – von einem Jogger aufgefunden worden waren. Den Papieren konnte man entnehmen, dass sie 39 und 41 Jahre alt waren. Der erste Eindruck, den die Kollegen beim Anblick dieser Leichen hatten, war, dass sie friedlich schliefen. Sie hatten beide die Augen geschlossen, als habe man sie im Schlaf erwischt. Lediglich an dem ausgetretenen Blut, erkannte man, dass sie tot waren. Andreas Hübner versuchte voller Eifer seinem Vorgesetzten alles, was er bisher entdecken konnte, zu erklären, doch Kullmann winkte ab. Wieder vergrub der Alte seine Hände in den Jackentaschen und ging langsam auf den Dienstwagen zu, den er zusammen mit seinem jungen Kollegen in den Einsätzen fuhr.

»Norbert?«, hörte der Hübner ihm völlig verwirrt nachrufen.

»Ich fahre ins Büro zurück. Erledige du hier alles und lass’ dich von einem Kollegen zurückfahren.«

Hübner ging schnellen Schrittes auf den Dienstwagen zu und hinderte den Alten daran, die Wagentür zuzuschlagen.

»Was ist los mit dir? Wir arbeiten doch immer noch im Team, oder ist mir da was entgangen?« Auf Kullmanns Schweigen hin fügte er an: »Oder wird einfach nur dein Gemüt zu schwach?« Die leichte Ironie in seinem Ton war nicht zu überhören.

Kullmann schaute zu ihm hoch in sein vor Eifer errötetes Gesicht, das von blonden im Wind flatternden Locken eingerahmt war, und lächelte: »Mein Gemüt wird nicht zu schwach. Ich glaube, ich werde langsam zu alt für diesen Job. Ich lasse mich besser zum Innendienst versetzen. Vielleicht kann ich als Schreibtischhengst noch einmal aufwiehern.«

*

Es hatte begonnen zu nieseln. Kullmann musste die Scheibenwischer einschalten, um besser den zähfließenden Verkehr beobachten zu können. Sein Weg führte über die Hochstraße, die Breite Straße und weiter am Saarbrücker Hauptbahnhof vorbei, wo die Verkehrsdichte selbst am Samstagmorgen unerträglich war.

Wütend hupten und blinkten die Autofahrer auf, aber was nützte es? All die Ungeduld dieser Menschen – es wurde immer schlimmer statt besser, dachte Kullmann, wobei seine Gedanken wieder zu den beiden Toten schweiften. Wofür das alles, diese Hektik, diese Eile?

Die Zeit war der böse Geist unserer Gesellschaft, der sich in unsere Gemüter schlich, ohne dass wir es bemerkten. Für diese beiden Opfer hatte sie nun keine Bedeutung mehr. Am Ende hatte die Zeit für keinen Menschen mehr irgendeine Bedeutung und doch rannten sie ihr immer wieder hinterher.

Am Polizeigebäude stellte er den Dienstwagen in dem von hässlichen Mauern eingerahmten Hof ab und eilte in sein Büro, das in der ersten Etage lag. Auf seinem alten Schreibtisch prangte ihm eine neu angelegte Mappe entgegen, die Kullmann in Erstaunen versetzte. Wo kam diese Mappe her? Wer arbeitete schon so früh am Samstagmorgen in diesem Büro? Kaffeeduft stieg ihm in die Nase und vermittelte ihm direkt ein heimisches, wohltuendes Gefühl, das ihn von seinem pessimistischen Gedanken ablenkte.

»Guten Morgen, Chef«, hörte er die fröhliche Stimme seiner jungen Mitarbeiterin Anke Deister, die erst seit einem halben Jahr im Polizeidienst angestellt war, sich aber in der Kürze der Zeit zu einer beliebten und begehrten Kollegin entpuppt hatte. Sie war stets guter Laune, trotz dieser belastenden Tätigkeit in der Mordkommission. Stets hatte sie ein freundliches Lächeln parat, womit sie sogar den schlecht gelaunten Kollegen Kullmann besänftigen konnte. Ihre jugendliche Schönheit und ihre Lebendigkeit brachten jungen Wind in diese alten Gemäuer, wie Kullmann stets, wenn er sie ansah, begeistert feststellen musste. Sie war von einem gesunden Ehrgeiz eingenommen, der sie vergessen ließ, dass das Leben für junge Menschen auch noch andere Angebote bereithält. Diese Eigenschaft bewog sie auch dazu, am Samstagmorgen in aller Frühe im Büro zu sitzen und Aktenmaterial für den Doppelmordfall zusammenzustellen.

»Was tun Sie hier um diese Zeit?«, erwiderte Kullmann, ohne den freundlichen Gruß zu erwidern. Es war ihm zweifelhaft, wie eine junge, hübsche Frau ihre freie Zeit auf diese Weise vergeuden konnte. Sie gehörte unter Gleichaltrige, die abends die Disco besuchten und morgens lange schliefen - und nicht hierher in diese grauen Mauern.

»Gut gelaunt, wie immer«, zwitscherte sie zu ihrem Chef und nahm ihm mit ihrer Heiterkeit den Wind aus den Segeln. »Sie wissen doch, dass meine Arbeit mich interessiert, und so ein Fall ganz besonders«, kam sie mit einer Tasse Kaffee aus dem kleinen Nebenzimmer und stellte sie Kullmann direkt vor die Nase, damit er gar nicht auf den Gedanken kam, weiter über das Thema zu diskutieren.

»Woher haben Sie schon so viel Aktenmaterial, es ist doch erst sieben Uhr?«, wunderte sich Kullmann und schaute sich die ersten Informationen kaffeetrinkend an. Es waren Zusammenstellungen über die beiden Toten, deren Familienangehörigen, und über die Firma, in der sie beschäftigt waren. Wie Anke Deister bereits in Erfahrung bringen konnte, hatten sich die beiden Opfer auf einer Betriebsfeier aufgehalten, von der sie nicht mehr nach Hause gekommen waren.

»Ich habe von Hübner herausbekommen, wer die beiden sind und bin darauf hin ins Büro gefahren, um Näheres in Erfahrung zu bringen. Hier lag eine Meldung vor, dass die Herren Klos und Wehnert von den Ehefrauen bereits als vermisst gemeldet wurden, weil sie von der Betriebsfeier nicht mehr zurückgekehrt sind. Diese Meldung wurde zwar noch nicht bearbeitet, weil es im Normalfall viel zu früh gewesen wäre, aber jetzt liegt der Fall wohl anders. Also habe ich mich an die Arbeit gemacht. Viel habe ich ja noch nicht herausfinden können, ich wollte schließlich die beiden Frauen noch nicht über ihr Schicksal informieren. Das überlasse ich zuständigkeitshalber Ihnen.«

Den letzten Satz unterstrich sie mit einem frechen Grinsen, worauf Kullmann nur das Gesicht verzog. Sie wusste ganz genau, wie unangenehm es ihm immer wieder war, den Betroffenen die schlimme Botschaft zu übermitteln. Eilig verschwand sie in ihrem Büro, damit er keine Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern. Aber es war ihm auch gar nicht danach zumute. Als er in die Mappe schaute, las er, dass Herbert Klos 39 Jahre alt, verheiratet war und 2 Kinder, Zwillinge, hatte. Das zweite Opfer, Jürgen Wehnert, war 41 Jahre alt, ebenfalls verheiratet und hatte eine Tochter. Gar nicht schön. Er konnte sich schon die Szenen vorstellen, die auf ihn zukommen würden. Wie oft hatte er das schon erlebt. Illusionen, die innerhalb von Sekunden zerstört waren, Schicksale, die mit einem Schlag besiegelt waren und Menschen, die am Verlust des Mitmenschen zerbrachen. Nicht selten wollten diese Menschen ihn für das, was er übermittelte, auch noch verantwortlich machen. Er notierte die Anschriften der beiden betroffenen Familien und machte sich auf den Weg. Je eher, desto besser, dachte er.

Mit langsamen Schritten ging er wieder hinunter zum Parkplatz auf seinen Dienstwagen zu, als die übrigen Kollegen vom Tatort vorgefahren kamen. Hübner stieg aus und schritt auf Kullmann zu.

»Was ist mit dir los? Hast du kein Interesse mehr daran, mit mir im Team zu arbeiten, oder was? Was habe ich dir getan?« Vorwurfsvoll schaute er seinen Vorgesetzten an und erwartete eine Antwort.

Kullmann schüttelte den Kopf und meinte nur: »Du hast mir gar nichts getan. Nimm es bitte nicht persönlich. Aber jetzt muss ich zu den betroffenen Familien fahren, und glaub mir, das hebt meine Stimmung nicht gerade an.«

Er hoffte, der junge Mann würde sich damit zufrieden geben, doch da hatte er sich getäuscht. »Ich fahre mit dir. Schließlich ist es genauso meine Aufgabe, mit diesen Leuten zu sprechen«, bestimmte er und stieg bereits auf der Fahrerseite in den Dienstwagen ein. Kullmann widersprach ihm nicht. Eigentlich war es ihm sogar ganz recht, dass er nicht alleine dieses Trauerspiel miterleben musste. Hübner konnte in solchen Augenblicken ungewöhnlich viel Taktgefühl und Feingefühl an den Tag legen, was Kullmann diese unangenehme Aufgabe erleichterte. Resigniert setzte er sich auf den Beifahrersitz, nannte die Anschriften der beiden und bat Hübner loszufahren.

Zuerst hielten sie an dem Haus der Familie Klos. Es lag außerhalb der Stadt zwischen Riegelsberg und Rußhütte, ein Ort direkt am Waldrand, wo sich außer diesem nur noch fünf andere Häuser befanden. Sie stellten den Wagen direkt davor ab und stiegen aus. Frische Waldluft strömte ihnen entgegen, die intensiv nach Regen roch. Man spürte noch den jungen Tag in der Luft. Ein Tag, der für die meisten Menschen erst begann, der aber für zwei Menschen schon zu Ende war. Schwerfällig bewegte sich Kullmann hinter Hübner her auf die Haustür zu, als diese bereits aufgerissen wurde. Eine kleine, schmale Frau, mit blassem Gesicht und ungekämmten Haaren erschien im Türrahmen und schaute erwartungsvoll den beiden entgegen. In ihren Augen war großer Kummer zu sehen, der deutliche Schatten unter den Augen abzeichnete.

»Wer sind Sie? Ich dachte, mein Mann käme endlich nach Hause«, sprudelte sie los. Verwirrung schwang in ihrer Stimme mit.

Kullmann stellte seinen Kollegen und sich selbst vor. Dabei wusste er, wie die Existenz der Polizei auf Menschen in solchen Situationen wirkte. Die Einleitung ersparte ihm fast die Mühe, die ganze Wahrheit zu sagen, da die Betroffenen es bereits ahnten.

»Ist meinem Mann was zugestoßen?«, fragte sie entsetzt und verlor nun vollends das bisschen Farbe, das noch in ihrem Gesicht war.

»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte Hübner.

»Sicher«, besann sie sich rasch und ließ die beiden eintreten.

»Die Kinder sind zuhause, ich möchte nicht, dass sie etwas mitbekommen. Gehen wir am besten ins Wohnzimmer.« bestimmte sie und zeigte den beiden den Weg dorthin.

Es war ein geschmackvoll eingerichteter Raum mit einem Panoramafenster, das vom Boden bis zur Decke reichte. Der Ausblick ging direkt auf einen kleinen Garten mit Teich, an den der Wald angrenzte. Eine Tür, die auf eine an den Garten angrenzende Terrasse führte, stand offen und ließ den frischen Duft der regennassen Bäume herein.

»Oh, ich hatte wohl vergessen, die Tür abzuschließen«, stellte die Frau zerstreut fest und holte es hastig nach.

In der Mitte des Zimmers stand eine Ledercouchgarnitur in Antikbraun, die mit ihrer ganzen Wuchtigkeit einen kleinen Marmortisch mit Glasplatte einrahmte. Dort bot die Frau den beiden Herren Platz an und setzte sich selbst ihnen gegenüber.

»Wo ist mein Mann?«, fragte sie nun bedachter. Sie legte ihre Hände auf den Schoß und bereitete sich auf das vor, was die beiden ihr zu sagen hatten.

»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Ihr Mann ist tot«, erklärte Kullmann nun endlich den Grund seines Besuches.

Stille beherrschte den Raum.

Frau Klos saß regungslos da und starrte auf ihre Hände, als hätte sie noch nie solche Hände gesehen. Nach einer Weile hob sie den Kopf, richtete ihren Blick auf Kullmann und fragte: »Was ist passiert?« Kullmann antwortete nicht sofort, sondern prüfte ihren Blick. Ihre Augen waren nervös und glitzerten von den Tränen, die sich langsam zu bilden begannen.

»Er wurde erschossen in seinem Wagen aufgefunden.«

Wieder folgte Stille. Regungslos saß sie da und starrte unbeirrt auf ihre Hände. Ihr Gesicht war kalkweiß. Tränen tropften hinunter auf ihre Beine.

»Warum?«, fragte sie hauchend.

»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Kullmann wahrheitsgetreu, obwohl eine Antwort nicht nötig gewesen wäre. Diese Frau befand sich bereits in einem tranceähnlichen Zustand. »Warum?«, fragte sie wieder. »Warum gerade Herbert?«

Sie bewegte sich wie in Zeitlupe und die Sekunden, die verstrichen, kamen den beiden Polizisten in dieser beklemmenden Situation wie endlose Stunden vor. Mit tränennassen Augen sah sie zu den beiden Beamten auf und meinte nur: »Danke, dass Sie gekommen sind, aber kann ich jetzt bitte allein sein?«

Kullmann und Hübner nickten und schlichen sich wie Diebe aus dem Haus.

»Das war ja nicht so schlimm wie erwartet«, stellte Hübner fest, als sie ins Auto einstiegen.

»Stimmt«, nickte Kullmann bedächtig. »Sie hat es zumindest vermieden, uns die Schuld daran zu geben.«

»Fahren wir nun zu Frau Wehnert?«, fragte Hübner. Seine Stimme klang belegt.

»Ja, bringen wir auch das hinter uns. Jetzt bist du an der Reihe«, bemerkte Kullmann.

*

Familie Wehnert lebte in dem Stadtteil Malstatt, das den ältesten Teil Saarbrückens darstellte. Durch die schlechte Situation in der Stahlindustrie war aus dem Stadtteil, das einst zu den angesehensten Orten der Landeshauptstadt gehörte, eine unsichere Gegend geworden, deren Bewohner durch Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit aus ihrem Missmut keinen Hehl machten. Die Lebensbedingungen dieses Stadtteils hatten sich im Laufe der Jahre deutlich sichtbar verschlechtert. Gepflasterte Straßen zogen sich durch die grauen Mauern der Reihenhäuser, die zum Teil ungepflegt waren oder gar unbewohnt. Eingeschlagene Fenster und bemalte Häuserwände unterstrichen diese ganze deprimierende Atmosphäre.

Das Haus der Wehnerts lag inmitten dieser Reihenhäuser und unterschied sich nur dadurch, dass die Fenster ganz, geputzt und sogar Gardinen aufgehängt waren. Hübner betätigte die alte, kleine Klingel, musste aber schnell feststellen, dass sie nicht funktionierte.

Also klopfte er, um gehört zu werden. Es dauerte nicht lange bis geöffnet wurde. Vor den beiden stand eine gutaussehende große Frau mit langen blonden Haaren und braungebrannter Haut. Sie war jugendlich gekleidet mit Jeans und Holzfällerhemd und trug ausgetretene Jesuslatschen. Lediglich an den kleinen Fältchen um die Augen herum konnte man erkennen, dass sie kein Teenager mehr war.

»Wer sind Sie?«, fragte sie, als keiner von den beiden was zur Begrüßung sagte. Sogar Hübner war von dem Anblick so erstaunt, dass es ihm einen kurzen Augenblick lang die Sprache verschlug.

»Wir kommen von der Polizei. Es geht um Ihren Mann Jürgen Wehnert«, antwortete er.

Das Gesicht der Frau versteinerte sich. Unruhig schaute sie sich um und meinte dann: »Kommen Sie bitte herein.«

Die beiden Männer folgten ihr in ein kleines, gemütliches Wohnzimmer, das im Gegensatz zu der Einrichtung der Familie Klos ganz einfach eingerichtet war. Die Möbel sahen schon abgenutzt aus, als hätten sie schon einige Jahre miterleben müssen.

»Haben Sie meinen gefunden?«, fragte sie, sobald sie Platz genommen hatten.

Hübner schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Mann tot ist. Er wurde erschossen.«

Kurzes Schweigen folgte. Frau Wehnert wirkte gefasst.

»Wer hat das getan?«, fragte sie.

»Das wissen wir noch nicht. Wir ermitteln in dem Fall.«

»Wann ist es passiert? Gestern Abend, auf dem Betriebsfest?«, bohrte sie weiter.

»Die genaue Zeit wissen wir auch noch nicht, er wurde heute in den frühen Morgenstunden gefunden.«

»War Jürgen denn alleine, er ist doch nie allein, sein Kollege Herbert ist doch immer bei ihm?«, sprudelte sie los. Allmählich spürte man, wie Verzweiflung in ihre Stimme geriet.

»Herbert Klos ist auch erschossen aufgefunden worden. Sie waren beide in dem Wagen von Herrn Klos«, berichtete Hübner sachlich, während Kullmann nur schweigend daneben saß.

Sie stammelte etwas, was beide nicht verstehen konnte, dann drehte sie sich von den beiden weg und begann herzzerreißend zu schluchzen. Es dauerte eine Weile, bis Hübner und Kullmann den Eindruck bekamen, dass sie nichts mehr ausrichten konnten.

Unauffällig erhoben sie sich und verließen das Haus, um sie alleine zu lassen. Mit betretenen Mienen fuhren sie zum Büro zurück.

Dort stand immer noch die Tasse Kaffee, die Kollegin Deister ihm am frühen Morgen gebracht hatte. Inzwischen war er kalt. Gerade hatte er sich damit abgefunden, den Rest des Vormittages, ohne dieses Zeug auszukommen, als Anke ihm mit einer vollen Kanne entgegenkam. »Ich habe hier frischen, wenn Sie möchten.« Zufrieden schaute Kullmann in ihr hübsches Gesicht. Ihr Grinsen konnte er nicht definieren. „Ich habe sogar Herzschonenden gekocht – extra nur für Sie.« fügte sie munter an. Nun wusste er, was dieses Grinsen zu bedeuten hatte. Gerne ließ er sich einschenken.

»Liebe Frau Deister, ohne Sie hätte ich schon längst meinen Dienst quittiert, das können Sie mir glauben«, schmeichelte er.

»Danke für die Blumen«, lachte sie, »aber das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind doch mit Leib und Seele Polizist.«

»Sie meinen, ich kann nichts anderes«, verbesserte er sie, ohne sie dabei anzuschauen.

»Sie sind wirklich unverbesserlich. Immer etwas Negatives auf den Lippen.«

»Deshalb freue ich mich ja immer so auf Sie. Sie sind die einzige, die hier meine Stimmung heben kann.«

Die Konversation wurde sogleich von Hübner unterbrochen, der mit einigen Papieren das Büro betrat.

»Hier haben wir erste Ergebnisse: der Tod trat etwa zwischen 0.00 Uhr und 3.00 Uhr morgens ein. Die Schüsse wurden aus nächster Nähe abgegeben, allerdings trat der Tod nicht sofort ein. Geschossen wurde aus der 8 mm, die wir im Auto gefunden haben. Der Revolver ist zwar alt, aber gut gepflegt und voll funktionsfähig.« Hübner schaute auf seinen Vorgesetzten und fragte: »Wo kriegt man so was her?«

»Drüben in Frankreich. Wenn ich mich richtig erinnere, handelt es sich um eine französische Waffe. Dann liegt es doch nahe, dass sie hinter der Grenze gekauft wurde. Auf bestimmten Märkten bekommt man in Frankreich nicht registrierte Waffen in Hülle und Fülle. Eigentlich ganz einfach für die Täter. Wir können diese Waffen nicht zurückverfolgen.«

»Stimmt! Die Waffe ist nicht registriert, die Nummer wurde so unkenntlich gemacht, dass da nichts mehr zu rekonstruieren ist. Es wurden jedoch weder an den Toten noch im Auto Projektile gefunden.«

»Fahrertür und Beifahrertür standen offen«, erinnerte Kullmann. »Wurde wenigstens die Umgebung abgesucht?«

»Ja! Aber es wurde nichts gefunden. Fingerabdrücke gibt es auch keine. Es macht den Eindruck, als seien sie sorgfältig weggewischt worden. Unser Täter hat wohl an alles gedacht.«

Kullmann nickte nur nachdenklich. Schnell drehte Hübner sich um und ging zur Kollegin Deister, um sich dort ebenfalls eine Tasse Kaffee zu nehmen. Nach einem kurzen Gespräch mit ihr, das Kullmann nicht verstehen konnte, kehrte er zu ihm zurück.

Kriminalkommissar Jürgen Schnur trat mit einer Liste in der Hand dazu.

»Guten Morgen, ihr Frühaufsteher«, grüßte er grinsend, weil er wusste, wie unangenehm es war, samstags morgens um sechs in der Frühe in dieses Nieselwetter hinaus zu müssen - und dann noch zu solch einem erschütternden Fall.

»Guten Morgen, du Murmeltier. Was hast du denn da in der Hand?«

»Eine Liste über die Teilnehmer an dem Betriebsausflug der Fa. Schulz KG gestern. Die ganze Firma war dabei, viele sind es ja nicht, neun Personen.«

»Was macht die Firma Schulz KG?«

»Verkauf bzw. Vermietung von Spielautomaten«, antwortete Schnur kurz und verließ das Büro.

Hübner ging die Liste durch und musste feststellen, dass die Mitarbeiter dieser Firma durch das ganze Saarland verstreut waren, was die Arbeit erschwerte.

»Es bleibt wohl nichts anderes übrig, als mit den Befragungen anzufangen«, murmelte er vor sich hin. »Die Arbeit ruft. Ich würde sagen: Je eher wir anfangen, desto besser.«

»Du immer mit deinen Weisheiten«, knurrte Kullmann und folgte dem jungen Mann in den Hof zum Dienstwagen.

»Wir beginnen am besten mit dem Chef der Firma, Herrn Adrian Schulz«, beschloss Kullmann während sie einstiegen.

»Ganz wie Sie wünschen« Hübner salutierte, bevor er sich auf dem Fahrersitz niederließ

Sie fuhren zu dem Sitz der Firma Schulz KG in Saarbrücken, wo sie den Chef am ehesten vermuteten und hatten Glück. Die Firma befand sich in einem alten Reihenhaus aus rotem Backstein in der dritten Etage. Dort brannte Licht. Sie klingelten.

»Wer ist da?«, hörten sie eine Männerstimme durch die Rufanlage.

»Die Polizei.«

»Die Polizei?«, ertönte es völlig fassungslos zurück. »Sind Sie sicher, dass Sie hier richtig sind?«

»Ja, absolut«, bestimmte Kullmann

Der Summer ertönte. Hübner stieß die Tür auf und sie traten ein. Der Fahrstuhl war zu ihrem Pech defekt, so dass sie gezwungen waren, die Treppe hinaufzusteigen. Im dritten Stock wurden sie bereits von einem Mann mittleren Alters und strengen Gesichtszügen erwartet.

»Was führt die Polizei zu mir?«, fragte er, ohne sich vorzustellen.

»Guten Morgen, erst einmal«, keuchte Kullmann. »Dürfen wir nach diesen Anstrengungen wenigstens hereinkommen?«

»Sicher, entschuldigen Sie, treten Sie doch ein. Mein Name ist Adrian Schulz«, änderte er sogleich seinen Ton und ließ die beiden eintreten. Sie gelangten in einen großen modern ausgestatteten Büroraum überfüllt mit Personalcomputern, Fax-Geräten und Kopierern. Einige Ecken wurden durch Plexiglasscheiben von dem übrigen Büro getrennt. Der Boden war mit braunem Teppich ausgelegt, was dem Raum eine besondere Wärme verlieh. Das Mobiliar bestand aus alter, gut erhaltener Eiche, auch die Bürostühle verrieten einen besonderen Komfort.

Herr Schulz führte sie durch das Büro hindurch in ein weiteres Zimmer, das eine noch feudalere Ausstattung aufwies. Eine Ledercouchgarnitur protzte dort im Raum, umgeben von zimmerhohen Pflanzen, die sich teilweise sogar schon über die Decke ausbreiteten. Ein großer Schreibtisch aus Mahagoni, auf dem sich etliche Akten und sonstige Ordner türmten, stand am Fenster. Eine Seitenwand schmückte eine zimmerhohe Regalwand aus Mahagoni, auf der sich die Aktenordner stapelten. Leise Musik klang aus irgendeiner Ecke, die den ganzen Raum damit erfüllte. Es klang nach Chopin. Schulz bot ihnen den Platz auf der Couch an und setzte sich selbst an den Schreibtisch.

»Kaffee kann ich Ihnen leider keinen anbieten, da meine Sekretärin heute nicht da ist. Wenn ich ihn selbst koche, kann ich ihn auch nicht anbieten«, meinte er verlegen, um endlich ein Gespräch einzuleiten.

»Das macht nichts«, erwiderte Kullmann, während er sich niederließ. Diese tiefen Sessel konnten noch so bequem sein, er mochte sie nicht. Das war für diesen Tag bereits der zweite, in dem er Platz nehmen musste. Es war immer wieder das gleiche Problem, aus diesen Sesseln herauszukommen, ohne das Bild eines alten Mannes dabei abzugeben. »Wir sind wegen den Mitarbeitern Klos und Wehnert hier.«

»Haben die beiden was verbrochen?«

»Warum fragen Sie das?«, reagierte Hübner sogleich mit einer Gegenfrage.

»Warum sollte sonst die Polizei hier sein?«, erklärte Schulz seine spontane Frage.

»Die beiden sind heute Morgen erschossen im Wald aufgefunden worden«, antwortete Hübner ohne Umschweife.

Adrian Schulz reagierte nicht.

»Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?«

»Sicherlich.« Er schüttelte sich. »Sind sie tot?«

»Ja beide.«

»Wie ist so was möglich?«, fragte er verwundert.

»Um das herauszufinden, sind wir hier« Hübner klang ungehalten.

»Ach, Sie wissen noch nicht, wer das getan hat?«

»Nein.«

»Vermuten Sie etwa, jemand aus der Firma?« Es war an Schulz schwer zu erkennen, ob seine Sorge der Firma oder den Mitarbeitern Klos und Wehnert galt.

»Wir dürfen das nicht ausschließen. Aber die Ermittlungen haben erst angefangen, so dass wir noch gar nichts sagen können. Zuerst müssen wir uns ein Bild von den beiden machen, bevor wir anfangen können, nach Verdächtigen zu suchen«, erklärte Kullmann.

Schulz nickte.

»Ich kann Ihnen die Personalakte geben. Aber das sagt wohl wenig darüber aus, wie sie waren«, stellte er nur fest.

»Sicher, aber die Akte kann nützlich sein. Was ist denn Ihr Eindruck, wie die beiden waren? Besteht die Möglichkeit, dass der Betriebsausflug im Zusammenhang mit der Tat steht?«

»Der Betriebsausflug? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Die Stimmung gestern war über den ganzen Tag gut und ausgelassen. Da gab es nicht den geringsten Zwist«, erklärte Schulz entschieden und zündete sich eine Zigarette an. Er wirkte nervös. »Warum fragen Sie mich nach diesen Dingen. Können Ihnen die Familien da nicht besser weiterhelfen?«

»Sie können sich sicherlich denken, dass die beiden Frauen zurzeit nicht belastbar sind. Und schon gar nicht mit solchen Fragen«, meinte Kullmann dazu. »Erzählen Sie uns lieber, was Sie über die beiden wissen.«

»Ich kann nicht viel sagen. Die Mitarbeiter kennen sich wohl besser untereinander. Ich weiß nur, dass beide für den Außendienst zugeteilt waren.«

»Wie lange sind die beiden schon bei Ihnen beschäftigt?«

»Jürgen Wehnert ist bestimmt schon 20 Jahre hier. Mein Vater hat ihn schon eingestellt. Herbert Klos kam etwa vor 6 –7 Jahren auf Drängen von Herrn Wehnert. Daran kann ich mich noch gut erinnern, weil ich damals eigentlich noch keinen zweiten Außendienstmitarbeiter brauchte. Zu der Zeit lief das Geschäft nicht besonders. Aber Wehnert ließ nicht locker, er meinte, Klos besäße das Talent, das Geschäft wieder zu verbessern. Also gab ich nach und stellte ihn ein«, erzählte Schulz.

»Und hat es sich denn bestätigt?«

»Nicht unbedingt. Das Geschäft lief wieder besser, was aber nicht der Verdienst von Klos war. Was Wehnert mir über diesen Mann erzählt hat, stimmte nicht unbedingt. Man soll die Toten ja ruhen lassen, aber wenn Sie mich danach fragen, kann ich nur sagen, dass Klos keine besonderen Leistungen brachte. Was er am besten konnte, war, andere von der Arbeit abzuhalten. Er glaubte zeitweise, er würde hier als Alleinunterhalter beschäftigt.«

Die Worte verrieten, dass Schulz seinem Mitarbeiter Klos keine besondere Sympathie entgegenbrachte und dies auch nicht verheimlichte.

»Wie standen die Kollegen und Kolleginnen zu den beiden?«

»Sehr gut. Klos war in allen Dingen der Redeführer und Wehnert tat es ihm nach. Auf diese Weise waren beide beliebt unter den Kollegen, sie konnten die Stimmung immer aufheitern.«

»Was macht Ihre Firma denn genau?«, funkte Hübner dazwischen.

»Wir organisieren den Verkauf und die Vermietung von Spielautomaten.«

»Ja, das wissen wir. Wo bekommen Sie die Geräte denn her. Wie ich sehe, gibt es hier keine Werkstatt, die diese Automaten produziert.«

»Wir beziehen die Automaten von den beiden saarländischen Firmen Deskoswi und Royal und verkaufen bzw. verleihen sie an Gasthäuser, Kaufhäuser und vor allen Dingen Spielcasinos und Spielotheken im ganzen Saarland. Einige ausgefallene Automaten beziehen wir auch von Firmen von außerhalb, aber nur wenige.«

»Und was heißt bei Ihnen Außendienst, das was Klos und Wehnert bei Ihnen machten?«

»Werbung vor Ort zum Beispiel. Einige Automaten werden neu vorgeschlagen bzw. andere Automaten müssen zurückgezogen werden und in einigen Fällen ist es notwendig, dass jemand hinausfährt und an Ort und Stelle alles abklärt. Das war ihre Aufgabe.«

»Waren die beiden immer zusammen unterwegs?«

»Ja immer.«

»Immer?« Hübner war erstaunt.

»Ja, was ist daran so ungewöhnlich? Mir war es lieber so wegen der Sicherheit«, erklärte Schulz.

»Arbeitet bei Ihnen sonst niemand mehr im Außendienst?«

»Nein, bisher hatte ich ja keinen Grund, noch jemand einzustellen. Die beiden machten ihre Arbeit, wobei ich feststellen musste, dass wohl Wehnert die produktive Arbeit geleistet hat und Klos sich damit stets ganz gut profilierte. Allerdings hat unter den Kollegen das niemand bemerkt. Sie ließen sich von Klos blenden und mir war es auch gleichgültig, wie es sich verhielt, solange das Geschäftliche nicht darunter litt.«

»Und das hat es nicht?«

»Nein, es lief ohne Komplikationen.«

Die Beamten verabschiedeten sich von Schulz und meinten abschließend: »Es wird wohl unvermeidlich sein, alle Mitarbeiter Ihrer Firma zu befragen.«

»Tun Sie das nur«, meinte Schulz mit einem Schulterzucken.

Kullmann und Hübner stiegen in den Wagen ein und schauten sich an.

»Getroffen hat es ihn nicht gerade«, stellte Hübner fest.

»Das ist mir auch aufgefallen. Das macht den Mann aber noch lange nicht verdächtig«, wehrte Kullmann sogleich ab, weil er sich denken konnte, was in Hübners hübschem Kopf vorging.

»Na ja, mal sehen, wie die anderen Mitarbeiter der Firma auf die Botschaft reagieren werden.«

*

Ida Fichte bewohnte ein kleines Haus mit einem hübschen Garten, der gepflegt angelegt war mit Fleißigen Lieschen, Azaleen, einem mächtigen Schneeballstock und blühenden Rosenstöcken. Mit staunenden Blicken gingen die beiden Beamten durch diese pittoreske Vegetation zum Haus und klingelten. Während sie auf eine Reaktion aus dem Haus warteten, setzte wieder Regen ein, der geräuschvoll auf die Pflanzen plätscherte, sich dort zu Perlen formte und tröpfchenweise auf den Boden fiel. Lange hielt diese Idylle jedoch nicht, denn der Regen wurde rasch stärker. Kullmann schlug seinen Kragen hoch, um sich zu schützen, während Hübner regungslos dastand und die Tropfen auf sich herab prasseln ließ.

»Wenn die noch lange braucht, dann bin ich tropfnass«, stellte er missmutig fest.

Im gleichen Augenblick wurde die Tür von einer kleinen unauffälligen Frau mittleren Alters geöffnet.

»Wer sind Sie?«

»Wir sind von der Polizei und haben ein paar Fragen an Sie«, leitete Hübner geschwind das Gespräch ein. »Es geht um die Kollegen Klos und Wehnert. Dürfen wir hereinkommen, es ist hier draußen ziemlich nass?«

»Sicherlich, wenn Sie von der Polizei sind«, meinte sie, ließ sich aber vorsichtshalber die Dienstmarken vorzeigen.

Daraufhin ließ sie die beiden eintreten. In der anspruchslos eingerichteten Küche angelangt setzten sie sich an den einzigen Tisch, wo Frau Fichte bereits begonnen hatte, Kartoffeln zu schälen. Verlegen räumte sie die Arbeit weg und meinte nur: »Ich lebe zwar allein, aber manchmal habe ich das Bedürfnis, mir etwas Gutes zu kochen.«

Die Kommissare nickten beipflichtend.

Hübner erzählte ihr, was mit den beiden passiert war.

Stumm setzte sie sich an das andere Tischende und sah die beiden an, als wüsste sie nicht, wie sie darauf reagieren sollte.

»Wie gut kannten Sie die beiden?«

»Nur als Arbeitskollegen. Privat kannte ich sie nicht.«

Das ganze Gespräch erwies sich nicht als fruchtbar. Frau Fichte war im Innendienst in der Antragsaufnahme beschäftigt und schien ein zurückgezogener und ruhiger Mensch zu sein. Informationen konnten die beiden Beamten keine von ihr erwarten. Den Betriebsausflug empfand sie als nette Abwechslung, wobei sie sich aber nicht näher über Einzelheiten äußerte. Nach kurzer Zeit verließen sie das Haus wieder und fuhren zurück zum Präsidium.

Dort herrschte reges Treiben.

Der Wirt des Lokals Zur alten Mühle, wo die abschließende Betriebsfeier stattgefunden hatte, unterhielt das ganze Kollegium mit seiner lauten Stimme. Kullmann ließ ihn ganz außer Acht, ging zielstrebig in sein Zimmer und schloss die Tür. Die laute Stimme war trotzdem ganz deutlich zu hören und er konnte jedes Wort verstehen, was ihm nicht recht war. Er wollte seine Eindrücke ordnen und dazu brauchte er Ruhe. Aber die war ihm nicht gegönnt. Er hörte, wie der Wirt sich ausführlich darüber ausließ, wie eine fremde Blondine sich verhalten, was die getragen hatte, mit wem sie gesprochen, ja sogar, welche Zigarettenmarke sie geraucht hatte. Aber niemand habe diese schöne Blonde gekannt. Nun wurde Kullmann hellhörig. Neugierig kam er wieder aus seinem Zimmer hervor und stellte sich zu den Beamten, die sich von dem Wirt unterhalten ließen.

»Aah, ist das euer Boss?«, rief er sogleich, als er Kullmann kommen sah.

»Vorgesetzter, das Wort ›Boss‹ gibt es bei uns nicht«, korrigierte Kullmann. »Aber fahren Sie mit Ihren Geschichten ruhig fort. Ich höre gerne zu.«

»Ja, wie ich dann schon sagte, diese Braut zog mit den aufreizenden Klamotten alle Blicke auf sich. Eine Oberweite hatte die...«, dabei machte er eine typische Handbewegung. »Da hätte man am liebsten selbst mal, na ja.« schmunzelte er. »Jedenfalls hatte diese Blondine nach einiger Zeit zwei Männer um sich herum, die sie den Rest des Abends freihielten mit Cola Cognac und so. Abgeneigt war von den dreien keiner, das merkte man gleich. Als sie dann ziemlich abgefüllt waren, sind sie zusammen fort. Einer der beiden ist tatsächlich noch mit dem Auto gefahren, bei dem, was der getrunken hatte.« Nachdenklich schüttelte der Wirt den Kopf.

»Wer waren die beiden Männer?«, fragte Kollege Schnur.

»Die Namen kann ich Ihnen nicht sagen, aber ich würde sie sofort wiedererkennen.«

Daraufhin nahm Schnur ein Foto hervor, auf dem die beiden Toten abgebildet worden waren in den frühen Morgenstunden und hielt es dem Wirt vor die Nase. Dieser erblasste. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet.

»Um Gotteswillen«, stieß er aus. »Die sind ja tot.«

»Deshalb sind Sie hier. Wir ermitteln in diesen Fällen«, erklärte Hübner kurz.

»Sind das die beiden Männer, mit denen die blonde Frau fortgegangen ist?«, fragte Schnur.

»Ja, das sind die beiden.«

»Na, dann haben wir schon ’mal einen Anhaltspunkt«, lobte Hübner gleich. »Und die Blondine, würden Sie die auch wieder erkennen?«

»Das weiß ich nicht, die hatte je ’ne Sonnenbrille an.«

»Eine Sonnenbrille? In einer regnerischen Nacht? In einer dunklen Kneipe?«, meinte Hübner ironisch.

»Ja. Ich habe mir darum keine Gedanken gemacht, die Stimmung war gut, warum sollte ich da etwas Verdächtiges vermuten?«, wehrte der Wirt sich.

»Da haben Sie recht. Nicht jede Blondine bringt Ihre Verehrer gleich um«, fuhr Hübner in dem gleichen Ton fort.

»Wir wissen auch nicht, ob diese Frau es getan hat«, schaltete Kullmann sich ein. »Einen Menschen zu erschießen, ist vielleicht noch gut möglich für einen Durchschnittsbürger, aber gleich zwei. Da muss schon jemand her, der sich mit Waffen und dergleichen auskennt.«

»Ach was, die beiden waren doch betrunken, die konnten wohl nicht mehr richtig reagieren«, wehrte Hübner ab.

»Das wissen wir aber nicht. Das Adrenalin kann die Reaktion trotz Alkohol erheblich verbessern«, belehrte Kullmann. »Wir müssen erst den Autopsie-Bericht abwarten, um zu erfahren, wie viel Alkohol überhaupt getrunken wurde.«

»Oh, das war eine ganze Menge. Also ich trinke nicht so viel, obwohl ich schon eine Menge vertrage«, meinte der Wirt.

»Und diese Blondine war gestern Abend zum ersten Mal da?«, versicherte sich Hübner nochmal.

»Ja, ich hab’ die vorher noch nie gesehen, die wäre mir aufgefallen, bei der Figur.«

Kullmann und Hübner zogen sich in Hübners Büro zurück.

»Da hätten wir ja mal einen Anfang«, meinte Hübner.

»Ja, es gibt ja auch in der Stadt fast keine Blondine mit einer guten Figur, die nachts Sonnenbrillen träg.«

»Sicherlich wäre es unsinnig, eine Fahndung nach dieser Unbekannten herauszugeben, was bedeutet, dass wir weiterhin die Mitarbeiter der Firma Schulz KG befragen müssen. Aber ist dir aufgefallen, dass weder Schulz noch Ida Fichte diese Blondine erwähnt haben?«

Kullmann blickte auf: »Ja richtig. Das bedeutet, wir müssen nochmal zu den beiden.«

Hübner seufzte.

Die Tür ging auf und Anke kam herein. Als sie sah, dass Kullmann sich ebenfalls im Büro befand, entschuldigte sie sich und verschwand schnell wieder. Kullmann schaute kurz zu seinem Kollegen, runzelte nachdenklich die Stirn und verließ dann das Zimmer mit den Worten: »Ich wollte dein Büro sowieso verlassen.«

In seinem Büro angekommen, ließ er sich in seinen Stuhl sinken und versuchte, sachlich darüber nachzugrübeln, was die Kollegin Deister wohl in Hübners Zimmer wollte. Sollte sich dort etwas abspielen, wovon er bis zu dem Zeitpunkt nichts mitbekommen hatte? Die Tatsache, dass er wohl wieder der letzte war, der betriebsinterne Angelegenheiten erfuhr, ärgerte ihn dabei weniger.

Vielmehr sorgte er sich um Anke Deister. Sie war ihm ans Herz gewachsen. Empfand er für sie doch bereits starke väterliche Gefühle, so dass der Gedanke, sie in Hübners Gunst zu wähnen, ihm einen heftigen Stich versetzte. Zu viel hatte er in den letzten 5 Jahren von Hübners Lebensgewohnheiten mitbekommen. Er war ein Frauenheld und sonnte sich in seinem Glück. Unerträglich wäre es für Kullmann, dass es auch eine Frau wie Anke treffen könnte. Aber was konnte er tun? Jeder Versuch, sie zu ermahnen oder zu warnen, würde das Gegenteil hervorrufen: Trotz. Also musste er wohl abwarten und schweigen.

Hübner stürmte in sein Zimmer und meinte in bestimmendem Ton: »Was ist, fahren wir nun zu Schulz und Fichte oder verschieben wir das auf morgen?«

»Warum dieser Überfall?«, beschwerte sich Kullmann, der sich aus seinen Gedanken gerissen fühlte. Sein Blick schweifte zum Fenster, das zum grauen Hof zeigte, auf das der heftige Regen prasselte.

Bei diesem Wetter war er trübsinnig und wusste genau, es würde ihm schwerfallen, wieder zu diesen beiden hinauszufahren, von denen er sich auch mit dieser neuen Information wenig erhoffe.

Deshalb lehnte er entschieden ab. Sein Tonfall verriet, dass er Hübners Auftreten nicht duldete. Der verschwand sofort und ohne Widerrede.

Kapitel 2

Seit Stunden flimmerte schon der Fernseher vor sich hin. Werbung über Pflegelotion oder Waschpulver, ab und zu ein Zeichentrickfilm oder eine Reportage über Tierversuche bis endlich der Aktuelle Bericht seine Anfangsmusik ertönen ließ. Schnell legte sie das Bügeleisen nieder und setzte sich auf das kleine Sofa vor dem Flimmerkasten, wo sie sich bereits ein gemütliches Nest aus mehreren Wolldecken zusammengebaut hatte.

Nach der Begrüßung des Fernsehsprechers ging es gleich mit den Nachrichten des Tages los.

»In den frühen Morgenstunden machte ein Jogger einen grausigen Fund. Zwei Leichen wurden in einem offenstehenden PKW aufgefunden, die Schusswunden im Bereich des Kopfes und der Brust aufwiesen. Es handelt sich dabei um Herbert Klos, 39 Jahre alt und verheiratet und um Jürgen Wehnert, 41 Jahre alt und auch verheiratet. Das Landeskriminalamt hat eine Sonderkommission gebildet, um diese schreckliche Tat schnellstmöglich aufzuklären.

Es fehlt ihr bisher jedoch jede Spur.«

Es wurden Fotos von den beiden Betroffenen ausgestrahlt.

»Für Hinweise von Zeugen können Sie folgende Telefonnummer anrufen. Das Landeskriminalamt nimmt alle Hinweise entgegen.«

Dann ging es weiter mit Politik.

Mit gemischten Gefühlen wandte sie sich wieder dem Bügeleisen zu. Vor ihr lag ein graues, einfaches und hochgeschlossenes Sweatshirt und wartete darauf geglättet zu werden. Sie konnte sich jedoch nicht darauf konzentrieren. Die Fotos, die die Presse über den Fernseher ausgestrahlt hatte, verärgerten sie. Darauf wirkten die beiden so jugendlich und unscheinbar, schon fast nett. Wollte die Presse Mitleid für die beiden erregen, damit der Hass auf den Mörder nur noch größer und die Hilfsbereitschaft stärker wurde? Wer kannte diese beiden wirklich? Sie kannte sie besser als alle anderen. In den letzten beiden Jahren hatte sie genug über sie in Erfahrung gebracht. Lange genug hatte sie sich selbst blenden lassen, hatte Lehrgeld bezahlen müssen. Aber nicht nur sie, was ihr ein wenig Trost spendete. Sie war mit Sicherheit nicht der einzige Mensch, der sich über den Tod der beiden freute.

Das Telefon klingelte. Es war eine seit etwa zwei Jahren eng vertraute Person, Eva.

»Ich habe gerade den Aktuellen Bericht gesehen«, meinte Eva.

»Ja, ich auch.«

»Das einzige, was mich störte, waren diese Fotos. Sie sahen darauf so nett aus, so etwas nennt man Täuschungsmanöver. Was wollen die damit erreichen?«

»Das weiß ich auch nicht. Aber ich denke, die Polizei wird noch erfahren, was für Menschen sie wirklich waren.«

»Kommst du mich morgen besuchen? Ich bin den ganzen Tag allein. Mein Mann fährt mit Markus in den Holiday-Park.«

»Ja, das ist eine gute Idee.«

Die beiden hängten ein.

*

An der Haustür klingelte es Sturm. Kullmann beeilte sich, um zu vermeiden, dass der junge Kollege noch mehr Lärm veranstaltete zu dieser frühen Zeit.

Es war Sonntagmorgen und es regnete nicht mehr. Einige Sonnenstrahlen arbeiteten sich mühsam durch die grauen Wolken und ließen den neuen Tag in einem Zwielicht erscheinen. Blinzelnd öffnete der Alte die Tür und grummelte etwas, was ein Guten-Morgen-Gruß sein sollte.

»Ich hoffe, du hast was Wichtiges so früh am Morgen.«

»Klar, die Ergebnisse einiger Befragungen. Ich dachte es interessiert dich«, stürmte der junge Mann ins Haus hinein.

Kullmann bewohnte ein älteres Haus im Ortsteil Schafbrücke mit einem ordentlich angelegten Vorgarten, einer kleinen Terrasse, die das ganze Jahr über leer stand, und einem kleinen Garten. Er selbst verbrachte gerne seine freie Zeit in diesem Haus, das zu einer Seite auf das verträumte Grumbachtal blickte und zur anderen Seite auf den regen Verkehr der Kaiserstraße, die Hauptverbindungsstraße zum Zentrum der Stadt Saarbrücken.

Beim Betreten dieses Hauses überkam Hübner ständig das Gefühl, von der Haustür zum Wohnzimmer in eine andere Welt zu treten. Aus dem Verkehrslärm, dem ständigen Autohupen, dem Menschengewirr in die Stille, die sich auf der anderen Seite des Hauses über den kleinen Wald und die grünen Hügel erstreckte. Augenblicklich hatte sogar Hübner das Gefühl, entspannter zu sein. Gerne ließ er sich auf das Sofa sinken und ließ seinen Blick durch das Fenster zum Garten schweifen. Kullmann kam einige Minuten später hinter seinem Kollegen her und stellte zwei alte Sammeltassen auf den Tisch, in die er einen gut duftenden Kaffee einschenkte.

»Ich weiß zwar nicht, ob du bereits bei einer deiner ›Damen‹ Kaffee bekommen hast, biete ihn dir aber trotzdem an.«

Hübner ging auf diese Anspielung gar nicht ein, sondern kam gleich zum Thema.

»Also Frau Ida Fichte war schon früh gegangen, sie hatte diese blonde Frau nicht mehr gesehen, was zu erwarten war. Adrian Schulz hatte ihr keine Bedeutung beigemessen. Der wusste gar nicht, dass die beiden noch mit ihr weitergezogen sind.«

»Glaubst du das?«

»Beide klangen glaubwürdig«, meine Hübner.

Weiterhin erzählte er von den Ergebnissen seiner Befragungen, wonach er systematisch alle Mitarbeiter der Fa. Schulz KG besucht hatte, die sich infolge der Betriebsfeier bis spät in die Nacht, alle zu Hause aufgehalten hatten.

Das Ergebnis der Befragungen legte nahe, dass der Hauptakteur dieser vermeintlichen „Menage a trois“ Herbert Klos gewesen sein musste – ein Aspekt, der Kullmann hellhörig werden ließ.

»Und von Wehnert war nicht die Rede?«, erinnerte er den eifrigen jungen Kollegen daran, dass Klos nicht das einzige Opfer war.

»Keine Sorge, der kam auch nicht gerade gut weg.«

»Inwiefern?«

»Einer der Kollegen behauptete, die beiden Kollegen wären dafür bekannt, bevorzugt unkonventionellen Sex zu praktizieren – auf gut deutsch: sie trieben es auch gerne zu dritt«, erklärte Hübner grinsend.

»Was veranlasst den Kollegen zu solch einer Aussage?«, zweifelte Kullmann.

»Angeblich hatten beide nach dem Betriebsausflug vor zwei Jahren mächtig mit ihrem flotten Dreier geprahlt. Dieses Thema hatte der wohl noch gut im Gedächtnis.«

»Was ereignete sich vor zwei Jahren?«, fragte Kullmann verwirrt. Er konnte keine Zusammenhänge erkennen.

»Damals hatten die beiden Opfer ein ähnliches Abenteuer mit einer gewissen Elvira Reinhardt. Sie war bis zu diesem Zeitpunkt in der Firma Schulz KG beschäftigt. Mit ihr sind sie auch in der Nacht zusammen weggegangen. In der folgenden Woche hatten sie nichts Besseres zu tun, als ständig bis ins Detail darüber zu plaudern, was vorgefallen war.«

»Wie charakterlos.« Kullmann schüttelte den Kopf. »Und was hat Elvira Reinhardt darüber erzählt?«

»Direkt nach dem Betriebsausflug hatte sie gekündigt.«

»Das war alles vor zwei Jahren?«, staunte Kullmann.

Hübner nickte.

»Was war daran so ungewöhnlich, dass der Kollege alles noch so genau in Erinnerung behalten hat?«

»Nach seinen Worten lag es an den Kollegen Klos und Wehnert. Diese beiden waren die Partylöwen, ohne sie lief nichts, kam keine Stimmung auf. Es werden in dieser Firma lediglich ein Betriebsausflug und eine Weihnachtsfeier veranstaltet, mehr läuft in dem Laden nicht. Letztes Jahr waren die beiden auf dem Betriebsausflug nicht dabei. Beide krank. Aus diesem Grunde war der Ausflug völlig uninteressant und keinem besonders im Gedächtnis geblieben«, erklärte Hübner. »Angeblich war Klos der Anstifter und Wehnert lief in seinem Schatten herum. Klos hatte sich auch stets bei den weiblichen Bediensteten eingeschmeichelt und bei den Herren der Schöpfung mit seinen Jagdtrophäen gebrüstet. Er hat wohl mehr als einer Frau mit seiner Lebensweise zugesetzt.«

Kullmann lauschte gespannt Hübners Worten, die wie ein Wasserfall auf ihn hernieder prasselten. Als endlich Stille eintrat fragte er nur kurz: »War das alles?«

Hübner stutzte. »Ich denke, das ist ein Anfang.«

»Meinst du, wir sollten nun nach betrogenen Ehemännern fahnden, wo wir noch nicht einmal die Namen der Frauen wissen, die Kontakt zu Klos hatten?«

»Wusstest du, dass der Vater von Klos vor einigen Jahren Landtagsabgeordneter war?« lenkte Hübner ab.

»Ja. Josef Klos wurde vor 14 Jahren ermordet. Die Tat wurde allerdings nie aufgeklärt. Man behauptete, es sei ein politisches Motiv gewesen, wobei ich kaum glauben kann, dass es in unserem kleinen Land so wichtige politische Bewegungen geben kann«, antwortete Kullmann, stand auf und ging auf das Fenster zu, um den Anblick seines sonnenbeschienenen Gartens zu genießen.

»Ich glaube, du bist mit dem falschen Fuß aufgestanden«, knurrte Hübner, mittlerweile in seinem Enthusiasmus gebremst. »Jedenfalls dachte ich, das alles würde dich interessieren.«

»Hast du nicht noch andere Mitarbeiter befragt?«

»Doch, zum Beispiel den jungen Nachfolger von Elvira Reinhardt. Aber er ist ruhig und hat auch wenig zu berichten. Allerdings gibt es da noch diese Angestellte im Personalbüro. Die war gesprächiger.«

»Zum Beispiel?«, forderte Kullmann den Kollegen auf, genauer zu werden.

»Sie sah in Herbert Klos einen stets gut gelaunten Menschen, der immer zu Späßen bereit war und beste Laune unter den Kollegen verbreitete.«

»Und seine Frauengeschichten? Für gewöhnlich reagieren Frauen auf sowas doch viel sensibler als Männer.« Kullmann trank von seinem Kaffee, ohne Hübner dabei aus den Augen zu lassen.

»Das hat sie seltsamerweise völlig heruntergespielt. Sie meinte, ihr hat sein sprühendes Temperament gut gefallen, der Rest interessierte sie angeblich nicht.«

»Also die Personalangestellte kommt schon mal nicht in Verdacht.« stellte er trocken fest.

Hübner stöhnte: »Heute kann man es dir aber gar nicht recht machen. Nur so können wir uns irgendwann ein Bild von den Ermordeten machen.«

»Irgendwann hätte ich gerne ein genaues Bild vom Täter«, knurrte Kullmann als Entgegnung.

»Von den anderen war nicht viel zu erfahren«, ging Hübner auf die Anspielung gar nicht ein. »Die blonde Frau kennt niemand, und dass die beiden mit ihr weggegangen sind, empfanden alle als ganz normal. Nur noch ein älterer Kollege erwähnte ebenfalls diese Geschichte mit Elvira Reinhardt. Er sagte auch, dass es sonderbar war, dass Frau Reinhardt direkt nach dem Betriebsausflug gekündigt habe, wo sie doch eine ganz gut bezahlte Stellung innehatte.«

Kullmann nickte nachdenklich. Dann ging er zu seiner Regalwand, die sich über die ganze Wand ausdehnte und mit Büchern völlig zugestellt war. Dort zog er eine Akte heraus und warf sie vor Hübner auf den Tisch.

»Das ist die Akte von Herbert Klos. Die ist wirklich interessant. Vor 15 Jahren lief ein Verfahren gegen ihn wegen Vergewaltigung eines 16jährigen Mädchens. Ich hatte damals sogar gegen Klos ermittelt. Nachdem ich das gelesen habe, ist es mir auch wieder eingefallen. Das Verfahren wurde eingestellt, weil der Vater seine politischen Verbindungen spielen ließ.«

Hübner war perplex. Eine Weile war alles still. In die Stille fragte er: »Was ist aus dem Mädchen geworden?«

»Sie nahm sich das Leben mit Tabletten.«

Kurze Stille folgte.

»So, wie mir Herbert Klos beschrieben wurde, hatte er es gar nicht nötig, eine Frau zu vergewaltigen. Gibt es denn auch solche Überraschungen in der Akte Jürgen Wehnert?« Hübners Stimmte klang belegt.

»Nein, sein Leben verlief eigentlich normal. Er ist schon 18 Jahre verheiratet und hat eine Tochter, die schon 16 ist. Ich vermute, dass das Ehepaar Wehnert den Vergewaltigungsfall mitbekommen hat. Ich werde deshalb auch wieder zur Frau Wehnert hinfahren müssen.«

»Ich werde mit dir fahren«, bestimmte Hübner, trank seinen Kaffee aus und stand auf.

*