Tickende Zeitbombe - Elke Schwab - E-Book

Tickende Zeitbombe E-Book

Elke Schwab

2,0

Beschreibung

Während seiner Arbeit verunglückt der Hausmeister eines Saarbrücker Fitnesscenters tödlich. Als kurz darauf die dortige Putzfrau spurlos verschwindet, suchen die beiden Kommissare Lukas Baccus und Theo Borg das Studio auf und werden bei der Gelegenheit Mitglied. Doch kaum haben die zwei mit ihrem Training begonnen, geschieht etwas Unerwartetes: Alle Anwesenden, samt der Kommissare, werden als Geisel genommen. Die Forderungen sind nur schwer nachvollziehbar und noch schwerer zu erfüllen. Aber die Geiselnehmer bleiben hartnäckig. Als eine Geisel erschossen wird, droht die Situation zu eskalieren. Die Geiselnehmer scheinen der Polizei überlegen zu sein …

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Im Nordosten von Frankreich in einem alten elsässischen Bauernhaus entstehen die spannenden Krimis der gebürtigen Saarländerin Elke Schwab. In der Nähe zur saarländischen Grenze schreibt und lebt sie zusammen mit ihrem Mann samt Pferden, Esel und Katzen. Nach dem Gymnasium in Saarlouis arbeitete sie über zwanzig Jahre im Saarländischen Sozialministerium, Abteilung Altenpolitik. Schon als Kind schrieb sie über Abenteuer, als Jugendliche natürlich über Romanzen. Später entschied sie sich für Kriminalromane. 2001 brachte sie ihr erstes Buch auf den Markt. Seitdem sind fünfzehn Krimis und sechs Kurzgeschichten von ihr veröffentlicht worden. Ihre Krimis sind Polizeiromane in bester „Whodunit“-Tradition. 2013 und 2014 erhielt sie den Saarländischen Autorenpreis der „HomBuch“ in der Kategorie „Krimi“. 2013 wurde ihr der Kulturpreis des Landkreises Saarlouis für literarische Arbeit mit regionalem Bezug überreicht.

Bisher erschienen: (Baccus-Borg-Krimireihe unterstrichen)

• Tickende Zeitbombe, 2017

• Kullmann ist auf den Hund gekommen, 2017

• Gewagter Einsatz, 2016

• Mord ohne Grenzen, 2016

• Tödliche Besessenheit, 2015

• Pleiten, Pech und Leichen, 2014

• Blutige Mondscheinsonate, 2014

• Urlaub mit Kullmann, 2013

• Eisige Rache, 2013

• Blutige Seilfahrt im Warndt, 2012

• Mörderisches Puzzle, 2011

• Galgentod auf dem Teufelsberg, 2011

• Das Skelett vom Bliesgau, 2010

• Hetzjagd am Grünen See, 2009

• Tod am Litermont, 2008

• Angstfalle, 2006

• Grosseinsatz, 2005

• Kullmanns letzter Fall, 2004

• Ein ganz klarer Fall, 2001

Ein Baccus-Borg-Krimi

1.Sprado, Hans-Hermann: Risse im Ruhm.Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2005ISBN 978-3-932927-26-5 • eISBN 978-3-932927-67-6 (E-Book)

2.Sprado, Hans-Hermann: Tod auf der Fashion WeekMünster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2007ISBN 978-3-932927-39-3 • eISBN 978-3-932927-68-3 (E-Book)

3.Elke Schwab: Mörderisches PuzzleMünster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2011ISBN 978-3-932927-37-9 • eISBN 978-3-932927-64-5 (E-Book)

4.Elke Schwab: Eisige RacheMünster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2013ISBN 978-3-932927-54-6 (TB) • eISBN 978-3-932927-72-0 (E-Book)

5.Elke Schwab: Blutige MondscheinsonateMünster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2014ISBN 978-3-932927-85-0 (TB) • eISBN 978-3-932927-86-7 (E-Book)

6.Elke Schwab: Tödliche BesessenheitMünster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2015ISBN 978-3-932927-95-9 (TB) • eISBN 978-3-932927-96-6 (E-Book)

7.Elke Schwab: Gewagter EinsatzMünster: Solibro Verlag 2. Aufl. 2017ISBN 978-3-96079-020-4 • eISBN 978-3-96079-021-1 (eBook)

8.Elke Schwab: Tickende ZeitbombeMünster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2017ISBN 978-3-96079-029-7 • eISBN 978-3-96079-030-3 (eBook)

eISBN 978-3-96079-030-3

1. Auflage 2017

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2017

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Michael Rühle

Coverfoto: © Katyandgeorge/CCO Public Domain

Foto der Autorin: Alida Scharf, Köln

www.solibro.deverlegt. gefunden. gelesen.

Ich bedanke mich bei Frank Vogelgesang und Mike Schommer, den beiden Geschäftsführern des Fitnessstudios Motivitas Fitness GmbH in Rilchingen-Hanweiler/Saar, für die freundliche Unterstützung bei der Entstehung dieses Krimis.

Die beiden Geschäftsführer haben sich damit einverstanden erklärt, dass ich den Originalnamen ihres Fitnessstudios für den Krimi verwenden darf.

Bis auf den Namen „Motivitas“ und den Standort sind die Handlung und alle handelnden Personen frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

Elke Schwab

Inhalt

Prolog

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil II

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil III

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

Prolog

Der Weg war geebnet. Wann, wenn nicht jetzt?

Günstiger konnte der Zeitpunkt nicht mehr sein.

Je eher, desto besser. Die Nerven lagen blank.

Von nun an lag der Schwerpunkt der Übung auf positivem Verhalten und dem Vermeiden missverständlicher Situationen. Besser gesagt: Gute Miene zum bösen Spiel!

Ein niederträchtiges Spiel und doch so berauschend und zielführend.

Der Arbeitsalltag ermöglichte neue Höchstleistungen. Jedes Wort, jede Handlung, jeder Schritt musste genau durchdacht sein, um nicht zu viel zu verraten. Auch die Mimik war wichtig. Gesichtszüge konnten mehr verraten, als man sich selbst bewusst war.

Eine teuflische Falle und gleichzeitig ein erhebendes Gefühl, endlich an diesem Punkt angekommen zu sein.

Das Ziel rückte in rasanter Geschwindigkeit immer näher. Das Leben sollte eine entscheidende Wendung erfahren: etwas, auf das man nicht verzichten durfte.

Am Ende dieses Weges wurde die Befreiung von allen Beschränkungen erreicht.

Die Ungeduld während der Zeit des Abwartens stellte eine verdammt harte Probe dar. Noch galt es, den Weg des Älteren zu gehen. Noch!

Aber nicht mehr lange und alle Einschränkungen gehörten der Vergangenheit an. Das Leben selbst in die Hand nehmen, so lautete die Devise. Hindernisse aus dem Weg räumen – alles Unangenehme verbannen – notfalls über Leichen gehen.

Und Leichen würde es geben, soviel stand schon fest. Je mehr, desto besser. Das Ausmaß der Grausamkeit war entscheidend für die erfolgreiche Durchführung des Plans.

Leben und Tod standen so nah beieinander, dass viele es einfach hinnahmen. Das sollte sich bald ändern.

Schmerzen, Leiden und Elend sollten hervorgerufen werden.

So war der Plan.

Die letzten Wochen bzw. Monate durften nicht umsonst gewesen sein.

Jeden Augenblick konnte es losgehen.

Teil I

Kapitel 1

Die Musik dröhnte laut durch das Studio. Sämtliche Lampen waren eingeschaltet, um das trübe Tageslicht auszusperren, das den Oktobertag beherrschte. Alle Geräte in der Ecke, die „Functional-Area“ genannt wurde, waren besetzt. Die Teilnehmer warteten auf seinen Pfiff zum Start, um mit ihrer Übung beginnen zu können. Das Synrgie360-Trainingsprogramm gefiel Dierk von Westernhagen am besten. Dort konnte er mit wenig Aufwand seine Sportler in den Wahnsinn treiben. Egal wie einfach die Übungen aussahen – sobald er das Tempo vorgab, wurden sie höllisch anstrengend. „Synrgie“ bedeutete ein „sich gegenseitiges Anspornen“, was damit erzielt wurde, dass die unterschiedlichen Geräte dicht beieinanderstanden. Jeder konnte während seiner eigenen Übung dem Nebenmann oder der Nebenfrau dabei zusehen, was als Nächstes auf ihn zukam. Wie üblich wirkte dabei niemand wirklich angespornt, sondern viel mehr gequält. Eine Freude, diese müden Geister in Schwung zu bringen.

Dierk von Westernhagen hatte schon immer ein Ziel vor Augen gehabt. Er wollte den heutigen Opfern des Wohlstandes die Bequemlichkeit aus den Körpern treiben. Von wegen nach Feierabend auf dem Sofa liegen und der Faulheit frönen. Das konnte der Mensch noch früh genug tun, nämlich dann, wenn er auf den Tod wartete. Aber in jungen Jahren seine körperlichen Ressourcen zugunsten von Bier oder Chips oder Schokolade verschenken? Das war Frevel.

Also drillte er seine Gruppe, die aus Männern und Frauen im Alter zwischen 30 und 60 bestand, bis sie hochrote Köpfe bekam und um Gnade winselte.

Dierks zufriedenes Grinsen wurde jedoch von plötzlich eintretender Dunkelheit unterbrochen. Auch die laute Musik verstummte.

„Was ist jetzt schon wieder los?“, rief er empört. Ich dachte, der Hausmeister hätte den Schaden repariert.“

„Das hat er auch“, kam die Antwort prompt.

Dierk schaute sich verwirrt um und entdeckte jemanden in einem Blaumann, der Arbeitskluft des Hausmeisters, im schwachen Schein der Notbeleuchtung.

„Und warum funktioniert es nicht?“

„Ich weiß es nicht. Muss erst mal nachschauen.“

„Vielleicht sollte ich das mal machen“, spottete Dierk. „Könnte sein, dass ich es besser hinkriege.“

„Nee, lass mal lieber! Du würdest dort oben nichts finden. Ich habe den Beruf des Elektrikers nicht umsonst gelernt.“

„Hoffentlich.“

Hinter sich hörte Dierk seine Synrgie-Gruppe erleichtert verschnaufen. Sie alle hatten keine Sekunde gezögert und die Störung zu ihren Gunsten ausgenutzt. Erschöpft legten sie sich auf die Matten, die auf dem Boden verteilt waren und tuschelten.

Der Fitnesstrainer verließ zusammen mit dem Hausmeister die Functional-Area. Sie traten hinaus ins Treppenhaus, das ebenfalls nur durch Sicherheitsleuchten notdürftig erhellt wurde. Die Decke zierten quadratische Gipsplatten. Dierk reckte sich und versuchte, mit der Hand eine dieser Platten zu erreichen. Trotz seiner Größe von einsfünfundneunzig gelangte er nicht heran. Mit einem schiefen Grinsen sperrte der Hausmeister seine Kammer hinter einer verspiegelten Tür auf, entnahm eine Leiter und stellte sie auf. „Du bist vielleicht größer als ich“, murmelte er, „aber so groß nun auch wieder nicht.“

Dierk lachte nur über diese Anspielung.

Oben angekommen klappte der Mann im Blaumann eine der Gipsplatten nach unten. Vor ihm offenbarte sich ein Meer aus Kabeln, Drähten, Leitungen, Litzen, Schraubklemmen, Ösen und vielem mehr, was Dierk nicht durchblickte.

„Wenn ich das so sehe, muss ich dir recht geben. Von dem Chaos lasse ich lieber die Finger.“

Vom Hausmeister war nur ein Murmeln zu hören, weil er in den Kabelsalat hineinsprach. Mit beiden Armen versank er darin. Eine Weile war nur Rascheln zu hören. Dann schalteten sich Licht und Musik wieder ein.

Plötzlich knallte es so laut, als sei ein Schuss gefallen.

Wieder war alles dunkel, die laute Musik verstummt und die Klimaanlage abgeschaltet.

Dierk drehte seinen Kopf in Richtung Fitnessraum. Durch die Glastür zum Treppenhaus konnte er nur verwirrte Sportsfreunde im schwachen, grünen Licht der Piktogramme herumirren sehen. Lewin Poppa, der Mitinhaber des Studios, rannte gerade an der Tür vorbei, um hinter die Theke zu gelangen. Im gleichen Moment hörte Dierk etwas aufschlagen. Er drehte sich um und sah den Hausmeister auf dem Boden liegen. Trotz Dunkelheit erkannte er, dass der Mann die Augen weit aufgerissen hatte, Arme und Beine angewinkelt waren und alles an ihm zitterte.

„Hey, Anton! Was ist los?“, rief Dierk.

Keine Antwort.

Die Tür zum Treppenhaus ging auf. Lewin trat zu ihm und rief: „Fass ihn nicht an! Er hat vermutlich einen Stromschlag erlitten. Ich rufe sofort den Krankenwagen.“

Dierk nickte, behielt dabei weiterhin den am Boden Liegenden im Auge, der immer noch zitterte, aber kein Wort sprach.

Es dauerte eine Weile, bis sich einige Lampen einschalteten. Das Notaggregat war aktiviert worden. Jetzt konnte Dierk genauer hinschauen. Das Zittern hatte aufgehört. Der Mann lag regungslos am Boden, die Augen geöffnet, die Hände auf seinen Rumpf gesunken. Strommarken waren deutlich an den Fingern zu erkennen.

Dierk suchte nach einem Puls an der Halsschlagader. Nichts.

Der Hausmeister war tot.

Oberkommissar Lukas Baccus saß seinem Kollegen und Freund Theo Borg gegenüber, während er unter Aufbringung all seiner Energie die langweiligen Daten auf seinem Bildschirm las. In ruhigeren Zeiten wie diesen blieb ihnen nichts anderes übrig, denn auch Schreibtischtätigkeiten gehörten zur Polizeiarbeit. Mit einem Auge schaute er am Bildschirm vorbei auf sein Gegenüber und stellte fest, dass Theo auch nicht gerade voll motiviert aussah. Zum wiederholten Male raufte der sich seine schwarzen Haare und trank inzwischen seinen vierten Kaffee.

„Scheiße!“, stieß der Kollege plötzlich aus.

Erschrocken schaute Lukas auf Theo, um zu sehen, was ihn so aus der Fassung gebracht hatte. Den Blick hielt er auf etwas in seinen Händen gerichtet, das Lukas von seinem Standpunkt aus nicht erkennen konnte.

„Was ist passiert?“

„Ich werde grau.“

„Und dafür erschreckst du mich so?“

„Schau mal hier: Mehr graue Haare als schwarze sind zwischen meinen Fingern hängengeblieben.“

„Der Jüngste bist du nicht mehr. Da kommt sowas schon mal vor.“

„Du hast gut reden. Deine Haare sind so rot wie am ersten Tag, seit ich dich kennengelernt habe.“

„Vielleicht ist das der Vorteil roter Haare.“ Lukas zuckte mit den Schultern. „Dann hätte das also doch was Gutes.“

Jeder verkroch sich wieder hinter seinem Bildschirm und setzte seine Arbeit fort.

„Hier habe ich was“, ertönte es nach einer gefühlten Ewigkeit.

Lukas schaute wieder hinter seinem Monitor hervor und fragte: „Was?“

„Der Hausmeister eines Fitnessstudios ist an einem elektrischen Schlag gestorben.“

„Was ist daran für uns interessant?“

„Er war von Beruf Elektriker.“

„Berufsrisiko“, erwiderte Lukas und verschwand wieder hinter seinem Bildschirm.

„Wenn wir daraus keinen Fall machen, müssen wir uns auf eine weitere Übung gefasst machen“, hielt Theo dagegen. „Das letzte Mal hast du nicht gerade durch Leistung geglänzt, weshalb wir bei der nächsten mit Sicherheit dabei sein müssen.“

Lukas murrte: „Wieso habe ich nicht durch Leistung geglänzt? Ich war so gut wie alle anderen auch.“

„Eben nicht! Fast hättest du einen unserer Leute erschossen.“

„Es war doch nur eine Übung. Außerdem haben alle gleich ausgesehen. Wie hätte ich da einen Unterschied erkennen können?“

„In der Wirklichkeit tragen die Bösen auch keine leuchtenden Mützen, damit wir wissen, auf wen wir schießen sollen.“

„Sollte man der Verbrechenswelt mal vorschlagen …“

„Heutzutage, wo überall die Hütte brennt, nimmt die Hausspitze sowas verdammt ernst“, ließ sich Theo nicht von Lukas ablenken. „Es kann jederzeit zum Einsatz kommen. Dafür müssen wir vorbereitet sein.“

„Nur, weil du keine Lust auf eine weitere Übung hast, machen wir aus dem toten Hausmeister einen Mordfall?“

„Die Weisen halten Wissen zurück; aber der Toren Mund führt schnell zum Verderben“, ertönte die monotone Stimme des Kollegen Dieter Marx.

Erschrocken schauten Baccus und Borg auf und sahen in ein eingefallenes, blasses Gesicht mit tiefliegenden Augen. Der Kollege aus der Drogenabteilung wirkte krank.

„Stimmt!“, gab Theo zu. „Wie du das sagst, klingt es richtig verwerflich.“

„Toll! Führe ich dich jetzt schon ins Verderben?“ Lukas stöhnte.

„Blödsinn. Aber dein Einwand gibt mir zu denken. Also konzentrieren wir uns auf das Wesentliche, ob dieser Todesfall wirklich ein Fall für uns ist.“

„Vergiss darüber nicht, dass heute Freitag ist“, erinnerte Lukas grinsend. „Wenn du den Fall annimmst, ist das Wochenende hin.“

„Sehr komisch.“

„Wer hat den Toten obduziert?“, fragte Lukas.

„Unser guter Dr. Stemm.“

„Toll! Sagst du mir auch, was er herausgefunden hat? Oder muss ich dir das auch noch aus der Nase ziehen?“

„Er hat Tod durch Stromschlag herausgefunden – oh Wunder.“ Theo griente. „Trotzdem ist es seltsam, dass Dr. Stemm die Leiche obduziert hat. Also hat die Staatsanwaltschaft mehr hinter diesem angeblichen Unfall gesehen.“

Lukas beugte sich über seinen Schreibtisch und drehte Theos Bildschirm so, dass er den Bericht des Gerichtsmediziners lesen konnte. Anschließend stellte er fest: „Dr. Stemms Ergebnis besagt, dass er lediglich an einem Stromschlag gestorben ist, den man bekommt, wenn man die falschen Drähte anfasst. Es gab Strommarken an der linken Hand. Der Mann war Linkshänder. Über eine metallene Leiter, auf der er gestanden hat, fand die Erdung statt. Dabei kann es schon mal passieren, dass man stirbt.“

Theo nickte, als gäbe er sich geschlagen. Er drehte seinen Bildschirm wieder in seine Richtung und las weiter.

„Es gibt einen Zeugen“, meldete er sich kurze Zeit später wieder zu diesem Thema.

„Und wer ist dieser Zeuge?“

„Dierk von Westernhagen. Ihm gehört das Fitnessstudio, in dem es passiert ist.“

„Dierk von Westernhagen“, wiederholte Lukas. „Das ist ja ein Ding. Den Burschen kenne ich. Ein eigenes Fitnessstudio hat er jetzt? Wo?“

„In Rilchingen-Hanweiler, direkt neben der Saarland-Therme. Heißt Motivitas.“

„Das wäre ja schon fast ein Grund, dorthin zu fahren. Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen.“

„Heißt das, dass wir diesen Fall übernehmen?“

„Nein, das heißt nur, dass ich Dierk schon lange nicht mehr gesehen habe.“

„Ist er glaubwürdig?“

„Auf jeden Fall.“ Lukas nickte.

„Also kein Fall für uns.“ Theos Gesicht wurde lang.

„Das ist des Klugen Weisheit: Er gibt acht auf seinen Weg“, beendete Dieter Marx seinen kurzen Vortrag und verließ das Büro.

„Sieht krank aus – unser Hausprediger“, stellte Theo fest.

„Die Tatsache, dass er uns als klug bezeichnet, halte ich auch für bedenklich. Hoffentlich hat er nichts Ernstes.“

Kapitel 2

Sonja Jastreb räumte Eimer, Schrubber, Besen und Putzmittel in den dafür vorgesehenen Raum, löschte das Licht und schloss ab. Sie war glücklich, diesen Arbeitsplatz gefunden zu haben. Seit sie aus Polen nach Deutschland gekommen war, hatte sie viele Jobs annehmen müssen, um etwas Geld zu verdienen. Aber stets hatte es Ärger mit den Chefs gegeben. Entweder sie bezahlten zu wenig, oder sie hatten sich ihr gegenüber respektlos verhalten. Das ließ sich Sonja nicht gefallen. Auch wenn sie als Putzkraft arbeitete, so war sie eine stolze Frau.

Eine Frau mit zwei Kindern, die zu Hause auf sie warteten. Sie schaute auf die Uhr: achtzehn Uhr. Ein Blick durch die Fensterscheiben verriet, dass es schon dunkel war. So ein Mist. Dieser Oktober war trüb und grau. Kein einziges Mal war es ihr in diesem Monat gelungen, bei Tageslicht zu Hause zu sein. Und heute Nacht sollten die Uhren umgestellt werden. Somit würden die Tage noch eine Stunde kürzer werden.

Sie seufzte.

Ihre Chefs hatten sie darum gebeten, an diesem Abend alles abzusperren, bevor sie in den Feierabend ging. Das kam nicht oft vor, weshalb sie zugestimmt hatte. Doch jetzt ärgerte sie sich darüber. Ihre Kinder im Dunkeln alleinzulassen, gefiel ihr nicht. Also beeilte sie sich und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten in den Keller, wo es mehrere Türen gab, die es zu verriegeln galt.

Ein Bing war das Zeichen, dass sie unten angekommen war. Die beiden Türblätter der Schiebetür öffneten sich. Vor ihren Augen lag alles in Dunkelheit. Sofort fühlte sich Sonja unsicher. Gänsehaut zog über ihren Körper. Sie verließ die Kabine und nutzte das Licht des Fahrstuhlinnenraums, um den Lichtschalter für die Kellerräume zu finden. Doch plötzlich ging die Schiebetür wieder zu. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Stockfinster war es um sie herum. Sie konnte ihre Hand nicht vor Augen sehen.

Was hatte das zu bedeuten? Es sollte doch niemand mehr im Haus sein.

Sonja bewegte sich einige Schritte, um sich zu orientieren. Mit der ausgestreckten Hand berührte sie die Steinwand. Nun wusste sie ungefähr, wie sie von dieser Stelle aus weitergehen musste. Also setzte sie sich in Bewegung, um zum Lichtschalter zu gelangen. Anschließend musste sie unbedingt nachsehen, wer noch im Gebäude war. Jemanden einzuschließen wäre nicht gut. Das könnte sie den Job kosten und das wollte sie bestimmt nicht riskieren.

Endlich! Der Lichtschalter.

Sie kippte ihn um. Das Licht schaltete sich ein. Erleichtert atmete sie auf. Hastig eilte sie auf die Treppe zu, die nur noch wenige Meter von ihr entfernt war. Plötzlich ging das Licht aus.

Sie erschrak, stieß einen kurzen Schrei aus.

Was hatte das zu bedeuten?

Wieder hatte sie Mühe, sich zu orientieren. Die Finsternis kam ihr jetzt noch schwärzer vor, als zuvor. Außerdem zitterten ihre Knie, während sie langsam weiterging, in der Hoffnung, zufällig auf die Treppe nach oben zu stoßen.

Nach und nach gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Umrisse zeichneten sich ab. Ihr stockte der Atem. Es sah so aus, als stünde ein Mensch vor ihr.

Sie verharrte mitten in der Bewegung und wartete ab. Je genauer sie hinschaute, umso deutlicher erkannte sie, dass tatsächlich jemand vor ihr stand.

Aber warum sagte er nichts zu ihr?

Sie wollte gerade den Mund aufmachen, um ihn anzusprechen, da schoss er auf sie zu, packte sie mit äußerster Brutalität und hielt ihr den Mund zu.

Sonja zappelte, versuchte dem Mann in die Hand zu beißen, doch ihre Kraft reichte nicht aus. Mit weit aufgerissenen Augen konnte sie erkennen, wie er sie durch den Flur in einen kleinen, schmalen Kellerraum zerrte. Sonja wusste nicht mehr, wo sie war. Sie hatte die Orientierung verloren. Trotzdem strampelte sie wie eine Wilde. Aber gegen diesen Gegner hatte sie keine Chance. Ein Rumpeln ertönte. Sie ahnte Schreckliches.

Dann spürte sie, dass sie fiel und kurz darauf in eiskaltem Wasser landete.

Sie schluckte Unmengen bevor sie an die Oberfläche gelang und nach Luft schnappen wollte. Doch ein harter Gegenstand traf sie und drückte sie wieder nach unten. Die Kälte des Wassers lähmte sie. Sie schaffte es nicht mehr, sich zu wehren. Langsam sank sie tiefer, bis sie in eine erlösende Bewusstlosigkeit fiel.

Lukas betrat am Mittwochmorgen ein leeres Büro. Er wunderte sich, dass er der Erste war. Das kam nicht so oft vor. Sofort eroberte er den Kaffeeautomaten, der einwandfrei funktionierte, kehrte an seinen Schreibtisch zurück und staunte nicht schlecht, als er sah, dass sich auch sein PC problemlos hochfahren ließ. Er sank auf seinen Stuhl und rief zu allererst einige private Seiten im Internet auf. Solange er allein war, konnte ihm nichts passieren.

Doch kaum hatte er sich auf Ebay nach einem neuen Motorradhelm umgesehen, betrat Jasmin Hafner das Büro. Ihr blasses Gesicht, eingerahmt von schwarzen, glänzenden Haaren, sah umwerfend aus. Doch Lukas hatte sich wohl alle Chancen bei dieser Frau verdorben. Ihr erstes Rendezvous am vergangenen Montag war wohl auch das letzte.

Schade, dachte er, als er ihr zuschaute, wie sie die Jacke auszog, auf den Garderobenhaken hängte und ihren Platz ansteuerte. Die Ebay-Seite hatte er schnell wieder geschlossen. Wer wusste schon, ob er Jasmin in solchen Dingen noch trauen konnte. So ganz war er sich nämlich nicht mehr im Klaren darüber, wie sie zueinanderstanden. Also tat er das Einzige, was ihm in dieser Situation richtig erschien: Er wartete ab und schwieg.

„Bist du unter die Frühaufsteher gegangen?“, fragte sie nach einer Weile mit ihrem charmanten Lächeln.

Prompt wurde Lukas warm ums Herz. Vielleicht … Ach was! Er dachte lieber nicht weiter.

„Seit der Uhrenumstellung bin ich tatsächlich immer eine Stunde zu früh wach.“

Jasmin lachte und meinte: „Das legt sich wieder. Glaub mir.“

„Schade! Gefällt mir nämlich, als erster hier einzutreffen.“

Wieder ging die Tür auf. Theo trat herein. Er sah so verschlafen aus, als hätte er die Nacht durchgemacht.

„Scheiße, Mann!“, brummelte er. „Dich schon vor mir am Schreibtisch zu sehen, lässt mich Schlimmes ahnen.“

„Was soll das heißen?“, fragte Lukas zurück.

„Dass du wieder was verbockt hast und mit Pünktlichkeit versuchst, den Chef zu beeindrucken.“

Jetzt musste Lukas lauthals loslachen.

Sofort zog Theo seinen Kopf ein und hielt sich die Ohren zu.

„Was hast du gestern getrieben?“, fragte Lukas. „An Allerheiligen säuft man sich doch nicht die Birne bis zum Anschlag zu.“

„Ich habe nicht gesoffen. Ich fühle mich krank.“

„Blödsinn. So sieht nur ein verkaterter Dickschädel aus.“

„Das musst du ja wissen.“ Theo zog eine Grimasse, fuhr seinen PC hoch und verließ das Büro. Mit einem Kaffeebecher kehrte er zurück und ließ sich gegenüber seines Kollegen und Freundes nieder.

„Wo hast du gefeiert? Und vor allem: Warum hast du mich nicht mitgenommen?“, feuerte Lukas ihm seine zwei Fragen entgegen, die ihn beschäftigten.

„Ich habe wirklich nicht gefeiert. Ich bin heute Nacht in so einem Chat gelandet, in dem man Frauen aufreißen kann. Da bin ich an einer hängengeblieben, die mich bis in die Morgenstunden aufgehalten hat. Am Ende hat sich alles als Verarsche herausgestellt.“

„Wieso? War sie in Wirklichkeit ein Mann?“

„So ähnlich.“ Theo wuschelte durch seine schwarzen Haare, hielt inne und stellte fest: „Kein Wunder, dass man dabei graue Haare kriegt.“ Er zupfte eins heraus und ließ es zu Boden fallen.

„Was treibt dich dazu, in Chatrooms nach einer Frau zu suchen? Glaubst du, dass du in Saarbrücken keine mehr findest?“

„Du hast gut reden“, murrte Theo. „Nach Marianne hattest du Susanne. Und dann noch dein Date mit Jasmin …“

„Psst! Sie könnte uns hören“, fiel ihm Lukas ins Wort.

„Nein! Sie ist gerade in den Korridor zum Kaffeeautomat gegangen“, beruhigte Theo.

„Dann ist gut! Ich kann dir versichern, dass mein Date mit Jasmin eine total Pleite war.“

„Warum?“ Ein Grinsen schlich sich auf Theos Gesicht. „Lief es nicht so gut?“

Lukas schüttelte den Kopf, zog eine Grimasse und berichtete: „Ich habe sie in einen Laden geführt, der bekannt für seine leckeren halben Hähnchen ist. Als wir bestellen wollten, sprach sie nur davon, Salat zu essen, was mich bei Frauen nicht wundert. Die achten ja auf die Figur und so. Doch als mein Hähnchen vor mir stand und ich ihr die Vorzüge ausführlich erklärt habe, meinte sie, dass sie Veganerin sei.“

„Das ging ja voll in die Hose.“ Theo zwinkerte.

„Vielleicht ganz gut so. Was sollte ich mit einer Veganerin in meiner Bude? Die essen nur Grünzeugs, womit man mich jagen kann.“

Theo, der gerade von seinem Kaffee trinken wollte, prustete in den Becher und verschüttete die Hälfte auf seinem Schreibtisch.

„Das hat mir gerade noch gefehlt. Das Zeug brauche ich, um wach zu werden.“

Lukas lachte hämisch.

„Kann es sein, dass ihr unterfordert seid?“ Mit dieser Frage stand plötzlich Dienststellenleiter Wendalinus Allensbacher vor den Schreibtischen der beiden Kommissare.

„Nein! Auf keinen Fall“, sprach Theo hastig und hielt seinen rechten Arm über die Kaffeepfütze.

„Das will ich Ihnen auch geraten haben.“ Er überreichte Theo einen USB-Stick und fügte hinzu: „Hier sind Akten, die Sie durchgehen müssen. Ich will, dass alles bis heute Abend abgearbeitet ist.“

Der schwerfällige Mann watschelte davon.

„Was war das denn?“, fragte Lukas und schaute dem Mann hinterher.

„Das war der wahre Allensbacher“, sprach Theo mit verstellter Stimme. „Im Kern der ganzen Speckmassen steckt nämlich ein Herrscher, ein Despot, ein Tyrann. All die Jahre hat er uns glauben lassen, ein harmloses Walrösschen zu sein. Doch damit ist jetzt Schluss.“

„Allensbachers Auftritt hat dich jedenfalls wieder zum Leben erweckt. Jetzt wird kein Kaffee mehr nötig sein.“

Theo erhob sich von seinem Platz und wischte den Schreibtisch sauber. Dann speicherte er die Daten des Sticks auf seinem PC und schickte einen Teil davon auf den Rechner seines Kollegen.

„Okay, fangen wir an.“ Lukas stöhnte und öffnete einen Ordner auf seinem PC.

Die Aussicht auf einen weiteren Tag im Büro spornte ihn nicht gerade zu Höchstleistungen an. Doch kaum hatte er die erste Datei geöffnet, sprang ihm eine Information ins Auge, die er sofort laut vorlesen musste: „Die Putzfrau des Fitnessstudios Motivitas wurde am Sonntagmorgen als vermisst gemeldet. Von ihr gibt es bis heute keine Spur.“

„Vermisstenmeldungen gehören nicht in unseren Zuständigkeitsbereich.“

„Hast du mir nicht richtig zugehört?“, murrte Lukas. „Diese Frau hat in dem gleichen Studio gearbeitet, in dem auch der Hausmeister an einem Stromschlag gestorben ist. Zwei Fälle in etwas mehr als einer Woche, die auf unserem Tisch landen? Sollte das wirklich ein Zufall sein?“

Theo schaute auf Lukas und meinte: „Du hast Recht. Da sollten wir mal genauer hinschauen, nicht, dass wir etwas übersehen.“

„So habe ich endlich die Gelegenheit, meinen alten Kumpel Dierk wieder zu sehen. Mal schauen, was für einen Laden er sich aufgebaut hat.“

Im Nu hatten Lukas und Theo ihre Jacken geschnappt und das Büro verlassen.

Kriminalkommissarin Jasmin Hafner stellte sich an das große Bürofenster, das zum Fuhrpark der Dienstwagen zeigte. Ein Audi A6 stand dort und wartete auf seinen Einsatz. Es dauerte nicht lange, schon tauchten Lukas und Theo in ihrem Blickfeld auf. Sie steuerten das Auto an und stießen sich dabei gegenseitig an und alberten herum. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Die Erinnerung an den Abend mit Lukas an Halloween machte ihr Schmunzeln breiter. Da hielten sich die beiden für die Superbullen schlechthin, dabei war Lukas entgangen, dass Jasmin niemals Fleischgerichte aß, wenn sie mal zusammen in der Kantine saßen. Seine Verlegenheit hatte aus dem Fauxpas ein lustiges Ereignis gemacht – auch wenn Lukas diesen Abend vermutlich anders in Erinnerung behalten würde. Ihr hatte gefallen, ihn herumzappeln zu sehen in der Hoffnung, dass seine Ungeschicklichkeit nicht auffiel.

Hinter ihr hörte sie, wie die Tür zum Großraumbüro geöffnet wurde. Sie drehte sich um und sah ihre Kollegin Monika Blech hereinkommen. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte Zufriedenheit wider.

„Wo kommst du her?“, fragte Jasmin und kehrte an ihren Schreibtisch zurück.

„Aus der Ballistik.“ Monikas Grinsen wurden breiter. Ihr blasses Gesicht wies rote Flecken auf, ein Zeichen, dass sie erregt war. „Der Fall David Clement kann eindeutig als Selbstmord abgeschlossen werden. Er hat sich die Waffe in den Mund gehalten. Einschusswinkel, Eintrittswunde, Austrittswunde, Patrone und Waffe, alles deutet darauf hin.“

„Und der gerichtsmedizinische Befund?“, hakte Jasmin nach. „Nicht, dass ihm etwas verabreicht wurde, das ihn beeinflussbar oder willenlos gemacht hat.“

„Nichts dergleichen. Er hatte einen Alkoholspiegel von 0,5. Das reicht nicht für Bewusstseinsstörungen. Wieder eine Akte weniger auf dem Schreibtisch.“

„Was hat dich an der Selbstmordtheorie zweifeln lassen?“, bohrte Jasmin weiter.

„Die Waffe. Er hat sich mit einer Makarow erschossen. Die sind in Deutschland nicht gerade handelsüblich. Die kommen aus Russland. David Clement ist kein Russe … oder war.“

„Gute Arbeit“, lobte Jasmin. „Ich wollte, ich hätte heute so viel Motivation wie du.“

„Was ist los? War eurer Treffen am Montag nicht gelungen?“

Lachend erzählte sie ihrer Kollegin, was passiert war. Eine Weile schaute Monika nur auf das blasse Gesicht ihrer Kollegin, bevor sie leise meinte: „Manchmal glaube ich, dass Lukas nicht von dieser Welt ist.“

„Wie meinst du das?“

„Ihm fällt alles einfach so zu, ohne viel dafür zu tun. Er stolpert in jede Falle und findet am Ende die Lösung. Er treibt jeden Vorgesetzten in den Wahnsinn und wird befördert. Er benimmt sich bei den Frauen total daneben und hat immer die besten Chancen.“

„Jetzt übertreibst du aber.“ Jasmin lachte. „Ist das der Grund, warum meine Vorgängerin Andrea Peperding einen derart großen Hass auf Lukas hatte?“

Bei der Erwähnung dieses Namens verlor Monikas Gesicht die roten Flecken, die sich vor wenigen Minuten noch auf ihren Wangen gebildet hatte. Blass nickte sie, sagte aber kein Wort dazu.

„Du wirkst, als hätte ich den Teufel persönlich erwähnt.“

„Im Grunde genommen hast du das auch. Andrea war im Laufe der Zeit für alle hier zur Belastung geworden. Sie hat es mit ihrem Männerhass einfach übertrieben.“

„Dafür kam sie aber gut weg“, staunte Jasmin. „Heute sitzt sie in der Abteilung für Wirtschafts- und Vermögenskriminalität. Das ist kein schlechter Job.“

„Ich weiß. Nur tun mir ihre neuen Kollegen leid.“

Das Treppenhaus des Motivitas-Studios war in hellen, freundlichen Farben gehalten. Hellgraue Stufen, naturweiße Wände, das Geländer aus Gusseisen und mit Chrom verziert. Im Zwischenraum hingen Stricke in Naturfarben, die vom obersten Stockwerk bis zum Erdgeschoss reichten. Doch die beiden Kriminalbeamten beachteten ihr Umfeld nicht. Etwas anderes beschäftigte sie weitaus mehr.

„Scheiße man“, stöhnte Lukas. „Muss das Studio auch im zweiten Stock liegen? Nach den Treppen bleibt mir schon die Luft weg. Wie soll ein Normalsterblicher da noch trainieren?“

Theo lachte und meinte: „Das Prinzip des Trainings ist wohl, dass man diese Stufen bewältigt, ohne ins Schnaufen zu geraten.“

„Blödsinn! Schuld an unserer schlechten Kondition ist die Currywurst, die wir eben gegessen haben.“

Theo nickte nur, weil auch ihm die letzten Stufen das Atmen immer schwerer machten. Dann meinte er: „Aber irgendwas muss man doch essen.“

„Klar! An der Wurst kann es nicht liegen. Bestimmt war die Soße zu scharf.“

„Genau!“

Theo und Lukas sahen sich in einem Spiegel am oberen Ende der zweiten Etage. Lachend schlugen sie ihre Fäusten gegeneinander, während sie sich dabei beobachteten.

„Keiner sieht uns an, wie schlapp wir sind“, griente Lukas.

„Wenn wir jetzt auch noch aufhören zu schnaufen wie Walrösser, könnte die Tarnung funktionieren.“

Sie öffneten die gläserne Tür und betraten einen überdimensional großen Raum, der voller Sportgeräte stand, an denen vereinzelt Männer und Frauen in jedem Alter trainierten. Laute Musik schallte ihnen entgegen. Der Song „Scared to be lonely“ von Martin Garrix & Dua Lipa schallte ihnen entgegen. Zu ihrer Rechten erblickten sie eine Theke, die Eiweißriegel, Eiweißshakes und Sonstiges anbot. Dahinter stand eine junge Frau mit hellblonden Haaren, die ihr bis ans Kinn reichten.

„Kann ich euch helfen?“, fragte sie mit einer Stimme, die an Glockenklang erinnerte. An ihrem T-Shirt mit dem „Motivitas-Emblem“ stand der Name „Birte“. Die beiden Männer hatten Mühe, nicht in ihren grünen Augen zu versinken.

„Hallo Birte, ich bin Lukas.“

Sie gaben sich über die Theke hinweg die Hand.

„Wir wollen zu Dierk von Westernhagen. Ist er da?“

„Ja, er ist in seinem Büro. Ich gehe ihn rufen.“

Die blonde Frau verließ ihren Platz hinter der Theke. Erst jetzt konnten Lukas und Theo erkennen, dass sie sehr groß und hager war.

„Ich bin Lukas“, äffte Theo seinen Freund nach. „Du gehst immer gleich voll auf Angriff oder was?“

„Wer verpennt ist selber schuld.“

„Die ist nichts für dich. Die ist ja größer als ich.“

„Wie groß bist du denn?“, hakte Lukas nach.

„Eins fünfundachtzig.“

„Manometer!“ Lukas pfiff leise durch die Zähne und fügte grinsend hinzu: „Also doch meine Kragenweite.“

„Angeber! Du bist auf keinen Fall größer als ich.“

Die große Blonde verschwand hinter einer Tür direkt neben einer Sitzgruppe bestehend aus acht viereckigen Sesseln und zwei Tischen.

„Woher kennst du Dierk von Westernhagen?“, fragte Theo, als sich das Warten einige Minuten hinauszögerte.

„Ich habe dir doch irgendwann mal von der Eignungsprüfung für die Aufnahme an der Sporthochschule erzählt“, erinnerte Lukas. Theo nickte. „Dort habe ich ihn kennengelernt. Während ich durchgerasselt bin, hat er die Prüfung mit Leichtigkeit geschafft. Obwohl wir danach getrennte Wege gegangen sind, haben wir uns nicht mehr aus den Augen verloren.“

Die Tür öffnete sich. Die große Frau trat gefolgt von zwei Männern heraus, die beide nur wenige Zentimeter größer waren als sie. Unschwer war zu erkennen, dass es sich um Vater und Sohn handeln musste. Der Jüngere von beiden trug seine mittelblonden, gelockten Haare kurz geschnitten, was sein markantes Gesicht betonte. Blaue Augen leuchteten Lukas und Theo entgegen. Es dauerte nur einige Sekunden, bis der Mann erfasst hatte, wer dort auf ihn wartete. Mit ausgestreckten Armen trat er auf Lukas zu. Wie ein Riese wirkte der Fitnessstudiobesitzer neben Lukas.

„Hey, Lukas! Hast du dich endlich dazu entschieden, Sport zu treiben? Kann dir nicht schaden, du bestehst ja nur aus Knochen.“

Der ältere Herr, Dierks Ebenbild mit grauen Haaren und ein paar Falten mehr im Gesicht, lachte über den Spruch. Theo reichte ihm die Hand und stellte sich als Lukas’ Kollege und Freund vor.

Dierk sprach wie ein Wasserfall, sodass selbst Lukas nicht zu Wort kam. Ein bislang ungewöhnliches Ereignis. So hatte Theo seinen Freund noch nicht erlebt.

Als die beiden endlich voneinander losließen, atmete Lukas tief durch und meinte: „Ich bin eigentlich dienstlich hier.“

Verwirrt schaute Dierk auf den rothaarigen Polizeibeamten.

„Wir sind dienstlich hier“, fügte Theo an.

Nun erst gelang es dem älteren Herrn, sich als Kurt von Westernhagen vorzustellen. Der Vater war es, der die Situation schnell erfasste. Er bat die beiden, sich in der Sitzecke niederzulassen, während Vater und Sohn Kaffee für alle besorgten.

Lukas und Theo steuerten die roten und gelben viereckigen Sessel aus Kunstleder an, ließen sich darin nieder und warteten. Von dem Platz aus konnten sie einen Teil des Studios überblicken und zwar Geräte wie Crosstrainer, Radergometer oder Laufbänder. Einige mühten sich darauf ab und sahen aus, als stünden sie kurz vorm Herzinfarkt, während andere ihre Übungen mit Leichtigkeit absolvierten.

Zwei große Bildschirme waren über den Fenstern angebracht und strahlten den Sender n-tv ohne Ton aus. Doch an den Untertiteln war genug abzulesen, um zu verstehen was gesendet wurde. Hauptthema war gerade die bevorstehende Wahl des 45. Präsidenten der USA. Donald Trumps Gesicht dominierte das Bild.

Es dauerte nicht lange, da trat Dierk mit drei dampfenden Kaffeetassen zu ihnen. Mit der Bemerkung „Auf Kosten des Hauses“ und einem schiefen Grinsen stellte er die Tassen auf dem roten Holztisch in der Mitte ab und ließ sich in einen Sessel sinken.

„Und dein Vater?“, fragte Lukas.

„Der muss sich weiter um die Buchhaltung kümmern. Gespräche mit potenziellen Neukunden sind die Aufgabe von Lewin Poppa und mir.“

„Lewin Poppa?“

„Der Mitinhaber des Studios.“

Lukas fragte nicht weiter.

Eine Weile rührten alle drei gedankenverloren in ihren Kaffeetassen, bis Dierk mit gepresster Stimme hervorbrachte: „Macht bitte nicht hier publik, dass ihr von der Polizei seid, sonst kann ich meinen Laden schließen.“

„So schlimm sind wir auch wieder nicht“, protestierte Theo.

„Das meine ich ja nicht. Aber die Tatsache, dass erst vor kurzem hier ein Mann gestorben ist, lässt euren Besuch nicht gerade in strahlendem Licht erscheinen.“

„Du sprichst vom Hausmeister Anton Molitor?“

Dierk nickte.

„Deshalb sind wir hier. Und wegen einer Frau namens Sonja Jastreb.“

„Unsere Putzfrau?“ Dierk riss die Augen weit auf.

„Genau die. Oder ist es üblich, dass eure Angestellten oder Mitarbeiter – wie ihr das nennt – entweder sterben oder spurlos verschwinden?“, fragte nun Lukas.

„Blödsinn! Der Hausmeister ist verunglückt, das hat mir die Polizei sogar schriftlich bestätigt“, erklärte Dierk. „Deshalb verstehe ich nicht, was euch hierher treibt. Und was Sonja betrifft, so kann ich nur sagen, dass sie öfter davon gesprochen hat, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Deutschland gefiel ihr nicht so gut, wie sie es sich erhofft hatte.“

„Wo kam sie her?“

„Aus Polen.“

„Also ist es möglich, dass sie ihre beiden minderjährigen Kinder hier zurücklässt und nach Polen zurückkehrt?“ Lukas stellte die Frage so, dass seine Verwunderung nicht zu überhören war.

„Wenn du das so sagst …“ Dierk schaute von Theo zu Lukas, „…klingt es wirklich ein bisschen komisch.“

„Sind diese beiden Posten wieder neu besetzt?“

„Ja. Pascal Bonnet heißt der neue Hausmeister. Er trainiert schon seit einiger Zeit hier, also kennt er sich aus. Eine gute Besetzung.“ Dierk nickte, als wollte er seine Entscheidung damit bekräftigen. „Er ist sogar gerade hier und trainiert am Multifunktionsturm.“ Dierk stand auf, passierte die Theke, um in die Mitte des Raumes zu gelangen. Von dort hatte man freie Sicht auf ein Gerät, das aus Stangen, Seilen, Gewichten und sonstigen Apparaten bestand, was für Lukas und Theo nur befremdlich aussah. In der Mitte stand ein Mann und zog an Stahlseilen, die mit Gewichten behangen waren. Der Mann sah durchtrainiert aus. Jedes Mal, wenn er die angewinkelten Arme nach vorn bewegte, kamen Muskelpakete an Bizeps, Trizeps, Brustmuskulatur und ein bemuskelter Nacken zum Vorschein. Das Gesicht des Mannes wirkte dabei rot angelaufen. Seine dunklen, fast schwarzen Haare glänzten vom Schweiß. Die Augen hatte er zu schmalen Schlitzen zusammengezogen.

„Kräftiger Hausmeister“, staunte Theo.

Sie kehrten in ihre Sitzecke zurück, tranken von ihrem Kaffee, als Dierk hinzufügte: „Und eine neue Putzfrau haben wir auch. Sie heißt Emma Martin und macht ebenfalls einen guten Job. Deshalb habe ich wirklich nicht mehr an diese beiden Ereignisse gedacht.“

„Sieht so aus, als könnten wir unseren Einsatz als Freundschaftsbesuch abhaken“, stellte Lukas fest.

„Wenn du schon mal hier bist, könntest du mal darüber nachdenken, zu trainieren“, fügte Dierk an. „Du bist noch genauso knochig wie damals, als du auf die Sportschule wolltest.“

Lukas schaute an sich herunter und murrte: „Ich fühle mich wohl, wie ich aussehe.“

„’allo Dierk“, hauchte plötzlich eine junge Brünette ins Ohr des Studiobesitzers und setzte ihren Weg fort. Sie passierte die Crosstrainer und die Laufbänder, sodass Lukas und Theo einen freien Blick auf ihre Rückseite hatten. Die Haare reichten ihr bis zum Po, der in einer engen Leggins steckte. Die Rundungen wurden durch einen String-Tanga, der durch den dünnen Stoff hindurch schimmerte, besonders betont. Ein leichter Hüftschwung hielt die Kurven in sanften Schwingungen, sodass es weder Lukas noch Theo gelang, sich von dem Anblick zu lösen. Nach einigen Metern blickte die Schönheit zu den beiden zurück, als wollte sie sich davon überzeugen, dass sie ihr auch nachschauten. Dabei klimperte sie mit ihren überlangen Wimpern, sodass kein Zweifel aufkam, mit wem sie flirtete.

„Ich glaube, ich sollte hier mal trainieren“, stellte Theo fest.

„Nicht nur du. Wie Dierk gesagt hat, könnte ich was auf meine Knochen vertragen“, stimmte Lukas zu.

Dierk lachte laut auf und meinte: „Das freut mich. Soll ich euch das Studio zeigen?“

„Geht nicht, wir sind im Dienst“, bedauerte Lukas. „Aber wir kommen wieder.“

Silvia Tenner saß in Allensbachers Büro und fühlte sich nicht wohl. Zu genau erinnerte sie sich an ihr Arbeitsverhältnis mit dem Dienststellenleiter, als sie noch als Kriminalpsychologin gearbeitet und nach traumatischen Arbeitseinsätzen mit den betreffenden Polizeibeamten Therapiestunden absolviert hatte. Seine Überheblichkeit ihr gegenüber war verletzend gewesen. Inzwischen hatte sie sich weitergebildet, hatte promoviert und arbeitete als Fallanalytikerin für die gesamte Direktion LPP2, die die Kriminalitätsbekämpfung beinhaltete – kurz gesagt das Landeskriminalamt innerhalb des Landespolizeipräsidiums in Saarbrücken.

Nach den jüngsten Ereignissen, dem Selbstmordanschlag mit Rucksackbombe in Ansbach im Juli 2016, dem Amoklauf in München ebenfalls im Juli, der Messerattacke in einem Regionalzug in Würzburg im Juli, dem Sprengstoffanschlag in Dresden im September und dann dem vereitelten Anschlag in Chemnitz im Oktober, der durch den Suizid des gescheiterten Selbstmordattentäters im Gefängnis wohl am besten in den Köpfen der Menschen haftete, sah sie sich genötigt, mehr Übungen der hiesigen Polizeibeamten anzuregen. Die Tatsache, dass Lukas Baccus beim letzten Mal gescheitert war, ließ ihr keine Ruhe. Alle Beamten, die täglich im Einsatz waren, mussten ihrer Meinung nach bestens auf den Ernstfall vorbereitet sein. Da konnte eine derartige Ungeschicklichkeit nicht übersehen werden. Hinzu kam die bevorstehende Weihnachtszeit – eine äußerst sensible Angelegenheit für große Gruppen der Einwanderer, die sich mit den hiesigen Traditionen nicht identifizieren konnten. Die Luft brannte an allen Ecken und Enden. Da musste sie den Dienststellenleiter Allensbacher, von dem sie noch nie viel gehalten hatte, aus seinem Dornröschenschlaf wecken und ihm die Gefahr der Lage klarmachen.

Doch während sie ihn dabei beobachtete, wie er seine Banane aß – ein untrügliches Zeichen dafür, dass er wieder einmal eine Diät machte – ahnte sie, dass dieses Gespräch nicht den erwünschten Verlauf nehmen würde. Sie hätte Helmut Renskes Vorschlag, sie zu dem Gespräch zu begleiten, doch nicht abschlagen sollen. Mit dem Staatsanwalt im Nacken hatten alle Argumente mehr Nachdruck. Aber sie hatte es im Alleingang durchziehen wollen. Das Gefühl, dass sich Helmut mehr und mehr als ihr Beschützer, Retter oder gar Bevollmächtigter entwickelte, rief Abwehrreaktionen in ihr hervor. Sie war autark und wollte das auch bleiben. Also riss sie sich zusammen und begann zu sprechen, nachdem Allensbacher demonstrativ die Bananenschale in den Mülleimer geworfen hatte.

„Durch die Einwanderungspolitik ist die Terrorgefahr in Deutschland inzwischen genau so groß wie in Frankreich und Belgien. Klar ist, dass der Islamische Staat auch bei uns Anschläge plant, sobald er die Möglichkeit dazu hat. Die Gefahrenlage ist ernst. Sie hat innerhalb sehr kurzer Zeit in ganz Westeuropa stark zugenommen.“ Sie atmete tief durch. Allensbacher fiel ihr nicht ins Wort, also sprach sie weiter: „Die Anschläge der letzten Monate haben bewiesen, dass Gewalt Gegengewalt erzeugt. Gegen die Flüchtlinge hat sich inzwischen eine starke Allianz gebildet, was neben der Willkommenskultur in Deutschland ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass sich Deutschland aufspaltet. Die Situation wird bedrohlich, denn es bilden sich Gruppen, Interessengruppen oder wie man das nennen will, deren Dynamik ungeahnte Ausmaße annehmen kann. Aggressives Verhalten wird durch die Anonymität einer Gruppe immer wahrscheinlicher. Diese Personen lassen sich leichter dazu animieren, nicht auf die eigene soziale Bewertung durch andere zu achten. Sie spalten sich von ihrem Ich ab, sodass es bis zur Unberechenbarkeit kommen kann.“

„Was wollen Sie mir mit Ihrem Psychofachjargon sagen?“, fiel ihr Allensbacher nun doch ins Wort.

„Dass die Situation, in der wir uns befinden, einem Pulverfass gleicht. Da ist es nicht hinnehmbar, dass eine Übung, bei der ein Beamter total versagt hat, als ausreichend angesehen wird. Wir müssen besser vorbereitet sein, denn es kann jeden Augenblick passieren.“

„Wir sind vorbereitet.“

„Das sind wir nicht. Zumindest Lukas Baccus nicht. Er hat den Ernst der Übungen vermutlich noch nicht einmal verstanden, weil er über seinen Fauxpas Witze reißt.“

„Und wegen diesem einem Mann wiederholen wir eine ganze Übung? Haben Sie eine Vorstellung, was das kostet?“

„Ist es denn sinnvoller, dass Ihre Beamten sich die Zeit damit vertreiben, einer Vermisstensache nachzugehen, die noch nicht einmal in ihren Zuständigkeitsbereich gehört?“

Endlich war es an Allensbacher zu staunen.

„Von welcher Vermisstensache sprechen Sie?“

„Die war unter den Akten, die Sie den beiden zum Bearbeiten gegeben haben.“

Allensbacher kratzte sich nachdenklich an einem Doppelkinn und meinte dazu: „Eine Antiterrorübung zusammen mit der Bundeswehr ist für März 2017 geplant.“

„Bis dahin kann viel passieren. Denken Sie bitte daran, dass Weihnachten und Silvester unmittelbar bevorstehen.“

„Trotzdem bin ich nicht bereit, weitere Übungen zu veranlassen, nur weil Ihnen der Sinn danach steht. Es gibt keine akute Terrorwarnung. Und sollte doch etwas passieren, sind wir vorbereitet. Das Spezialeinsatzkommando, das Mobile Einsatzkommando, der Staatsschutz, das Führungs- und Lagezentrum – kurz gesagt: Alle Stellen von LPP1 und LPP2 sind bestens befähigt und trainieren ständig für den Ernstfall. Sogar der Kampfmittelbeseitigungsdienst hat sich unseren Vorbereitungen angeschlossen. Glauben Sie da wirklich, dass unsere Sicherheit von einer einzigen Person abhängt?“ Silvia Tenner staunte über die Ausführlichkeit, in der Allensbacher ihr alles erklärte. So wortgewandt kannte sie ihn nicht. „Dass Sie und Lukas Baccus keine besonders gute Arbeitsbeziehung pflegen, ist allen hier im Haus bekannt. Das nötigt mich aber nicht dazu, das Versagen des Beamten Baccus zum Anlass zu nehmen und eine teure Polizeiübung wiederholen zu lassen. Also betrachte ich das Gespräch für beendet.“

Dierk von Westernhagen stand am Trainerpult und versuchte, einen Trainingsplan für Lukas Baccus zu entwerfen. Besonders sportlich hatte er den „Fuchs“ nicht in Erinnerung. Lukas war bisher viel zu raffiniert gewesen und hatte es immer geschafft, jedweder körperlichen Ertüchtigung aus dem Weg zu gehen. Die Tatsache, dass er sich nun freiwillig in seinem Studio angemeldet hatte, ließ Dierk doch zweifeln. Ging es Lukas dabei wirklich um den Sport, oder hegte er insgeheim die Absicht, hier zu ermitteln, oder wollte er Frauen anbaggern? Dierk blickte da nicht so ganz durch. Lukas hatte ein Pokerface wie kein anderer. Dessen Freund und Kollege Theo Borg wirkte dagegen unkomplizierter. Dass ihm die Frauen – insbesondere Estelle Fournier – gefallen haben, war nicht zu übersehen gewesen.

Dierk schmunzelte.

Seine Sicht auf das Papier verdunkelte sich. Überrascht schaute Dierk auf und sah seinen Vater auf der anderen Seite des Trainerpultes stehen. Im Sportdress wirkte der alte Herr mit seinen Fünfundsiebzig immer noch sehr jugendlich. Die grauen Haare akkurat zurückgekämmt sah er wie ein in Würde gealterter Playboy aus. Kein Wunder, dass er erst vor kurzem wieder geheiratet hatte. Er hatte immer noch Chancen bei den Frauen. Lediglich zwei Zentimeter kleiner als sein Sohn, standen sich die beiden Männer Auge in Auge gegenüber.

„Was beschäftigt dich so sehr an diesem Trainingsplan?“, fragte Kurt von Westernhagen. „Bisher war das doch immer eine deiner leichtesten Übungen.“

„Die Tatsache, dass Lukas ein Bulle ist. Wir kennen uns zwar, aber sein Hauptgrund hier aufzutauchen, war die Tatsache, dass der Hausmeister tödlich verunglückt ist und die Putzfrau die Fliege gemacht hat. Sollte Lukas dahinter etwas Kriminelles vermuten, kann es sein, dass er zum Ermitteln kommt und uns damit schadet.“

„So ein Blödsinn. Wer wird zum Ermitteln einen monatlichen Beitrag für das Fitnessstudio freiwillig bezahlen?“, erwiderte der Vater.

„Das ist es ja. Polizisten haben für gewöhnlich eigene Möglichkeiten zu trainieren“, führte Dierk seine Bedenken weiter aus.

„Aber du weißt, dass wir zurzeit jeden Vertrag brauchen. Wir haben uns noch nicht soweit etabliert, dass wir uns unsere Kundschaft aussuchen können.“

Dierk nickte und stieß einen Seufzer aus.

„Wenn ich das richtig beobachtet habe, kennst du Lukas schon länger“, überlegte Kurt von Westernhagen laut.

„Warum?“

„Mach seinen Trainingsplan so anstrengend, dass er gar keine Gelegenheit bekommt, über sich und seine Arbeit zu sprechen.“

„Paps, du bist klasse!“ Endlich konnte Dierk wieder lachen. „Genauso machen wir es.“

„Ich sehe, wir verstehen uns.“

Vater und Sohn klatschten in die Hände. Doch bevor Kurt sein nächstes Trainingsgerät ansteuerte, meinte er: „Bald können wir uns ganz beruhigt zurücklehnen und die Lorbeeren unserer harten Arbeit genießen, Junior! Denn es dauert nicht mehr lange, dann haben wir unseren Laden im Trockenen und können uns die Kundschaft aussuchen. Glaub mir.“

Verblüfft schaute Dierk seinem alten Herrn hinterher.

„Hast du deine Sportsachen dabei?“, fragte Lukas, während er mühsam an dem Bericht über die vermisste Polin namens Sonja Jastreb arbeitete. Dabei behielt er ständig die Uhr im Auge. Freitagnachmittag, kurz vor Feierabend, mit der Aussicht auf das erste Training bei Motivitas in Kleinblittersdorf – da wäre es fatal, wenn noch ein Fall dazwischen käme …

„Klar. Ich kann den Feierabend kaum noch erwarten“, brummte Theo, der weiterhin die Fälle auf dem PC studierte, die Allensbacher ihnen zur Bearbeitung gegeben hatte. „Diese Büroarbeit macht mich ganz fickerig. Da passt es super, dass wir in ein paar Stunden unsere überschüssige Energie an den Geräten auslassen können.“

Lukas grinste und fügte hinzu: „Und nebenbei den süßen Schnecken imponieren. Hab’ schon verstanden.“

„Gib doch zu, dass dich das auch antörnt.“

„Klar! Nach meinem verpatzten Date mit unserer Kollegin könnte ein Trostpflaster nicht schaden.“

„Vielleicht ist es auch ganz gut, dass es so gekommen ist. Oder glaubst du, dass eine Beziehung auf dem Arbeitsplatz eine Chance hat?“

Lukas konnte darauf keine Antwort geben. Er überlegte, nickte, schüttelte gleichzeitig den Kopf und widmete sich wieder dem Bericht, auf den der Dienststellenleiter Allensbacher wartete.

„Jasmin hat es dir also angetan“, resümierte Theo.

„Ich gebe jetzt mal den Bericht ab, damit ich den Mist hinter mir habe“, überging Lukas die Bemerkung und hieb heftig auf eine bestimmte Taste seiner Tastatur. Fast gleichzeitig brummte der große Drucker los, der neben dem Eingang zum Großraumbüro stand. Lukas erhob sich, entnahm das Ausgedruckte und steuerte damit auf Allensbachers Büro zu.

„Viel Erfolg“, rief ihm Theo hinterher, was Lukas nur mit einem Stinkefinger hinter seinem Rücken kommentierte.

Theos Lachen verstummte erst, als Lukas die Tür zum Büro des Ersten Hauptkommissars Allensbacher hinter sich ins Schloss fallen ließ. Der dicke, schwitzende Mann schaute herausfordernd auf den Oberkommissar, was Lukas dazu veranlasste, besonders langsam auf den Stuhl vor dem Schreibtisch zuzugehen und sich dort niederzulassen. Anschließend überreichte er den ausgedruckten Bericht.

Allensbacher las ihn – oder tat so – und meinte dann: „Ich hatte heute Morgen eine interessante Unterredung. Vermutlich war diese Vermisstenmeldung der Anlass dazu.“

Lukas sagte nichts dazu.

„Es stellt sich nämlich die Frage, seit wann wir Vermisstenangelegenheiten bearbeiten.“

„Sie haben uns doch die Fälle gegeben, damit wir sie abarbeiten. Deshalb haben wir uns damit befasst.“

„Sie sind um keine Ausrede verlegen.“ Allensbacher wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich weiß nicht, ob Ihre privaten Interessen im Vordergrund standen oder Ihr Pflichtbewusstsein. Oder glauben Sie, ich weiß nicht, dass Sie mit dem Betreiber des Fitnessstudios in Kleinblittersdorf befreundet sind?“

Lukas schluckte. Für so clever hätte er das schnaufende Walross nicht gehalten.

„Ihr Patzer bei der letzten Polizeiübung steht in Ihrer Akte – neben vielen anderen Einträgen auch. Hinzu kommt, dass ich erst heute Morgen erkannt habe, dass ich nicht der einzige bin, der Sie nicht mag. Also liege ich mit meiner Menschenkenntnis doch nicht daneben. Ich dulde Sie hier nur, weil Kriminalrat Hugo Ehrling das will. Also sehen Sie zu, dass Hugo Ehrling den Posten noch lange hat, sonst kann ich für nichts mehr garantieren.“

Lukas war sprachlos. Mit großen Augen starrte er auf den dicken Mann und gab sich alle Mühe, jetzt keine Gefühlsregung zuzulassen. Eine Weile verging, in der kein Wort gesagt wurde. Als wollte Allensbacher sein Gegenüber herausfordern. Doch dieses Spiel verlor er. Das schwor sich Lukas.

Endlich kam die Erlösung: „Sie können jetzt gehen.“

Behutsam erhob sich Lukas und ging mit langsamen Schritten, obwohl ihm nach Laufen war, zur Tür und verabschiedete sich. Als er sich an seinem Schreibtisch niederließ, fragte Theo: „Was ist da drin passiert?“

„Nichts!“

„So siehst du aber nicht aus.“

„Lass es einfach gut sein“, bat Lukas.

„Ich dachte, wir sind Freunde.“

„Sind wir ja auch.“

„Freunde vertrauen sich alles an.“

„Gib mir bitte etwas Zeit. Es gibt Dinge, die muss man erst verdauen.“

„Das muss ja verdammt übel gewesen sein.“ Theos Gesicht wurde ebenfalls blass.

Helmut Renske staunte über die Akten, die von Lukas Baccus und Theo Borg aus der Abteilung für „Straftaten gegen das Leben und die sexuelle Selbstbestimmung“ ihm zur Prüfung geschickt worden waren. Es war Freitag – wieder eine ganze Woche vergangen, ohne dass ein Kapitalverbrechen auf seinem Tisch gelandet wäre. Auf seinem Tisch landeten zurzeit lediglich Akten über Fälle, die Lukas und Theo normalerweise nicht zugeteilt wurden. Hinzu kam die prekäre Lage in Deutschland durch die Zuwanderung. Wie war es möglich, dass ausgerechnet in dieser Zeit alles ruhig blieb? Da stimmte etwas nicht.

Sollte sich irgendetwas Seltsames im Kopf des Ersten Kriminalhauptkommissars Allensbacher abspielen?

Der Staatsanwalt mochte den ewig schwitzenden Dienststellenleiter nicht. Schon von Anbeginn an war es ihm ein Rätsel, wie ein Mann mit dessen minderen Qualitäten auf einen derart hoch dotierten Posten gelangen konnte. Inzwischen war aus dem Kriminalhauptkommissar sogar ein Erster Kriminalhauptkommissar geworden. Die Beförderungen nach oben waren für manche Beamte durch nichts aufzuhalten.

Die Spannungen zwischen Allensbacher und Baccus und Borg waren im Landeskriminalamt kein Geheimnis mehr. Doch war es wirklich sinnvoll, den beiden Oberkommissaren nur noch Aktenarbeit aufs Auge zu drücken? Und das in Zeiten, in denen es ständig und überall Terrorwarnungen gab. Dass die beiden im Außendienst gute Arbeit leisteten, war ebenfalls bekannt. Leider aber auch deren Methoden, die manchmal zu wünschen übrigen ließen.

Renske schmunzelte, lockerte sich seine Krawatte und spürte, dass sein Hosenbund kniff. Er musste unbedingt mal wieder eine Diät machen. Silvia war gertenschlank und er ging immer weiter in die Breite. Das musste ein Ende haben.

Nur wie?

Die Abende zusammen mit der schönsten Frau im südwestlichen Raum in den renommiertesten Lokalen im Saarland zu verbringen, machte einfach zu viel Spaß. Auch wenn das Saarland klein war, so hatte es doch eine beachtliche Anzahl an kulinarischen Highlights. Und sollte mal die Auswahl knapp werden, so würde er bestimmt im angrenzenden Frankreich fündig werden. Die Franzosen waren weltweit bekannt für ihre gute Küche. Auf solche Genüsse wollte er nicht verzichten.