3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €
Vorsicht - Glücksspiel kann glücklich machen! Leonie führt ihr kleines Café mit Hingabe und Charme. Ihre Gäste lieben sie dafür, nur mehr als ein Stück Torte gönnen sie sich selten. Mit dem spärlichen Gewinn kommt die Alleinerziehende kaum über die Runden. Als auch noch die Pacht erhöht wird und ihr neuer Nachbar das Herzstück des Cafés kaputt repariert, weiß sie nicht mehr weiter. „Dein Laden braucht dringend neuen Schwung“, meint ihre Freundin und rät zu einer Tombola, die auf sämtliche Konventionen pfeift, denn hey! Wer gewinnt nicht gern mal etwas Ausgefallenes? Als der attraktivste der drei Hauptpreise ausgerechnet in Leonies Hände fällt, glaubt sie zu träumen. Doch dann erfährt sie, dass ihr charmanter Glückstreffer auswandern will – aus familiären Gründen! Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Romans „Lieb Gewonnen“.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
Ulla B. Müller
Café Herzlich
und der Glückstreffer
Roman
Copyright © 2022 Ulla B. Müller
Das Buch
Vorsicht - Glücksspiel kann glücklich machen!
Leonie führt ihr kleines Café mit Hingabe und Charme. Ihre Gäste lieben sie dafür, nur mehr als ein Stück Torte gönnen sie sich selten. Mit dem spärlichen Gewinn kommt die Alleinerziehende kaum über die Runden. Als auch noch die Pacht erhöht wird und ihr neuer Nachbar das Herzstück des Cafés kaputt repariert, weiß sie nicht mehr weiter.
„Dein Laden braucht dringend neuen Schwung“, meint ihre Freundin und rät zu einer Tombola, die auf sämtliche Konventionen pfeift, denn hey! Wer gewinnt nicht gern mal etwas Ausgefallenes?
Als der attraktivste der drei Hauptpreise ausgerechnet in Leonies Hände fällt, glaubt sie zu träumen. Doch dann erfährt sie, dass ihr charmanter Glückstreffer auswandern will – aus familiären Gründen!
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Romans Lieb Gewonnen.
Die Autorin
Ulla B. Müller schreibt Liebesromane mit viel Herz, Familiensinn und Humor. Gesundheit und Bewegung sind für die ehemalige Physiotherapeutin wichtige Themen. Deshalb haben viele ihrer Bücher mit Fitness, Ernährungstrends und gesunder Lebensführung zu tun. Sie liebt Romanhelden mit Ecken und Kanten, die streiten und verzeihen können und ihr Herz dennoch am rechten Fleck haben.
Das Schreiben hat Ulla B. Müller schon immer begleitet. Erst waren es amüsante Kurzgeschichten, mit denen sie erfolgreich an Wettbewerben teilnahm. Dann folgte ihr erstes Kinderbuch. Mit dem Fitness-Liebesroman „Mobbic Walking“ ist ihr auf Anhieb der Sprung in die Bestsellerlisten gelungen.
Mit ihrem Mann lebt sie zwischen Köln und Düsseldorf, einen Steinwurf vom wunderschönen Rhein entfernt.
Impressum
© 2022 Ulla B. Müller
Alle Rechte vorbehalten.
Am Mühlenhof 1
40789 Monheim am Rhein
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Barbara Frank
Satz, Layout und Coverlayout: Dr. Werner Müller
Coverelemente: Adobe Stock ID 392946167, ID 491760027, ID 425363709
Kapitel 1
„Einer von achtzig Millionen …“, schallte Max Giesingers Stimme durch den menschenleeren Gastraum des Cafés.
„Von wegen einer.“ Leonie betrachtete genervt die Unmenge an Krümeln in der Kuchenvitrine. „Das sind Hunderte!“ Sie fühlte noch einmal nach, ob ihr Pferdeschwanz nicht wieder aus der Schutzhaube herausgerutscht war. Dann neigte sie sich vornüber in den gläsernen Kasten und wischte den Rest des Streuselbelags zusammen, der überall auf dem Glasboden verstreut war. „Nie wieder kommt mir dieses bröselige Zeug hier rein! Ab jetzt gibt es nur noch Obstkuchen und Torte.“
Ob es wirklich eine gute Idee wäre, ihre Ankündigung in die Tat umzusetzen, bezweifelte sie sofort wieder. Ohne das herrlich duftende Hefegebäck würde ihr kleines Café vermutlich noch schlechter laufen, und das konnte sie sich zurzeit absolut nicht leisten. Gerade ihre Stammkunden liebten diesen einfachen Kuchen. Vermutlich erinnerte er sie an die schlechten Zeiten, in denen sie von Buttercremetorte nur träumen konnten. Diesen treuen Cafébesuchern, die allesamt jenseits der Siebzig waren, konnte Leonie ohnehin keinen Wunsch ausschlagen.
Die jungen Mütter, die sich gern im Café Herzlich trafen, sobald die Kinder im Kindergarten oder in der Schule waren, hielten sich einvernehmlich an die unterschiedlichen Obstkuchen. Für die Cremetorten war eher das Mittelalter zuständig. Vor allem Männer um die Fünfzig. Leonie vermutete, dass sie die Bemühungen um ein lebenslanges Sixpack aufgegeben hatten und ihre Resignation nun mit Schwarzwälder Kirschtorte betäubten.
Ein letztes Mal spülte sie das Wischtuch aus und nahm den Rest der Krümel auf. Als der Boden der Vitrine blitzsauber war, stellte sie die köstlich beladenen Tortenrondells und Kuchenplatten wieder an ihren Platz zurück. Vielleicht würde es reichen, wenn sie die Streuselstücke auf eine größere Platte setzte. Außerdem müsste sie sich endlich dazu durchringen, Sarah durch eine professionelle Hilfskraft zu ersetzen.
Die Studentin, die ihr an drei Nachmittagen beim Bedienen half, war freundlich und flink, aber auch sehr tollpatschig. Der Großteil des Krümelchaos ging auf ihr Konto. Außerdem mussten in der vergangenen Woche vier Tassen Kaffee ersetzt werden, weil sie ihnen beim Servieren ein Fußbad verabreicht hatte. Das Schlimmste war aber für Leonie, dass Sarah immer wieder Tortenstücke beim Umsetzen auf den Teller umkippten. Ein absolutes No-Go für ein fachmännisch geführtes Café!
Natürlich hatte Leonie der zierlichen Kunststudentin eine Eingewöhnungszeit eingeräumt. Bei den ersten Patzern hatte sie sogar noch gewitzelt: „Weißt du eigentlich, dass man für ein umgeworfenes Tortenstück eine schlimme Schwiegermutter bekommt?“ Bei der nächsten Breitseite blieb ihr jedoch der Humor in der Kehle stecken. Als sie dann auch noch den Daumen der Studentin beim Servieren eines Obstkuchenstücks in der Schlagsahne stecken sah, konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Mit genervtem Gesicht hatte sie die verdutzte junge Frau in die Küche geschoben und die Tür geschlossen. „Verflixt, Sarah! Das geht so nicht weiter! So was ist doch unhygienisch! Gib dir bitte ein bisschen mehr Mühe! Ich kann es mir nicht leisten, auch nur einen Gast zu verlieren!“
Sarah war sofort zu einem Häufchen Elend zusammengesunken. „Oh, sorry! Es tut mir so leid!“ Um zu verhindern, dass sie auch noch in Tränen ausbrach, hatte Leonie sie rasch wieder zurück an die Arbeit geschickt.
Leonie hasste Szenen dieser Art, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie wusste genau, dass es so gut wie unmöglich war, eine Aushilfskraft zu finden, die geschickt, freundlich und auch noch flexibel war. Solche Spitzenkräfte gab es zwar, aber sie hatten einen großen Haken: Für gute Arbeit wollten sie entsprechend bezahlt werden. Nur dafür hatte Leonie einfach nicht das Geld. Sie dankte schon dem Himmel, wenn der Umsatz über das Jahr einigermaßen gleichblieb. Jeder Tisch, der um vier Uhr noch nicht besetzt war, machte sie unruhig, und Stammgäste, die sie zufällig in der Eisdiele am anderen Ende der Altstadt entdeckte, versetzten ihrem Herzen einen Stich. Obwohl sie das stete Auf und Ab schon sechs Jahre durchmachte, bangte sie bei Durststrecken jedes Mal aufs Neue um ihre Existenz.
Genau wie jetzt, in der ersten Märzwoche, in der es eigentlich langsam Frühling werden sollte. Doch statt milder Luft und Vogelgezwitscher stürmte und regnete es in einem fort. In den Mittagsstunden kletterten die Temperaturen im besten Fall bis zur Zehn-Grad-Marke.
Leonie blickte gedankenversunken über die Theke hinweg nach draußen. Das Kopfsteinpflaster der Altstadtgasse glänzte vor Nässe. Wie sehr wünschte sie sich, dass es mal länger als ein paar Stunden trocken blieb und die Sonne zwischen den grauweißen Wolkentürmen erschien. Dann würden auch die Senioren und Mütter mit Kinderwagen wieder zu ihren Spaziergängen aufbrechen und sich anschließend einen leckeren Cappuccino in ihrem Café gönnen. Doch im Moment sah es so mau aus, dass sie schon hoffnungsvoll zur Tür blickte, wenn das Wochenblättchen hereingereicht wurde.
„Ich würde tausendmal lieber bis zum Umfallen schuften, als ständig diese Zwangspausen aushalten zu müssen“, murmelte sie und wienerte seufzend die Chromteile der Kaffeemaschine. Für die Durststrecken brauchte sie natürlich keine Aushilfskraft. Aber genauso gut konnte es passieren, dass das Café von jetzt auf gleich voll besetzt war. Dann schaffte sie das Zubereiten der Heißgetränke, das Bedienen und Abrechnen auf keinen Fall allein. Was blieb ihr also anderes übrig, als sich mit Sarahs Schwäche zu arrangieren?
Und dann gab es ja auch noch Kiki. Schon ihretwegen konnte Leonie nicht auf eine Zusatzkraft verzichten. Seitdem sie nach dem Tod ihres Mannes mit ihrer Tochter allein lebte, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, bei ihrer Rückkehr von der Schule ein paar Minuten ganz für sie da zu sein.
Üblicherweise kam die Neunjährige kurz nach zwei ins Café marschiert und pfefferte ihre Schultasche hinter die Theke. Dann ließ sie sich mit einem gequälten Lächeln von ihrer Mutter drücken, um gleich darauf auf ihren Lieblingsplatz am Fenster zu sinken und über das Ungemach herzuziehen, das ihr in der Schule widerfahren war. Als Erstes kam der blöde Kunstlehrer dran, der ihre super gelungene Katze für einen Löwen hielt. Dann ließ sie sich über einen Mitschüler aus, der seit Neustem nach Tabak stinken würde. Am Ende bekam ihre Sitznachbarin noch eins drauf. „Das ist vielleicht eine empfindliche Kuh! Nur weil ich ihren dunkelblauen Nagellack doof finde, redet sie nicht mehr mit mir.“ Am Ende des Lamentos stöhnte sie dann wie üblich: „Mama, ich sterbe gleich vor Hunger! Was für einen Pfannkuchen gibt es denn heute?“
Da es über die Mittagszeit im Café meist ruhig war und die ersten Nachmittagsgäste frühestens um halb drei eintrudelten, hatte Leonie genügend Zeit, um Kiki etwas Warmes zu kochen. Zum Glück war die Neunjährige, was das Essen anging, anspruchslos. Zu ihren absoluten Favoriten gehörten Pfannkuchen, wahlweise mit Äpfeln oder Blaubeeren, und Nudeln mit Schinken und Käsesoße. Für die Zubereitung brauchte Leonie nicht länger als eine halbe Stunde. Bis zum Eintreffen der ersten kaffeedurstigen Spaziergänger konnte sie Kiki also ohne Zeitdruck Gesellschaft leisten. Üblicherweise setzte sie sich mit einem Pott Kaffee zu ihr an den Tisch und verfolgte amüsiert, wie sie sich über ihr Essen hermachte. „Und was gibt es sonst noch Neues vom Schlachtfeld?“
Kiki rollte theatralisch mit den Augen. „Ach, Mama!“, kam es seufzend aus dem vollen Kindermund. „Wie immer halt. Stinklangweilig!“
„Na, dann bin ich ja zufrieden.“ Leonie nahm einen Schluck Kaffee. „Ich dachte schon, ich hätte was verpasst.“
Plötzlich blitzten die munteren Augen ihrer Tochter auf. „Schitte! Das hätte ich beinahe vergessen!“ Sie streckte ihren kindlich drahtigen Rumpf triumphierend in die Höhe. „Ich habe in Mathe schon wieder eine Eins. Die einzige in der Klasse übrigens.“
Leonie schlug vor Freude die Hände vor den Mund. „Wow! Unfassbar! Ich habe ein kleines Genie als Tochter!“ Dann zwinkerte sie ihr zu. „Von mir hast du das bestimmt nicht geerbt. Mathe war die Hölle für mich.“
Kiki nickte wissend und schob den Rest des Pfannkuchens in den Mund. „Tja, dann muss ich das wohl vom Papa haben.“ Sie lächelte verträumt und sah dabei genüsslich kauend aus dem Fenster. „Der konnte bestimmt super gut rechnen, oder?“
Leonie schluckte irritiert, bevor sie nickte. „Ja, das konnte dein Vater wirklich gut.“
Natürlich war Philipp ein Zahlengenie gewesen. Immerhin hatte er für eine Reederei die Ladekapazitäten der Überseefrachter berechnet. Dass er trotzdem nicht mit Geld umgehen konnte, behielt Leonie für sich, und auch, dass ihre jetzigen Existenzsorgen immer noch mit den Folgen seiner Spielsucht zu tun hatten. All das musste Kiki noch nicht wissen, hatte Leonie kurz nach seinem Tod entschieden. Sie sollte ihren Vater in positiver Erinnerung behalten, auch wenn sie mit ihren knapp zehn Jahren bestimmt schon wusste, dass jeder Mensch auch Schattenseiten besitzt. Von Philipps Schwäche würde sie ihr in ein paar Jahren erzählen. Vielleicht, wenn sie die Pubertät hinter sich hatte. Bis dahin sollte sie sich ihren Vater so ausmalen, wie sie ihn von Fotos und den Erzählungen ihrer Oma her kannte: als blendend aussehenden, stets vergnügten Sportsmann, den alle wegen seiner Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit schätzten.
Leonie erinnerte sich mit einem eisigen Schaudern an den Tag, als sie die Nachricht bekam, dass er mit seinem Wagen auf schneeglatter Straße verunglückt war. Dieses Ereignis hatte sie noch Monate danach so fertig gemacht, dass sie sogar die Hilfe eines Therapeuten in Anspruch nehmen musste. Aber auch er konnte ihr nicht die Schuldgefühle nehmen, die sie seit dem Unglück quälten. Wie ein glühender Draht bohrte sich immer wieder der Gedanke in ihr Herz, dass sie den Wagen, in dem ihr Mann verunglückt war, schon längst hätte zur Inspektion bringen müssen. Sie war damals mit der kleinen Kiki und dem Café, das sie gerade eröffnet hatte, so ausgelastet gewesen, dass sie den Werkstatttermin immer wieder vor sich hergeschoben hatte. Als ihre Schwiegereltern kurz nach der Beerdigung von der Sache mit der Autoinspektion erfuhren, waren sie so entrüstet gewesen, dass sie den Kontakt zu ihr und der kleinen Enkelin umgehend abbrachen.
Kiki war da gerade drei Jahre alt geworden und konnte das Ausmaß des Unglücks noch gar nicht erfassen. Anfangs vermisste sie ihren Papa. Doch bereits einige Zeit später waren Spielkameraden und Angelegenheiten ihrer kindlichen Welt wichtiger. Das Einzige, woran sie sich jetzt noch voller Freude erinnerte, war der Abend, an dem er ihr einen riesigen Plüschelefanten mitgebracht hatte. Der sollte mit seinem Rüssel die Windpocken, die ihren schmächtigen Körper von den Ohren bis zu den Knöcheln heimgesucht hatten, wegtrompeten. Seitdem bewachte „Winnipock“ ihren Schlaf vom Fußende des Kinderbettes aus.
„So, Hände waschen und Zähne putzen!“, kommandierte Leonie, kaum dass Kiki den restlos leer gegessenen Teller zur Seite geschoben hatte. Gerade wollte sie sich nach den Hausaufgaben erkundigen, da kam Emma mit einem unförmigen Paket unter dem Arm hereingestürmt. Mit tropfnassen Wangen drückte sie Leonie, die sofort aufgesprungen war, das mit durchweichtem Zeitungspapier umwickelte Bündel in die Hand.
„So ein Schietwetter!“ Wenn jemand fluchen, schniefen und sich gleichzeitig schütteln konnte, dann war es Emma. „Möchte mal wissen, womit ich das verdient habe. Gerade jetzt, wo ich mindestens zehn Sträuße am Tag ausliefern muss.“ Sie zerrte ihre Daunenjacke von den Armen und stülpte sie über einen der Garderobenhaken.
„So trocknet die doch nie.“ Kopfschüttelnd legte Leonie das Bündel ab, langte nach dem durchnässten Kleidungsstück und hängte es über einen Bügel an die Heizung.
Emma ging lachend zu Kiki hinüber und wuschelte ihr durch das ungekämmte blonde Haar. „Hi, Kumpel! Was geht?“
„Alles cremig soweit.“ Kiki mochte die Freundin ihrer Mutter sehr, aber dieses auf jugendlich getrimmte Begrüßungsritual entlockte ihr nur ein schwaches Lächeln. Gut erzogen, wie sie war, streckte sie der leicht molligen Vierzigjährigen die rechte Handfläche entgegen, damit sie einschlagen konnte.
Leonie wusste, wie sie die Prozedur für beide Seiten abkürzen konnte. Mit einem gespielt strengen Blick rief sie ihrer Tochter einen nicht weniger verpönten Satz zu: „So, Schatz, dann mal ran! Die Hausaufgaben machen sich nicht von allein!“
Kiki rollte erneut mit den Augen. Sie liebte ihre Mutter über alles. Wenn sie bloß nicht immer diese albernen Sprüche benutzen würde!
Leonie begrüßte ihre Freundin und deutete zu dem Tisch auf der anderen Seite der Kuchenvitrine. „Komm, wir setzen uns dort hinüber. Da stören wir Kiki nicht bei den Hausaufgaben, und du kannst dich direkt vor die Heizung setzen! Ich mache uns schnell einen Kaffee.“ Als sie hinter der Theke angekommen war, hob sie noch einmal das mitgebrachte Paket in Emmas Richtung an. „Ach ja, und danke für die Blumen.“
Emma winkte gelangweilt ab, während sie ihren Rücken am Heizkörper zurechtruckelte. „Du weißt doch, wie leicht mir die Tulpenstängel beim Binden der Sträuße durchbrechen. Eigentlich kann man sie dann nur noch in die Tonne hauen. Aber zum Wegwerfen sie mir einfach zu schade. Die zarten Dinger können ja nichts dafür, dass ich manchmal so ruppig mit ihnen bin.“ Sie nahm die kleine Vase mit den rosafarbenen Tulpen in die Hand und drehte sie mit einem seligen Lächeln. „Hier im Café bekommen die Unglücksstängel wenigstens noch eine Chance, ihre Schönheit zu zeigen.“
Leonie musterte ihre Freundin schmunzelnd. So derb sich Emma auch manchmal ausdrückte, so liebevoll und feinfühlig sprach sie über ihr Arbeitsmaterial. Mit den Schnittblumen zauberte sie die schönsten Sträuße. Und nicht nur das. Neuerdings fügte sie den wunderschönen Blumengebinden einen Spruch oder ein Gedicht hinzu, das genau den Anlass des Geschenks widerspiegelte. Und dafür hatte sie ein ausgesprochen feines Händchen.
Egal, ob es um einen Geburtstagsglückwunsch, ein Dankeschön oder eine Entschuldigung ging, in ihrer umfangreichen Datei fand sie für jede noch so spezielle Absicht den geeigneten Spruch oder Reim. Mal druckte sie das knappe Zitat eines Philosophen auf einen Bogen Schmuckpapier, den sie dann zusammengerollt an eine tiefrote Baccara-Rose band. Ein anderes Mal zauberte sie ein kunterbuntes Biedermeiersträußchen, das sie mit dem heiteren Wilhelm-Busch-Vers versah: Scheint dir auch mal das Leben rau, sei still und zage nicht. Die Zeit, die alte Bügelfrau, macht alles wieder schlicht.
Man könnte jetzt annehmen, sie besäße einen großen Blumenladen, in dem man ihre Kunstwerke anschauen und erwerben konnte. Doch danach müsste man lange suchen. Emmas Arbeitsplatz war ihre geräumige Altbauwohnung, die sich in einem Haus auf der anderen Straßenseite des Cafés befand. In dem kühlen, feuchten Kellerraum, der zur Wohnung gehörte, hatte sie ihr Schnittblumenlager eingerichtet. Vormittags stellte sie dort auf einem mit Folie überzogenen Tapeziertisch die bestellten Sträuße zusammen. Zwischendrin huschte sie immer mal wieder hinauf in ihr Wohnzimmer, um mit dem Handy am Ohr und dem Laptop auf dem Schoß neue Aufträge entgegenzunehmen. Im Handumdrehen hatte sie neue Lieferadressen eingetippt und ein paar persönliche Dinge notiert, die sie für den passenden Spruch benötigte. Den Rest des Tages war sie mit dem Fahrrad oder Auto unterwegs, um ihre kunstvoll zusammengestellten Sträuße abzugeben. Leider nahm das Wetter nicht immer Rücksicht auf ihre Lieferzeiten. Genau wie an diesem Märztag, der sich seit den frühen Morgenstunden von seiner kältesten und regenreichsten Seite zeigte. Nicht nur, dass es keinen Spaß machte, in klammen Sachen Blumensträuße auszuliefern. Bei diesem Wetter konnte es passieren, dass ihr Make-Up und die Frisur so in Mitleidenschaft gezogen wurden, dass ihr die Kunden die Tür vor der Nase zuknallten. Ein älteres Ehepaar hatte ihr sogar gedroht, die Polizei zu informieren, wenn sie nicht umgehend verschwinden würde.
„Weg hier! Windiges Zigeunerpack! Macht, dass ihr weiterkommt mit euren geklauten Blumen und Teppichen!“, hatte man ihr sogar schon einmal zugerufen.
Emma war ihren Strauß erst losgeworden, als sie dem Paar fast brüllend mitgeteilt hatte: „Aber der Strauß ist von Ihrer Tochter aus New York. Sie hat ihn übers Internet bei mir bestellt, weil sie es nicht schafft, zu Ihrer goldenen Hochzeit zu kommen.“
Daraufhin hatten die alten Leute betreten die Tür geöffnet und den Strauß unter unzähligen Entschuldigungs- und Dankesworten in Empfang entgegengenommen.
Als sich Leonie mit zwei großen Kaffeetassen zu ihrer Freundin setzte, seufzte Emma behaglich: „Genau das brauche ich jetzt.“ Mit beiden Händen umfasste sie ihre Tasse und nahm einen ordentlichen Schluck.
„Habe ich das gerade richtig verstanden? Du bekommst ausgerechnet jetzt, in dieser nasskalten Zeit, so viele neue Aufträge?“
Emma nickte. „Ja, ich kann es selbst kaum fassen. Das muss wohl mit meinem erweiterten Service zu tun haben. Seitdem ich das mit den Sprüchen und Gedichten anbiete, brummt der Laden.“ Sie nahm einen weiteren Schluck und schloss genüsslich die Augen. „Du glaubst gar nicht, wie überrascht und dankbar die Leute sind, wenn sie von mir nicht nur Blumen überreicht bekommen, sondern auch noch eine Karte mit einem hübschen Zitat.“ Emma merkte, dass Leonie Schwierigkeiten hatte, sich ein konkretes Bild davon zu machen. „Du musst dir das so vorstellen: Die meisten Leute, denen ich Sträuße vorbeibringe, holen sofort die Karte heraus. Sie wollen halt wissen, von wem die Blumen kommen. Oft lesen sie dann in meinem Beisein den angehängten Spruch vor.“ Ihre Augen leuchteten voller Stolz. „Die meisten Empfänger sind überrascht, ein paar reagieren auch misstrauisch. Sobald sie aber die hübschen Zeilen vor Augen haben, verändert sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig zu einem Strahlen. Manchen stehen nach dem Lesen sogar Tränen in den Augen. So war es auch bei dem älteren Ehepaar mit der goldenen Hochzeit.“
Leonie schüttelte den Kopf, sodass ihr straff gebundener, blonder Pferdeschwanz hin und her tanzte. So ergreifend, wie es Emma beschrieben hatte, konnte sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen. „Du bekommst also von einer Kundin mitgeteilt, dass sie eine Freundin wiedertreffen möchte, die sie wegen eines Streits aus den Augen verloren hatte. Der bringst du dann einen hübschen Nelkenstrauß mit dem Spruch: Rosen, Tulpen, Nelken. Alle Blumen welken. Aber wie das Immergrün, soll stets unsere Freundschaft blühn. Und schon liegen sich die beiden wieder in den Armen?“
Emma sah sie genervt von der Seite her an. „Na ja, ein bisschen mehr Stil und Herzblut muss das Ganze schon haben. Mit Nelken kannst du heutzutage höchstens noch auf dem Friedhof punkten. Und die Sprüche, die ich verwende, haben mit Poesiealbumversen genauso wenig gemeinsam wie ein pinkfarbenes Glitzereinhorn mit einem Dressurpferd!“ Sie neigte sich mit einem geheimnisvollen Flackern in den Augen zu Leonie. „Stell dir doch mal vor, du bekämst von einem ehemaligen Schwarm, der ein Jahr auf Weltreise war, urplötzlich einen Strauß wundervoll duftender Wildrosen zugeschickt, und auf der beigefügten Karte liest du das Zitat von Tucholsky: Freundschaft, das ist wie Heimat. Was macht das mit dir?“
„Ganz ehrlich?“, druckste Leonie und sah Emma befremdet an: „Das macht mich stinksauer. Ich würde den Kerl anrufen und fragen, wo er so lange gesteckt hat, und warum er die ganze Zeit nichts von sich hören ließ. Immerhin leben wir in einer digitalen Welt. Da hat man auch in Timbuktu Handyempfang. Und dann würde ich fragen, ob er wirklich annimmt, ich würde ihm wie im Märchen hundert Jahre lang einen Platz in meinem Bett freihalten.“ Kaum hatte Leonie den Satz zu Ende gebracht, bemerkte sie den säuerlichen Ausdruck in Emmas Gesicht. Schuldbewusst streichelte sie die Hand ihrer Freundin. „Verzeih mir, Emma, aber du kennst mich doch. Ich hatte schon zu Schulzeiten nicht viel mit Romantik am Hut.“
Emma blickte Leonie noch einen Moment lang vorwurfsvoll an, dann grinste sie. „Stimmt! Du würdest bei dem schönsten Rosenstrauß eher nach dem Tütchen mit dem Blumendünger als nach dem Namen des Absenders suchen.“ Leonie kicherte so laut, dass Emma besorgt nachprüfte, ob Kiki etwas mitbekommen hatte. „Aber mal ganz im Vertrauen, Leo“, fuhr sie flüsternd fort. „Meinst du nicht, dass du mal wieder jemanden brauchst, der für euch morgens frische Brötchen holt? Egal, ob mit Rosenstrauß oder ohne!“
„Wie meinst du das denn?“, stellte sich Leonie dumm.
„Na, wie schon?“ Emma verzog genervt das Gesicht. „Das mit Philipp ist nun sechs Jahre her. Auf Dauer kann das doch so nicht weitergehen mit dir.“ Leise setzte sie hinzu: „Ich meine, ohne Mann und so.“
Ach, die Leier schon wieder! Leonie drehte den Kopf zur Fensterfront und knetete zur Ablenkung ihre Finger. „Es gibt Schlimmeres, finde ich.“ Ihr Blick fiel auf ihre Tochter, die mit aufgestütztem Kinn das Geschehen auf der Straße verfolgte. „Außerdem bin ich nicht allein, falls dir das entgangen sein sollte. Irgendwie habe ich Hemmungen, Kiki so etwas zuzumuten."
Emma schüttelte entgeistert ihre brünetten Locken. „Findest du dein Verhalten nicht ziemlich egoistisch? Vielleicht wäre Kiki froh, sich nicht immer nur deine Meinung zu den Dingen des Lebens anhören zu müssen.“
Angesichts der vielen Patchworkfamilien, die Leonie auf Schulveranstaltungen und Kindergeburtstagen kennengelernt hatte, sah sie das völlig anders. „Ich habe den Eindruck, dass sie ganz gut ohne einen Ersatzvater auskommt. Und außerdem: Wer garantiert mir denn, dass sie denselben Typ Mann mag wie ich?“
Wie auf ein geheimes Kommando hin erhob sich die Neunjährige und schlenderte zum Tisch der beiden Frauen. Mit einem verschmitzten Lächeln ließ sie sich auf den Stuhl am Kopfende fallen und klatschte ihre Unterarme auf die Tischplatte.
„Also, hör mal, Mama! Ich finde fast jeden Mann gut. Er sollte nur etwas größer sein als du. Das sieht sonst blöd aus, wenn ihr miteinander geht. Und reich kann er auch ruhig sein. Ach, ja, und Bärte oder so komische Glatzen mag ich nicht. Die von Gregor geht ja noch.“ Damit meinte sie die etwas großflächiger gewordene Stirn des Konditors, der das Café Herzlich mit Kuchen und Torten belieferte.
Leonie und Emma warfen sich vielsagende Blicke zu. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich eine Mischung aus ungläubigem Staunen und unterdrücktem Grinsen ab.
„So, so!“, erwiderte ihre Mutter, und Emma, die sonst alles andere als wortkarg war, meinte nachdenklich: „Das könnte schwierig werden.“
Als kein weiterer Kommentar kam, legte Kiki erneut los. „Ach ja, und sportlich sollte er sein. Aber bloß kein Fußballspieler. Die haben doch alle einen Ratsch in der Schüssel. Eine Brille kann er ruhig haben. Damit sehen Männer irgendwie besser aus.“ Die Neunjährige fühlte sich nun ganz in ihrem Element. „Und er muss unbedingt tierlieb sein.“
Leonie stutzte. „Wieso das denn?“
„Weil alle meine Freunde, die einen Hund oder eine Katze halten dürfen, super nette Väter haben.“
Emma nickte mit gespitzten Lippen. Dieser kindlichen Logik ließ sich absolut nichts entgegensetzen.
Während Leonie von den Ausführungen ihrer Tochter völlig verblüfft war, prustete Emma vor Lachen so heftig los, dass Kiki nicht anders konnte, als mit einzustimmen. Durch ihr einvernehmliches Händeabklatschen bekamen sie natürlich nicht mit, wie Leonie seufzend vor sich hinmurmelte: „Kinderlieb wäre mir lieber.“
Kurz darauf ging die Eingangstür auf und Gregor erschien mit einer gut verpackten Prinzregententorte. Sofort sprang Leonie auf und ging dem Konditor mit erleichterter Miene entgegen: „Hey, super! Dann hast du mich also doch nicht vergessen. Ich hatte schon Sorge, du würdest mit der Lieferung erst nächste Woche kommen“, sagte sie so leise, dass es niemand außer ihm mitbekam.
Emma, die sich erst neugierig zur Tür gedreht hatte, starrte den stattlichen Mann mit dem blonden Haarkranz einen Moment reglos an. Als er prompt errötete, widmete sie sich wieder ihrer Kaffeetasse. „Hallo, Gregor!“ brummte sie kaum hörbar.
„Oh, hallo Emma!“, rief er ihr erfreut zu. „Gut, dass du auch da bist. Ich habe ganz zufällig eine Kostprobe meiner neusten Kreation im Wagen liegen. Würde gerne deine Meinung dazu hören.“ Er drückte Leonie mit einem entschuldigenden Zwinkern die Torte in die Hand und eilte nach draußen, um das versprochene Stück zu holen.
Leonie bemühte sich unterdessen, die herrliche Schokotorte aus ihrer Schutzhülle zu befreien. Während Gregors kurzer Abwesenheit warf sie ihrer Freundin einen eindringlichen Blick zu, dem ein auffordernder Wink mit dem Kopf folgte. Doch Emma rollte nur mit den Augen.
„Kiki! Hausaufgaben erledigen sich nicht von Herumgucken!“ Die Neunjährige, die inzwischen wieder an ihren Platz zurückgekehrt war, zuckte überrascht zusammen. Ihre Mutter hatte anscheinend mitbekommen, dass sie das Geschehen im Café wesentlich mehr interessierte, als Sätze ins Passiv umzuwandeln.
„Weiß ich doch“, maulte sie und senkte den Blick wieder auf ihr Heft.
Leonie nahm noch drei weitere Kuchen in Empfang und machte sich daran, sie mit größter Sorgfalt in gleichmäßige Stücke zu teilen. Dabei dachte sie über das seltsame Verhältnis ihrer Freundin zu dem Konditor nach, der gerade ein liebevoll eingepacktes Tortenstück vor Emma auf den Tisch legte. Obwohl Leonie genau wusste, dass ihre Freundin etwas für Gregor übrighatte, wunderte es sie, dass sie ihn immer noch wie einen flüchtigen Bekannten behandelte. Jedes Mal, wenn er Emma im Café begegnete – seltsamerweise tauchte sie immer genau dann auf, wenn er mit seiner Lieferung kam - steckte ihr Gregor mit einem sehnsuchtsvollen Lächeln etwas Süßes aus seiner Backstube zu. Emma bedankte sich zwar brav. Doch mehr als ein distanziertes Kopfnicken hatte sie für ihn nicht übrig. Dabei liebte sie Cremetorten über alles.
Gregor reichte Leonie noch die Lieferliste herein, dann verschwand er nach einem kurzen Gruß in die Runde nach draußen, schlug die Türen seines Lieferwagens zu und brauste davon.
„Was ist das für ein herzloses Spiel, das du mit dem armen Kerl treibst?“ Leonie blickte ihrer Freundin eindringlich in die Augen. „Nur weil er mich manchmal vergisst zu beliefern, musst du ihn nicht wie einen Kriegsverbrecher behandeln. Jeder Mensch hat Schwächen. Wäre es nicht viel schlimmer, wenn Gregor so ein verschrobener Pfennigfuchser wäre?“
Emma lachte hämisch. „Dass du mit dieser Einstellung so locker umgehen kannst! Hast du denn schon vergessen, was für Folgen Philipps Unzuverlässigkeit für dich hatte.“
„Hatte ist gut. Einen Teil seines Spielschuldenbergs darf ich heute noch abtragen.“ Leonie schnaubte zornig. „Und seit der Autoreparatur letztens steht das Gipfelkreuz noch einen Meter höher.“ Sie seufzte mit gesenktem Kopf. „Noch so was in der Größenordnung, und ich kann das Café dichtmachen und Kiki und mich beim Sozialamt anmelden.“
Emma streichelte den Unterarm ihrer Freundin. Sie wusste, wie schwierig es für Leonie nach dem Tod ihres Mannes war, über die Runden zu kommen. „Ich versteh dich ja. Aber auf Gregors verantwortungsloses Komm-ich-heut-nicht-komm-ich-morgen kann ich trotzdem verzichten. Mit so jemandem kann man doch kein Leben aufbauen, geschweige denn eine Existenz.“
„Na, so schlimm ist er ja nun auch nicht.“ Trotz ihrer Sorgen musste Leonie lächeln. Also hatte Emma sich schon intensivere Gedanken über eine Beziehung mit ihm gemacht. Wenn sie nur nicht immer nach Mister Perfekt suchen würde! „Meine Güte! Denk doch nicht immer gleich zehn Schritte weiter. Vielleicht trefft ihr euch mal bei einem zwanglosen Kneipen-Date auf ein Glas Wein und lernt euch besser kennen. Danach kann man immer noch entscheiden, wie es weitergehen soll.“ Sie sah verträumt in die Ferne. „Es ist doch viel romantischer, sich in kleinen Schritten aufeinander zuzubewegen, als nach dem zweiten Date bereits zusammen ins Bett zu hüpfen.“ Sie warf einen prüfenden Blick zu ihrer Tochter hinüber, die gerade in ihr Lesebuch vertieft zu sein schien.
Emma musterte Leonie entrüstet. „Ausgerechnet du willst mir erklären, was romantisch ist? Da ist mir in den letzten Tagen aber was viel Interessanteres passiert.“ Sie lockte Leonie mit dem Zeigefinger zu sich heran.
„Sag nur, du warst wieder auf einem dieser Dating Portale unterwegs.“
„Ach, Unsinn! Das eine Mal hat mir gereicht. Auf diesen Seiten wird doch gelogen, dass sich die Balken biegen. Ich darf gar nicht an den sportlich dynamischen Akademiker denken, der in Wirklichkeit kugelrund war, ein Toupet trug und die Seniorenuni besuchte.“ Nachdem der Widerwille aus ihrem Gesicht verschwunden war, leuchteten ihre Augen besonders intensiv auf. „Vor ungefähr einer Woche habe ich einen Kunden dazubekommen, der, wie soll ich sagen, der so was von sympathisch ist. Das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen.“ Sie schaute mit verklärtem Blick zur Fensterreihe hinüber. „Und das Schärfste ist, der fährt total auf meine Blumengrüße mit den angehängten Sprüchen ab.“
„Wie? Der hat als Neukunde schon mehrere Sträuße bei dir bestellt?“ Leonie schüttelte verblüfft den Kopf. Ein sonderbarer Kautz musste das sein. Gleich darauf wurde ihr klar, dass dieser Typ mit seiner Auftragsflut bestimmt nicht vorhatte, ihrer Freundin zu imponieren.
„Emma, komm wieder runter auf den Teppich! Glaubst du etwa, der beglückt seine männlichen Arbeitskollegen oder Fußballkumpel mit deinen Sträußen?“ Sie blickte ihre Freundin mitfühlend an. „Das sieht mir eher nach einem reichen Schnösel aus, der seine diversen Flammen auf diese Weise bei Laune hält.“ In diesem Moment hätte sie mit allem gerechnet, nur nicht mit Emmas vehementem Einspruch.
„Nee, nee, Leo. Der meint es ernst. Dafür habe ich ein Gespür. Außerdem weiß man spätestens mit vierzig, dass die rosarote Brille nicht zum Scharfgucken gedacht ist.“
„Hast du diese heilige Erscheinung denn schon persönlich kennengelernt?“, bohrte Leonie nach. Dass sie damit unbeabsichtigt einen wunden Punkt getroffen hatte, merkte sie daran, dass ihre Freundin ernüchtert den Kopf schüttelte. „Also weiß du nicht einmal, wie er aussieht und wie alt er ist.“
Emma schnaufte verdrossen. „Ich habe bisher nur seine Telefonnummer. Aber eine Stimme hat der, da schmilzt einem glatt das Handy in der Hand, sage ich dir. “
Leonie hielt Emmas Gefühlsduselei für maßlos übertrieben. Das änderte aber nichts daran, dass sie ihr leidtat. „Das ist ja schon mal ein Anfang“, sagte sie gewollt zuversichtlich. „Aber tu mir bitte den Gefallen und interpretiere nicht zu viel in diesen Rosenkavalier hinein!“
„Ja, ja, keine Bange. Ich werde ihm schon nicht gleich einen Heiratsantrag machen. Immerhin ist er zurzeit mein bester Kunde.“
Die beiden Freundinnen setzten ihre Tassen an den Mund und zwinkerten sich beim Trinken freundschaftlich zu.
„Kiki! Falls du dein Heft suchst, das liegt vor dir auf dem Tisch, nicht draußen auf der Straße!“
„Ja-a, weiß ich, Mama. Aber da ist gerade ein Mann, der so komische Sachen trägt.“ Das Mädchen kicherte leise, ohne die Blickrichtung zu verändern.
„Also wirklich, Kiki! Du weißt doch, dass es sich nicht gehört, Leute anzustarren, die irgendwie anders sind“, ermahnte Leonie ihre Tochter. „Darüber haben wir doch schon oft gesprochen.“
„Auch über Männer, die so gruselige, schwarze Masken tragen?“
Leonie und Emma sahen sich verdutzt an. Wie auf ein geheimes Kommando hin sprangen sie von ihren Stühlen auf und stellten sich so hinter Kiki, dass sie leicht von der Gardine verdeckt waren.
„Das gibt’s ja gar nicht!“, stellte Emma fest, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrach. „Kiki hat recht. Der Kerl trägt wirklich eine Maske.“
Zu dritt verfolgten sie nun, wie ein großer, athletisch gebauter Mann mit zwei riesigen, gewölbten Holzfratzen unter den Armen im Hauseingang neben dem Café verschwand. Die auffälligen Dekorationsstücke hatte er einem vollbeladenen Transporter entnommen, der die schmale Altstadtgasse bis auf Kinderwagenbreite versperrte.
„Der scheint hier einzuziehen“, schloss Emma aus den Möbelstücken, die sich bis unter die Decke des Lieferwagens türmten. „Ich wusste gar nicht, dass bei euch im Haus eine Wohnung frei war.“
„Doch, doch“, räumte Leonie nachdenklich ein. „Die Frau Gressmann aus der zweiten Etage ist kürzlich ausgezogen. Du weißt schon, das ist die nette, alte Dame, der das Haus gehört. In letzter Zeit klagte sie immer häufiger über die vielen Treppen. In der vorigen Woche ist wohl endlich eine Wohnung in der Seniorenresidenz freigeworden, in der sie sich angemeldet hatte.“
Emma nickte mitfühlend. „Ja, in dem Alter geht das manchmal schnell.“
„Das kannst du wohl laut sagen", schnaubte Leonie verächtlich. "So hastig habe ich noch nie einen Umzug über die Bühne gehen sehen. Hättest mal sehen sollen, wie achtlos die Verwandtschaft mit ihrem Mobiliar umgegangen ist. Dauernd polterte und schepperte es im Treppenhaus. Da ist bestimmt Einiges zu Bruch gegangen.“
Als Leonies zukünftiger Nachbar erneut auf dem Bürgersteig erschien, konnte sich Emma ein leises, anerkennendes Pfeifen nicht verkneifen. „Wow! Der kann sich aber sehen lassen!“
Leonie knuffte ihr mit einem eindringlichen Blick in Kikis Richtung den Ellenbogen in die Seite.
„Ja, der hat vielleicht Muskeln!“, schwärmte das Mädchen in den höchsten Tönen. „Vorhin hat der sogar zwei Schränke auf einmal getragen. Krass, oder?“
„Er“, verbesserte Leonie. Um ihrer Korrektur Nachdruck zu verleihen, wiederholte sie den Satz noch einmal in der wünschenswerten Form. „Vorhin hat er sogar zwei Schränke getragen.“
„Ja, genau. So stark ist der.“ Kiki schob rasch den Vorhang zur Seite, damit Emma und ihre Mutter einen besseren Blick auf die Straße hatten. Als die beiden einen großen Satz nach hinten machten, kicherte sie. „Warum darf der euch denn nicht sehen?“
„Erstens heißt es auch hier: Warum darf er euch nicht sehen? Und zweitens beobachtet man andere Leute nicht einfach so.“
„Hm!“, kam es verständnislos aus dem Kindermund. „Aber ihr beobachtet den doch auch.“
Das Wörtchen ihn lag Leonie schon auf der Zunge. Als sie jedoch sah, mit welcher kraftvollen Leichtigkeit der Mann ein wuchtiges Regal schulterte und damit auf den Hauseingang zuging, blieb ihr der pädagogische Verbesserungsvorschlag in der Kehle stecken. Ihr zukünftiger Nachbar sah nicht nur bemerkenswert gut aus, er machte auch einen netten, offenen Eindruck, und … er schien nicht zu den Männern zu gehören, die andere für sich arbeiten ließen. Und trotzdem. Mit diesen breitschultrigen Macher-Typen hatte sie bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht.
„Soll ich dem mal ein Stück von deinem tollen Streuselkuchen rausbringen, Mama?“ Kiki fand ihre Idee so genial, dass sie gleich noch hinzufügte: „Am besten auch eine Tasse Kaffee. Der ist bestimmt durstig von der ganzen Schlepperei.“
Leonies Augen weiteten sich entsetzt. „Kommt gar nicht in Frage. Wir kennen den Mann doch gar nicht. Womöglich hält der uns dann sogar für aufdringlich.“
Statt enttäuscht zu sein, drehte sich Kiki mit einem kecken Grinsen zu ihrer Mutter um. „Siehst du, jetzt hast du auch der zu dem gesagt, Mama.“
Emma konnte ihr dringendes Verlangen, laut loszulachen, kaum unterdrücken. Mit der Hand fest auf den Mund gepresst bewegte sie sich vorsichtig rückwärts aus dem Gefahrenbereich am Fenster. Leonie folgte ihr auf dieselbe Weise. An der Kuchentheke atmeten sie erleichtert durch.
„So, ich muss jetzt los.“ Emma strahlte beglückt, als sie in ihre gut durchgewärmte Daunenjacke schlüpfte. „Macht’s gut, meine Süßen!“ Von der geöffneten Tür aus winkte sie Leonie und Kiki noch einmal zu.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, ermahnte Leonie ihre Tochter mit strengem Ton, sich endlich wieder ihren Hausaufgaben zu widmen. „Gleich kommen die ersten Kaffeegäste. Bis dahin möchte ich, dass du fertig wirst.“
„Bin ich doch längst“, erwiderte das Mädchen und klappte demonstrativ das Heft zu.
Leonie sah auf die Uhr. Bis Sarah ihren Dienst antrat und die ersten Tortenstücke verteilt werden mussten, würde es noch ein paar Minuten dauern. Zeit genug, um einen Blick auf Kikis Hausaufgaben zu werfen. Mit einem erwartungsvollen Lächeln setzte sie sich zu ihrer Tochter an den Tisch. „Zeig mir doch mal, was du heute alles aufhattest!“
Mit einem genervten Augenaufschlag schob Kiki ihr das Heft zu. Unter ihrem wachsamen Blick arbeitete sich Leonie Seite für Seite vor, um das Blatt mit dem Datum des Tages zu finden. Doch statt der fünf Sätze, die Kiki mühsam ins Passiv umgewandelt hatte, entdeckte sie einen losen Zettel, auf dem groß und breit „Elternbenachrichtigung“ stand.
Kiki zuckte schuldbewusst zusammen. „Scheibenkleister! Den habe ich ganz vergessen, dir zu geben.“
Leonie sah kurz auf das Datum des Zettels, dann in das betretene Gesicht ihrer Tochter. „Mensch, Kiki! Den hast du doch schon vor zwei Wochen bekommen!“
Das Mädchen nickte zur Tischplatte hinab. „Tut mir leid, Mama. Daran habe ich wirklich nicht mehr gedacht.“
Als Leonie den Text durchlas, konnte sie ihren Ärger nicht mehr zurückhalten. „Verdammt! Der Elternabend ist schon übermorgen.“ Sie warf ihrer Tochter einen genervten Blick zu. „Ich hoffe, du kannst mir wenigstens sagen, was da besprochen werden soll.“
Wieder nickte Kiki. Diesmal allerdings etwas verhaltener. „Es geht um die Anschaffung eines Tablets. Da soll wohl über irgendwas abgestimmt werden oder so.“
„Ein Tablet?