Remus und die Flossenbande: Das verschwundene Fahrrad - Ulla B. Müller - E-Book

Remus und die Flossenbande: Das verschwundene Fahrrad E-Book

Ulla B. Müller

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Beschreibung

Der zehnjährige Remus kommt mit allen gut aus und ganz besonders mit Mira, dem taffsten Mädchen der 5b. Den neuen Freund seiner Mutter könnte er dafür zum Mond schießen. Der glaubt doch tatsächlich, er müsse ihn erziehen. Dabei braucht Remus keinen neuen Vater. Um besser nachdenken zu können, zieht er sich auf den versteckten Bootssteg zurück, den er zufällig entdeckt hat. Da passiert etwas Merkwürdiges: Er kann plötzlich in den See hineinschauen und sich mit den Fischen unterhalten. Dabei erfährt er, dass ein Hecht in lebensbedrohlicher Not ist. Remus möchte ihm unbedingt helfen. Doch dafür müsste er seine Angst vor dem Tauchen überwinden. Zu allem Unglück verschwindet auch noch sein Geburtstagsgeschenk. Ob seine neuen glitschigen Freunde ihm helfen können, es wiederzufinden?

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Die Autorin

Impressum

Ein geheimer Ort

Eine unheimliche Begegnung

Punker

Geburtstag

Der Streich

Diddis Rache

Rockys Müllreport

Eine schlammige Entdeckung

Der Plan

Suchen und Finden

Augenzeuge Rocky

Tatort Feuerwache

Strafe muss sein

Die Entschädigung

Eine Überraschung für Esox

Schlussworte von Ulla B. Müller

Inhaltsverzeichnis

Ulla B. Müller

Remus

und die Flossenbande

Das verschwundene Fahrrad

Copyright © 2020 Ulla B. Müller

Das Buch

Der zehnjährige Remus kommt mit allen gut aus und ganz besonders mit Mira, dem taffsten Mädchen der 5b. Den neuen Freund seiner Mutter könnte er dafür zum Mond schießen. Der glaubt doch tatsächlich, er müsse ihn erziehen. Dabei braucht Remus keinen neuen Vater. Um besser nachdenken zu können, zieht er sich auf den versteckten Bootssteg zurück, den er zufällig entdeckt hat. Da passiert etwas Merkwürdiges: Er kann plötzlich in den See hineinschauen und sich mit den Fischen unterhalten. Dabei erfährt er, dass ein Hecht in lebensbedrohlicher Not ist. Remus möchte ihm unbedingt helfen. Doch dafür müsste er seine Angst vor dem Tauchen überwinden. Zu allem Unglück verschwindet auch noch sein Geburtstagsgeschenk. Ob seine neuen glitschigen Freunde ihm helfen können, es wiederzufinden?

Die Autorin

Ulla B. Müller, geb. 1957, absolvierte eine Ausbildung zur examinierten Physiotherapeutin und arbeitete danach in ihrer eigenen Praxis, bevor sie Schriftstellerin wurde. Seit 2015 hat sie eine Vielzahl an Liebesromanen für Erwachsene veröffentlicht. Um sich einen lang gehegten Traum und den Wunsch ihrer Kinder und Enkel zu erfüllen, schreibt sie nun auch Abenteuerromane für Mädchen und Jungen ab acht Jahren. Ulla B. Müller lebt mit ihrem Mann zwischen Köln und Düsseldorf, einen Steinwurf vom wunderschönen Rhein entfernt.

Impressum

© 2020 Ulla B. Müller

Alle Rechte vorbehalten.

Am Mühlenhof 1

40789 Monheim am Rhein

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Barbara Frank

Satz, Layout und Coverlayout: Dr. Werner Müller

Coverelemente: Shutterstock-Illustration Oriol san Julian 1724232310, Vektor Slip Float 93291784

Ein geheimer Ort

„Igitt, igitt! Mit Würmern haben sie dich gefüttert?“ Fast alle Kinder der 5b drehten sich zu Remus um und schüttelten sich angeekelt.

„Bah! Wie schmecken die denn?“, fragte Diddi aus der hintersten Reihe.

Remus zuckte verzweifelt mit den Schultern. „Weiß ich doch nicht!" Mit hochrotem Gesicht starrte er auf das Schulbuch vor ihm. "Ich kann doch nichts dafür, dass mich meine Eltern nach diesem komischen Fuzzi benannt haben.“

Zu dumm aber auch, dass die Anekdote aus der römischen Geschichte, aus der sein Vorname stammte, solchen Wirbel erzeugte! Nun hatte er gerade die erste Woche auf der Gutenberg-Sekundarschule hinter sich, und schon machten sich alle über ihn lustig. Und nur, weil er nicht Max, Fabian oder Leon hieß, sondern Remus …

„Und wie schmeckt Wolfsmilch?“, wollte Holger wissen. Lachend hielt er sein Geschichtsbuch hoch und deutete auf das Bild in der rechten oberen Hälfte. Es zeigte zwei kleine römische Jungen, die unter dem Bauch einer Wölfin lagen und an ihren Zitzen saugten.

Allmählich wurde es Herrn Herford zu bunt. „Herrschaften, bitte Ruhe!“ Mit einem strengen Blick über seine schmale Lesebrille hob der Geschichtslehrer seine Hände. „Auch wenn in euren Büchern steht, dass die Brüder Romulus und Remus, also die Gründer der Stadt Rom, von einer Wölfin aufgezogen wurden, muss das noch lange nicht stimmen. Es ist auch umstritten, ob die beiden Knaben wirklich, wie es behauptet wird, von einem Specht mit Würmern gefüttert wurden.“

„Ooooch!“, raunte die Klasse enttäuscht. Diddi und Holger drehten sich grinsend zu Remus um und schmatzten. „Mmm, Wolfsmilch! Lecker, lecker, lecker!“

„Schscht!“, zischte Herr Herford über ihre Köpfe hinweg. „Hat jemand eine Idee, wie solche Geschichten überhaupt zustande kommen?“

Alle schüttelten den Kopf. Nur ein blond gelocktes Mädchen aus der vordersten Reihe zeigte auf. „Vielleicht genauso wie bei Mogli im Dschungelbuch“, erklärte es und blickte sich lobheischend um.

„Nein, nein, ganz sicher nicht!“, fuhr der Geschichtslehrer bestimmt fort. „Die Geschichte und die Figuren des Dschungelbuchs hat der Autor frei erfunden. Aber ein bisschen recht hast du trotzdem. In der damaligen Zeit konnte ja kaum jemand lesen und schreiben. Also wurden Geschichten einfach weitererzählt. Überliefert sagt man auch. Dabei ging es genauso phantasievoll zu wie beim Stille-Post-Spielen.“ Er hob seine buschigen Augenbrauen. „Oder wie beim Tratschen in der Nachbarschaft. Der eine lässt was weg, der andere hängt was dran, und schon klingt das Ganze viel unterhaltsamer.“ Weiter kam Herr Herford mit seinem Vortrag nicht, denn in diesem Augenblick schrillte die Schulklingel los.

Remus seufzte erleichtert: „Endlich Schule aus!“ Vor wenigen Sekunden war ihm die Unterrichtsstunde noch endlos vorgekommen. Doch nun verwandelte sich die Klasse in einen Bienenschwarm, der wie aufgescheucht zur Tür drängte.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle hätte er sich am liebsten die Ohren zugehalten. Immer wieder bekam er mit, wie hinter ihm jemand kicherte oder spöttische Bemerkungen über seine Namensherkunft machte.

„Hey, Remus! Gehst du jetzt wieder bei deiner Wolfsmama trinken?", wollte Diddi wissen und klopfte mit dem Fingerknöchel auf seine Butterbrotdose. "Tok, tok, tok! Bestimmt kommt Papa Specht gleich mit einem leckeren Wurm vorbei.“ Er schüttelte sich vor Lachen.

„Insekten-Food ist ja gerade mega-in!“, trumpfte Holger auf und vergewisserte sich, dass die Mädchen hinter ihm den coolen Spruch mitbekommen hatten.

Remus platzte beinahe vor Zorn. Am liebsten hätte er Herrn Herford, Diddi und Holger in eine antike römische Kampfarena gesperrt und den Löwen zum Fraß vorgeworfen. So machte man es damals jedenfalls mit Übeltätern. Am meisten ärgerte er sich aber über sich selbst. Hätte er doch bloß nicht damit geprahlt, dass er die Geschichte, aus der sein Vorname stammte, bestens kannte. Gleich am Anfang der Stunde, als ihn Herr Herford gebeten hatte, kurz etwas über Romulus und Remus zu erzählen, hätte er sich wehren sollen. Doch was war ihm stattdessen aus dem Mund gesprudelt? „Klar, kein Problem, Herr Herford! Die römischen Sagen kenne ich fast auswendig.“ So ein gequirlter Bockmist! Hätte er doch bloß den Mund gehalten. Wen interessierte es denn, dass sein Vater Geschichtswissenschaftler gewesen war und er ihm schon von Cäsar und den Gladiatoren vorgelesen hatte, als er noch gar nicht zur Schule ging? Klar, als kleiner Junge fand er es toll, Remus zu heißen. Aber wer weiß da schon, dass Namen auch Ärger bringen können?

Er drehte sich kurz um und seufzte schwer. Hatte er es nicht geahnt? Genau hinter Diddi und Holger gingen Mira und ihre Freundin. Ausgerechnet Mira. Genau jetzt hätte er sein Sparschwein und sein bestes Stickeralbum hergegeben, um nicht Remus zu heißen, sondern Max oder Lucca wie zig andere Jungen in seinem Alter.

„Was isst du denn am liebsten, Remus? Regenwürmer, Heuschrecken oder eher so einen knackigen Tausendfüßler?“, stichelte Diddi so laut, dass zwei ältere Frauen auf der anderen Straßenseite erschreckt die Augen aufrissen.

„Mensch, Diddi! Du kommst dir wohl unheimlich cool vor, was?“, brüllte Mira plötzlich so laut, dass Remus zusammenzuckte. Wie ferngesteuert stoppte er und drehte sich zögernd zu den anderen um. Mit großen Augen verfolgte er, wie Mira sich vor die beiden Jungen stellte und mit grimmiger Miene die Arme verschränkte. „Und überhaupt: Was ist denn schon dabei, einen Regenwurm zu essen?“ Ihre munteren Augen funkelten herausfordernd. „Ihr traut euch ja nicht mal, einen winzig kleinen runterzuschlucken, wetten?“

Wieder hielten sich die beiden Jungen vor Lachen den Bauch. „Aber du!“, trumpfte Diddi siegessicher auf.

Mit Unbehagen beobachteten Remus und die anderen, wie Diddi eine kleine Steinplatte neben dem Gehweg anhob und kurz darauf einen Wurm in die Höhe hielt. „Tja, was hältst du denn von diesem schmackhaften Exemplar?“ Das schadenfrohe Flackern in seinen Augen hielt nicht lange an, denn nun passierte etwas, mit dem niemand gerechnet hätte.

Mira setzte seelenruhig ihre Schultasche ab, holte ihre Pausenbrotdose heraus und öffnete den Deckel. Remus verfolgte mit Entsetzen, wie sie ihr übriggebliebenes Butterbrot aufklappte und die beiden Hälften nebeneinander in die Dose legte. „So, her damit!“ Sie hielt Diddi die flache Hand hin.

Holger blickte skeptisch vom Wurm zum Brot und wieder zu Mira. Langsam kräuselte sich seine Nase. „Das machst du sowieso nicht!“

„Nee, niemals!“ Diddi betrachtete grinsend den Wurm, der sich zwischen seinem Daumen und Zeigefinger kringelte.

Als Remus sah, wie entschlossen Mira wirkte, fühlte er sich noch elender als in der Geschichtsstunde. Kaum hörbar raunte er ihr zu: „Das musst du nicht für mich tun. Bitte, Mira, mach das nicht!“

Das Lächeln, das sie ihm daraufhin zuwarf, ärgerte Diddi noch mehr. „Pfff!“, stieß er hämisch aus. „Wird sie auch nicht! Das ist doch alles nur blödes Zickengetue!“

Genau das hätte er nicht sagen dürfen! Mira legte den Kopf zur Seite und winkte auffordernd mit ihren ausgestreckten Fingern. „Ist doch pillepalle, so ein kleines Würmchen zu essen! Aber wetten, dass du dich das nicht traust?“

Diddi warf Holger einen verunsicherten Blick zu. Als er merkte, dass von seinem Freund keine Hilfe zu erwarten war, legte er den Wurm in Miras Hand. „Mit durchgeknallten Weibern wette ich nicht!“

Noch einmal blitzte Mira ihn kämpferisch an. Dann klebte sie den Wurm auf die Leberwurst, klappte die beiden Hälften zusammen und futterte das Brot in Nullkommanichts auf.

Nicht nur in Remus‘ Bauch begann es zu rumoren. Beim Anblick der zufrieden kauenden Mira mussten auch die anderen schlucken.

„Was ist nun, Diddi? Soll ich einen für dich suchen?“, fragte sie mit hochgerecktem Kinn.

Die beiden Jungen hatten genug. „Igitt! Die spinnt doch!“ Mit bleichen Gesichtern wandten sie sich ab und eilten an Remus und den Mädchen vorbei zum Bus.

„Ist mir schlecht!“, hörte Remus noch einen der beiden jammern.

„Großmäulige Feiglinge!“, murmelte Mira, während sie ihre Brotdose wegpackte.

Remus nickte verunsichert. Er bewunderte ihren Mut, doch gleichzeitig machte er sich Sorgen. Regenwürmer gehörten schließlich nicht in Menschenmägen. Als sie fröhlich lächelnd ihren Rucksack schulterte, fühlte er sich schon ein wenig besser. „Geht es dir wirklich gut?“, fragte er sie trotzdem noch einmal leise beim Einsteigen in den Bus.

Mira nickte mit einem Zwinkern. „Nett, dass du fragst, Remus, aber keine Sorge. Das Brot hat genauso geschmeckt wie immer.“ Als ob nichts gewesen wäre, ging sie den Gang entlang bis zu ihrer Freundin in der hintersten Sitzreihe.

Remus ließ sich auf die vorderste Bank plumpsen und atmete befreit durch. Zum Glück war dieser grässliche Schultag vorbei. Wie ein Schluck Wasser in der Kurve kauerte er auf seinem Platz und erwartete sehnsüchtig das Ende der Heimfahrt. Erst auf dem Weg von der Bushaltestelle zu dem kleinen Haus, in dem er wohnte, konnte er wieder unbeschwerter denken. Jetzt spürte er auch, was für einen schrecklichen Hunger er hatte. Gäbe es heute doch bloß Salami-Pizza! Er würde gleich zwei davon verdrücken.

Die Kinder, die mit ihm den Bus verlassen hatten, trotteten die Hauptstraße von Kleinwiesenau entlang und verschwanden dann eins nach dem anderen in den angrenzenden Seitenstraßen.

Kleinwiesenau war eigentlich nur ein winziges Dorf. Dennoch war es um einiges größer als das angrenzende Großwiesenau, das nur aus drei winzigen Bauernhöfen, einem verlassenen Waldgasthaus und einem Ferienheim für Pfadfinder bestand.

Remus’ Opa hatte sich oft über die seltsame Namensgebung lustig gemacht. „Warum nicht noch Vorder- und Hinterwiesenau, oder Ober- und Unterwiesenau?“, hatte er stets geknurrt, wenn sich ein Fremder über die seltsamen Ortsnamen wunderte. Geändert hatte sich in den darauffolgenden Jahren nichts, außer, dass Opa Ludwig im vergangenen Herbst friedlich in seinem Bett gestorben war.

Bis vor kurzem hatte Remus nur mit seiner Mutter zusammengelebt, denn sein Vater war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Es war im Herbst vor zwei Jahren gewesen, als er mit dem Auto auf nassem Laub weggerutscht und mit voller Wucht vor einen Baum geknallt war. Alleen gibt es in der Gegend um Berlin so viele wie anderswo Hochhäuser und Geschäfte. Im Unfallbericht stand zwar, dass sein Vater sofort tot gewesen sei, aber das tröstete Remus und seine Mutter damals überhaupt nicht. Selbst jetzt, zwei Jahre danach, spürte er Stiche im Bauch, wenn er an den Unglückstag dachte. Auch seine Mutter machte auf dem Weg zum Einkaufen immer noch einen Umweg, damit sie nicht an der Unfallstelle vorbeifahren musste.

Seit ein paar Wochen lebte nun ein anderer Mann mit Remus und seiner Mutter zusammen. Jörg war ein guter Freund seines Vaters gewesen. Er hatte viel geholfen, als es seiner Mutter nach der Beerdigung schlecht ging und sie keinen Elan fand, den Papierkram und die nötigen Formalitäten zu erledigen. Für Remus spielte es damals keine Rolle, ob Jörg zu Besuch war oder nicht. Er war eben ein netter Bekannter, der ihm ab und zu etwas mitbrachte. Mehr nicht.

In den letzten Monaten hatte sich zwischen Jörg und seiner Mutter jedoch ein engeres Verhältnis entwickelt. Diese neue Vertrautheit war ihm natürlich nicht verborgen geblieben, auch wenn die Erwachsenen sich noch so viel Mühe gaben, es zu verheimlichen. Einmal musste er richtig kichern, als er sie ungewollt bei einer Umarmung in die Garage erwischt hatte. Kurz darauf war seine Mutter dann abends an sein Bett gekommen und hatte ihm liebevoll die zerzausten Haare glatt gestrichen.

„Du, Remus? Da gibt es etwas, das ich gern mit dir besprechen möchte. Was würdest du davon halten, wenn Jörg ab jetzt immer bei uns wohnt?“

„Klar, warum nicht?“, war ihm in diesem Moment schläfrig über die Lippen gerutscht. Als er merkte, wie schwer es seiner Mutter fiel, die richtigen Worte zu finden, hatte er noch schnell angehängt: „Ist bestimmt ganz praktisch, so ein Mann im Haus, Mama. Ich meine, wenn mal was kaputt geht und so.“

Vor dem Gutenachtkuss war ihre Stimme noch einmal ganz wackelig geworden. "Glaub mir, Remus, den Papa werde ich trotzdem immer lieb haben und nie vergessen. Aber das Leben muss halt weitergehen."

Remus hatte seiner Mutter zuliebe genickt, aber verstanden hatte er es trotzdem nicht, warum dieser Jörg nun ganz bei ihnen wohnen sollte. Bisher war es ja auch anders gegangen. Aber die Idee war eigentlich gar nicht so schlecht. Insgeheim wünschte er sich nämlich nichts sehnlicher, als dass seine Mutter wieder mehr lachte. Und das tat sie, wenn Jörg da war.

Anfangs hatte Remus es sogar ganz schön gefunden, bei den Mahlzeiten wieder zu dritt am Tisch zu sitzen. Doch in letzter Zeit gab es immer häufiger Dinge, die ihn an Jörg störten. Zum Beispiel konnte er es absolut nicht leiden, wenn Jörg in den Büchern seines Vaters herumstöberte. Es waren größtenteils dicke Wälzer über vergangene Zeiten, denn sein Vater war Geschichtswissenschaftler. Da er einen Teil seiner Arbeit zu Hause erledigen konnte, hatte er immer Zeit gefunden, um Remus aus den griechischen und römischen Sagen vorzulesen. Das war auch der Grund, weshalb er mit seinen knapp elf Jahren schon so viel darüber wusste. Die Romulus-und-Remus-Geschichte war sein absoluter Favorit. Manche Sätze daraus konnte er sogar jetzt noch auswendig aufsagen.

Wenn Remus an damals dachte, fielen ihm prompt die schönen Familienausflüge nach Berlin ein. Seine Eltern und er fuhren oft dorthin, um einzukaufen oder eine Ausstellung zu besuchen. Meistens hatte er etwas zum Spielen bekommen oder, wie bei ihrem letzten gemeinsamen Stadtbummel, das hellblaue Sweatshirt. Seinem Vater gefiel es so gut, weil auf der Vorderseite ein lateinischer Spruch stand. Übersetzt hieß er: Dem Tapferen hilft das Glück. Dieses Sweatshirt liebte Remus über alles, und es passte ihm auch glücklicherweise länger als ein Jahr. Doch mittlerweile war er ein ganzes Stück gewachsen, das Shirt aber nicht. Damit keiner sah, wie kurz es ihm schon war, zog er immer wieder heimlich am Vorderteil und an den Ärmeln. Lange konnte er das aber nicht mehr machen, denn an etlichen Stellen öffneten sich bereits die Nähte.

Nach dem Mittagessen - es gab natürlich keine Salami-Pizza, sondern Gemüsesuppe - brütete er über einem riesigen Berg Hausaufgaben: Drei Textaufgaben in Mathe lösen, Englischvokabeln üben, eine Geschichte für Deutsch durchlesen und lernen, wie ein Orchester aufgebaut ist. Stöhnend fuhr er mit den Fingern durch seine braunen Haarkringel und blickte sehnsüchtig nach draußen. Dort herrschte seit dem Ende der Ferien das heißeste Sommerwetter. Keine Frage, wo er jetzt lieber wäre. In Kleinwiesenau gab es nämlich etwas, das selbst die größte Hitze erträglich machte, den Wiesenauer See. Von seinem Zuhause aus waren es keine hundert Meter bis zu einem kleinen Kiefernwald. Von dort führte ein schmaler Asphaltweg zur Kanuverladestelle. Gleich daneben lag ein wunderschöner Sandstrand, an dem das Wasser flach und glasklar war. Remus und seine Freunde kannten natürlich noch bessere Plätze zum Baden. Besonders beliebt war eine abgelegene Stelle, an der ein langer Fichtenstamm waagerecht über das Wasser ragte. Wenn man darauf entlangbalancierte und das Ende kräftig zum Schwingen brachte, konnte man sich fast bis zur Mitte des Sees katapultieren lassen. Einige Kinder schafften es sogar, von dort einen Salto ins Wasser zu machen. Aber das Beste war, dass es hier niemanden gab, der ständig schnauzte: „Macht keinen Unfug, Kinder! Seid nicht so laut! Geht bloß nicht so tief rein!“

Eines Tages entdeckte Remus auf einem seiner Erkundungsgänge ein verlassenes Grundstück. Die Größe ließ sich schlecht schätzen, denn das Gelände war von einer mannshohen Mauer umgeben. Es gab zwar ein Eisentor mit zwei Flügeln, aber das Schloss war mit einer schweren, rostigen Kette umschlungen. Das Gebüsch entlang der Mauer war so dicht verflochten, dass Remus beim besten Willen keine Stelle fand, wo er hochklettern und über die Mauer schauen konnte. Umso geheimnisvoller und anziehender wirkte der Ort auf ihn.

An einer Stelle floss ein Bach direkt an der Mauer entlang. Als Remus einmal barfuß darin entlangwatete, entdeckte er ein größeres Mauerstück, das herausgebrochen und abgerutscht war.

---ENDE DER LESEPROBE---