Eine Fitnesseinheit Vertrauen - Ulla B. Müller - E-Book

Eine Fitnesseinheit Vertrauen E-Book

Ulla B. Müller

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Beschreibung

Beruflich läuft es für Netty bestens: Als Physiotherapeutin hilft sie in der Praxis ihrer Mutter mit, als Fitnesstrainerin bringt sie die Kunden ihrer Patentante zum Schwitzen. Das ändert sich, als sie überraschend die Leitung übernehmen soll, zumal es gerade überall kriselt: Im Studio wird geklaut, und der Praxis droht das Aus, weil ihre Mutter eine recht eigenwillige Rechtsauffassung hat. Privat geht es dank des neuen Saunameisters, einer flüchtigen Messebekanntschaft und eines prickelnden Internetkontakts wieder bergauf. Nur ihre beste Freundin macht ihr Kummer. Kaum Mutter geworden, scheint sie nur noch sich selbst zu trauen! Als ob kinderlose Freundinnen eine Gefahr für Babys wären! Was echtes Vertrauen bedeutet, erfährt Netty ausgerechnet von demjenigen, dem sie am allerwenigsten über den Weg traut. „Eine Fitnesseinheit Vertrauen“ ist eine herzerwärmende Fitness-Romanze, die zum Schmunzeln und Mitfiebern anregt und vielleicht auch dazu, wieder mehr auf sein Herz zu hören.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ulla B. Müller

 

Eine Fitnesseinheit

Vertrauen

 

Roman

 

Das Buch

Beruflich läuft es für Netty bestens: Als Physiotherapeutin hilft sie in der Praxis ihrer Mutter mit, als Fitnesstrainerin bringt sie die Kunden ihrer Patentante zum Schwitzen. Das ändert sich, als sie überraschend die Leitung übernehmen soll, zumal es gerade überall kriselt: Im Studio wird geklaut, und der Praxis droht das Aus, weil ihre Mutter eine recht eigenwillige Rechtsauffassung hat. Privat geht es dank des neuen Saunameisters, einer flüchtigen Messebekanntschaft und eines prickelnden Internetkontakts wieder bergauf. Nur ihre beste Freundin macht ihr Kummer. Kaum Mutter geworden, scheint sie nur noch sich selbst zu trauen! Als ob kinderlose Freundinnen eine Gefahr für Babys wären! Was echtes Vertrauen bedeutet, erfährt Netty ausgerechnet von demjenigen, dem sie am allerwenigsten über den Weg traut.„Eine Fitnesseinheit Vertrauen“ ist eine herzerwärmende Fitness-Romanze, die zum Schmunzeln und Mitfiebern anregt und vielleicht auch dazu, wieder mehr auf sein Herz zu hören.

 

 

Die Autorin

Ulla B. Müller schreibt moderne Liebesgeschichten, die auch die unangenehmen Dinge im Berufs- und Privatleben nicht auslassen. Bewegung ist für sie als ehemalige Physiotherapeutin ein wichtiges Thema. Deshalb haben viele ihrer Romane mit Fitness, aktuellen Trends und Lifestyle-Dingen zu tun. Ganz besonders liebt sie Romanhelden, die streiten und verzeihen können, die manchmal schwierig sind und ihr Herz dennoch am rechten Fleck haben.

Mit ihrem Mann lebt sie zwischen Köln und Düsseldorf, einen Steinwurf vom wunderschönen Rhein entfernt.

 

 

Impressum

© 2022 Ulla B. Müller

 

Alle Rechte vorbehalten.

Am Mühlenhof 1

40789 Monheim am Rhein

 

E-Mail: [email protected]

 

Lektorat: Barbara Frank

Satz, Layout und Coverlayout: Dr. Werner Müller

Coverelemente: Shutterstock-Illustrationen Jacky Brown Nr.

1407921140, Anastasia Sedova 1526095220

 

 

 

Kapitel 1

»Mmh, lecker! Wenn der nicht supergut ankommt, dann weiß ich es nicht.«

Ich schließe vorsichtig die Backofenklappe, stelle auf der Zeitschaltuhr eine Viertelstunde ein und starte die Mikrowelle. Nach einem kurzen Blick durch die Sichtscheibe nicke ich zufrieden. Die zehn leicht gebräunten Zwiebelkuchenstücke auf der Servierplatte sehen wirklich zum Anbeißen aus.

»Schließlich soll man seinen Kollegen auch mal etwas Gutes tun«, lobe ich meine Idee vom Abend zuvor und verlasse voller Vorfreude die Teeküche des Fitnessstudios. Bis der Überraschungssnack für unser mittlerweile fünfköpfiges Team warm ist, schaffe ich es locker, die kleinen, neonfarbenen Gummigewichte in den Gymnastikraum zu bringen. Die Kursteilnehmer üben gern mit den griffigen Dingern, vorausgesetzt, die Musik ist nach ihrem Geschmack. Während es abends laut und fetzig zugeht, darf die Lautstärke bei den morgendlichen Reha-Kursen nie so hoch sein, dass die Trommelfelle wummern.

Während ich mit dem Netz über der Schulter an den Cardio-Trainern entlangmarschiere, streift mein Blick die Linden vor dem Gesundheitszentrum.

»Schau nur, wie das Laub in der Sonne leuchtet!«, redet meine innere Stimme wie ein Therapeut auf mich ein. Da ich nur wehmütig lächele, fährt sie prompt schärfere Geschütze auf: »Halt, stopp! Jetzt nicht wieder melancholisch werden! Konzentrier dich lieber auf deine Arbeit!«

Ich seufze leise und versuche, so entspannt wie möglich dreinzuschauen, aber es klappt nicht. Dabei hatte ich heute Morgen zum ersten Mal das Gefühl, dass es aufwärtsgeht. Dass ich die Trennung von Mike im Griff habe. Während ich verträumt nach draußen blicke, fährt die Stimme säuselnd fort: »Nimm diesen tollen Herbsttag! Er zeigt doch, wie schön das Leben ist, auch wenn das Jahr langsam zu Ende geht … und du jetzt wieder Single bist.«

Mist! Selbst eine innere Stimme mit therapeutischem Geschick hilft da nicht. Mit einem Kloß im Hals spüre ich, wie meine Augen glasig werden. Dabei war mir gestern Abend beim Zubereiten des Kuchens tatsächlich so, als hätte ich es überstanden. Die Tränen, die ich da geheult habe, kamen wirklich nur vom Zwiebelschneiden. Ich habe sogar einige Playlistsongs mitgesummt, so groß war die Vorfreude auf die Gesichter meiner Kollegen.

Das war seit Langem das erste Mal, dass ich ganze drei Stunden nicht an die Szene dachte, in der Mike mir mitgeteilt hatte, dass er wegen seiner kranken Mutter zurück nach England müsse. Die Arme hatte einige Tage zuvor einen heftigen Schlaganfall erlitten und war seitdem auf Pflege angewiesen, die Mikes Vater wegen einer Beinverletzung nicht leisten konnte. So hatte er es mir geschildert, als wir uns kurz darauf in unserem Lieblingsrestaurant trafen. Zutiefst betrübt hatte er meine Hände genommen und um Verständnis für seine Entscheidung gebeten. Danach waren wir alle Möglichkeiten durchgegangen, damit wir zusammenbleiben konnten. Aber sämtliche Optionen hätten Einschränkungen und Verzicht bedeutet, für mich genauso wie für ihn. Letztendlich wäre alles auf eine Fernbeziehung hinausgelaufen, aber die wollten wir beide nicht. So hatten wir uns am selben Abend noch zur Trennung entschlossen.

Passiert war das Ganze Ende letzten Jahres, mitten in der Adventszeit. Ich weiß noch genau, wie egal mir der Eisregen im Gesicht war, als ich den kurzen Weg von der Trattoria nach Hause lief. Mikes Angebot, mich heimzufahren, hatte ich mit einem tieftraurigen Kopfschütteln abgelehnt.

Zugegeben, vor Kurzem noch habe ich fast jede Nacht das arme Tier gekriegt. So schlimm sogar, dass ich mir irgendwann überlegte, die Taschentuchpakete nicht immer im selben Laden zu kaufen. Wer wird beim Bezahlen schon gern für ein depressives Tränentier gehalten? Die Kassiererinnen haben einen Blick dafür. Da können ihre Augen noch so geschminkt sein.

Aber mal ehrlich: Kann Liebeskummer wirklich so lange dauern? Schon, oder? Neun Monate sind doch gar nichts, wenn man bedenkt, wie verliebt ich in diesen Mann war. Mike war jemand, dem ich meine dämlichsten Jugendsünden und peinlichsten Spleens anvertrauen konnte, ohne befürchten zu müssen, dass er mich damit vor anderen blamiert, wie es sein Vorgänger gern tat. Durch Mike habe ich erst gelernt, dass es in einer Beziehung nicht nur auf gleiche Interessen und prickelnden Sex ankommt, sondern vor allem auf Vertrauen. Damit meine ich nicht die rosarote Variante, die kurzlebiger ist als ein chinesisches Kinderspielzeug. Ich spreche von dem Glücksgefühl, das mit jedem Tag stärker wird, den man zusammen verbringt. Bedingungsloses Vertrauen eben.

Als mir jemand auf die Schulter tippt, hebe ich erschreckt den Kopf.

»Entschuldige, Netty. Ich habe nur eine kurze Frage.«

»Ähm, natürlich, Sarah«, antworte ich der Studentin, die erst seit einer Woche bei uns trainiert. »Um was geht es denn?« Wie peinlich! Ich muss wohl schon eine ganze Weile mit dem Brasilnetz über der Schulter dagestanden und aus dem Fenster gestarrt haben.

»Kannst du mir kurz zeigen, wie man am Laufband den Neigungswinkel verändert? Ich bin bisher immer nur ohne Steigung gelaufen.«

»Ja, klar. Komm, das ist ganz einfach«, erwidere ich und begleite sie zu dem Gerät, an dem bereits ihr Handtuch hängt. »Am besten, du steigst auf und probierst es gleich selbst.«

Zum Glück sind sämtliche Funktionen der Ausdauergeräte so eingestellt, dass man kaum etwas falsch machen kann. Im Nu hat Sarah es raus, wie man bergan läuft.

»Super! Danke, Netty. Jetzt komme ich alleine klar.«

Auf dem Rückweg zur Anmeldung fällt mir der Zwiebelkuchen ein. Oje! Den hätte ich beinahe vergessen. Im Eiltempo passiere ich den Flur, von dem die Gymnastikräume abgehen. Als ich die rhythmische Musik höre, die immer wieder von den durchdringenden Kommandos der beiden Trainerinnen übertönt wird, atme ich erleichtert auf. Um ein Haar hätte ich durch den kleinen Rückfall in meine Liebeskummerphase den Zeitpunkt verpasst, wenn alle zur Mittagspause zusammenkommen. Hastig umrunde ich den Empfangstresen und steuere auf die Teeküche zu. Vor der Tür halte ich noch einmal Ausschau nach meinen männlichen Kollegen. Toms dunklen Haarschopf entdecke ich neben einem Langhantelständer im hinteren Geräteraum. An seinen Gesten erkenne ich, dass er gerade einem jugendlichen Neukunden erklärt, worauf es beim Üben mit schweren Gewichten ankommt.

Der gut trainierte Vierzigjährige ist der perfekte Ansprechpartner für die jungen Kerle, denen es hauptsächlich um den Aufbau einer möglichst spektakulären Muskelmasse geht. Unsere Chefin nennt diesen Kundenkreis gern die jungen Wilden. Ein Außenstehender würde an dieser Bezeichnung vielleicht etwas Liebevolles finden. Doch wenn man schon länger hier arbeitet, weiß man, warum Billes linker Mundwinkel dabei leicht nach oben zuckt.

»Auf diese eiweißpulversüchtigen Michelin-Männchen könnte ich gut verzichten«, hatte sie mir einmal unter vier Augen gestanden. Allerdings sind Äußerungen dieser Art bei ihr selten, bei mir dafür umso sicherer aufgehoben. Als Patentochter der Chefin ist Verschwiegenheit schließlich oberstes Gebot.

Ich blicke neugierig zum Eingang des neuen Saunabereichs, in dem Julian, unser Neuzugang, seit zwei Wochen für die Sicherheit beim Schwitzen und die Aufgüsse zuständig ist. Dass er noch nicht hier ist, wundert mich ein wenig. Er weiß doch, dass wir uns zur Mittagspause in der Teeküche treffen.

Während ich weiter nach dem großen Kerl mit dem rötlichen Vollbart Ausschau halte, steigt mir ein ungewöhnlicher Geruch in die Nase. Hier im Eingangsbereich riecht es normalerweise nach gar nichts. Höchstens nach Kaffee, wenn ein Kunde auf seinen Trainingspartner wartet. In letzter Zeit auch schon mal nach Citrus-Menthol wegen der Nähe zum Saunabereich. Aber noch nie roch es hier nach …

»Oh, Mist, der Zwiebelkuchen!«

Ich verschwinde Böses ahnend in der Teeküche, reiße die Ofenklappe auf und seufze erleichtert. Die Ränder sind knusprig braun, und die Käsekruste schmurgelt leicht. Also alles gut. Es kann losgehen! Beim Öffnen der Klappe umhüllt mich ein derart intensiver Duftschwall, dass ich abrupt ein Stück zurückweiche.

»Jui, der hat es aber in sich!« Vorsichtig hebe ich die üppig beladene Glasplatte aus dem Ofen und jongliere sie zum Tisch. Rasch lege ich noch einen Packen Servietten neben den Tellerstapel. Dann betrachte ich mein Werk mit einem zufriedenen Nicken. »Perfekt! Die werden Augen machen!«

Beim Verlassen der Teeküche pralle ich mit Bille zusammen, die von ihrer Zumba-Einheit noch leicht außer Atem ist.

»Oh, Verzeihung, Netty. Ich wusste ja nicht, dass du gerade …«

»Nichts passiert«, versichere ich.

Im nächsten Moment sehe ich, wie sie die Luft einzieht und mit verärgerter Miene auf das Fenster zwischen dem Empfangsbereich und dem Gang zu den Umkleiden deutet.

»Herrje! Irgendwann gehe ich runter und fackle diese Fettschleuder ab!«, zischt sie mit mühsam unterdrückter Lautstärke.

Eigentlich will ich ihr sofort beichten, dass der Geruch nicht aus der Gaststätte unter uns kommt. Stattdessen nicke ich nur wortlos. Bille hat recht. Restaurants, die mit Speisen werben, deren Kaloriengehalt jenseits von Gut und Böse liegt, haben nichts in der Nähe von Sportstätten verloren. Oder wenigstens nichts in Riechweite. Genau zu dieser Kategorie gehört nämlich das »Rheinische Schlemmer-Eck«. Das gutbürgerliche Wirtshaus grenzt mit seiner Westseite direkt an das Gesundheitszentrum, in dessen Erdgeschoss sich mehrere Arztpraxen und eine Apotheke befinden. Kommt man die breite, helle Treppe zur ersten Etage hinauf, geht es rechts zur Physiotherapie-Praxis meiner Mutter. Im gesamten linken Flügel ist das Graffiti untergebracht, wobei der Name des Fitnessstudios weder mit besonders farbenfrohen Übungsgeräten noch mit künstlerisch bemalten Gymnastikräumen zu tun hat. Bille kreierte ihn kurzerhand aus dem Wörtchen fit und ihrem Nachnamen Graff.

Für die gehbehinderten und herzgeschwächten Besucher gibt es natürlich auch einen Aufzug. Ohne den hätte meine Mutter damals gar nicht die Kassenzulassung bekommen. Ich kann mich noch genau an die angespannte Atmosphäre zu Hause erinnern, als sie die Liste mit den Richtlinien durcharbeitete, die bei der Einrichtung einer Praxis eingehalten werden müssen.

»Das musst du dir mal ansehen, Agnetha! Wer diesen Mist ausgeknobelt hat, gehört erschossen! Pff! Als ob ein Hüftoperierter etwas davon hätte, wenn die Deckenhöhe im Lagerraum den Vorschriften entspricht. Da will man kranken Menschen helfen, und was machen die vom Kassenverband? Legen einem nichts als Steine in den Weg. Nicht mit mir, meine Lieben, nicht mit mir«, waren die letzten Worte ihrer zornigen Protestrede gewesen.

Die Szene habe ich nur deshalb so genau vor Augen, weil zum selben Zeitpunkt meine Ausbildung zur Physiotherapeutin begann, allerdings einige Kilometer von zu Hause entfernt. Das hatte auch sein Gutes, denn von da an hieß es: Raus aus meinem winzigen Kinderzimmer und rein in die wundervoll schnuckelige Altbau-WG-Wohnung mit Vivien, meiner besten Freundin und mittlerweile auch Arbeitskollegin. Und vor allen Dingen rein ins wirkliche Leben.

»Mmh, im Schlemmer-Eck gibt es heute anscheinend Zwiebelrostbraten«, witzelt Tom, der zusammen mit Joyce vor der Teeküche erscheint, um Mittagspause zu machen. Als er Billes säuerlichen Blick streift, schaut er fragend zu mir.

»Nein, nein, das ist …«, will ich richtigstellen, aber Tom schneidet mir das Wort ab.

»… Sülze mit Bratkartoffeln?« Er wackelt erheitert mit den Augenbrauen, aber mir ist überhaupt nicht mehr lustig zumute. Irgendwie läuft meine Zwiebelkuchen-Dankeschön-Aktion gerade ziemlich aus dem Ruder.

Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu, denn Billes Gesichtsausdruck verfinstert sich gerade mit jedem weiteren Atemzug. Nicht die Gaststätte ist ihr ein Dorn im Auge, sondern das Dunstabzugsrohr, das seinen fettgeschwängerten Küchenmief direkt in Höhe der rückwärtigen Studiofenster in die Luft bläst. Steht der Wind ungünstig, erfährt man sozusagen im Vorbeigehen, was gerade das Highlight der Tageskarte ist. Das Schlimmste aber ist, dass Bille zur äußerst unnachgiebigen Gruppe der Frischluftfanatiker zählt. Auch wenn sie für mich die beste Chefin ever ist, wird sie zu einem übellaunigen Rumpelstilzchen, sollte einer von uns vergessen haben, seinen Arbeitsbereich zu lüften. Verbrauchte, nach Schweiß müffelnde Luft zum Beispiel geht für sie gar nicht.

»Höchste Zeit, Netty! Du musst endlich sagen, was Sache ist«, mahnt meine innere Stimme.

Als ich Luft hole, um den Irrtum aufzudecken, stoppt Joyce mich per Handzeichen und dreht sich geschäftig zu Bille.

»Sollten wir nicht besser lüften, wenn die Küche unten zu hat? Das riecht hier ja wie mittags bei uns im Treppenhaus. Bei dem Mief vergeht einem der Appetit«, beklagt sie sich mit einem Blick auf den Gemüse-Reis-Salat in ihrer Lunchbox.

Die quirlige Jazztanz-Trainerin mit den brünetten Rasta-Locken liefert gern Lösungsvorschläge für alles und jedes. An der Konstruktivität mangelt es manchmal noch, da sie erst knapp über zwanzig ist. Doch das nimmt ihr keiner übel. Dieses kleine Manko macht sie mit ihrer ansteckenden Vitalität allemal wett.

»Ungern, aber so machen wir es«, bestimmt Bille und macht sich auf den Weg, um den unerwünschten Luftzustrom zu unterbinden.

»Bille, warte mal, das ist nicht …«, rufe ich ihr nach, doch in dem Moment stoppt sie auch schon und starrt das Fenster an. Hätte sie mich doch bloß ausreden lassen!

»Das ist ja gar nicht gekippt!«, höre ich sie empört rufen. Als sie schnüffelnd zurückkommt, nutze ich die allgemeine Sprachlosigkeit, um das Rätsel zu lösen.

»Könnt Ihr mal kurz herhören, bitte?« Ich warte, bis sich alle zu mir gedreht haben und räuspere mich kräftig. »Liebe Bille, liebe Kollegen, was hier so riecht, ist nicht das Schlemmer-Eck, sondern meine kleine Überraschung für Euch.«

Ich drücke die Tür zur Teeküche auf und zeige zum Tisch. »Ich dachte, es ist an der Zeit, dass ich mich mal bei Euch bedanke. In den vergangenen Monaten habt Ihr so oft Rücksicht auf mich genommen, wegen der Sache mit Mike, Ihr wisst schon. Deshalb habe ich Euch heute einen kleinen Mittagssnack mitgebracht - frisch gebackenen Zwiebelkuchen.«

Dass mir alle jubelnd um den Hals fallen, erwarte ich ja nicht. Aber so gar keine Reaktion …

Je länger meine Kollegen dastehen und irritierte Blicke wechseln, desto unsicherer werde ich. Nach drei weiteren Sekunden Stille kann ich meine Enttäuschung kaum noch verbergen. »Schon klar. Ein Obstkuchen wäre vermutlich besser gewesen«, murmele ich betreten.

Bille erwacht als Erste aus der ansteckenden Starre.

»Also, was soll ich dazu sagen?« Sie lächelt strapaziert. »Das ist … ja wirklich … eine tolle Idee mit dem Zwiebelkuchen. Jetzt, wo der Herbst so richtig in Fahrt kommt.« Mit ausgebreiteten Armen kommt sie auf mich zu und drückt mich kurz. »Danke, Netty. Das ist ganz lieb von dir.« Sie nimmt sich demonstrativ ein großes Stück von der Platte und wendet sich den anderen zu. »Ist das nicht toll, was für eine Mühe sie sich für uns gemacht hat? Also, was ist?« Nach einem auffordernden Handzeichen beißt sie beherzt ab.

Joyce lacht ein bisschen zu laut in die Runde.

»Und ich wollte denen schon einen von unseren ausgedienten Gymnastikbällen ins Abluftrohr stopfen!«, witzelt sie. Gleich darauf wendet sie sich mir mit Dackelblick zu. »Sei mir nicht böse, Netty, aber ich bleibe lieber bei meinem Salat. Ich bin zwar kein Fleischverächter, aber so was mit gebratenem Speck drin ist nichts für mich.«

»Das ist schon in Ordnung«, beruhige ich sie. Aber wer beruhigt mich eigentlich? Zu allem Überfluss verzieht nun auch Tom das Gesicht, als ich ihn zum Zugreifen auffordere.

»Danke, Netty. Der Kuchen sieht superlecker aus, wirklich. Aber irgendwie habe ich grad keinen Hunger. Könnte ich mir vielleicht ein Stück mit nach Hause nehmen?« Dabei lächelt er mich so zerknirscht an, dass ich sofort Bescheid weiß: Auch er hält nichts von Zwiebelkuchen.

»Klar, gern. Nimm dir mit, soviel du willst«, biete ich lächelnd an und ergänze insgeheim: »Wenigstens freut sich dann deine Nachbarin.« Da fällt mein Blick auf Julian, der gerade vor dem Durchgang zu den Umkleiden erscheint.

Seit zwei Wochen betreut der dunkelblonde Hüne mit dem gepflegten Vollbart den neuen Saunabereich des Graffitis. Das mache er wohl ausgesprochen gut, meinten bereits einige Studiobesucher. Mehr habe ich bisher nicht über ihn erfahren. Höchstens noch, dass er der Sohn einer alten Schulfreundin von Bille ist, früher Leistungsschwimmer war und die Prüfung zum medizinischen Bademeister mit sehr gut absolviert haben soll. Nach einigen beruflichen Umwegen allerdings. Das alles hatte Bille mir anvertraut, nachdem sie seine Bewerbungsunterlagen durchgegangen war.

»Wegen seiner Sprunghaftigkeit wollte ich ihn erst gar nicht einstellen. Aber Freunde lässt man halt nicht hängen«, war ihr abschließender Kommentar gewesen.

Als Julian mit federnden Schritten auf uns zukommt, bin ich hoffnungstechnisch fast am Nullpunkt angekommen. Wenn er jetzt auch noch ablehnt, dann haue ich den Kuchen vor allen Augen in die Tonne! So angefressen fühle ich mich mittlerweile.

»Hm, das riecht aber gut hier«, sind seine Begrüßungsworte, und dafür könnte ich ihn glatt umarmen. Mit seinen knapp zwei Metern blickt er mühelos über unsere Köpfe hinweg zum Tisch. »Ist das etwa Zwiebelkuchen? So richtig mit Schmand und Schinkenspeck?«

Ich nicke eifrig und erleichtert.

»Greif bitte zu! Es darf alles aufgegessen werden.«

»Zählt zu meinen absoluten Favoriten«, verkündet er und bedankt sich mit einem hinreißenden Blick aus seinen meerblauen Augen.

»Zu meinen auch«, möchte ich ihm vor Freude über die kleine Gemeinsamkeit zurufen. Doch das verkneife ich mir. Man muss Männer, die man kaum kennt, ja nicht gleich mit der Nase auf seine Schwächen stoßen. Auf meine ungesunde Ernährungsweise bin ich nämlich keineswegs stolz. Mir fehlte in den vergangenen Wochen nur der Mumm, auf Dinge wie Chips, Pasta mit Käsesoße und Schokolade in jeder Form zu verzichten.

Wegen seiner Begeisterung und der Tatsache, dass er nicht gleich das saftigste Stück aus der Mitte, sondern eins vom Rand nimmt, erkläre ich ihn zu meinem »Held der Stunde«. Einem sportlich durchtrainierten Mannsbild dabei zuzusehen, wie es sich sein Lieblingsessen schmecken lässt, kann so schön sein!

An Billes beunruhigten Blicken zu den Kunden im Geräteraum merke ich, dass ihr das alles ziemlich gegen den Strich geht. Erst der Geruch, der eher zu einer Kochshow aus dem RTL-Nachmittagsprogramm passt, und nun auch noch das Herumstehen und Quatschen ihres Trainerpersonals!

»Hört mal eben zu!« Wie immer bei ihren Ankündigungen schnippt sie gut hörbar mit den Fingern. »Bevor es jetzt gleich wieder an die Arbeit geht, werden erst mal sämtliche Fenster aufgerissen.« Mit anderen Worten: Ende der Mittagspause!

»Darum kümmere ich mich«, biete ich spontan an, denn mich plagt das schlechte Gewissen. Obwohl? Woher hätte ich denn wissen können, dass meine kleine Dankeschön-Aktion so ein Reinfall wird. Aber aus Fehlern lernt man bekanntlich. Zwiebelkuchen backe ich jedenfalls nur noch für meine Familie und die besten Freunde. Und ganz vielleicht noch für … Julian. Bei diesem Gedanken huscht ein dankbares Lächeln über mein Gesicht. Und endlich lässt auch der schmerzhafte Druck in der Magengegend nach, der mich in letzter Zeit immer häufiger nervt.

 

Als um zwei Uhr meine Aufsichtszeit im Geräteraum zu Ende geht, packe ich das, was vom Zwiebelkuchen übriggeblieben ist - also fast alles - in vier kleine Päckchen. Zwei davon lasse ich auf dem Tisch zurück, für Tom und Julian. Die anderen beiden verstaue ich in meinem Rucksack.

»Bis morgen, Bille. Ich bin dann mal drüben«, verabschiede ich mich von meiner Patentante und mache mich auf den Weg zur Praxis meiner Mutter.

Diese besondere Konstellation ergab sich, als ich nach meiner Physiotherapie-Ausbildung meinen Traum verwirklicht und den Fitnesstrainerschein gemacht hatte. Ärger hatte es erst gegeben, als ich meiner Mutter gegenüber Zweifel über meine berufliche Zukunft äußerte. Als ich ihr sagte, ich sei gar nicht sicher, wo ich meine ersten Brötchen verdienen will, hatte sie die Welt nicht mehr verstanden. Für sie stand von Anfang an fest, dass ich in ihrer Praxis anfange, und auch, dass ich später einmal ihre Nachfolgerin werde.

Das ist ihr Plan, aber längst nicht meiner. Je näher die Abschlussprüfung zum Fitnesstrainer rückte, desto lieber wollte ich zu Bille ins Graffiti. Einer der Gründe war natürlich die top moderne Ausstattung des Studios. Meinen wichtigsten Grund traute ich mich damals kaum jemandem zu nennen: Ich wollte hauptsächlich mit Menschen zu tun haben, die sich für Sport begeistern. Die gesund bleiben wollen und deshalb regelmäßig zum Training kommen. Aus eigenem Antrieb heraus und nicht, weil der Arzt es verordnet hat. Auch das Durchschnittsalter der Studiobesucher spielte für mich eine entscheidende Rolle. Als Berufsanfänger hat man schließlich nicht nur die Arbeit im Kopf. Okay, ich bin Physiotherapeutin geworden, weil ich kranken Menschen helfen will. Aber eben nicht nur. Doch dafür fehlt meiner Mutter jedes Verständnis, was letztendlich zu einem bösen Streit führte. Da Bille aber nicht nur meine Patentante ist, sondern auch die beste Freundin meiner Mutter, hat sich das Dilemma in einen absoluten Glücksfall für mich verwandelt. Ihrer einmaligen Überredungskunst verdanke ich es, dass ich jetzt nicht nur zwei superinteressante Arbeitsstellen habe, sondern auch zwei Chefinnen, für die ich durchs Feuer gehen würde. Andere schreckt das vielleicht ab, aber mir hätte nichts Besseres passieren können.

Ein weiterer Pluspunkt, der je nach Wetterlage nicht zu verachten ist: Von einer Arbeitsstelle zur anderen sind es für mich gerade mal acht Schritte durchs Treppenhaus. Das bedeutet: Ich brauche nur meinen Rucksack wegzuschließen und kann direkt so, wie ich bin, mit meiner ersten Behandlung beginnen.

Mit Elan drücke ich die Tür zum Eingangsbereich der Praxis auf und grüße fröhlich zum Anmeldetisch hinüber. Hinter ihm sitzt meine Mutter und blättert geschäftig im Kalender. Der ältere Mann mit Gehstock, dem sie gerade neue Termine heraussucht, wirft mir ein freundliches Nicken zu.

»Ah, das hübsche Fräulein Tochter!«, verkündet er anerkennend. »Da sind Sie doch bestimmt froh, Frau Weiss, so eine tatkräftige Unterstützung an der Seite zu haben. Vor allem jetzt, wo die andere junge Dame Mutter geworden ist?«

»Ja, ja, das bin ich auch«, antwortet sie und lächelt flüchtig.

Auf dem Weg zu dem winzigen Pausenraum der Praxis bekomme ich gerade noch mit, wie sich meine Mutter beim Aushändigen des Terminzettels beklagt: »Aber Sie wissen ja, wie die jungen Leute sind. Arbeit und Freizeit müssen sich schön die Waage halten.«

Und schon merke ich, wie mein Magen sich vor Ärger zusammenzieht und nicht wieder loslässt. Wie kann sie so etwas sagen? Wegen Viviens Elternzeit mache ich seit drei Monaten Überstunden. Außerdem habe ich ihr zwei Hausbesuchspatienten abgenommen, für die ich sogar an zwei Tagen meine Mittagspause opfere.

Während ich eins der Zwiebelkuchenpakete aus der Tasche nehme und auf den Tisch lege, überlege ich, ob ich sie darauf ansprechen soll. Doch als ihr Kopf im Türspalt erscheint und sie mich unmissverständlich zur Eile mahnt, schlucke ich meinen Ärger rasch runter.

»Deine Patientin habe ich schon mal zum Umziehen in die Drei geschickt, Agnetha. Die hält mit ihrer Tratscherei den ganzen Verkehr auf«, hängt sie hinter vorgehaltener Hand an.

»Okay. Danke, Mama«, erwidere ich und zeige auf das Kuchenpaket. »Ich habe dir Zwiebelkuchen mitgebracht. Kurz in die Mikrowelle, und er schmeckt wie frisch gebacken«, versuche ich ihr Appetit zu machen.

»Lieb von dir, Agnetha, aber du weißt doch«, sie spricht etwas leiser weiter: »Zwiebeln schlagen mir immer so auf den Darm. Vielleicht kannst du den Kuchen ja einfrieren.«

Soviel zum Thema Gefälligkeiten und Familie.

Der Behandlungsraum drei befindet sich am Ende eines kurzen, hell beleuchteten Flurs, an dessen Wänden Fotos von sämtlichen ABBA-Mitgliedern hängen. Es gäbe so viele Möglichkeiten, den Flur peppiger zu gestalten, aber Mama schwärmt nun mal für die schwedische Popgruppe. So sehr sogar, dass sie seit neuestem die Anfangstakte von Mamma Mia als Handy-Klingelton benutzt. Beim letzten Foto auf der linken Seite schaue ich allerdings immer in die Gegenrichtung. Meine blonde Namensschwester sieht ja wirklich gut aus. Aber muss sie deshalb immer so affektiert in die Kamera smilen? Zum Glück hat Mama nicht Anni-Frid Lyngstad zu ihrem Lieblingsbandmitglied auserkoren hat. Agnetha zu heißen, ist schon peinlich genug, aber mit diesem Vornamen hätte ich mich bestimmt umgebracht. Die Erlösung kam erst, als ich mich in der achten Klasse dazu entschloss, ab sofort nur noch auf Netty zu hören. Von da an ging es mir in der Schule und danach erheblich besser.

Eine halbe Stunde später bedankt sich meine Patientin für die Behandlung.

»Wenn ich nur nicht immer so einen Muskelkater danach hätte«, beklagt sie sich dennoch, während sie in ihre Schuhe schlüpft.

»Das gehört schon ein bisschen dazu, wenn die Schmerzen weggehen sollen«, erkläre ich. »Muskelkater ist nichts Schlimmes. Er zeigt Ihnen, dass Sie sich bei den Übungen Mühe gegeben haben, und das ist doch prima.«

»Wenn Sie meinen, Frau Weiss«, erwidert sie wenig überzeugt. »Können Sie mich beim nächsten Mal nicht trotzdem wieder ein bisschen massieren? Das bekommt mir irgendwie besser.«

Ich schüttele bedauernd den Kopf.

»Die Massage lindert Ihre Rückenschmerzen nur für kurze Zeit. Auf Dauer haben Sie mehr davon, wenn Sie aktiv üben, auch zu Hause. Kräftigere Muskeln sind belastbarer und verkrampfen nicht so schnell.«

An ihrem skeptischen Nicken merke ich, dass ich wieder einmal gegen Wände rede. Ich gebe mir Mühe, nicht zu resigniert zu klingen, als ich mich von ihr verabschiede. Nach einem raschen Blick auf die Uhr gehe ich nach vorn zum Wartebereich neben dem Eingang, um meinen nächsten Patienten abzuholen.

Warum fällt es mir bloß so schwer, Verständnis für Menschen wie Frau Hartmann aufzubringen? Die Fitnessstudiobesucher haben doch auch keine Probleme damit sich abzurackern, bis ihnen der Schweiß ausbricht.

»Aber sie haben auch keine Schmerzen«, gibt mir meine innere Stimme zu Bedenken.

Und damit hat sie recht. Mit Schmerzen macht Bewegung keinen Spaß. Davon kann ich ein Lied singen. Meine abendlichen Joggingambitionen sind schon mehrere Male im Sande verlaufen, weil meine Magenschmerzen selbst auf dem Heimweg nicht nachließen. Erst als ich es mir mit einem heißen Lumumba auf der Couch gemütlich gemacht hatte, waren sie verschwunden. Meine innere Stimme, die neunmalkluge Schnepfe, warf mir natürlich prompt vor: »Mit Alkohol kannst du Flecken lösen, Netty, aber keine Probleme.«

Aber was soll ich denn machen? In letzter Zeit habe ich ständig das Gefühl, dass mir alles über den Kopf wächst. Und das ist leider keine Einbildung. Mein Arbeitspensum grenzt allmählich an das des CEOs einer großen Firma. Dabei will ich niemandem einen Vorwurf machen, schon gar nicht Vivi. Sie ist schließlich nicht nur meine liebste Kollegin in Mamas Praxis. Sie ist auch seit Jahren meine beste Freundin und mein Rettungsanker für alle Krisen und Nöte. Somit hat sie alles Recht der Welt, Mutter zu sein. Und was den kleinen Felix angeht, der jetzt schon ganze neun Monate alt ist, muss ich ehrlich gestehen: Das knuffige Fröschchen könnte ich auf der Stelle klauen.

Schon klar. Auch Bille meint es nur gut, wenn sie mir zusätzlich zu den Kursen und Geräteaufsichten immer mehr organisatorische Dinge überträgt. Als pflichtbewusste Patentante will sie mir halt alles beibringen, was ich später einmal brauchen könnte. Auch sie rechnet fest damit, dass ich irgendwann die Leitung des Studios übernehme. Das ließ sie letztens erst wieder bei einem Dienstgespräch unter vier Augen durchblicken.

Ich weiß. Ich sollte dankbar sein und mich geehrt fühlen, dass die beiden mir ihr mühsam geschaffenes Lebenswerk anvertrauen wollen. Aber können sie sich nicht vorstellen, wie sehr sie mich damit unter Leistungsdruck setzen? Verdammt, mit einunddreißig will man schließlich auch was von seinem Privatleben haben! Okay, da tut sich gerade nicht viel, aber so ist es halt, wenn man den Mann fürs Leben ziehen lassen musste.

»Sei doch froh, Netty. So kannst du deine ganze Freizeit für dich nutzen«, säuselt mir meine innere Stimme ins Ohr.

Freizeit, dass ich nicht lache! Wenn ich gegen sieben zu Hause bin, schaffe ich es gerade noch, mir eine Pizza warm zu machen. Letztens ist es mir sogar passiert, dass ich unter der Dusche eingenickt bin. So kann es doch nicht weitergehen. Ich werde mit Bille reden müssen, auch wenn es mir schwerfällt. Und mit Mama. Ich verstehe es einfach nicht: Kommt den beiden denn gar nicht in den Sinn, dass ich über meine Zukunft selbst bestimmen möchte? Und dass das Leben nicht nur aus Arbeit besteht? Die liebste Tasse meiner Sammlung würde ich opfern, wenn ich wenigstens ab und zu mal früher Feierabend machen dürfte. Ja, das könnte mich retten. Mal wieder ganz entspannt durch die Geschäfte bummeln, Eis essen und mich am frühen Abend mit Vivi auf einen Drink in der Stadt treffen. So wie früher, zu unseren WG-Zeiten, als wir fesch zurechtgemacht an der Wunder-Bar saßen und über den Rand unserer Cocktails hinweg die Mannsbilder analysierten.

»Dann ist es also nur eine selbstgefällige Behauptung, dass du gerne arbeitest?«, hakt meine innere Stimme sofort nach.

»Nein, das stimmt wirklich. Ich arbeite sehr gern, und das weißt du auch«, erwidere ich erbost. Aber was nützt einem der größte Arbeitseifer, wenn man sich fühlt wie ein Hündchen, das an einer Raststätte zurückgelassen wurde. So unendlich verlassen.

»Netty, was ist? Hast du nichts zu tun?«, stoppt Mamas Stimme mein Gedankenkarussell.

Mein Blick huscht von der Uhr über der Tür zu den leeren Wartestühlen. Wo bleibt der Patient, der jetzt eigentlich dran wäre? Während im Terminkalender nach seinem Namen suche, geht die Tür auf, und ein Bote erscheint mit einem wuchtigen Paket. Nach einem Blick auf das Adressfeld fragt er: »Praxis Weiss? Ist doch richtig hier, oder?«

»Ja, das ist für mich. Die Post können Sie mir geben. Und das Paket bitte da drüben vor die Tür!«

Mama zeigt auf die Türnische vor dem letzten Behandlungsraum. Nach einem kurzen Gruß ist der Mann im gelben Anzug auch schon wieder zur Tür hinaus.

»Das sind bestimmt die neuen Pezzibälle. Du hast doch grad nichts zu tun, Agnetha. Könntest du sie bitte auspacken und gegen die alten Schätzchen eintauschen?«

»Und aufblasen hast du vergessen«, vervollständige ich ihre Bitte übertrieben freundlich. Den genervten Unterton bekommt sie allerdings nicht mit, denn irgendetwas scheint mit dem Schreiben in ihrer Hand nicht in Ordnung zu sein.

»Tse! Was soll das denn jetzt?« Sie schüttelt verständnislos den Kopf und liest mir das Ende der Mitteilung vor: »… werden wir zeitnah einen Termin mit Ihnen vereinbaren, an dem wir die Einhaltung der Richtlinien in Ihrer Praxis überprüfen können. Hochachtungsvoll, Der Spitzenverband der Krankenkassen.«

Wenn meine Mutter die Lippen aufeinanderpresst und unheilvoll schnaubt, ist Ärger im Anmarsch. Davon können mein Bruder und ich ein Lied singen.

»Alles in Ordnung, Mama?«

»Ja, ja«, entgegnet sie ungehalten. »Ich weiß ehrlich nicht, was die von mir wollen. Nichts als Ärger hat man mit denen. Nicht nur, dass sie uns mit grottenschlechten Behandlungstarifen abspeisen, die einmal im Jahrhundert erhöht werden. Jetzt unterstellen sie einem auch noch Fehler bei der Praxisführung.«

»Bestimmt ist das nur eine Routinekontrolle«, versuche ich sie zu besänftigen. »Warum sollten die sonst deine Praxis überprüfen wollen?« Es wundert mich, dass sie nur nachdenklich nickt. Ich hätte eigentlich erwartet, dass sie mir energisch beipflichtet.

»Wenn da nicht etwas anderes dahintersteckt«, mutmaßt sie mit tiefen Falten auf der Stirn.

Noch unwohler wird mir, als ich sehe, wie sich ihre Augen zu Schlitzen verengen.

»Was meinst du denn damit?«, hake ich besorgt nach.

»Frag lieber, wen ich damit meine.«

Allmählich verstehe ich nur noch Bahnhof.

»Du gehst also davon aus, dass es einen berechtigten Grund gibt, weshalb die Kasse uns kontrollieren will?«

Mama nickt auffallend langsam.

»Ob er berechtigt ist, bezweifle ich. Aber ich kann mir denken, wer dahintersteckt.«

Ihr Zeigefinger landet zielgenau auf einem Namen im Terminkalender. Ich beuge mich vor, um ihn besser entziffern zu können.

»Bielstein«, lese ich laut vor. »Und was soll diese Frau Bielstein mit der Kasse zu tun haben?«

»Herr Bielstein«, berichtigt Mama energisch. »Hans-Henning Bielstein, achtundfünfzig Jahre alt, Wurzelreizsyndrom L4/L5 mit ausstrahlenden Schmerzen in den rechten äußeren Oberschenkel bei Beinlängenunterschied und Insuffizienz der Rückenmuskulatur«, leiert sie die Kurzanamnese herunter. »Dazu kommt sein Hang, sich ungebeten in Dinge einzumischen und absolute Humorlosigkeit.«

Die letzte Eigenschaft scheint Mama dem armen Mann am meisten übelzunehmen, sonst hätte sie sie nicht so betont.

»Und warum meinst du, dass er was mit dem Schreiben zu tun hat?«

Obwohl in diesem Moment wirklich niemand außer uns in der Praxis ist, schaut sie sich prüfend um.

»Weil dieser Mann ständig etwas auszusetzen hat. Mal bin ich ihm zu gestresst, dann sorgt er sich um meine Heizkosten, weil so viel gelüftet wird. Was den das angeht, frage ich mich. Und jetzt sind ihm auch noch die zwei Behandlungen wöchentlich zu wenig.« Mama blickt genervt zur Decke. Dann erscheint ein bedrohliches Funkeln in ihren Augen.

»Wenn der nicht hinter dem Irrsinn steckt und die Krankenkasse auf mich angesetzt hat, dann fresse ich einen Besen. Aber der wird sein Waterloo noch erleben. Da kann er sich noch so wichtigtun.«

Seltsam, wie man sich in manchen Menschen täuschen kann. Herr Bielstein kommt schon eine ganze Weile zur Krankengymnastik, aber dass er mir irgendwie unangenehm aufgefallen wäre, kann ich nicht behaupten. Ganz im Gegenteil. Vor ein paar Tagen erst hielt er mir mit einem freundlichen Nicken die Tür auf, als ich mit dem Mangelwäschepaket für Oma vor dem Eingang stand.

»Aber was hast du denn schon zu befürchten? Wenn einer dafür sorgt, dass hier alles korrekt zugeht, dann bist du das«, versuche ich sie zu beruhigen.

Bestimmt liegt es an der angespannten Situation, dass sie so gereizt zum Fenster schaut. Warum sonst sollte sie meinem Blick ausweichen?

»Ja, ja, stimmt schon. Aber …«

»Nichts aber«, schneide ich ihr lachend das Wort ab. Daraufhin sieht sie mich so zerknirscht an, dass ich nicht anders kann, als zu ihr zu gehen und sie in den Arm zu nehmen. »Mach dir nicht solche Gedanken, Mama! Wie sagst du immer: Nicht alles wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Außerdem kann ich mir beim besten Willen nicht denken, dass dieser Herr Bielstein so dreist ist und dich bei der Krankenkasse anschwärzt. Er wird von dir doch erstklassig behandelt«, lobe ich voller Überzeugung und hänge etwas kleinlauter an: »Ich finde ihn sogar ganz nett.«

»Ich sag nur: Der Wolf im Schafspelz«, knurrt sie verschwörerisch, aber um nachzuhaken, fehlt mir die Zeit.

»Tut mir leid, Mama, es ist schon nach vier. Ich müsste längst drüben sein und Tom im Geräteraum ablösen.«

Nach einem Küsschen auf ihre vertraute Wange hole ich meine Tasche aus dem Aufenthaltsraum und eile zurück ins Studio. Kaum habe ich den lichtdurchfluteten Eingangsbereich erreicht, winkt Bille mich auch schon vom Büro aus zu sich.

»Kannst du mal kurz kommen? Dauert nicht lang«, ruft sie mir entgegen, wohl wissend, dass ich für die Aufsicht im Geräteraum eingeteilt bin. »Da du das Studio ja mal übernehmen sollst, möchte ich gern deine Meinung zu einer Sache hören.« Als sie meinen verwunderten Blick wahrnimmt, wiegelt sie sofort ab: »Keine Bange, ich trete noch nicht ab. Es geht um etwas Organisatorisches.«

»Klar, wenn ich helfen kann. Ich muss Tom nur schnell …«, setze ich mit einem Blick zu den Fitnessgeräten an.

»Lass nur! Den habe ich schon heimgeschickt«, klärt sie mich auf. »Julian passt solange auf. In der Sauna ist grad nichts los. Da habe ich ihn gebeten, ein paar Minuten für dich einzuspringen.«

Ich nehme auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz und versuche, vorab etwas aus ihrem Verhalten zu lesen. Bis auf ihre Angewohnheit, bei Stress die Haare mit den Fingern nach hinten zu kämmen, fällt mir nichts auf. Aber etwas muss ihr Sorgen bereiten, sonst wäre sie nicht so ernst. Komisch. Seitdem ich im Graffiti arbeite, habe ich meine Patentante nie zaudernd oder hilflos erlebt. Auch dass sie grobe Fehler gemacht hätte, ist mir nicht bekannt. Okay, einmal war ihr der Zumba-Kurs bei der Terminplanung in eine falsche Zeitspalte gerutscht, und im letzten Neujahrsgruß stimmte die Jahreszahl nicht. Sie hatte sich um ein Jahrhundert vertan. Aber sonst gab es weder für uns noch für die Fitnesstreibenden Grund zur Klage. Also kann das, was ihr gerade zu schaffen macht, nur mit dem neuen Wellness-Angebot zu tun haben.

»Gibt es Probleme mit der Sauna?«

»Nein, nein«, erwidert sie fast ein wenig empört. »Höchstens indirekt.«

»Und was heißt das jetzt?«, frage ich, obwohl ich bereits ahne, worauf ihre Andeutung abzielt.

Bille will schon seit Längerem die Preise erhöhen. Mit Recht. Sie hat schließlich eine Menge Geld in den Saunaanbau gesteckt.

»Es geht um die geplante Beitragserhöhung.« Sie spielt gedankenverloren mit dem Kugelschreiber. »Ich weiß einfach nicht, wie ich es machen soll. Bis zum Advent zu warten, bringt nur Ärger. Sobald die Leute mit den Weihnachtseinkäufen starten, wird das Geld knapp, und im schlimmsten Fall kündigen sie ihr Abo. Das kennt man ja. Erhöhe ich aber jetzt, wo die Sauna gerade mal zwei Wochen läuft, dann heißt es schnell, ich hätte mich mit den Kosten übernommen.« Sie seufzt und schaut mich ratlos an. »Vielleicht hast du ja eine Idee.«

Dass Bille mich um Rat fragt, empfinde ich als große Ehre. Und ich lächle auch dankbar, aber eigentlich nur, um Zeit zum Nachdenken zu schinden. Wie kann ich ihr nur meine Bedenken schildern, ohne sie zu verletzen? In meinen Augen ist die geplante Erhöhung alles andere als fair. Schließlich will nicht jeder, der im Studio Sport treibt, die Sauna benutzen, geschweige denn mitbezahlen.

»Und wenn du noch wartest und andere Studiobetreiber fragst, wie sie das mit der Sauna machen?«, schlage ich halbherzig vor.

Dabei spielt der Zeitpunkt eigentlich eine untergeordnete Rolle. Viel kritischer sehe ich ihren Plan, die Erhöhung im Gießkannenprinzip durchzuführen.

»Nee, nee. Noch länger kann und will ich eigentlich nicht warten.« Sie schüttelt mit aufeinandergepressten Lippen den Kopf. »Mag ja sein, dass manche Kunden meckern, wenn ich jetzt damit ankomme. Aber so ist das eben. Alles wird teurer. Damit muss man heutzutage rechnen. Im Übrigen erhalten sie ja auch einen Gegenwert mit der neuen Sauna und dem ganzen Drumherum. Wer aus unserer Branche bietet denn schon spezielle Kräuteraufgüsse an? Von der Lichttherapie und den Motto-Tagen ganz zu schweigen.« Während sie sich in die Rückenlehne sinken lässt, fügt sie rechtfertigend hinzu: »Das ist eben der gravierende Unterschied zwischen uns und diesen Nullachtfünfzehn-Muckibuden-Betreibern. Die investieren keinen müden Euro und erhöhen trotzdem jedes Jahr die Beiträge.«

Ich atme leise durch.

»Willst du meine ehrliche Meinung hören, Bille?«

»Ja, klar. Nur zu! Deshalb habe ich dich ja hergebeten.«

In ihrer munteren Aufforderung schwingt dennoch eine leichte Beunruhigung mit. Das erkenne ich an dem zögerlichen Lächeln, das gleich wieder erlischt.

»Ich vermute ganz stark, dass es Ärger geben wird, wenn du von allen Kunden mehr Geld verlangst. Viele nutzen die Sauna doch gar nicht.«

Bille schnappt nach Luft.

»Aber es besteht ab jetzt die Möglichkeit dazu. Für alle Mitglieder«, betont sie merklich verärgert. »Zusatzangebote kosten eben. Das ist bei Autos so, bei Reisen … Überall wirst du zur Kasse gebeten, wenn du mehr haben willst.«

»Versteh doch, Bille! Viele deiner Kunden wollen gar nicht mehr haben. Die werden auch nicht bereit sein, mehr zu bezahlen. Wenn du Glück hast, meckern sie nur ein bisschen herum. Im schlimmsten Fall kündigen sie«, versuche ich, ihr mit aller Vorsicht deutlich zu machen. »Willst du das riskieren?«

»Aber anders geht es nun mal nicht«, kontert sie und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Schließlich muss ich die Investitionskosten wieder reinbekommen.«

Um Bille nicht noch mehr gegen mich aufzubringen, nicke ich verständnisvoll.

»Aus deiner Sicht ist das sicherlich berechtigt. Aber deine Kunden denken vielleicht ganz anders darüber.« Ich räuspere mich und schaue sie nur kurz an. »Ganz sicher sogar. Das weiß ich von meiner Oma. Als sie letztens beim Reha-Training war, sind ihr wohl einige unangenehme Dinge zu Ohren gekommen.

»Und was genau war das?«, will Bille wissen.

»Sie meinte, in der Umkleide wäre es nach dem Training richtig laut hergegangen. Es habe sich so eine Art Verschwörung gebildet mit dem Ziel, die ganze Gruppe aufzustacheln.«

»Und gegen was, bitte schön?« Mit zunehmendem Unverständnis wandern ihre Mundwinkel immer mehr abwärts.

»Sie wollen auf keinen Fall die Sauna mitbezahlen. Jedenfalls nicht die, die sie nicht nutzen.« Ich schaue nur kurz auf und ergänze leise: »In dem Fall würden sie sogar kündigen. So jedenfalls berichtete es meine Oma.« Und weil ich mir immer mehr Sorgen um Bille mache – ihre Wangen sind schon ganz eingefallen -, lenke ich ihre Gedanken vorsichtig in eine andere Richtung: »Wie wäre es denn, wenn du die Beiträge gestaffelt anhebst?«

»Nee, nee, das ist der falsche Ansatz, Netty. Im Zoo zahlt man ja auch den vollen Eintritt, obwohl man vielleicht nur ins Affenhaus und zu den Nilpferden will. Oder nimm das Hallenbad! Für die paar Bahnen, die man schwimmt, bezahlt man alles mit: die Infrarotkabine, die hochgeheizte Babybadelandschaft und nicht zu vergessen, den Whirlpool.« Das letzte Wort zieht sie voller Verachtung in die Länge. »Ich frage mich, was die Leute an dieser Bakterienschleuder finden.«

»Keine Ahnung.«

»Und? Hat sich da schon mal jemand über die Preise beschwert? Nee! Genauso verhält es sich mit unserem Studio. Das Graffiti ist kein staatlich unterstützter Wohltätigkeitsverein, sondern ein Wirtschaftsunternehmen. Wer sich mit unserer Hilfe fit halten will, der soll bitte schön auch dafür zahlen«, erklärt sie erboster als beabsichtigt, denn im nächsten Augenblick lächelt sie entschuldigend. »Entschuldige, Liebes. Das geht nicht gegen dich. Mit dreißig fehlte mir auch noch das nötige betriebswirtschaftliche Know-how. Aber um dich mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Ich kriege ja jeden Tag mit, wie toll du alles im Griff hast. Du ahnst gar nicht, wie sehr mich das freut und beruhigt. Ohne deine Hilfe wäre ich längst aufgeschmissen, Netty.« Sie streicht mir liebevoll über den Arm. »Ich liebe meine Arbeit, aber mal muss Schluss sein. Ein bisschen was möchte ich schließlich noch erleben.« Nach einem Blick auf die Uhr schreckt sie auf. »Ui, so spät schon!« Mit zwei langen Schritten ist sie an der Tür und lässt mich verwirrt zurück. »Diese Frau Dings vom Sauna-Hersteller muss jeden Moment hier sein. Wegen der fehlenden Brillenablagen. Du weißt schon, diese blonde Frau, die immer mit ihrem Business-Trolley angerollt kommt.«

»Frau Kaspari, meinst du?«, helfe ich ihr auf die Sprünge. Sofort sehe ich die Frau vor mir, die ohne Probleme als Model arbeiten könnte. Obwohl? Viel älter als ich kann sie nicht sein. Also aus die Maus mit Haute Couture auf dem Catwalk. Aus den sozialen Medien weiß man schließlich, dass man als Mannequin schon ins Altpapier wandert, wenn man die Zwanzig überschritten hat. Selbst im Accessoire-Bereich unterzukommen, soll dann schon schwierig sein.

»Genau die«, bestätigt Bille und lässt ihre Lesebrille in der Brusttasche verschwinden. Gleich darauf winkt sie der Frau im dunklen Kostüm zu, die vom Eingang her eilig auf uns zu gestöckelt kommt. »Wenn man vom Teufel spricht …«

Während sie mit ihrem Gast im Saunabereich verschwindet, gehe ich rüber zu den Cardio-Geräten, um Julian abzulösen. Das Gute ist, dass man nie lange nach ihm suchen muss. Der große, bärtige Kerl springt einem sofort ins Auge. Kann natürlich auch sein, dass es am Gelb des Studio-Shirts liegt, das absolut nicht zu dem leichten Rotton seiner dunkelblonden Haare passt. Aber der wirkliche Grund ist ein weit angenehmerer und liegt eine Stoffschicht tiefer. Fast wäre mir ein anerkennendes Raunen herausgerutscht, als ich auf ihn zugehe. Tja, Schwimmer sind halt von Haus aus … gut gebaut.

»Tada, die Wachablösung ist da!«, trällere ich, um für eine möglichst lockere Atmosphäre zu sorgen. Nicht, dass ich es schlecht finde, aber reden ist nicht so Julians Ding. Das ist mir in seinen ersten Arbeitstagen schon aufgefallen. Deshalb bezweifelte ich anfangs auch ein bisschen, dass er in unser Team passt. Mit Joyce und Tom war es von Beginn an anders. Zu ihnen hatte ich sofort einen Draht. Und das hat sich bis heute gehalten. Während wir in den Pausen viel reden und herumblödeln, hält sich Julian meist still im Hintergrund. Ergreift er doch mal das Wort, dann bleibt er sachlich und knapp.

Wenn Vivi mich bitten würde, ihn zu beschreiben, dann vielleicht so: Typ Einsiedler, vermutlich mit Altlasten, daher vorsichtig und unnahbar, trotzdem interessant, außerdem athletisch gebaut, also keineswegs unattraktiv.

Zu einem derartig ausführlichen Informationsaustausch ist es allerdings seit Wochen nicht mehr gekommen. Genau genommen, seitdem Felix geboren ist. Die Zeit zwischen zwei Stillmahlzeiten reicht gerade aus, um ihr am Telefon das Neuste aus Mamas Praxis durchzugeben. Meistens richte ich ihr noch ein paar Patientengrüße aus, höre mir geduldig an, wie ätzend es sei, immer noch jede Nacht zweimal raus zu müssen und dass sie sich das Muttersein ehrlich gesagt anders vorgestellt habe. Als nächstes quakt das Fröschchen im Hintergrund, und das war es dann auch schon mit unserer ausführlichen Unterhaltung.

Julian bedankt sich für die Ablösung und verabschiedet sich von dem jungen Mann, dem er gerade beim Ablegen der Langhantel geholfen hat.

»Dann werde ich mich wieder in die Eukalyptus-Menthol-Abteilung begeben.«

Diesmal schenkt er mir ein Lächeln, ein sehr sympathisches sogar.

»Geht doch!«, stelle ich in Gedanken fest, und schon hat er bei mir den nächsten Stein im Brett. Stille Wasser müssen ja nicht per se Langweiler sein. Und was unser Team angeht, können wir uns glücklich schätzen, dass er keiner von denen ist, die in der ersten gemeinsamen Frühstückspause Fotos vom Sportwagen oder dem letzten Tauchurlaub herumzeigen, sich überall einmischen und alles besser wissen.

»Du weißt nicht zufällig, was diese Frau hier will?« Er weist hinüber zu den Umkleideräumen.

»Doch«, antworte ich, froh darüber, ihm weiterhelfen zu können. »Bille möchte gern noch ein paar Dinge für die Sauna anfertigen lassen. Eine Ablage für Brillen zum Beispiel und etwas, worin man die Liegenauflagen für den Außenbereich unterbringen kann. Deshalb hat sie Frau Kaspari noch mal hergebeten. Die Firma, für die sie arbeitet, stellt ja alles Mögliche aus Holz her«, erkläre ich ihm. »Sogar Tiny-Houses. Du weißt schon, diese All-in-one-Häuser in Kinderzimmergröße.«

Meine Begeisterung für Frau Kasparis Fähigkeiten erlischt sofort wieder, als mir ihr extravagantes Auftreten ins Gedächtnis kommt. Als Mitarbeiterin einer Handwerksfirma muss sie ja nicht gleich im Blaumann herumlaufen, aber etwas weniger auffällig wäre bestimmt angebracht.

»Schon erstaunlich, dass eine Frau wie sie so etwas Bodenständiges macht, findest du nicht?« Mein Blick schweift nachdenklich in die Ferne. »Bestimmt hat sie nach der Lehre noch studiert. Irgendwas Designmäßiges vermutlich oder Innenarchitektur.«

»Weil sie so elegant gekleidet ist, oder wie kommst du darauf?«

Beim flüchtigen Blick in sein amüsiertes Gesicht, komme ich mir richtig blöd vor. Als ob ich gerade den Bock zum Gärtner gemacht hätte.

»Deshalb doch nicht«, erwidere ich vorwurfsvoll. »Ich sage ja auch nichts dazu, dass Fußballtrainer im schwarzen Anzug am Spielfeldrand herumspringen. Nein, ich vermute es deshalb, weil der Entwurf für den Saunabereich aus ihrer Hand stammt. So etwas lernt man nicht in einer Schreinerausbildung. Außerdem hat sie den gesamten Einbau gemanagt. Das müsstest du eigentlich mitbekommen haben.« Auch wenn ich mich gerade wie eine eingefleischte Frauenrechtlerin anhöre, bleibe ich bei meiner Meinung: Diese Frau mag beruflich sehr talentiert sein. Sich situationsgerecht zu kleiden, gehört jedenfalls nicht zu ihren Stärken. Ich gebe meinen Fatburner-Kurs ja auch nicht in Pumps und Cocktailkleid!

»Das muss wohl irgendwie an mir vorbeigegangen sein.«

»Trotzdem ist es bemerkenswert, wie durchtrainiert sie wirkt«, bemerke ich nachdenklich. »Ich meine, für jemanden, der den ganzen Tag am Zeichenbrett oder vor dem PC verbringt.«

»Ich habe gehört, dass sie regelmäßig zum Aqua-Cycling geht«, sagt Julian mit unbeteiligter Miene. »Mehr weiß ich aber auch nicht von ihr. In den Tagen vor der Eröffnung hatte ich so viel mit Einräumen und Saubermachen zu tun, dass ich kaum dazu kam, ein Wort mit ihr zu wechseln.«

Bei seinem wortkargen Wesen wundert mich das nicht.

»Ah, ja, stimmt. Da hast du ja noch bis spät abends die Relax-Liegen zusammengebaut und den Verpackungsmüll runtergebracht.« Ich werfe ihm ein anerkennendes Lächeln zu. »Bille war echt froh, dass du so reingeklotzt hast. Ohne dich hätte sie den Termin nicht halten können.«

Als er beschämt zu Boden schaut, reagiert mein Herz prompt mit einem Zwischengalopp. Wie nett dieser Mann wirkt, wenn er sich ein wenig öffnet. Als er sich gleich darauf verabschiedet, bin ich schon ein bisschen enttäuscht. Ein paar Worte mehr hätten es ruhig sein dürfen. Nur so natürlich, von Kollege zu Kollege. Man will schließlich wissen, mit wem man es am Arbeitsplatz zu tun hat.

Gerade will ich meinen Rundgang durch den Geräteraum starten, da entdecke ich auf dem Boden hinter der Langhantelbank einen Schlüsselbund. Vermutlich ist er dem jungen Mann, der hier vor einigen Minuten trainiert hat, aus der Tasche gerutscht. Dass er Jonas heißt, weiß ich. Aber wie war noch sein Nachname? Ich grübele einen Moment, dann fällt mir ein, dass er der Sohn meiner Zahnärztin ist. Da unsere Kundendatei vorbildlich gepflegt ist, habe ich seine Telefonnummer im Nu herausgesucht. Während ich sie ins Handy tippe, stelle ich mir das erleichterte Gesicht des jungen Mannes vor. Es würde mich nicht wundern, wenn er gerade zu Hause angekommen ist und verzweifelt nach dem Schlüssel sucht.

»Jonas Kleinschmidt?«

»Hallo, ich bin’s, die Netty vom Fitnessstudio Graffiti. Falls du deinen Schlüssel suchst, der ist hier«, verkünde ich frohgelaunt.

»Ähm, echt jetzt?«

Erleichtert hört sich mein Gegenüber nicht an, eher verwundert.

»Warte mal kurz!«, bittet er mich, und schon höre ich im Hintergrund Schritte und ein Rascheln. Dann klimpert es metallisch.

»Sorry du, aber meiner kann das nicht sein. Den halte ich gerade in der Hand.«

»Äh! Nicht? Komisch«, stottere ich irritiert. »Tja, dann entschuldige bitte die Störung.«

»Kein Problem«, erwidert Jonas unaufgeregt und legt auf.

Ratlos untersuche ich die einzelnen Schlüssel nach Hinweisen, die auf den Inhaber schließen lassen. Die meisten sagen mir nichts, aber der kupferfarbene mit den winzigen runden Aussparungen kommt mir irgendwie bekannt vor. Einer Vorahnung folgend halte ich ihn neben einen Schlüssel aus meinem Bund und stutze. Die beiden wirken so was von identisch. Den endgültigen Beweis erhalte ich, als ich kurz darauf versuche, mit dem Fundstück die Eingangstür des Studios zu verschließen. Da er sich problemlos drehen lässt, ist die Sache für mich klar. Es kann nur Julians Schlüssel sein. Vermutlich hat er ihn in dem Moment verloren, als er Jonas beim Absetzen der Langhantel behilflich war.

Ich schaue mich kurz um. Neben einem Studenten, den ich gut kenne, weil er regelmäßig im Kraftraum trainiert, mühen sich noch zwei Seniorinnen aus meiner Cardio-Gruppe an den Armzugapparaten ab. Ihnen gebe ich Bescheid, dass ich kurz rüber in den Saunabereich muss.

»Ich bin in drei Minuten zurück, falls was ist«, ergänze ich sicherheitshalber.

»Kein Problem, Netty. Wir sind sowieso gleich fertig«, beruhigt mich die eine, woraufhin die andere lachend anhängt: »Fix und fertig!«

Mit langen Schritten durchquere ich den Flur, von dem die beiden Umkleideräume abgehen und drücke am hinteren Ende die Tür zum neuen Wellnesstrakt auf. Augenblicklich umgibt mich ein Luftstrom, der sehr gesund riecht.

»Mmh, Zitronenmelisse«, tippe ich, nachdem ich kräftig eingeatmet habe.

Um herauszufinden, wo sich Julian aufhält, verharre ich kurz im wohlig warmen, dezent beleuchteten Durchgang zum Saunavorraum und horche.

Dass Bille sich mit ihrem Gast gerade eine Tür weiter im Ruheraum befindet, bedarf keines detektivischen Spürsinns. Ihre Kommandostimme würde selbst den ärgsten Nordseesturm durchdringen. Aber wo ist Julian?

Ich nähere mich vorsichtig der Tür, hinter der normalerweise erholsame Ruhe herrscht. Stattdessen klingt es da drinnen, als wolle Bille Frau Kaspari gleich an die Gurgel springen.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Die paar kleinen Dinge sollen so teuer sein?«, höre ich Bille fauchen.

»Ich habe es Ihnen doch erklärt, Frau Graff. Das sind keine Standardteile, sondern Maßanfertigungen, und die haben ihren Preis«, kontert Frau Kaspari so süffisant leise, dass ich sie nur mit Mühe verstehe.

Es nutzt nichts. Ich muss noch dichter heran. Als auch noch Julians Stimme dazukommt, berührt mein Ohr schon fast die Tür.

»Wie wäre es denn mit einer Kompromisslösung, die beide Seiten zufriedenstellt«, höre ich ihn mit ruhigen Worten vermitteln. »Zum Beispiel ließe sich die Kiste für die Auflagen problemlos an der Wand neben dem Wasserspender unterbringen. Dort stört sie nicht, ist trotzdem gut erreichbar, und man kann bei dem handelsüblichen Format bleiben. Und was die Ablage neben der Sauna angeht, reicht nach meiner Erfahrung auch die schlichte Variante aus Ihrem Online-Katalog.«

»Genau«, pflichtet Bille ihm so energisch bei, dass man unschwer erkennen kann, wie dankbar sie für seine Unterstützung ist. »Für Brillen und Duschseifen braucht man kein Designermöbel.«

»Aber liebe Frau Graff! Ihr Studio hebt sich von anderen ab, weil es Stil hat. Jeder Fitnesstreibende in dieser Stadt weiß, dass Sie Ihren Kunden ein qualitativ hochwertiges Ambiente bieten. Und Qualität, wenn ich das mal so sagen darf, erkennt man vor allem an kleinen Dingen. An Spiegeln, Türklinken oder ausgefallenen Accessoires.«

»Aber die Frage ist doch, wofür die Sauna eines Fitnessstudios überhaupt da ist«, wirft Julian ein. »Hier geht es doch in erster Linie darum, beanspruchte Muskeln zu lockern. Kein Mensch will hier stundenlang in nobler Umgebung schwitzen und relaxen.«

»Genau. In meinem Studio steht das Training an erster Stelle«, stimmt Bille ihm erneut zu.

»Ich dachte immer, Sie legen Wert darauf, sich von der Masse abzuheben. Steht das Graffiti nicht für Exklusivität?«, kontert Frau Kaspari.

An der spitzfindigen Argumentation erkenne ich, wie genervt sie mittlerweile ist. Bestimmt schießen ihre top geschminkten Augen gerade Giftpfeile auf Bille ab. Und auf Julian, der für mich gerade zum Held der Stunde wird.

»Luxus ist käuflich. Den kann jeder bieten, der Geld hat. Unser Studio zeichnet sich durch andere Dinge aus. Zum Beispiel dadurch, dass wir immer für die Wünsche und Nöte unsere Kunden da sind, und das mit höchster Kompetenz«, kontert Bille so diplomatisch, dass ich vor Stolz auf meine Patentante eine Gänsehaut bekomme. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Frau Kaspari. Ich bin mit Ihrer Arbeit überaus zufrieden. Den Saunabereich haben Sie toll hinbekommen. Nur als verantwortungsvoller Unternehmer muss ich die Zahlen im Auge behalten.«

»Keine Frage. Das geht jedem Selbständigen so«, lenkt Frau Kaspari mit kiebigem Unterton ein. »Dann belassen wir es also bei den Ausführungen, die ich Ihnen im Katalog gezeigt habe.«

In der kurzen Pause, in der sie vermutlich die Bestellung ins Laptop eingibt, weiche ich vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. Zum Glück, denn keine zwei Sekunden später düdelt Billes Handy los. Gleich darauf schwingt die Tür auf, und sie eilt an mir vorbei zur Anmeldung. Vor Verlegenheit winke ich mit dem Schlüsselbund. »Den hat Julian drüben verloren.« Doch sie ist so in ihr Telefonat vertieft, dass sie kaum wahrnimmt, wie ertappt ich mich fühle.

Als ich den Ruheraum betrete, bekomme ich gerade noch mit, wie Frau Kaspari ihr Laptop wegpackt, während sie Julian, der ihr den Rollkoffer abnimmt und auf den Boden stellt, wie Luft behandelt. Na ja, verstehen kann ich sie schon. Immerhin hat er ihr gerade einen lukrativen Auftrag vermasselt. Was ich nur merkwürdig finde, ist die Frage, die sie ihm verdeckt zuraunt, als ich näherkomme. Es klang wie: »Was sollte das denn gerade?« Beschwören könnte ich es aber nicht.

Nach einem Blick aufs Handy verabschiedet sie sich von mir, reserviert wie immer, mit einem knappen Tschüss. Julian schneidet noch schlechter ab. Ihm wirft sie nur einen kurzen, undefinierbaren Blick zu. Dann klackert sie mit ihrem Köfferchen an den Umkleideräumen vorbei zum Studioausgang.

»Schau mal, was ich gefunden habe.«

Immer noch irritiert von der Szene vorher reiche ich ihm den Schlüsselbund. Verdutzt tastet Julian die Seiten seiner Sporthose ab, dann strahlt er mich an.

»Danke«, murmelt er erleichtert, während er das Fundstück in der Tasche verschwinden lässt. »Damit hast du meinen Tag gerettet.«

»Hübscher Anhänger übrigens«, lobe ich den daumengroßen, kunstvoll gearbeiteten Holzfisch an seinem Bund.

Statt zu lächeln, wie ich es eigentlich erwartet hätte, verzieht er den Mund.

»Schwimmer bekommen halt Delfine geschenkt und keine Katzen oder Eulen.«

Bis zum Dienstende drehe ich noch meine übliche Runde von den Crosstrainern über die Beinpressen und Zugapparaten bis zum Mattenbereich mit den Spiegelwänden.

---ENDE DER LESEPROBE---