Liebe, Drugs und Neopren - Ulla B. Müller - E-Book

Liebe, Drugs und Neopren E-Book

Ulla B. Müller

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Beschreibung

Tief verliebt! Sich frisch zu verlieben wäre kein Problem für Louisa, wenn es nur nicht der attraktive Taucher aus ihren Träumen sein müsste. Bevor sie ihn in den Untiefen der Liebe aufspüren kann, muss sie unbedingt etwas an ihrem Kontostand und ihrer Figur tun. Unglücklicherweise entpuppt sich ihr neuer Job in der Nahrungsergänzungsmittel-Firma als Intrigensumpf, und das Fitnessarmband, mit dem die Pfunde beim Schrittezählen nur so purzeln sollen, raubt ihr den letzten Nerv. Ihre einzige Rettung ist der stets gut gelaunte Tauchlehrer. Von dem könnten sich ihre Kollegen eine Scheibe abschneiden, vor allem der attraktive Laborleiter. Aber darf man über jemanden herziehen, der einem dauernd aus der Klemme hilft? Wenn der charmante Kerl doch nur etwas mehr Kampfgeist hätte! Stattdessen zieht er Bahnen im Hallenbad. Von ihrem Traummann ist er ja so was von entfernt!

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Die Autorin

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Schlussworte von Ulla B. Müller

Weitere Romane von Ulla B. Müller mit Leseprobe

Weitere Romane von Ulla B. Müller

Inhaltsverzeichnis

Ulla B. Müller

Liebe, Drugs und Neopren

Roman

Das Buch

Sich frisch zu verlieben wäre kein Problem für Louisa, wenn es nur nicht der attraktive Taucher aus ihren Träumen sein müsste. Bevor sie ihn in den Untiefen der Liebe aufspüren kann, muss sie unbedingt etwas an ihrem Kontostand und ihrer Figur tun. Unglücklicherweise entpuppt sich ihr neuer Job in der Nahrungsergänzungsmittel-Firma als Intrigensumpf, und das Fitnessarmband, mit dem die Pfunde beim Schrittezählen nur so purzeln sollen, raubt ihr den letzten Nerv. Ihre einzige Rettung ist der stets gut gelaunte Tauchlehrer. Von dem könnten sich ihre Kollegen eine Scheibe abschneiden, vor allem der attraktive Laborleiter. Aber darf man über jemanden herziehen, der einem dauernd aus der Klemme hilft? Wenn der charmante Kerl doch nur etwas mehr Kampfgeist hätte! Stattdessen zieht er Bahnen im Hallenbad. Von ihrem Traummann ist er ja so was von entfernt!

Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel „Nett Working“.

Die Autorin

Ulla B. Müller schreibt moderne Liebesgeschichten, die auch die unangenehmen Dinge im Berufs- und Privatleben nicht auslassen. Bewegung ist für sie als ehemalige Physiotherapeutin ein wichtiges Thema. Deshalb haben viele ihrer Romane mit Fitness, aktuellen Trends und Lifestyle-Dingen zu tun. Ganz besonders liebt sie Romanhelden, die streiten und verzeihen können, die manchmal schwierig sind und ihr Herz dennoch am rechten Fleck haben.

Das Schreiben begleitete Ulla B. Müller schon immer. Erst waren es amüsante Kurzgeschichten, mit denen sie erfolgreich an Wettbewerben teilnahm, dann folgte ihr erster Roman für Leserinnen, die gern etwas mit Herz und Humor lesen. Mit dem sportlichen Liebesroman „Mobbic Walking“ ist ihr spontan der Sprung in die Amazon-Bestsellerlisten gelungen.

Mit ihrem Mann lebt sie zwischen Köln und Düsseldorf, einen Steinwurf vom wunderschönen Rhein entfernt.

Impressum

© 2017 Ulla B. Müller

Alle Rechte vorbehalten.

Am Mühlenhof 1

40789 Monheim am Rhein

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Barbara Frank

Satz, Layout und Coverlayout: Dr. Werner Müller

Coverelemente: Rolau Elena/Shutterstock.com, Tomasz Trojanowski/Shutterstock.com, GG Studios Austria/Shutterstock.com

Kapitel 1

Wow! Unglaublich! Louisa bekam eine Gänsehaut. Noch nie hatte sie so ein riesiges Exemplar gesehen. Diese Länge! Diese elementare Kraft, die die Muskeln unter seiner samtigen Hülle vermuten ließen! Einfach atemberaubend!

Am liebsten hätte sie den Arm ausgestreckt, um es zu berühren. Doch bevor sie diesen Schritt wagen konnte, musste sie wissen, wie Jacques dazu stand. Sie drehte den Kopf zu ihm und zeigte mit einem fragenden Nicken auf den Giganten.

Der hagere Taucher wusste, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dieses Wunderwerk der Schöpfung zu berühren. Zu ihrem Erstaunen gab er ihr ein klares Stoppzeichen. Danach bewegte er die Hand waagerecht auf und ab. Im gleichen Atemzug deutete er auf Pierre, den Kameramann, der sich vorsichtig rückwärtsbewegte. Louisa hatte verstanden. Sie reduzierte die Schwimmbewegungen ihrer Arme und Beine auf ein Minimum.

Jacques Cousteau, die beiden Männer der Calypso und sie konnten ihr Glück kaum fassen. Sie waren in diesem Augenblick so dicht an dem riesigen Walhai, dass es viel zu riskant gewesen wäre, ihn durch eine Berührung zu erschrecken. Mit einem Schlag seiner riesigen Antriebsflosse hätte er die Taucher in Lebensgefahr gebracht.

Zu schwebenden Neoprenpuppen erstarrt verfolgte die Gruppe das langsame Weiterziehen des imposanten Tieres. Als es hinter einem Makrelenschwarm verschwunden war, deutete Louisa dem Leiter der Expedition per Handzeichen an, wie fasziniert sie von dem Ereignis war. Jacques nickte ihr verständnisvoll zu. Im nächsten Moment wies er in die Richtung, in die der Tauchgang fortgesetzt werden sollte.

Von gleichmäßigen Flossenschlägen angetrieben glitt Louisa hinter den anderen durch das warme Wasser des Riffs. Ruhig und monoton atmete sie durch die Maske ein und aus. Das sanfte Blubbern der Luftblasen, die aus dem Mundstück ihres Atemgeräts zur Wasseroberfläche perlten, wirkte beruhigend, fast hypnotisch. Sonnenstrahlen fielen durch das kristallklare Wasser und ließen den Sandboden zwischen den Korallenbänken und den umherquirlenden Fischen hell und überdeutlich aufleuchten. Wie in Trance sog Louisa die phantastischen Farben und Formen dieser Wunderwelt in sich auf. Herrlich, diese Schwerelosigkeit! Wie ein winziges, unbedeutendes Etwas schwebte sie in der unfassbaren Weite des Ozeans dahin.

Mit einem Mal hielt sie in der Abwärtsbewegung inne und betrachtete fasziniert einen Schwarm weiß gebänderter Clownfische, die im wogenden Wasser eine Seeanemone umschwirrten. Als sie über die Riffkante hinwegschwamm, tat sich ein Abgrund auf, der so tief war, dass sie den Boden nur schemenhaft erkennen konnte. Finster war es dort unten, aber Angst hatte sie keine. Mit geschmeidigen Beinschlägen paddelte sie gemeinsam mit den anderen tiefer und tiefer, die Arme dicht an den Körper gelegt.

Da! Was war das? Aus weiter Ferne drang ein dumpfes Alarmsignal an ihre Ohren. Beunruhigt stoppte Louisa ihre Beinbewegungen und lauschte. Kam das Geräusch etwa von ihrem Atemgerät? Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, nicht mehr tief genug durchatmen zu können. Panik breitete sich in ihr aus. Während sie immer angestrengter nach Luft rang, versuchte sie die Quelle des Geräuschs auszumachen, das nun grässlich laut und ganz dicht an ihrem Kopf losschrillte. Mein Gott, sie bekam nicht genug Sauerstoff! Für ein zügiges Auftauchen war sie bereits viel zu tief. Gleich würde sie ohnmächtig werden und leblos in die Tiefe sinken. Am liebsten hätte sie um Hilfe geschrien, aber mit einer Tauchermaske auf dem Gesicht? Und wo war plötzlich der Rest der Gruppe?

Beim nächsten Losschrillen des Alarms riss Louisa die Augen auf. Für eine Sekunde starrte sie schwer atmend ins Schwarze. Dann begann sie so wild mit Armen und Beinen zu rudern, dass ihre … Bettdecke im hohen Bogen auf den Boden segelte. Sie war gerettet! Befreit aufatmend starrte sie erst zur Zimmerdecke, dann auf den Wecker, der statt der Alarmintervalle nun einen nervigen Dauerton von sich gab. Warum mussten ihre schönsten Träume nur immer so ernüchternd enden? Kein sanftes Auftauchen, kein Boot, das an der vereinbarten Stelle auf sie wartete und kein Froschmann, der sie zärtlich in seine starken Arme schloss!

Kaum hatte sie den Wecker zum Schweigen gebracht, fuhr ihr der nächste Schreck in die Glieder. Es war bereits kurz vor halb acht. Ganze zweiunddreißig Minuten blieben ihr, um sich frisch zu machen, adrett anzuziehen, fünf Kilometer durch den dichtesten Berufsverkehr der Innenstadt zu preschen und die hundert Meter vom Parkplatz bis zu ihrem neuen Arbeitsplatz in Rekordzeit zurückzulegen. Und das nicht, wie vor kurzem noch, in bequemen weißen Jeans, Klinik-Kasack und Reformhaus-Sandaletten, sondern im schicken, engen Rock mit Bluse und Pumps. In ihrem alten Job in der Privatklinik am Schloss wäre es kein Problem gewesen, ein paar Minuten zu spät zu kommen. Da hatte man morgens eine halbe Stunde Gleitzeit zur Verfügung. Doch seit genau zwei Tagen war sie keine unterbezahlte, teilzeitbeschäftigte medizinisch-technische Assistentin mehr, sondern eine vollzeitbeschäftigte Schnittstelle. So jedenfalls hatte ihr Frederic Marlow die Stelle beim Einstellungsgespräch beschrieben. Dabei vertraute er ihr auch seine Erleichterung an, als er beim Durchsehen der unzähligen Bewerbungen auf sie gestoßen war. Auf ihren erstaunten Blick hin hatte er versichert, dass nur sie die passenden Fähigkeiten mitbrächte.

„Ihre Aufgabe, Frau Paulus, ist es ab jetzt, unser Labor und die Produktion informationstechnisch mit der Unternehmensleitung, also mit mir, zu verbinden. Der heiße Draht sozusagen.“ Für die ungewollte Zweideutigkeit seiner letzten Worte entschuldigte er sich sofort: „Bitte, nicht falsch verstehen!“

Während sich Louisa von einer roten Ampel zur nächsten vorarbeitete, dachte sie abermals über den seltsamen Verlauf des Einstellungsgesprächs nach, und wieder wurde ihr ganz flau im Magen. Nicht, weil ihr neuer Vorgesetzter so attraktiv und zuvorkommend war. Es lag eher an ihrer leichten Verunsicherung, die ihn dazu veranlasst hatte, ihr Mut zu machen.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Paulus“, hatte er ihr zugeraunt. „Das kriegen wir schon hin.“ Das väterliche Wir in seinem verbalen Rettungspaket hatte dann langsam ihre Schreckstarre gelöst.

„Verwaltungsarbeit ist zwar absolutes Neuland für mich, aber ich versichere Ihnen, dass ich mich schnell und gewissenhaft einarbeiten werde“, hatte sie mit geröteten Wangen bekundet. So eine Chance bekam man schließlich nur einmal! Auf keinen Fall durfte sie den Eindruck erwecken, sie könnte mit ihrer zukünftigen Arbeit überfordert sein.

„Ich werde Ihnen die anfallenden Aufgaben bis ins Detail erklären. Außerdem können Sie jeder Zeit Herrn Dr. Urdenbach, unseren Laborleiter, fragen, wenn Ihnen etwas unklar ist. Und dann warten wir einfach mal ab, wie Sie zurechtkommen.“

„Danke. Das ist wirklich sehr nett von Ihnen“, war Louisas betretene Antwort gewesen. Bei dem Wort zurechtkommen hatte sie sofort das große, unausgesprochene Fragezeichen in seinem Blick gesehen. Schon klar, ein geschmeidiger Einstieg sah anders aus!

Umso erstaunter war sie über Marlows wohlwollendes Nicken gewesen, bei dem er einen Zipfel seines Oberlippenbarts mit den Fingern zwirbelte.

Für längeres Haar in männlichen Gesichtern hatte Louisa eigentlich nicht viel übrig. Dennoch musste sie zugeben, dass der extravagante Schnäuzer dem stämmigen Mann guttat. Er gab ihm etwas Nobles und lenkte von den kindlich kleinen Ohren ab. Sein akkurater Kurzhaarschnitt wirkte dagegen so einfallslos wie der eines Bundeswehrrekruten. Louisa schätzte ihren neuen Chef auf Ende dreißig. Mit dem hellen Seidentuch in der Brusttasche seines Anzugs hätte er gut in ihrer Lieblingsfernsehserie mitwirken können. Die männlichen Hauptdarsteller spielten darin überwiegend reiche, gutaussehende Aristokraten. Als Regisseurin hätte sie ihm allerdings die Rolle des intriganten Gegenspielers verpasst. Aus welchem Grund, konnte sie gar nicht genau sagen. Wahrscheinlich hatte es mit weiblicher Intuition zu tun, dass sie gleich bei der ersten Begegnung nach dem Haar in der Suppe suchte. Vielleicht lag es auch daran, dass ihr Frederic Marlow einfach einen Deut zu nett und zu hilfsbereit war.

Vor zehn Jahren, als sie gerade mit ihrer Ausbildung fertig war, hätte sie einen Vorgesetzten wie ihn vermutlich vergöttert oder sich gar in ihn verliebt. Doch während ihrer Berufsjahre in unterschiedlichen Kliniklaboren hatte sie gelernt, bei auffallend netten Männern in diesen Positionen Vorsicht walten zu lassen. Nicht ganz unschuldig waren natürlich auch die beiden gescheiterten Beziehungen, die ihre Einstellung zum anderen Geschlecht Mal zu Mal verändert hatten. Auch wenn sie durch die Streitereien, Enttäuschungen und Eiszeiten auf bittere Weise gereift war, dachte sie mit Wehmut an die Zeiten der Zweisamkeit zurück. Lediglich ihrer letzten Beziehung trauerte sie absolut nicht nach. Raimund, der smarte Assistenzarzt in der Klinik, in der sie bis vor kurzem noch beschäftigt war, hatte sich am Ende als menschlicher Blindgänger entpuppt. Nie hätte sie gedacht, dass dieser Mann, dem sie sich so nahe gefühlt hatte, so dreist sein konnte, gleich zwei andere Beziehungen parallel zu führen, und das über Monate. Okay, das ernüchternde Thema war abgehakt! Lehrgeld musste halt jeder mal zahlen, und welche Frau kam bis zum zweiunddreißigsten Geburtstag schon ohne Schrammen auf der Seele davon?

Als sie endlich den Firmenparkplatz erreicht hatte und aus ihrem Wagen ausstieg, vibrierte das Handy in ihrer Tasche. Louisa fischte es während des Gehens heraus und las die seltsame Nachricht ihrer Freundin.

Ich hab schon dreitausend, und du?

Erst hatte sie keinen Schimmer, was Betty ihr damit sagen wollte. Dann rollte sie lächelnd mit den Augen. Für eine präzise Antwort brauchte sie nur auf das nagelneue Fitnessarmband an ihrem linken Handgelenk zu schauen. Beim Ablesen der Zahl, die ihr auf dem schmalen Display entgegenleuchtete, weiteten sich ungläubig ihre Augen. Sie war niedriger als das Alter ihrer Großmutter.

Okay, okay! Als Betty ihr am vergangenen Wochenende das schlichte dunkelblaue Armband zum Geburtstag überreicht hatte, war sie noch völlig überzeugt gewesen, dass sie in ihrem neuen Bürojob keine Mühe haben würde, die empfohlenen achttausend Schritte am Tag zu schaffen.

„Das ist der Mindestwert, um fitter und vor allem leichter zu werden“, hatte ihre Freundin wie die Moderatorin einer Gesundheitssendung im Fernsehen erklärt. Der Wink mit dem Zaunpfahl war Louisa erst bitter aufgestoßen. Es war schließlich ihr Geburtstag. Einen Augenblick später hatte sie ihrer sportbegeisterten Freundin jedoch ergeben zugenickt. Der fleischfarbene Schwimmring, der sich bei ihr nach der Trennung von Raimund klammheimlich in Taillenhöhe gebildet hatte, musste bis zum Beginn der Badesaison unbedingt verschwinden. Eigentlich noch eher, wenn Louisa an die Verwirklichung ihres Traumziels dachte.

Aber selbst für hundert Schritte mehr hätte sie an diesem Morgen zwanzig Mal vom Badezimmer zum Balkon rennen müssen. Und auch die vier Treppen à fünfzehn Stufen und die acht Meter bis zum Straßenrand, an dem ihr Wagen stand, hätten es nicht gebracht. „Dadurch wäre nicht der Kohl fett geworden, sondern du selbst“, meckerte sie vor sich hin und beäugte widerwillig die kleine Rolle über ihrem Rockbund. Kurz vor dem Firmeneingang tippte sie ihre Antwort ein.

Bin leider erst bei neunzig. Aber bei unserem Walking-Treff heute Abend schaffe ich meinen ersten Achttausender. Garantiert!

Sorry! Wollte dich nur ein bisschen schocken, kam es prompt zurück. Bin schon seit fünf auf den Beinen. Mit Frühdienst knacke ich heute locker die zehntausend!

„Als Krankenpflegerin ist das ja auch keine Kunst“, schnaubte Louisa verächtlich vor sich hin, während sie auf der Treppe zum Direktionstrakt gleich zwei Stufen auf einmal nahm. Drei Minuten vor acht klopfte sie völlig aus der Puste an die Bürotür ihres neuen Arbeitgebers. Nach seinem ungehaltenen „Ja, bitte!“ öffnete sie die Tür und ging ihm lächelnd entgegen.

„Guten Morgen, Herr Marlow. Wir waren für acht Uhr verabredet. Sie wollen mir heute das Labor zeigen und die Mitarbeiter vorstellen.“

Der Leiter des Unternehmens sprang sofort auf Louisa zu und begrüßte sie mit Handschlag. Im Gegensatz zu den Tagen davor machte er einen gestressten Eindruck.

„Den Rundgang durch das Labor müssen wir leider verschieben. Ich habe gar nicht bedacht, dass Dr. Urdenbach, der Leiter unserer orthomolekularen Forschungsabteilung, erst morgen wieder da ist. Außerdem muss er dann selbst jemand Neues einarbeiten.“ Um seiner nächste Aussage mehr Gewicht zu geben, streckte er kurz den Zeigefinger hoch. „Genau genommen handelt es sich um eine Studentin, die ihre Masterarbeit unter seiner Obhut anfertigen will.“

Louisa zwang sich, nicht zu verwundert dreinzuschauen. Was war so besonders an einer Frau als Labormitarbeiterin, noch dazu, wenn es um eine Studentin ging, die noch gar nicht fertig ausgebildet war?

Herr Marlow bat sie, auf dem Stuhl vor dem wuchtigen Mahagoni-Schreibtisch Platz zu nehmen und setzte sich ebenfalls.

Während er kurz auf seinem Laptop abwärtsscrollte, blickte sich Louisa unauffällig im Zimmer um. Als Erstes fiel ihr die Bücherwand auf, die fast die gesamte Fläche gegenüber der Fensterfront einnahm. Das riesige Bild mit der schroffen Küstenlandschaft an der Wand hinter seinem Chefsessel wirkte dagegen regelrecht erholsam. Die Norwegen-Fähnchen rechts und links daneben fand sie allerdings reichlich kitschig. Dann blieb ihr Blick an dem murmeltiergroßen, haarigen Troll hängen, der sie über seine lange rotgefrorene Nase hinweg anstierte. Einen anderen Begriff als widerlich fiel ihr dafür nicht ein.

Unbeeindruckt von ihrem leicht befremdeten Gesichtsausdruck fuhr Herr Marlow fort: „Ich bin ganz froh, dass wir diesen jungen, dynamischen Uni-Absolventen die Möglichkeit zum Experimentieren geben können. Den einen oder anderen konnten wir sogar gewinnen, nach dem Studium für Blifrisk zu arbeiten. Solche Leute zu binden, ist für ein Unternehmen essentiell.“ Er warf Louisa einen stolzen Blick zu. „Und noch ein Aspekt ist mir dabei sehr wichtig. Ich bin bemüht, die Anzahl der beschäftigten Frauen im Betrieb zu steigern. Unsere Quote ist gelinde ausgedrückt blamabel.“ Er sah Louisa an, dass sie in Gedanken nach einer Erklärung suchte. Um falschen Vermutungen zuvorzukommen, ergänzte er mit betretener Miene: „Das ist noch ein Relikt aus der Zeit, als mein Vater das Unternehmen führte. Er ist vor einem Jahr überraschend an einem Herzinfarkt verstorben.“

Louisa drückte ihm ihr Beileid aus. Insgeheim jedoch betete sie dafür, dass die verkrustete Einstellung des Seniors nicht im Genpool der Familie verankert war.

„Auf manchen Gebieten ist es bestimmt schwer, geeignete weibliche Bewerber zu finden“, räumte sie mitfühlend ein.

Er nickte vehement.

„Äußerst schwer.“

Herr Marlows zerknirschter Gesichtsausdruck kam ihr trotzdem reichlich übertrieben vor. Als moderner Unternehmensleiter musste er den Anforderungen der Zeit Folge leisten. Er konnte Begriffe wie Frauenquote und Gender nicht übergehen. Es waren heiße politische Eisen und kaum gleichzusetzen mit einer Debatte über das Für und Wider zusätzlicher Mitarbeiterparkplätze. Louisa spürte intuitiv, dass es in diesem Unternehmen genau beim Thema Frauen hakte, und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Aber warum sollte ausgerechnet Herr Marlow anders ticken als ihre ehemaligen Arbeitgeber? In Kliniken gab es zwar seit jeher mehr Frauen als Männer, aber die verantwortlichen Stellen, also die Kassen, Chefärzte und Direktoren, unternahmen alles, um sich nicht übermäßig mit den Belangen ihrer weiblichen Angestellten beschäftigen zu müssen. Schließlich gab es Wichtigeres.

Herr Marlow war von Louisas Verständnis angetan.

„Ich sehe schon, Sie haben einen Blick für die Schwierigkeiten, mit denen ich in dieser Branche zu kämpfen habe. Biochemie ist halt immer noch eine Männerdomäne, auch wenn wir ausschließlich für den modernen Lifestyle-Markt produzieren, dessen Kundschaft überwiegend aus Frauen besteht.“

Louisa hörte aufmerksam zu, als er ihr in einem unaufhörlichen Fachwörterstrom die Herstellung und die Wirkweise der Vitaminpillen erklärte, die seine Firma herstellte.

„Auf keinen Fall darf man unsere Produkte mit Medikamenten gleichsetzen“, betonte er. „Alle Blifrisk-Vitaminmischungen sind lediglich Ergänzungen zur normalen Ernährung, wenn auch sehr sinnvolle und nützliche. Aber leider reagiert Otto-Normalverbraucher auf dem Gesundheitssektor immer noch wie vor fünfzig Jahren. Bei Herstellernamen, die er nicht kennt, bleibt er skeptisch. Die akzeptiert er nur, wenn ihm der Apotheker seines Vertrauens das Produkt empfiehlt.“

Louisa konnte sich das gut vorstellen. Gravierend anders als der banale Durchschnittsbürger tickte sie schließlich auch nicht.

„Glaubt nicht jeder, dass Vitamine aus der Apotheke wirkungsvoller sind als die vom Discounter, auch wenn die Menge und die Inhaltsstoffe gleich sind?“ Auch sie hatte sich aus diesem Grund schon mit Apotheken-Vitaminen eingedeckt, je nachdem, in welcher Gemüts-, Gewichts- oder Beziehungslage sie sich gerade befand. Aber im Gegensatz zum Otto-Normal-Vitamineschlucker bemühte sie sich stets, den ermüdend langen Beipackzettel durchzuarbeiten. Viel zu groß war ihre Angst vor unerwünschten Nebenwirkungen wie Wassereinlagerungen, Juckreiz oder Haarausfall. Dass das Zeug schweineteuer war, nahm sie bei jedem Kauf zähneknirschend hin.

„Ja, das ist genau der Zwiespalt. Einerseits scheuen die Kunden die Apothekenpreise, auch wenn sie dort gut beraten werden. Andererseits trauen sie billigeren Produkten nichts zu“, bemängelte Herr Marlow und formte mit aufgestützten Ellenbogen eine Merkelraute vor seinem Mund. „Trotzdem bin ich froh, dass wir die ortsansässigen Apotheker allmählich dazu bekommen, unsere Produkte in ihr Sortiment aufzunehmen. Der Verkauf über diese Schiene bringt einen immensen Imagegewinn. Die übrigen Vertriebsstätten, also die Fitnessstudios und Gesundheitszentren, sind hart umkämpfte Märkte. Da wird von den Vitalstoffherstellern mit allen Tricks gearbeitet, um ein Stück vom Kuchen zu erobern.“

„Woher kommt eigentlich der Name Blifrisk?“, wollte Louisa wissen und hatte damit unbeabsichtigt Herrn Marlows Lieblingsthema angesprochen.

Sein Gesicht strahlte, als er zur Erklärung ausholte.

„Tja, diesen Firmennamen gibt es erst, seitdem ich die Leitung übernommen habe.“

„Dann haben Sie ihn kreiert?“, schloss Louisa und hob erstaunt die Augenbrauen.

Er nickte stolz.

„Ja. Ich bin darauf gekommen, als ich mir den Film meines letzten Norwegenaufenthalts angesehen habe. Die glasklaren Fjorde und die Berge mit den Gletschern sind einfach wahnsinnig beeindruckend!“, schwärmte er mit glänzendem Blick, bevor er wieder auf Louisas Frage zurückkam. „Der Name setzt sich zusammen aus dem norwegischen Verb bli, was so viel wie werden oder bleiben bedeutet, und dem Adjektiv frisk, das mit dem deutschen gesund gleichgesetzt werden kann. Blifrisk steht also im übertragenen Sinn für fit werden und gesund bleiben.“

„Einen treffenderen Namen hätten Sie Ihrem Unternehmen nicht geben können“, meinte Louisa anerkennend. Auch Menschen wie er konnten schließlich ab und zu ein Lob gebrauchen.

Ihre Worte zauberten ein beschämtes Lächeln auf das Gesicht des Firmenchefs.

„Waren Sie schon mal in Norwegen, Frau Paulus?“

Louisa überlegte kurz. Auf keinen Fall durfte sie ihm preisgeben, dass sie absolut nicht zu den Menschen gehörte, die eine Reise mit dem Postschiff zum Nordkap als das Highlight ihres Lebens bezeichnen. Nie würde sie verstehen, wie man sich für nebelverhangene Fjorde, menschenfeindliche Natur und einen verregneten Hochsommer begeistern konnte, der höchstens zwei Wochen dauerte. Ihr Traumziel war das Rote Meer, auch wenn sie es aus finanziellen Gründen noch nicht bis dorthin geschafft hatte. Sie liebte die Sonne und ganz besonders das Meer mit dem kristallklaren, badewannenwarmen Wasser und seiner unendlichen Fülle an Lebewesen. Außerdem wusste sie schon genau, wohin es in ihrem nächsten Urlaub gehen sollte. Vorausgesetzt, sie würde die Probezeit bei Blifrisk erfolgreich überstehen.

„Nein, bisher hat es mich immer in den Süden gezogen. Aber ich habe gehört, dass es in den Fjorden eine atemberaubende Unterwasserwelt geben soll.“

Gerade wollte er zu einer ausführlichen Erläuterung ansetzen, da meldete sich sein Telefon.

„Hallo, Weltenbummler! Ich hatte schon Angst, du würdest deinen Urlaub auf ein Sabbatical ausdehnen. Danke übrigens für deinen Rückruf. Es gibt da eine dringende Sache, die ich mit dir bereden müsste. Aber warte mal kurz!“ Er legte kurz die Hand auf den Hörer und deutete Louisa an, dass das Telefonat länger dauern würde. „Ich lass Ihnen mal Bildmaterial über Norwegen zukommen“, ergänzte er mit hoch gerecktem Kopf und hob zum Abschied kurz seine Hand.

„Super, danke. Sehr nett von Ihnen“, antwortete Louisa schon halb an der Tür. Auf dem Flur schnaufte sie erst einmal erleichtert durch, bevor sie sich zu ihrem Büro begab, das zwei Türen weiter lag. Über zukünftige Urlaubsziele plauschte sie sonst nur mit ihrer besten Freundin, und das war bei Gott nicht so anstrengend!

„Danke, Weltenbummler, wer immer du auch bist“, seufzte sie leise und warf dem unbekannten Anrufer in Gedanken eine Kusshand zu.

Den Rest des Vormittags verbrachte sie damit, sich in die beiden Ordner einzulesen, die Marlow ihr am ersten Vorstellungstag in die Hand gedrückt hatte. Neben der Historie des Familienunternehmens fand sie darin alle Angaben über die wichtigsten Zulieferer und Abnehmer. Den umfangreichsten Teil nahm allerdings die Herstellung der unterschiedlichen Vitalstoffmischungen ein.

Als kleine Gedächtnisstütze wollte sich Louisa auf ihrem Privatrechner eine Datei mit Notizen zu sämtlichen Kollegen und Führungspersonen anlegen, mit denen sie ab jetzt zu tun haben würde. Von dieser Methode hatte sie früher schon profitiert, wenn es darum ging, sich in neue Arbeitsverfahren oder Abteilungen einzuarbeiten. Oft waren die Vorgesetzten und Kollegen verblüfft, wenn sie über Details Bescheid wusste, die vorher nur angerissen worden waren. In der Schule war das Lernen von zehn Vokabeln am Stück ein absolutes No-Go für sie gewesen, aber außergewöhnliche Merkmale, Bezeichnungen oder Attribute speicherte ihr Kopf wie ein Mega-Rechner ab. Diese Fähigkeit hatte allerdings auch ihre Schattenseiten. Als sie kürzlich von einer ehemaligen Schulfreundin überschwänglich begrüßt wurde, erinnerte sich Louisa sofort an den Pfuschzettel mit den chemischen Formeln, den ihr das Herzchen unbemerkt ins Heft geschoben hatte, als es ans Einsammeln ging. Um den Bestechungsvorwurf zu entkräften, fehlten ihr damals leider die passenden Argumente. Und ihr letzter Freund konnte ihr auch nicht weismachen, den Namen der Bar nicht zu kennen, von der die Quittung in seiner Hosentasche stammte. Als Louisa ihn emotionslos daran erinnerte, dass er sich dort von seiner Ex-Freundin getrennt hatte, war er mit Schnappatmung gegangen.

Gegen eins fand sie sich in der Kantine ein, die in einem Seitenflügel des Verwaltungsgebäudes untergebracht war. Als sie an den voll besetzten Tischen vorbei zur Essensausgabe schlenderte, spürte sie die Blicke, die ihr die neuen Kollegen teils neugierig, teils abschätzend zuwarfen. Sie lud einen großen Salatteller und eine mit Früchten garnierte Quarkspeise auf ihr Tablett und steuerte auf das einzige Tischende zu, an dem nur eine robust wirkende Mittfünfzigerin saß, die mit dem Blick auf ihr Handy gerichtet Gemüseeintopf löffelte.

„Darf ich?“, fragte Louisa höflich an.

„Klar, gern“, kam es wie selbstverständlich zurück und das Handy landete augenblicklich neben dem Suppenteller. Rasch kaute Louisas Tischpartnerin ihren Mund leer, während sie die neue Kollegin mit ihren munteren Augen musterte.

„Ich bin die Edith vom Labor, sozusagen die rechte Hand von Dr. Urdenbach.“ Mit einem derben Händedruck hieß sie Louisa willkommen.

„Louisa Paulus.“ Bei den ersten Worten, mit denen sie ihren Tätigkeitsbereich beschreiben wollte, deutete Edith per Handzeichen an, dass sie bereits im Bilde war.

„Entschuldige, aber der Chef spricht seit Tagen von nichts anderem als der neuen Frauenpower, die dem Betrieb einen innovativen Touch geben soll“, erklärte sie gelangweilt kauend.

Louisa kämpfte mit der riesigen Salatportion, die sie sich aus Versehen in den Mund gesteckt hatte. Als sie den Mund wieder leer hatte, fragte sie: „Wie viele Frauen hat er denn noch eingestellt?“ Sie blinzelte ein paar Mal, denn das Zuviel an Essig hatte ihr Tränen in die Augen getrieben.

„Soviel ich weiß, nur dich.“

„Und das nennt Marlow dann gleich Frauenpower? Was ist denn mit dieser Biochemie-Studentin, die ebenfalls in diesen Tagen angefangen haben soll?“

„Ach, dieses Fräulein Hoppla-jetzt-komm-ich?“ Edith zog ihre Augenbrauen so weit in die Höhe, dass sie unter dem Pony verschwanden, der ihre brünette Prinz-Eisenherz-Frisur vorn komplettierte. Mit einem missbilligenden Blick neigte sie sich zu Louisa vor. „Die ist doch nur hier, um ihre Masterarbeit zu schreiben, was ich im Übrigen auch sehr bezweifele.“

Das Warum lag Louisa schon ganz vorn auf der Zunge. Fest entschlossen presste sie die Lippen zusammen. Sie war für eine qualitativ gute und schnelle Informationsübermittlung eingestellt worden, nicht zur Verbreitung vom Firmentratsch, wies sie sich harsch in die Schranken.

„Ich hab sie noch gar nicht kennengelernt“, lavierte sie sich aus dem Minenfeld.

„Okay, hab schon verstanden.“ Edith lächelte Louisa entschuldigend an. „Ist eigentlich auch nicht meine Art, andere im Betrieb durch den Kakao zu ziehen. Aber diese Frau ist ätzender als hochkonzentrierte Schwefelsäure. Da muss man doch mal Druck ablassen dürfen.“ Trotz ihrer rosigen Wangen wirkte sie verzweifelt. „Weil der Laborchef erst morgen wieder da ist, hat mich Marlow gebeten, ihr die Apparaturen und Messgeräte zu erklären. Wäre ja auch alles kein Problem, wenn sie …“ Sie seufzte schwer.

„Wenn sie was?“, hakte Louisa nun doch nach.

„Wenn sie nicht alles besser wüsste. Ständig gibt sie mir zu verstehen, dass es alles abgelutschte Kamellen sind, von denen ich ihr da erzähle.“

Louisa schnaubte leise als Zeichen ihres Mitgefühls.

„Hast du eine Ahnung, wie dein Vorgesetzter, also dieser Dr. Urdenbach, auf sie reagieren wird?“

Edith brach in so lautes Lachen aus, dass sich ein paar Kollegen von den umliegenden Tischen schlagartig zu ihnen drehten.

„Das ist mein einziger Trost. Wenn der Doc könnte, würde er ihr wahrscheinlich das ständig herausblitzende Hirschgeweih über dem Po mit dem Bunsenbrenner abflämmen.“ Kaum ausgesprochen, verdüsterte sich ihr Gesicht sofort wieder. „Aber wenn man ihm so ein aufgebrezeltes Appetithäppchen vor die Nase hält …“ Resigniert zog sie einen Mundwinkel hoch und kratzte das restliche Gemüse auf ihrem Teller zusammen. „Bei so was ticken doch alle Männer gleich.“

„Du meinst, sie ist so was wie ein Vamp im Laborkittel?“

„Ja, und der ist bis zum Po geschlitzt und lässt vorn so tief blicken, dass man den goldenen Ring an ihrem Bauchnabel erkennen kann.“

Louisas Neugierde hatte nach der blumigen Beschreibung der Kollegin die obere Grenze der Skala erreicht. Und das bezog sich nicht nur auf die Studentin. Auch dieses arme, schwache Männlein, das Edith fast zärtlich Doc nannte, musste sie unbedingt kennenlernen. Automatisch sah sie einen leicht gebeugten, schweinsäugigen Sechzigjährigen mit Metallbrille vor sich, mit blassen, wulstigen Fingern und mehr Haaren in den Ohren als auf dem Kopf. Sicherlich war er mit einer moralisch durch und durch gefestigten Gutmenschin verheiratet, die auf Wohltätigkeitsveranstaltungen Spenden für Außenseitergruppen sammelte. Für Louisa war dieser Dr. Urdenbach der Inbegriff der Harmlosigkeit.

Na ja, wie Louisa ihre Tischnachbarin nach den ersten Minuten des Kennenlernens einschätzte, würde Edith sicherlich etwas finden, an dem sich der Laborvamp die Reißzähne ausbiss. Die kleine, stämmige Frau mit der wetterstabilen Frisur und dem Schalk in den Augen war ihrer Ansicht nach eine gewitzte Kämpfernatur, und das gefiel ihr.

Ein paar Minuten später schafften die beiden Frauen ihre Tabletts zur Geschirrannahme und machten sich auf den Weg zu ihren Arbeitsplätzen.

„Macht’s dir was aus, wenn wir morgen Mittag wieder zusammen essen?“, fragte Louisa, als ihre Begleiterin am Aufzug stehen blieb und auf den Knopf drückte.

Edith schüttelte wohlwollend den Kopf.

„Versteh schon. Du bist scharf auf die Fortsetzung von Twilight – Biss im Morgengrauen, als der Chef zurückkehrte! Beim nächsten Mittagessen serviere ich dir Folge zwei. Bin selbst schon gespannt auf die Reaktion vom Doc, ich meine, von Dr. Urdenbach.“ Um von ihrem verbalen Ausrutscher abzulenken, wies sie auf Louisas linken Arm. „Vielleicht kannst du mir dafür erklären, wie dieses Fitness-Dingsda funktioniert. Ich will mir nämlich auch so einen Spaziergänger-Tacho zulegen. Geht ja nicht mehr weiter so.“ Sie sah an sich hinab und umfasste seufzend die Fleischrolle über ihrem Gürtel.

„Klar, kein Problem“, erwiderte Louisa und wies lachend auf den Aufzug, dessen Tür sich gerade öffnete. „Mit einem Fitness-Tracker wird der aber zum No-Go für dich. Ab dann werden Schritte gezählt und keine Höhenmeter.“

Obwohl die Aufzugkabine längst nicht mehr zu sehen war, hörte Louisa immer noch Ediths kerniges Gelächter.

„Hoffentlich vergeht ihr das Lachen nicht so schnell“, seufzte sie beim Weitergehen. Sie wusste schließlich, wovon sie sprach. Bereits am zweiten Abend nach ihrem Geburtstag, an dem sie und Betty ganz offiziell mit dem digitalen Schrittzählen begonnen hatten, waren Veränderungen an ihrem Körper spürbar geworden, die alles andere als positiv waren. Ihre Gesäßmuskeln hatten sich in den wenigen Gehstunden so schmerzhaft verkrampft, dass das Einsteigen ins Auto eine wahre Folter war. Und statt sich auf der Waage über die ersten hundert Gramm weniger freuen zu können, hatte sie einen solchen Appetit entwickelt, dass sie sich dauernd die Zähne putzte, um sich vom Essen abzuhalten. Dennoch war sie froh, eine Gleichgesinnte gefunden zu haben. Wenn es mit Ediths Fitness-Ambitionen gut anlief, konnten sie sich vielleicht gegenseitig zum Durchhalten animieren. Ihre Freundin Betty war in dieser Beziehung kein brauchbarer Partner.

„Das Schlanke habe ich von meiner Schwiegermutter geerbt“, entschuldigte sie sich jedes Mal mit ernster Miene bei den Neidern. Wenn derjenige oder diejenige dann auch noch beeindruckt nickten, freute sie sich diebisch, dass wieder jemand auf den kindischen Gag hereingefallen war.

Louisa wusste, dass die Erbmasse völliger Unsinn und lediglich ein Produkt ihrer sprudelnden Phantasie war. An dem Tag, als Betty ihren Sohn abgestillt hatte und sich zufällig nackt im Spiegel begegnet war, startete sie ein alles umfassendes Anti-Speck-und-Aging-Programm. Das war nun über sechzehn Jahre her. Inzwischen war aus dem süßen, kleinen Robin ein gutmütiger, leicht pummeliger Computer-Nerd geworden, der sich gegen die Gewichtssticheleien seiner superschlanken Mutter mit entwaffnenden Sprüchen zur Wehr setzte. Das wiederum hatte Betty mehr graue Haare gekostet, als es für das Liebesleben einer alleinerziehenden Zweiundvierzigjährigen zuträglich war.

„Kein Wunder, dass mich keiner will, so grau und ausgemergelt“, hatte sie einmal nach drei Gläsern Wein verzweifelt geschluchzt. Natürlich wurde sie daraufhin von Louisa in den Arm genommen und getröstet. Doch klar war auch, dass der Hase woanders im Pfeffer lag. Die wenigen Verehrer, die Betty in der Zwischenzeit hatte, vertrieb sie mit ihrer angespannten Einstellung zu Figur und Ernährung schneller als sie den Tageskalorienverbrauch auf ihrem Armband ablesen konnte. Dolce Vita und Genuss standen nun einmal nicht auf ihrer Agenda.

„Wenn du jeden Tag Mägen und Därme von innen angucken müsstest, würde dir auch der Appetit vergehen“, konterte sie erbost, wenn Louisa sie mal wieder als lukullische Spaßbremse bezeichnete. Aber Verständnis hatte sie für ihre Freundin allemal, denn die Magen-Darm-Spiegelungen, bei denen Betty ihrem Chef seit Jahren assistierte, konnte man beim besten Willen nicht als ästhetisch bezeichnen.

Auf dem Heimweg am späten Nachmittag war Louisa so guter Dinge, dass sie beschloss, ihrem Traumziel einen Schritt entgegenzugehen. Um sechs war sie mit Betty zum Walken verabredet. Doch bis dahin war noch eine halbe Stunde Zeit, und das örtliche Schwimmbad lag genau auf der Hälfte des Weges.

Sie lenkte ihren Wagen stadtauswärts über ein paar Seitenstraßen zum Parkplatz des Freizeitbads. Von hier aus waren es nur wenige Meter zu dem überdachten Eingangsbereich der Halle. Die Luft über dem asphaltierten Vorplatz hatte sich unter der kräftigen Maisonne so stark aufgeheizt, dass sie leicht flimmerte. Louisa, die von der klimatisierten Luft im Büro und in ihrem Wagen verwöhnt war, traf fast der Schlag, als sie die Tür aufdrückte. Für einen Augenblick hatte sie Mühe, richtig durchzuatmen. Hier im Innenraum herrschte dieselbe Temperatur wie außen, nur dass sich die Hitze mit der Feuchtigkeit aus dem Wasserbereich und der Restaurantluft zu einem fettig schwülen Dunst vermischte. Trotz ihrer luftigen Bluse spürte sie, wie ihre Stirn feucht wurde und Schweiß von der Achselhöhle zum Rockbund hinablief. Merkwürdig! Zu Schulzeiten hatte die Schwimmbadluft noch nach Duschdas und Sonnenöl gerochen und nicht nach Pommes frites und Chlor.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte die blonde Frau am Anmeldetresen. Mit ihrer studiogebräunten Haut, dem aufgestellten Kragen ihres Poloshirts und den dunklen Shorts passte sie eher in den SPA-Bereich eines Hotels auf Mallorca als in eine unspektakuläre, deutsche Badeanstalt.

„Ich hätte gern Informationsmaterial über die Tauchkurse, die hier angeboten werden.“

Schon hatte die Frau den Telefonhörer in der Hand.

„Da muss ich grad mal nachhören, ob jemand von der Tauchschule drüben ist. Einen Moment bitte.“ Sie tippte einige Ziffern ein, dann erhellte sich ihr Gesicht. „Hi, Sascha. Kannst du mal kurz zur Anmeldung kommen? Hier ist jemand, der was über das Tauchen wissen möchte.“

Louisa verzog das Gesicht und blinzelte auf ihre Uhr. Für eine ausführliche Beratung fehlte ihr eigentlich die Zeit. Ein Flyer mit den Übungszeiten und Preisen hätte ihr völlig gereicht. Den hätte sie dann abends bei einem gemütlichen Glas Wein durchgeblättert. Doch weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht, denn plötzlich kam Ryan Gosling auf sie zu, im Körper von David Beckham. Sein strahlendes Lächeln, der federnde Gang und die wild zur Seite geworfenen dunklen Haare, alles hätte wunderbar zu der Promi-Symbiose gepasst, wenn die Tattoos nicht gewesen wären, die seine Arme wie eine Tapete bedeckten. Louisa mochte sich gar nicht vorstellen, wie der Rest dieses gut gebauten Typen aussah. Das blieb zum Glück auch sein Geheimnis. Die Körperteile, die in der Blumenbermuda und dem türkisfarbenen Tanktop steckten, regten Louisas Phantasie dennoch zu wilden Vermutungen an. Das aufgerissene Haifischmaul auf seiner Brust flößte ihr dagegen weniger Ehrfurcht ein als die Narbe, die sich von seinem Haaransatz quer über die rechte Halsseite bis zur Schulter zog.

„Hi, ich bin der Sascha. Ich leite die Tauchschule.“

Obwohl Louisa vom Druck seiner Hand enttäuscht war, fühlte sie sich durch das anerkennende Aufblitzen seiner stahlblauen Augen, nachdem er fast unauffällig ihre Figur gescannt hatte, geschmeichelt. „Louisa Paulus. Ich wollte eigentlich nur ein paar Informationen über das Tauchen. Vielleicht hätten Sie so ein Info-Blättchen mit Preisen und Trainingszeiten für mich.“

Er nickte bedächtig und türmte seine wild gemusterten Arme vor der Brust übereinander. „Finde ich supi, Louisa, dass du dich für diese faszinierende Sportart interessierst. Du hast Glück. Gerade ist nämlich ein Tauchschüler ausgefallen. Er ist vom Fahrrad geflogen und hat sich einen offenen Bruch am Schienenbein zugezogen. Am besten gehen wir rüber ins Diving-Camp hinter dem Nichtschwimmerbecken. Da ist die Base mit dem Unterrichtsraum und dem Tauchequipment.“

Louisa hatte den Eindruck, dass der Herr der Pressluft bereits fest entschlossen war, sie unter seine Fittiche zu nehmen. Oder sagte man in Taucherkreisen eher unter seine Flossen? Abgesehen davon ging ihr das alles viel zu schnell.

„Das klingt ja alles superinteressant, aber fürs Erste würde mir auch irgendwas zum Durchlesen reichen.“

Das charmante Flackern in den meerblauen Augen ihres Gegenübers wich einem sachlich distanzierten Blick.

„Das findest du alles auf der Homepage der Tauchschule.“ Ein wenig resigniert ergänzte er: „Schick mir einfach eine Mail, wenn du mehr wissen willst.“

Dieser Vorschlag war ganz nach Louisas Geschmack.

„Prima, das werde ich tun. Und danke für die Auskunft. Ich melde mich, sobald ich mich informiert habe.“ Um nicht noch einmal einen butterweichen Händedruck zu bekommen, hob sie zum Abschied kurz ihre Hand und entfernte sich Schritt für Schritt in Richtung Ausgang. „Sorry, aber ich muss leider weiter. War nett, Sie kennenzulernen.“ Errötend korrigierte sie sich. „Ähm, ich meine, dich kennenzulernen, Sascha.“

Das kumpelhafte Du aus dem Mund dieses fremden Mannes machte Louisa auf dem Weg zum Parkplatz immer noch zu schaffen. In der Klinik hatte sie sich nur mit den engsten Kollegen geduzt, und bei Blifrisk war Edith bisher die einzige, die sie mit dem Vornamen ansprach, und das war auch gut so. Aber dieser Sascha hatte nichts mit ihrem Beruf zu tun, sondern lediglich mit ihrer Freizeit. Außerdem sah er unverschämt gut aus und wirkte sportlich und kompetent. Warum ärgerte sie sich bloß so darüber? War sie mit zweiunddreißig schon spießig? Zu alt, um diese kumpelhafte Art der Anrede locker wegzustecken? Sie wusste doch, dass es im Sport üblich war, sich zu duzen. Und trotzdem. Bei diesem kurzen Informationsgespräch wäre sie einfach gern gesiezt worden. Etwas mehr Distanz zu diesem Mr. Lifeguard der örtlichen Schwimmbadlagune würde sicherlich nicht schaden.

Mit diesem Entschluss beendete sie den unangenehmen Gedankengang und widmete sich dem Berufsverkehr, der die Fahrt zu Bettys Wohnung zu einem Geduldsspiel machte. Zehn nach sechs eilte sie völlig durchgeschwitzt auf das ältere Mehrfamilienhaus zu, in dem ihre beste Freundin seit ihrer Scheidung vor sechs Jahren mit ihrem Sohn zusammen wohnte. Es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde. Erstaunt blickte Louisa den verstrubbelten Kopf des siebzehnjährigen Robin an. „Hallo, hab ich dich geweckt?“

Er zog einen Mundwinkel hoch und schnaubte lächelnd. „Sehe ich nicht immer so aus?“ Ungeschickt versuchte er Ordnung auf seinem Kopf zu schaffen. „Außerdem zählt, was drin ist, nicht obendrauf.“

„Richtig!“, bestätigte Louisa ihm schmunzelnd. „Und top gestylte Männer werden sowieso überbewertet.“ Sie ging vor ihm durch den Flur ins Wohnzimmer. „Ist deine Mutter noch nicht da? Ich hab mich um sechs mit ihr zum Walken verabredet.“

„Nee, aber warte! Ich glaube, sie ruft gerade an.“ Robin zog sein Handy aus der Hosentasche und drückte auf grün. „Hi, Mum! … Ja, alles klar soweit … Ja, das wollte ich nachher noch machen … Nein, noch nicht … Mach ich gleich.“ Nach einer kurzen Pause, in der er an einem Stück ergeben nickte und mindestens fünf Mal mit den Augen rollte, stöhnte er ins Mikrofon: „Nee, ich dachte, der Müll ist erst morgen … Okay, okay, schon immer mittwochs. Übrigens wartet deine Sparringpartnerin auf dich.“

Louisa amüsierte sich über das Mienenspiel des Halbwüchsigen, das im krassen Gegensatz zu der höflichen, geduldigen Art stand, mit der er seiner Mutter antwortete. Sie wusste, wie sehr ihre Freundin diesen hochintelligenten Knuddelbär liebte. Doch von einer Helikoptermutter, die ihrem Sprössling die Butterbrotdose nachtrug und ihm alles Hinderliche aus dem Weg räumte, war sie weit entfernt. Schon in der Grundschulzeit hatte Robin einen umfangreichen Haushaltsplan abzuarbeiten. Davon verschont blieb er höchstens kurz vor einer Klassenarbeit, oder wenn sich seine Körpertemperatur auf vierzig Grad zubewegte.

„Ja, okay. Sag ich ihr.“ Mit einem Stoßseufzer ließ er das Handy in die Hosentasche zurückgleiten und blickte zu Louisa. „Ich soll dir ausrichten, dass sie es heute nicht schafft. Auf ihrer Station herrscht zurzeit Hochbetrieb. Aber ich soll dir schon mal die App zu deinem Fitness-Armband runterladen und dir erklären, wie das Ding funktioniert.“

Louisa sah den jungen Mann mitleidvoll an. „Deine Mutter kann auch niemanden rumsitzen sehen“, meinte sie mit einem verschmitzten Zwinkern. „Braucht du für dieses Runterladen lange? Ich muss heute Abend nämlich unbedingt noch ein paar Schritte sammeln, sonst bekomme ich Ärger mit ihr.“ Sie untermalte ihre Aussage mit einer verdrießlich verzogenen Oberlippe.

„Nee, das geht ratzfatz.“ Mit cooler Miene nahm er Louisas Handy entgegen und ließ sich in einen der Sessel fallen. „Setz dich doch solange!“, forderte er sie auf, ohne vom Display aufzuschauen.

Bewundernd verfolgte Louisa von der Couch aus seine Finger, die auf der Oberfläche wie fremdgesteuert hin- und herflitzten. Nach wenigen Sekunden reichte er ihr das Handy über den Tisch.

„So, ist drauf. Jetzt kannst du die Werte, die dein Tracker bisher gesammelt hat, als Kurvendiagramm sehen. Ich habe dein Armband über das Pairing-Verfahren mit deinem Handy bekannt gemacht. Ab jetzt sind die beiden immer über Bluetooth koppelbar.“

Louisa verstand nur Bahnhof. Mit verunsicherter Miene rückte sie näher an Robin heran.

„Und jetzt bitte noch mal für Doofe! Ich kann jetzt was?“ Mit höchster Konzentration folgte sie seinen Eingabeschritten, bis auf dem Handy ein Bild erschien, das ein bisschen der DAX-Kurve vor den Zwanzig-Uhr-Nachrichten ähnelte.

„Das hier zum Beispiel ist deine Schlafkurve. Sie ist deshalb noch so kurz, weil du dein Armband erst seit ein paar Tagen trägst“, meinte Robin so beiläufig, als würde er vom Kilometerstand eines neuen Wagens reden. „Man kann genau erkennen, zu welcher Uhrzeit du im Tiefschlaf, oder wie hier“, er tippte auf einen Aufwärtszacken, „hellwach warst. Vielleicht bist du da von einem Albtraum geweckt worden, oder grad mal zur Toilette gegangen oder so.“

Louisas Augen weiteten sich entsetzt. Hoffentlich interpretierte Robin nicht noch mehr in ihre Schlaf- und Wachphasen hinein. Es war ihr schon peinlich genug gewesen, dass er gleich am Geburtstagsabend ihre heikelsten Daten abfragte, um das Fitness-Armband betriebsbereit zu machen. Alter und Größe waren dabei das kleinere Übel. Viel schlimmer fand sie, dass das harmlos wirkende Gerät an ihrem Handgelenk angeblich nur richtig arbeiten konnte, wenn es ihr aktuelles Gewicht mitgeteilt bekam.

„Ich dachte, es geht da hauptsächlich um die Schritte, die man am Tag latscht“, versuchte sie den Sechzehnjährigen durch ihre lässige Wortwahl abzulenken.

Mit einem Wisch zauberte Robin ihre Schrittkurve auf das Display. „Na ja, die sieht ja auch noch reichlich mager aus.“ Vorwitzig grinsend sah er Louisa von der Seite her an. „Man sieht genau, dass du jetzt einen Bürojob machst. Wahrscheinlich auch noch im Erdgeschoss. Der Tracker erkennt nämlich, ob du Treppen läufst. Die rechnet das Programm darin sofort in Schritte um.“

„Richtig unheimlich, was so ein kleines Ding alles kann.“ Ehrfürchtig musterte sie das dunkle Plastikband an ihrem Handgelenk. „Und was die Schritte angeht, da arbeite ich ab jetzt dran“, rechtfertigte sie sich mit mürrischem Gesicht. Gut fand sie es deshalb noch lange nicht, dass ihr neuer digitaler Assistent anscheinend genau mitbekam, wo sie sich gerade befand.

Robin wischte erneut. „Hier siehst du übrigens die Kalorien, die du bisher verbraucht hast.“ Wieder blitzten seine Augen verschmitzt auf. „Nach diesem Wert hast du heute gerade mal ein halbes Käsebrötchen abtrainiert.“

Ungläubig starrte Louisa auf die Grafik. „Kann das nicht auch ein Systemfehler sein?“

„Nee, sorry.“ Mit Mühe verkniff sich Robin das Losprusten. „Diese Minirechner arbeiten schon ziemlich präzise.“ Er spürte genau, dass er jetzt dringend etwas Positives anbringen musste, damit die Freundin seiner Mutter nicht gänzlich die Freude an ihrem neuen digitalen Trainingspartner verlor. „Okay, ganz abwegig ist das nicht. Ich könnte mir schon vorstellen, dass es eine kleine Abweichung bei der Umrechnung in Kilometer gibt. Man macht seine Schritte ja nicht immer gleich groß. Aber eigentlich soll das Teil ja nur zum Bewegen motivieren. Oder willst du deinen Gewichtsverlust wirklich auf das hundertstel Gramm genau wissen?“

Louisa schüttelte mit bitterer Miene den Kopf. Diesem Teenager, auch wenn er noch so charmant und hilfsbereit war, wollte sie jetzt nicht auf die Nase binden, dass sie sich zurzeit über den kleinsten Krümel Gewicht freute, den sie irgendwie loswurde. Er würde es ohnehin nicht verstehen. In seinem Alter brauchte sie nur von einem Zehnkilometerlauf zu träumen, dann war sie am nächsten Morgen ganze zwei Kilo leichter.

Geistesabwesend fiel ihr Blick wieder auf das Band an ihrem Handgelenk. Sie schreckte auf, als sie die winzige Angabe der Uhrzeit wahrnahm.

„Meine Güte, es ist ja schon fast sieben!“ Nach einem entschlossenen Auf-die-Knie-Klatschen schnellte sie in die Höhe. „Ich muss los. Bis es dunkel wird will ich doch noch ein paar hundert Schritte schaffen. Richte deiner Mutter bitte schöne Grüße von mir aus.“

Robin nickte wohlwollend.

„Die ist sowieso hinüber, wenn sie gleich vom Dienst kommt. Wenn ihre Beine Radiergummis wären, hätte sie bei ihrer täglichen Schrittmenge in der Klinik längst Stummel an den Hüften.“

Louisa schmunzelte über den bildhaften Vergleich. „Guter Vergleich! Aber sie ist im Gegensatz zu mir wenigstens schlank.“

Das Körpergewicht war eben der alles entscheidende Faktor. Das war Louisa nicht erst seit diesem Moment klar. Aber leider war auf der Welt nichts so anhänglich wie überschüssige Körpermasse. Das langweilige Mittelblond ihrer Haare, einen schiefen Schneidezahn und das unschöne Muttermal über ihrem Bauchnabel, ja, selbst ihren üppigen Teenagerspeck war sie fast zeitgleich mit den verhassten, schulterlangen Zöpfen losgeworden. Nur die zehn Kilo, die sich seit ihrer Trennung von Raimund ungewollt dazugesellt hatten, verhielten sich wie streunende Hunde, denen man den trockenen Brötchenrest seines Burgers zugeworfen hatte. Man konnte sie noch so sehr ignorieren oder mit Verachtung strafen, sie wichen einem nicht mehr von der Pelle.

In der Wohnungstür bedankte sich Louisa noch einmal bei Robin für das Herunterladen der Fitness-App auf ihr Smartphone. Wenig später lenkte sie ihren Wagen auf einen kleinen Parkplatz, der direkt an den weitläufigen Park eines kleinen Schlosses angrenzte. Dieses architektonische Juwel hatte der damalige Landesfürst lediglich zu Lust- und Jagdzwecken erbaut. Für Entzücken sorgte es auch in der Stadtverwaltung, denn das hochherrschaftliche Anwesen hatte sich über die Jahrzehnte zu einem einträglichen Touristenmagneten gemausert. Dementsprechend intensiv investierte die Kommune in die Erhaltung des schmucken Gemäuers und in die Pflege des umliegenden Geländes.

Diesen außergewöhnlichen Ort hatten Betty und sie für ihre gemeinsamen Walkingabende auserkoren. Er erschien ihnen deshalb als besonders geeignet, weil er von ihren Arbeitsstellen und ihren Wohnungen nahezu gleichweit entfernt lag. Außerdem war jede Minute, die man sich in dem wunderschönen Park aufhielt, pure Erholung. Der hohe, lichte Buchenwald, der Spiegelweiher mit den Schwänen, die Blumenrabatten an den Seiten der Rasenflächen, all das wirkte wie ein Wohlfühlbad nach einem verregneten Einkaufsbummel im Winter. Schon früher hatten die beiden Freundinnen gern diesen Ort aufgesucht, um sich bei einem Spaziergang gegenseitig den beruflichen oder privaten Ärger phantasievoll von der Seele zu reden. Louisa hatte hier bereits mental einige unangenehm aufgefallene Liebhaber im Schlossweiher ertränkt. Raimund, die personifizierte Untreue, war von ihr sogar nackt auf das mannshohe Ablaufgitter des Weihers gekettet worden. Mit Wonne hatte sie ihn den Schwänen überlassen, die großes Interesse an seinem Gemächt zeigten. Das sorgfältig enthaarte Teil, das da knapp über der Wasseroberfläche baumelte, wirkte aber auch zu appetitlich!

Auch Betty hatte hier im Geiste schon mehrere Opfer entsorgt. Hoch oben in den Baumkronen hingen sämtliche Patienten, die das Pflegepersonal aus Langeweile in Trapp hielten, oder ihren Po mit dem ihrer Frauen verwechselten. Auch ihren Sohn hatte sie schon etliche Male im Schlosskerker eingesperrt. Das erste Mal vor ungefähr dreizehn Jahren, als sie fast jeden zweiten Tag im Kindergarten antanzen musste. Robin liebte es damals, um sein Leben zu schreien. Ganze zwei Stunden hatte er es einmal geschafft, nachdem ein Gruppenkind getestet hatte, ob ein Hariboschnuller ganz in seine Nase passte.

Sein letzter Kerkerarrest war noch gar nicht so lange her, erinnerte sich Louisa mit einem amüsierten Lächeln. Betty hatte ihr beim Spazierengehen genervt entgegengeschmettert, dass Robins Klassenlehrer der Auffassung sei, nur er käme für die Manipulation der Schulhomepage in Frage. Mangels belastbarer Beweise war dem jungen Mann der angedrohte Schulverweis erspart geblieben. Doch Betty kannte ihren Sohn. Das Hacken des Schulcomputers war mit Sicherheit das geheime Highlight seiner Schullaufbahn. Als sie ihn zur Rede stellte, hatte der Siebzehnjährige nur gemeint, das seien Peanuts gewesen, gleichzusetzen mit dem Einstellen einer Zeitschaltuhr. Im Grunde könne die Schule ihm sogar dankbar sein, dass er die mangelhafte Systemabsicherung aufgedeckt habe. Doch für seine Mutter war es alles andere als eine Bagatelle, und das ließ sie ihn auch deutlich spüren.

Das war vorerst das letzte Mal, dass Betty ihren hochbegabten Knuddelbär zur Läuterung in den Schlosskerker gewünscht hatte. Es lag sicherlich nicht daran, dass sich Robin seitdem voller Einsicht auf harmlose Computerspiele beschränkte. Viel eher konnte man annehmen, dass er sich bei seinen Experimenten einfach nicht mehr erwischen ließ und als jüngstes Mitglied des örtlichen Chaos-Computer-Clubs auch genügend Unterstützung dafür fand.

Als Louisa endlich in Walkingschuhen die Runde um den Spiegelweiher in Angriff nahm, wanderte ihr Blick von dem langgezogenen Wassergraben, in dem sich das weiße Barockschlösschen spiegelte, zu den Baumkronen des angrenzenden Waldes. Wen würden Betty und sie wohl als Nächstes hier entsorgen müssen? Sie schnaubte amüsiert und sog beim energischen Vorwärtsschreiten die milde Wärme der Frühlingsluft in sich auf. Dieser wunderschöne Ort ließ sich natürlich auch für Dinge nutzen, die herzerwärmender waren als Folter und Hinrichtungen. Wie zum Beweis stieß sie beim Abbiegen in den Wald fast mit einem jungen Pärchen zusammen, das verschämt dreinschauend das Küssen beendete und sich Hand in Hand entfernte. Die junge Frau mit den roten Wangen spielte in diesem Moment garantiert nicht mit dem Gedanken, an welchem Baum sie ihren Freund am liebsten aufhängen würde, seufzte Louisa in sich hinein.

Als sie eine halbe Stunde später schnaufend den Kofferraum öffnete, um ihre Schuhe zu wechseln, streifte ihr Blick das Display ihres Fitnessarmbands. Sofort zog sie ihr Handy hervor und tippte voller Stolz an Bettys Nummer: Bingo! Achttausendzweihundertsiebenunddreißig!

Kapitel 2

Betty hetzte über den Gang zum Wäscheschrank der Station und riss den rechten Türflügel so stürmisch auf, dass die Scharniere gefährlich knirschten. Zielstrebig griff sie nach zwei lindgrünen Laken und den Tüchern für den Instrumententisch. Mit dem Stoffberg vor der Brust ging es genauso eilig den Flur entlang zurück zum Untersuchungszimmer. Da sie jetzt, kurz vor sechs, bis auf die Reinigungsfrauen allein im OP-Trakt war, brummelte sie ungebremst vor sich hin: „Alles muss man hier selber machen. Kein Wunder, dass man sich die Füße rund läuft, wenn man nie rechtzeitig informiert wird. Kann doch keiner ahnen, dass fünf Minuten vor Dienstende unbedingt noch eine Darmspiegelung stattfinden muss.“ Mal rollte sie mit den Augen, mal zog sie die Mundwinkel hoch. „Es könnte ja lebensbedrohlich sein, mit einer reinen Vorsorgeuntersuchung bis zum nächsten Vormittag zu warten! Und immer muss alles hoppla-hopp gehen!“

Sie war sehr gespannt, welchem von Dr. Wessels einflussreichen Privatpatienten sie diesmal den außerplanmäßigen Endspurt zu verdanken hatte. Sie hoffte inständig, dass sie dieser Typ nicht auch noch mit flapsigen Sprüchen beglückte oder noch schlimmer, den sterbenden Schwan spielte, während der Chef mit der Kamera durch seinen Dickdarm kurvte. Das würde nämlich bedeuten, dass sie dem bedauernswerten Geschöpf so lange das Händchen halten musste, bis sich sein Kreislaufzustand normalisiert hatte. Je nach Prominenz und Geldbeutel konnte das dauern.

Sie drückte auf den Türöffner und betrat das hell erleuchtete Untersuchungszimmer. Während sie die Liege mit einem der grünen Laken bedeckte und die Tücher über die Instrumententische spannte, hörte sie, wie sich der Chefarzt im angrenzenden Raum mit dem Kandidaten für die Darmspiegelung unterhielt. Kaum hatte Betty die nötigen Utensilien bereitgelegt, klopfte sie an die Verbindungstür und begrüßte den fremden Mann vor Dr. Wessels Schreibtisch mit einem freundlichen Hallo. „Es ist alles bereit, Herr Doktor.“ Und zum Patienten gewandt fuhr sie fort: „Wenn Sie bitte hier in diesen Raum kommen möchten? Ich erkläre Ihnen kurz, was zu tun ist.“

„Ja, natürlich, sehr gern“, erwiderte der Mann und folgte Betty ins Nebenzimmer.

„Sie können sich hier hinter dem Vorhang ausziehen und sich dann auf die Bank legen“, wies Betty ihn an. Um der Frage zuvorzukommen, die nun üblicherweise folgte, ergänzte sie kurz und schmerzlos: „Bitte auch die Unterhose.“

Statt eines flapsigen Kommentars gab der Patient nur ein leicht gedehntes Okay von sich und verschwand in der Umkleideecke. Betty war leicht irritiert, und das lag nicht nur an dem zurückhaltenden Verhalten des Patienten.

---ENDE DER LESEPROBE---